DREIZEHNTES KAPITEL
Panik

1

Ein paar Sekunden - er hatte keine Ahnung, wie viele es waren - steckte Thad im Klammergriff einer so überwältigenden und grenzenlosen Panik, daß er buchstäblich außerstande war, auf irgendeine Art zu reagieren. Es war erstaunlich, daß er überhaupt noch atmen konnte. Später fiel ihm ein, daß er nur ein einziges Mal in seinem Leben etwas empfunden hatte, das diesem Erlebnis entfernt ähnlich war. Das war, als er zehn Jahre alt war und mit zweien seiner Freunde beschlossen hatte, Mitte Mai baden zu gehen. Es war mindestens drei Wochen früher, als einer von ihnen je baden gegangen war, aber es schien ihnen trotzdem eine gute Idee zu sein; der Tag war klar und für einen Maitag in New Jersey sehr warm, um die achtundzwanzig Grad. Sie waren alle drei zum Lake Davis hinuntergewandert, ihr Spottname für einen kleinen Teich, etwa eine Meile von Thads Elternhaus in Bergenfield entfernt. Er hatte als erster seine Kleider ausund seine Badehose angezogen und war somit auch als erster im Wasser gewesen. Er war einfach vom Ufer aus hineingehechtet, und er glaubte noch heute, daß er damals dem Tode sehr nahe gewesen war - wie nahe, wollte er lieber nicht wissen. Es war durchaus möglich, daß sich die Luft an jenem Tag anfühlte wie im Hochsommer, aber das Wasser fühlte sich an wie an einem Tag im Frühwinter, bevor Eis die Oberfläche überzieht. In seinem Nervensystem hatte es fast einen Kurzschluß gegeben. In seinen Lungen war die Luft zum Stocken gekommen, sein Herz hatte mitten im Schlagen ausgesetzt, und als er auftauchte, glich er einem Wagen mit leerer Batterie, und er brauchte einen Blitzstart, brauchte ihn schnell und wußte nicht, wie er es bewerkstelligen sollte. Er wußte noch, wie hell die Sonne geschienen hatte, wie sie zehntausend Goldfunken aus der blauschwarzen Wasseroberfläche herausschlug, er erinnerte sich an Harry Black und Randy Wister, die am Ufer standen, wie Harry die verblichene Turnhose über sein massiges Hinterteil zog, wie Randy nackt dastand, nackt mit der Badehose in der Hand, und rief: Wie ist das Wasser, Thad?, als er auftauchte, und er hatte nur denken können: Ich sterbe. Ich bin hier in der Sonne mit meinen beiden besten Freunden und die Schule ist aus und ich habe keine Hausaufgaben und im Fernsehen gibt es heute abend Mr. Blandings Builds His Dream House und Mom hat gesagt ich dürfte vor dem Fernseher essen, aber ich werde es nicht sehen, weil ich dann tot bin. Was nur Sekunden zuvor müheloses, unkompliziertes Atmen gewesen war, war eine verklumpte Turnsocke in seiner Kehle, etwas, das er weder herausstoßen noch einsaugen könnte. Sein Herz lag wie ein kleiner, kalter Stein in seiner Brust. Dann war er durch, er holte tief und keuchend Luft, seinen ganzen Körper überlief eine Gänsehaut, und er hatte Randy mit der gedankenlosen, boshaften Schadenfreude, zu der nur kleine Jungen imstande sind, zugerufen: Das Wasser ist prima! Spring rein! Erst Jahre später ging ihm auf, daß er damit einen von ihnen oder beide hätte umbringen können, so, wie er sich selbst beinahe umgebracht hatte.
So fühlte er sich jetzt; er befand sich in genau demselben Zustand völligen körperlichen Stillstands. Bei der Armee hatte es eine Bezeichnung für etwas dergleichen gegeben - was war es noch gewesen? Ein Komplettscheiß. Ja. Gute Bezeichnung. Wenn es um das Erfinden solcher Ausdrücke ging, war die Armee nicht zu schlagen. Nun saß er hier mitten in einem ganz großen Komplettscheiß. Er saß auf dem Stuhl, vorgebeugt, den Hörer noch in der Hand, und starrte auf den leeren Fernsehschirm. Er war sich vage bewußt, daß Liz an der Schwelle erschienen war, daß sie ihn zuerst fragte, wer das gewesen war, und dann, was passiert war, und es war genau so wie an jenem Tag am Lake Davis, der Atem eine schmutzige Baumwollsocke in seiner Kehle, alle Kommunikationslinien zwischen Herz und Gehirn gerissen, wir bitten, die unvorhergesehene Unterbrechung zu entschuldigen, die Fahrt wird so schnell wie möglich fortgesetzt, bitte genießen Sie inzwischen Ihren Aufenthalt im hübschen Endsville, dem Ort, an dem alle Züge enden.
Dann war er plötzlich durch, so wie er damals durchgekommen war, und er holte tief Atem. Sein Herz machte zwei wilde Sprünge in seiner Brust und nahm dann seinen regulären Rhythmus wieder auf - aber es schlug nach wie vor schnell, viel zu schnell.
Dieses Kreischen. Großer Gott im Himmel, dieses Kreischen.
Jetzt lief Liz durch das Zimmer, und er begriff erst, daß sie ihm den Telefonhörer aus der Hand genommen hatte, als er hörte, wie sie immer wieder Hallo und Wer ist dort? hineinrief. Dann hörte sie den Summton der unterbrochenen Verbindung und legte den Hörer auf.
»Miriam«, brachte er schließlich heraus, als Liz sich zu ihm umdrehte. »Es war Miriam, und sie hat geschrien.«
Außer in Büchern habe ich noch nie jemanden umgebracht.
Die Sperlinge fliegen wieder.
Hier unten nennen wir das Metzgerfüllsel.
Müssen uns auf den Weg nach Norden machen, alter Freund. Du mußt mir ein Alibi zurechtlügen, weil ich mich auf den Weg nach Norden machen muß. Muß mir eine Scheibe Fleisch abschneiden.
»Miriam? Sie hat geschrien? Miriam Cowley? Thad, was geht da vor?«
»Er war es«, sagte Thad. »ich wußte, daß er es war. Ich glaube, ich wußte es vom ersten Augenblick an, und heute - heute nachmittag hatte ich wieder eine.«
»Was hattest du?« Ihre Finger wanderten zu den Seiten ihres Halses und rieben ihn. »Wieder ein Blackout? Eine Trance?«
»Ja«, sagte er. »Zuerst waren wieder die Sperlinge da. Ich habe eine Menge verrücktes Zeug auf ein Blatt Papier geschrieben, während ich nicht bei mir war. Ich habe es weggeworfen, aber ihr Name stand auf dem Blatt, Liz, Miriam gehörte zu dem, was ich geschrieben habe, als ich abwesend war - und...«
Er brach ab. Seine Augen wurden immer größer.
»Thad, was ist?« Sie ergriff einen seiner Arme, schüttelte ihn. »Was ist los?«
»In ihrem Wohnzimmer hängt ein Poster«, sagte er. Er hörte seine Stimme, als gehörte sie einem anderen - eine Stimme, die sich anhörte, als käme sie aus großer Entfernung. Vielleicht über eine Gegensprechanlage. »Ein Poster von einem Broadway-Musical. Cats. Ich habe es gesehen, als ich das letzte Mal bei ihr war. Cats. JETZT UND IMMER. Auch das habe ich geschrieben. Ich habe es geschrieben, weil er dort war, und ich war gleichfalls dort, ein Teil von mir war dort, ein Teil von mir hat mit seinen Augen gesehen...«
Er sah sie an. Sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Das ist kein Tumor, Liz. Jedenfalls keiner, der in meinem Körper steckt.«
»Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest!« Liz schrie die Worte fast heraus.
»Ich muß Rick anrufen«, murmelte er. Ein Teil seines Verstandes schien abzuheben, brillant durch die Luft zu segeln und in Bildern und krassen Symbolen mit sich selbst Zwiesprache zu halten. Das geschah manchmal, wenn er schrieb, aber er konnte sich nicht erinnern, daß es ihm schon einmal im wirklichen Leben passiert war. Oder war Schreiben etwa das wirkliche Leben? fragte er sich plötzlich. Er glaubte es nicht. Eher eine Art Zwischenzeit.
»Thad, bitte!«
»Ich muß Rick anrufen. Er ist vielleicht in Gefahr.«
»Thad, du redest ungereimtes Zeug.«
Ja, natürlich war es ungereimt. Und wenn er sich um eine Erklärung bemühte, würde es noch ungereimter werden. Während er sich damit aufhielt, seiner Frau seine Ängste anzuvertrauen, was vermutlich nur zu der Überlegung führen würde, wie lange es dauern mochte, die erforderlichen Einweisungspapiere zu beschaffen, konnte Stark die neun Häuserblocks in Manhattan hinter sich bringen, die Ricks Wohnung von der Miriams trennten. Auf dem Rücksitz eines Taxis oder am Steuer eines gestohlenen Wagens, vielleicht sogar am Steuer des schwarzen Toronado, den er im Traum gesehen hatte - wenn man auf dem Weg in den Wahnsinn schon so weit gekommen war, warum dann nicht gleich die ganze Strecke? Saß da, rauchte, bereitete sich darauf vor, Rick umzubringen, wie er Miriam...
Hatte er sie umgebracht?
Vielleicht hatte er sie nur eingeschüchtert, sie schluchzend und im Schock zurückgelassen. Oder vielleicht hatte er sie verletzt - nicht vielleicht, wahrscheinlich. Was hatte sie gesagt? Er soll mich nicht wieder schneiden, der böse Mann soll mich nicht wieder schneiden. Und hatte auf dem Zettel nicht auch enden gestanden?
Ja, es hatte darauf gestanden. Aber das hatte mit dem Traum zu tun, oder? Das hatte mit Endsville zu tun, dem Ort, an dem alle Züge enden - oder etwa nicht?
Er betete darum, daß es so wäre.
Er mußte zusehen, daß ihr geholfen wurde, und er mußte Rick warnen. Aber wenn er Rick anrief, so aus heiterem Himmel, und ihm sagte, er solle sich vorsehen, dann würde Rick den Grund wissen wollen.
Was ist los, Thad? Was ist passiert?
Und wenn er Miriams Namen auch nur erwähnte, würde Rick auf dem schnellsten Wege zu ihr fahren, weil er sie immer noch liebte. Und er würde sie finden - vielleicht in Stücke gehauen (ein Teil von ihm versuchte, vor diesem Gedanken zurückzuscheuen, diesem Bild, aber der Rest seines Verstandes war unerbittlich, zwang ihn, sich vorzustellen, wie die hübsche Miriam aussehen würde, zerhackt wie Fleisch auf dem Tresen eines Schlachters).
Und vielleicht war es gerade das, worauf Stark spekulierte. Der dämliche Thad, der Rick in eine Falle schickte. Der dämliche Thad, der seine Arbeit erledigte.
Aber habe ich denn nicht schon immer seine Arbeit erledigt? Darum ging es doch im Grunde bei dem Pseudonym, oder etwa nicht?
Sein Verstand begann wieder zu blockieren, sich zu verkrampfen wie ein überanstrengter Muskel, zu einem Komplettscheiß, und das konnte er sich nicht leisten, das konnte er sich auf gar keinen Fall leisten.
»Thad - bitte! Sag mir, was passiert ist!«
Er holte tief Luft und ergriff ihre kalten Arme mit seinen kalten Händen.
»Es war der Mann, der Homer Gamache und Clawson umgebracht hat. Er war bei Miriam. Er hat - sie bedroht. Ich hoffe jedenfalls, daß er nur das getan hat. Ich weiß es nicht. Sie hat geschrien. Dann riß die Verbindung ab.«
»Oh, Thad! Großer Gott!«
»Wir können es uns nicht leisten, in Hysterie zu verfallen«, sagte er - auch wenn ein Teil von mir das liebend gern täte. »Lauf hinauf. Hol dein Adreßbuch. in meinem stehen Miriams Telefonnummer und Adresse nicht, aber ich glaube, in deinem.«
»Was meintest du, als du sagtest, du hättest es von Anfang an gewußt?«
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Hol dein Adreßbuch, und zwar schnell. Okay?«
Sie zögerte noch einen Moment.
»Sie kann verletzt sein! Mach zu!«
Sie machte kehrt und lief aus dem Zimmer. Er hörte das schnelle, leichte Tappen ihrer Füße auf der Treppe und versuchte, sein Denkvermögen wieder in Gang zu bringen.
Nicht Rick anrufen. Das wäre ein Fehler - es konnte eine Falle sein.
Okay, so weit zumindest sind wir gekommen. Wenigstens ein Anfang. Wen dann?
Die New Yorker Polizei? Nein; die würde nur einen Haufen zeitraubender Fragen stellen - wie es käme, daß ein Mann aus Maine ein Verbrechen in New York meldete, und so weiter. Nicht die New Yorker Polizei. Auch das wäre ein Fehler.
Pangborn.
Sein Verstand hielt den Gedanken fest. Zuerst würde er Pangborn anrufen. Er würde sehr darauf achten müssen, was er sagte, jedenfalls jetzt. Was er ihm später erzählte oder verschwieg - über die Trancezustände, über die Sperlinge, über Stark -, würde sich finden. Im Augenblick ging es nur um Miriam. Wenn Miriam verletzt, aber noch am Leben war, dann half er ihr nicht, indem er Dinge zur Sprache brachte, die Pangborn am schnellen Handeln hindern würden. Er war es, der die Polizei in New York anrufen mußte. Sie würde schneller reagieren, wenn der Anruf von einem Kollegen kam, selbst wenn dieser Kollege im fernen Maine amtierte.
Aber zuerst Miriam. Gott gebe, daß sie sich am Telefon meldete.
Liz hastete mit ihrem Adreßbuch ins Zimmer. Ihr Gesicht war jetzt fast ebenso blaß wie damals, als es ihr endlich gelungen war, William und Wendy in die Welt zu befördern. »Hier ist es«, sagte sie, schwer atmend, fast keuchend.
Kein Grund zur Aufregung, hätte er ihr gern erklärt, aber er tat es nicht. Er wollte nichts sagen, was sich ohne weiteres als Lüge erweisen konnte - und Miriams Kreischen ließ vermuten, daß eine Menge Grund zur Aufregung bestand und daß Miriam möglicherweise ein für allemal über das Stadium der Aufregung hinaus war.
Hier ist ein Mann, hier ist ein böser Mann.
Thad dachte an George Stark und schauderte ein wenig. Er war in der Tat ein sehr böser Mann. Niemand wußte das besser als Thad. Schließlich war er es gewesen, der George Stark von Anfang an aufgebaut hatte, oder etwa nicht?
»Wir sind okay«, sagte er zu Liz - das zumindest entsprach der Wahrheit. Sein Verstand verlangte, daß er flüsternd hinzusetzte: Vorerst. »Nimm dich zusammen, wenn du kannst, Baby. Du hilfst Miriam nicht, wenn du ohnmächtig wirst.«
Sie setzte sich hin, mit stocksteifem Rücken, starrte ihn an und benagte rastlos ihre Unterlippe.
Er begann, Miriams Nummer einzutippen. Seine zitternden Finger stolperten bei der zweiten Ziffer, drückten die Taste zweimal. Du bist genau der Richtige, anderen zu sagen, sie sollten sich zusammennehmen. Er holte tief Atem, hielt die Luft an, drückte die Unterbrechertaste und begann von neuem, zwang sich zu langsamerem Vorgehen. Er drückte die letzte Taste und hörte das mehrmalige Klicken, mit dem die Verbindung zustande kam.
Lieber Gott, laß sie heil und gesund sein, und wenn sie nicht ganz heil ist, und wenn Du das nicht bewerkstelligen kannst, dann laß sie wenigstens in einem Zustand sein, in dem sie den Hörer abnehmen kann. Bitte.
Aber das Telefon läutete nicht. Es kam nur das monotone Besetztzeichen. Vielleicht war die Leitung tatsächlich besetzt; vielleicht rief sie Rick an oder das Krankenhaus. Vielleicht lag der Hörer neben dem Apparat.
Es gab noch eine andere Möglichkeit, dachte er, als er wieder auf die Unterbrechertaste drückte. Vielleicht hatte Stark das Kabel aus der Wand gerissen. Oder vielleicht (der böse Mann soll mich nicht wieder schneiden) hatte er es zerschnitten.
Wie er Miriam zerschnitten hatte.
Rasiermesser, dachte Thad, und ein Schauder überlief ihn. Auch dieses Wort hatte er auf den Zettel geschrieben. Rasiermesser.

2

Die nächste halbe Stunde war eine Rückkehr zu dem seltsamen Gefühl der Unwirklichkeit, das ihn befallen hatte, als Pangborn und die beiden Staatspolizisten in seinem Haus erschienen waren, um ihn wegen eines Mordes zu verhaften, von dem er nicht einmal wußte. Es fehlte das Empfinden persönlichen Bedrohtseins - zumindest unmittelbaren Bedrohtseins -, aber er hatte nach wie vor das Gefühl, als ginge er durch einen dunklen Raum voller zarter Spinnwebfäden, die ihm übers Gesicht wischten, ihn zuerst kitzelten und schließlich wahnsinnig machten, Fäden, die nicht hafteten, sondern davon wisperten, bevor er sie ergreifen konnte.
Er wählte Miriams Nummer noch einmal, und weil die Leitung immer noch besetzt war, drückte er abermals die Unterbrechertaste und zögerte einen Augenblick, unentschlossen, ob er Pangborn oder eine Vermittlung in New York anrufen sollte, damit sie Miriams Anschluß überprüften. Gab es eine Möglichkeit, zu unterscheiden, ob gerade ein Gespräch geführt wurde, ob der Hörer neben der Gabel lag oder ob der Apparat sonst irgendwie unbrauchbar gemacht worden war? Er war sich ziemlich sicher, daß dies der Fall war, aber das Entscheidende war, daß die Verbindung zwischen Miriam und ihm plötzlich abgebrochen und sie nicht mehr erreichbar war. Immerhin konnten sie feststellen - Liz konnte es feststellen -, ob sie zwei Anschlüsse hatte und nicht nur einen. Warum hatte sie keine zwei Anschlüsse? Es war töricht, keine zwei Anschlüsse zu haben.
Obwohl ihm diese Gedanken im Laufe von vielleicht zwei Sekunden durch den Kopf schossen, kam ihm die Zeit viel länger vor, und er warf sich vor, den Hamlet zu spielen, während Miriam Cowley womöglich in ihrer Wohnung verblutete. Figuren in Büchern - zumindest in Starks Büchern - vergeudeten nie ihre Zeit damit, über irgendwelchen Unsinn nachzudenken, zum Beispiel darüber, warum sie für einen Fall wie den, daß eine Frau in einem anderen Staat vielleicht verblutete, keinen zweiten Telefonanschluß hatten einrichten lassen. Leute in Büchern mußten nie im unpassenden Moment die Toilette aufsuchen; in solche Verlegenheiten gerieten sie einfach nicht.
In der Welt ginge es wesentlich reibungsloser zu, wenn alle Menschen Figuren aus Unterhaltungsromanen wären, dachte er. Figuren in Unterhaltungsromanen schaffen es immer, die Spur ihrer Gedanken einzuhalten und sich reibungslos von Kapitel zu Kapitel zu bewegen.
Er wählte die Auskunft von Maine, und als das diensttuende Mädchen fragte: »Welche Stadt bitte?«, geriet er einen Moment lang ins Schwimmen, weil Castle Rock keine richtige Stadt war, sondern nur ein relativ kleines Nest, und dachte Das ist Panik, Thad, totale Panik. Du mußt dich in den Griff bekommen. Du darfst Miriam nicht sterben lassen, nur weil du in Panik geraten bist. Und wie es schien, hatte er sogar genügend Zeit, um sich zu fragen, warum er das nicht zulassen durfte: er war die einzige wirkliche Person, die er in den Griff bekommen konnte, und Panik paßte einfach nicht in das Bild, das er sich von dieser Person machte.
Hier unten nennen wir das ausgemachten Blödsinn, Thad. Hier unten nennen wir das Metzger...
»Sir?« drängte das Mädchen. »Welche Stadt bitte?«
Okay. Nimm dich zusammen.
Er holte tief Luft, rappelte sich zusammen und sagte: »Castle City.« Herr im Himmel. Er schloß die Augen. Und mit geschlossenen Augen sagte er langsam und deutlich: »Entschuldigen Sie. Castle Rock. Ich hätte gern die Nummer vom Büro des Sheriffs.«
Es folgte eine kurze Pause, und dann begann ein Roboter die Nummer zu rezitieren. Thad wurde bewußt, daß er keinen Stift zur Hand hatte. Der Roboter wiederholte die Nummer. Thad versuchte angestrengt, sich die Nummer zu merken, doch die Zahlen fegten durch seinen Verstand und verschwanden wieder im Dunkeln, ohne auch nur eine Spur von Nachleuchten zu hinterlassen.
»Wenn Sie weitere Auskünfte benötigen«, fuhr die Roboterstimme fort, »bleiben Sie in der Leitung, und die Vermittlung...«
»Liz«, flehte er. »Etwas zum Schreiben.«
An ihrem Adreßbuch steckte ein kleiner Kugelschreiber. Er nahm ihn, und als sich das Mädchen wieder meldete, erklärte Thad ihr, er hätte die Nummer noch nicht notiert. Das Mädchen schaltete wieder den Roboter ein, der abermals mit seiner abgehackten, irgendwie weiblich klingenden Stimme rezitierte. Thad notierte die Nummer auf dem Umschlag eines Buches, hätte fast aufgelegt, beschloß dann, sie noch einmal zu überprüfen. Bei der Wiederholung stellte er fest, daß er zwei Ziffern vertauscht hatte. Oh ja, er bekam seine Panik bestens in den Griff, das war klar wie Kristall.
Er drückte die Unterbrechertaste. An seinem ganzen Körper war ein leichter Schweiß ausgebrochen.
»Immer mit der Ruhe, Thad.«
»Du hast sie nicht gehört«, sagte er und wählte die Nummer.
Es läutete viermal, bevor sich eine gelangweilte Stimme meldete: »Büro des Sheriffs von Castle County, Deputy Ridgewick am Apparat, was kann ich für Sie tun?«
»Hier spricht Thad Beaumont. Ich rufe von Ludlow aus an.«
»Ja?« Der Name sagte ihm nichts. Überhaupt nichts. Und das bedeutete weitere Erklärungen. Weitere Spinnwebfäden. Der Name Ridgewick ließ eine leise Glocke ertönen. Natürlich - der Beamte, der mit Mrs. Arsenault gesprochen und Homer Gamaches Leiche gefunden hatte. Herr im Himmel, wie war es möglich, daß er den alten Mann gefunden hatte, den Thad ermordet haben sollte, und trotzdem nicht wußte, wer er war?
»Sheriff Pangborn war hier, um - um mit mir über den Mord an Homer Gamache zu sprechen, Deputy Ridgewick. Ich habe neue Informationen, und ich muß ihn unbedingt sprechen.«
»Der Sheriff ist nicht da«, sagte Ridgewick, offenbar völlig unbeeindruckt von der Dringlichkeit in Thads Stimme.
»Und wo ist er?«
»Zu Hause.«
»Dann geben Sie mir bitte seine Nummer.«
Und, kaum zu glauben: »Oh, ich weiß nicht, ob ihm das recht wäre, Mr. Bowman. Der Sheriff - Alan, meine ich - hatte in letzter Zeit sehr viel um die Ohren, und seine Frau fühlt sich nicht recht wohl. Sie hat oft Kopfschmerzen.«
»Ich muß mit ihm sprechen!«
»Nun«, erklärte Ridgewick gemütlich, »immerhin scheinen Sie zu glauben, daß Sie es müßten. Vielleicht müssen Sie es sogar wirklich. Wie wäre es, wenn Sie mir sagten, um was es sich handelt, Mr. Bowman, und dann die Entscheidung mir...«
»Er war hier, um mich wegen des Mordes an Homer Gamache zu verhaften, Deputy, und jetzt ist noch etwas passiert, und wenn Sie mir nicht auf der Stelle seine Nummer geben...«
»Heiliger Strohsack!« rief Ridgewick. Thad hörte ein leises Plumpsen und konnte sich vorstellen, wie Ridgewicks Füße von seinem Schreibtisch - oder, wahrscheinlicher, Pangborns Schreibtisch - herunterkamen und auf dem Boden landeten, während er auf dem Stuhl hochfuhr. »Beaumont, nicht Bowman!«
»Ja, und...«
»Himmel! Herr im Himmel! Der Sheriff - Alan - hat gesagt, wenn Sie anrufen, soll ich zusehen, daß Sie sofort mit ihm sprechen können.«
»Gut. Und nun...«
»Herr im Himmel, was bin ich doch für ein Riesenroß!«
Thad, der voll und ganz derselben Ansicht war, sagte: »Bitte, geben Sie mir seine Nummer.« Indem er auf Reserven zurückgriff, von denen er nicht wußte, daß er sie besaß, gelang es ihm irgendwie, nicht zu schreien.
»Natürlich. Einen Moment...« Es folgte eine nervenaufreibende Pause. Natürlich dauerte sie nur Sekunden, aber Thad kam es vor, als hätten in ihr die Pyramiden erbaut werden können. Erbaut und wieder abgerissen. Und in der Zwischenzeit konnte Miriam fünfhundert Meilen entfernt auf dem Teppich in ihrem Wohnzimmer verbluten. Vielleicht habe ich sie auf dem Gewissen, dachte er, nur indem ich mich entschloß, Pangborn anzurufen, und an diesen Schwachkopf geraten bin, anstatt mich gleich an die New Yorker Polizei zu wenden. Oder 911 zu wählen. Genau das hätte er vermutlich tun sollen: 911 wählen und ihnen alles weitere überlassen.
Aber das war im Grunde keine echte Alternative gewesen. Es war die Trance, nahm er an, und die Worte, die er in dieser Trance geschrieben hatte. Er hatte nicht das Gefühl, als hätte er den Überfall auf Miriam vorhergesehen, aber auf irgendeine unklare Art war er Zeuge von Starks Vorbereitungen auf den Überfall gewesen. Die unheimlichen Geräusche von Tausenden von Vögeln schienen diese ganze irre Affäre zu seiner ureigensten Angelegenheit zu machen.
Aber wenn Miriam verblutete, nur weil er zu sehr in Panik geraten war, um 911 zu wählen - wie würde er Rick jemals wieder ins Gesicht sehen können?
Scheiß drauf; wie würde er sich selbst je wieder im Spiegel ansehen können?
Der Schwachkopf Ridgewick war wieder da. Er gab Thad die Nummer des Sheriffs, sprach jede einzelne der Ziffern so langsam, daß selbst ein zurückgebliebenes Kind sie hätte niederschreiben können; trotzdem bat ihn Thad, sie zu wiederholen, obwohl alles in ihm zur Eile drängte. Er war noch immer erschüttert von der Leichtigkeit, mit der er die Nummer des Sheriffbüros durcheinandergebracht hatte. Und was einmal passiert war, konnte wieder passieren. »Okay«, sagte er. »Danke.«
»Mr. Beaumont? Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dem Sheriff gegenüber nicht erwähnen würden, wie ich...«
Thad legte ohne eine Spur von Mitgefühl auf und wählte die Nummer, die Ridgewick ihm gegeben hatte. Pangborn würde natürlich nicht an den Apparat kommen; das paßte einfach nicht zur Nacht der Spinnwebfäden. Und wer immer den Hörer abnahm, würde ihm mitteilen (das heißt, nach den unvermeidlichen Minuten des Auf-den-Busch-Klopfens), daß der Sheriff losgefahren war, um einen Laib Brot und einen Liter Milch zu besorgen. Vermutlich nach Laconia, New Hampshire; auch Phoenix, Arizona, lag im Bereich des Möglichen.
Ein unkontrolliertes Lachen entfuhr ihm, und Liz sah ihn erschrocken an. »Thad? Bist du okay?«
Er setzte zu einer Antwort an, doch dann schwenkte er die Hand, um ihr zu bedeuten, daß der Hörer abgenommen wurde. Es war nicht Pangborn; zumindest in dieser Hinsicht hatte er richtig vermutet. Es war ein schätzungsweise zehnjähriger Junge.
»Hallo, hier bei Pangborn«, flötete er. »Todd Pangborn am Apparat.«
»Hi«, sagte Thad. Er war sich vage bewußt, daß er den Hörer viel zu fest umkrampft hielt, und versuchte, seine Finger zu lockern. Sie knackten, rührten sich aber nicht. »Mein Name ist Thad...« - Pangborn hätte er beinahe gesagt, o Gott, das wäre grandios gewesen, du hast die Sache wirklich im Griff, Thad, du hast deinen Beruf verfehlt, du hättest Fluglotse werden sollen - »... Beaumont«, endete er nach der kurzen Kurskorrektur. »Ist der Sheriff da?«
Nein, er ist nach Lodi, Kalifornien, gefahren, um Bier und Zigaretten zu holen.
Statt dessen entfernte sich die Stimme des Jungen von der Sprechmuschel und trompetete: »DAD! TELEFON!« Darauf folgte ein schweres Poltern, bei dem Thad die Ohren wehtaten.
Einen Augenblick später - Gott und all seinen Heiligen sei Dank! - sagte die Stimme von Alan Pangborn: »Hallo?«
Beim Klang dieser Stimme schmolz etwas von Thads nervöser Übererregung dahin.
»Hier ist Thad Beaumont, Sheriff. In New York ist eine Dame, die möglicherweise dringend Hilfe braucht. Es hängt mit dem zusammen, worüber wir uns Samstagabend unterhalten haben.«
»Schießen Sie los«, sagte Alan, nur das. Junge, was für eine Erleichterung. Thad war, als würde ein verschwommenes Bild wieder klar.
»Die Frau ist Miriam Cowley, die Exfrau meines Agenten.« Thad schoß der Gedanke durch den Kopf, daß er Miriam noch eine Minute zuvor wahrscheinlich als »den Agenten meiner Exfrau« bezeichnet hätte.
»Sie hat hier angerufen. Sie weinte, war völlig fassungslos. Zuerst wußte ich nicht einmal, von wem der Anruf kam. Dann hörte ich die Stimme eines Mannes im Hintergrund. Er befahl ihr, mir zu sagen, wer sie wäre und was vor sich ginge. Sie sagte, es wäre ein Mann in ihrer Wohnung, er drohte, ihr etwas anzutun. Sie...« Thad schluckte »... Sie zu schneiden. Inzwischen hatte ich ihre Stimme erkannt, aber der Mann schrie sie an, erklärte ihr, wenn sie nicht sofort ihren Namen sagte, würde er ihr die Rübe abschneiden. Genau das hat er gesagt. >Tu es, oder ich schneide dir die Rübe ab.< Dann sagte sie, sie wäre Miriam, und flehte...« Er schluckte wieder. »Sie flehte, ich sollte nicht zulassen, daß der böse Mann das täte. Sie wieder schnitte.«
Liz, die ihm gegenüber saß, wurde zusehends blasser. Laß sie nicht ohnmächtig werden, wünschte oder betete Thad. Bitte, laß sie jetzt nicht ohnmächtig werden.
»Sie hat geschrien. Dann war die Leitung tot. Ich nehme an, er hat das Kabel durchgeschnitten oder aus der Wand gerissen.« Aber das war Unfug. Er nahm überhaupt nichts an. Er wußte es. Das Kabel war durchgeschnitten worden. Mit einem Rasiermesser. »Ich habe versucht, zurückzurufen, aber...«
»Wie ist ihre Adresse?«
Pangborns Stimme war nach wie vor gelassen, nach wie vor umgänglich. Wäre da nicht der Unterton von befehlsgewohnter Sicherheit gewesen, der in ihr mitschwang, hätte er einfach ein Schwätzchen mit einem guten Freund halten können. Es war richtig, ihn anzurufen, dachte Thad. Gott sei Dank, daß es Leute gibt, die wissen, was sie zu tun haben, oder sich zumindest so verhalten, als wüßten sie es. Gott sei Dank für Leute, die sich verhalten wie Personen in Unterhaltungsromanen. Wenn ich es mit jemandem aus einem Roman von Saul Bellow zu tun hätte, würde ich wahnsinnig werden.
Thad warf einen Blick auf die Zeile unter Miriams Namen in Liz’ Buch. »Ist das eine Drei oder eine Acht?«
»Eine Acht«, sagte sie mit abwesender Stimme.
»Gut. Setz dich wieder hin. Leg den Kopf in den Schoß.«
»Mr. Beaumont? Thad?«
»Entschuldigung. Meine Frau ist sehr mitgenommen.«
»Das überrascht mich nicht. Sie sind beide sehr mitgenommen, und das ist schließlich kein Wunder. Aber Sie halten sich gut. Machen Sie weiter, Thad.«
»Ja.« Ihm kam der bestürzende Gedanke, daß er Liz, wenn sie ohnmächtig würde, einfach liegenlassen und weiterreden mußte, bis Pangborn genügend Informationen besaß, um etwas unternehmen zu können. Bitte, werde nicht ohnmächtig, dachte er abermals und richtete den Blick wieder auf Liz’ Buch. Die Adresse ist 109 West 84. Straße.«
»Telefonnummer?«
»Ich sagte Ihnen doch - ihr Telefon ist außer...«
»Ich brauche die Nummer trotzdem, Thad.«
»Ja. Natürlich brauchen Sie die.« Obwohl er nicht die leiseste Ahnung hatte, wozu. »Entschuldigung.« Er las die Nummer ab.
»Wie lange liegt dieser Anruf zurück?«
Stunden, dachte er und warf einen Blick auf die Uhr über dem Kaminsims. Sein erster Gedanke war, daß sie stehengeblieben war. Sie mußte stehengeblieben sein.
»Thad?«
»Ich bin noch da«, sagte er mit einer Stimme, die einem anderen zu gehören schien. »Es ist ungefähr sechs Minuten her, seit das Gespräch unterbrochen wurde.«
»Okay, dann haben wir nicht viel Zeit verloren. Wenn Sie die New Yorker Polizei angerufen hätten, hätte es vielleicht dreimal so lange gedauert. Ich melde mich wieder bei Ihnen, so schnell ich kann, Thad.«
»Rick«, sagte er. »Wenn Sie mit den Leuten in New York reden, sagen Sie ihnen, daß Rick es noch nicht wissen kann. Wenn er - wenn er Miriam etwas angetan hat, dann ist Rick der nächste auf seiner Liste.«
»Sie sind sich ziemlich sicher, daß es derselbe Kerl ist, der Homer und Clawson ermordet hat?«
»Ganz sicher.« Und die Worte waren heraus und flogen durch den Draht, bevor er recht wußte, ob er sie überhaupt hatte sprechen wollen: »Ich glaube, ich weiß, wer es ist.«
Pangborn zögerte einen ganz kurzen Moment, dann sagte er: »Okay. Bleiben Sie in der Nähe des Telefons. Wir müssen darüber sprechen, sobald wir Zeit dazu haben.« Er hatte aufgelegt.
Thad schaute hinüber zu Liz und sah, daß sie in ihrem Sessel zur Seite gesackt war. Ihre Augen waren groß und glasig. Er stand auf, ging schnell zu ihr, richtete sie auf und klopfte ihr leicht auf die Wangen.
»Wer von ihnen ist es?« fragte sie mit schwerer Zunge aus der grauen Weit halber Bewußtlosigkeit heraus. »Ist es Stark oder Alexis Machine? Welcher von ihnen, Thad?«
Und eine ganze Weile später sagte er: »Ich glaube nicht, daß da ein Unterschied besteht. Ich mache uns Tee, Liz.«

3

Er war sicher, daß sie darüber sprechen würden. Wie wäre es möglich gewesen, nicht darüber zu sprechen?
Aber sie taten es nicht. Sie saßen nur da, sahen einander über den Rand ihrer Teebecher hinweg an und warteten darauf, daß Alan zurückrief. Und während sich die Minuten dahinschleppten, begriff Thad, daß es richtig war, nicht miteinander zu reden - nicht bevor Alan zurückgerufen und ihnen berichtet hatte, ob Miriam tot oder am Leben war.
Angenommen, dachte er, während er zusah, wie sie ihren Teebecher mit beiden Händen zum Munde führte, angenommen, wir beide säßen eines Abends hier, jeder mit einem Buch in der Hand (für einen Außenstehenden würde es aussehen, als läsen wir, und vielleicht tun wir es, ein wenig, aber in Wirklichkeit genießen wir die Stille wie einen ganz besonders guten Wein, auf die Art, wie nur die Eltern von Kleinkindern sie genießen können, weil sie so rar ist), und weiterhin angenommen, daß, während wir das tun, ein Meteorit durch das Dach schlüge und rauchend und glühend auf unserem Wohnzimmerteppich landete. Würde einer von uns in die Küche laufen, den Scheuereimer füllen und Wasser daraufgießen, bevor er den Teppich in Brand setzen kann, und dann einfach weiterlesen? Nein - wir würden darüber sprechen. Wir müßten es tun. Genauso, wie wir über diese Sache sprechen müßten.
Vielleicht würden sie darüber sprechen, nachdem Alan angerufen hatte. Vielleicht würden sie sogar mit seiner Hilfe sprechen, indem Liz Alans Fragen und Thads Antworten aufmerksam verfolgte. Ja, auf diese Weise konnten sie miteinander ins Gespräch kommen. Irgendwie hatte Thad das unheimliche Gefühl, daß Alan derjenige war, der die Sache ins Rollen gebracht hatte, obwohl der Sheriff lediglich auf das reagierte, was Stark zuvor getan hatte.
Und so saßen sie da und warteten.
Es drängte ihn, es noch einmal mit Miriams Nummer zu versuchen, aber er wagte es nicht - Alan konnte gerade in diesem Augenblick anrufen, und dann würde die Leitung besetzt sein. Er ertappte sich wieder dabei, daß er sich auf eine ziellose Art wünschte, Miriam hätte zwei Anschlüsse. Aber was nicht ist, ist eben nicht, dachte er.
Sein Verstand erklärte ihm, daß Stark nicht irgendwo da draußen sein, Unheil anrichten wie ein Krebs in Menschengestalt und Leute umbringen konnte. Es war einfach undenkbar. Aber er tat es. Thad wußte, daß er es tat, und Liz wußte es auch. Er fragte sich, ob Alan es auch wissen würde, wenn er es ihm sagte. Vermutlich nicht; es war damit zu rechnen, daß der Sheriff lediglich ein paar von den tüchtigen jungen Männern in den sauberen weißen Kitteln kommen ließ. George Stark war nicht real, und Alexis Machine, die Fiktion von einer Fiktion, auch nicht. Keiner von beiden hatte je gelebt, ebensowenig wie George Eliot je gelebt hatte oder Mark Twain, Lewis Carroll, Tucker Coe oder Edgar Box. Pseudonyme waren nur eine höhere Form eines fiktiven Charakters.
Dennoch fiel es ihm schwer zu glauben, daß Alan es nicht akzeptieren würde, auch wenn es ihm widerstrebte. Thad selbst wollte es nicht, aber er fühlte sich außerstande, anders zu reagieren. Es war auf eine unerbittliche Art plausibel.
»Warum ruft er denn nicht an?« fragte Liz ruhelos.
»Wir warten ja erst fünf Minuten.«
»Beinahe zehn.«
Er widerstand dem Drang, sie anzufahren - dies war nicht die Schlußrunde einer Spielshow im Fernsehen. Alan würde keine zusätzlichen Punkte und wertvollen Preise erhalten, wenn er es schaffte, vor neun Uhr zurückzurufen.
Es gibt keinen Stark, erklärte ein Teil seines Verstandes beharrlich. Das war die Stimme der Vernunft. Aber sie war auf seltsame Weise machtlos, sie schien diese Behauptung nicht aus einer echten Überzeugung heraus aufzustellen, sondern nur wie auswendig gelernt aufzusagen, wie ein Papagei, dem man Hübscher Junge! oder Polly will einen Keks! zu sagen beigebracht hat. Dennoch stimmte es, oder etwa nicht? War Stark aus dem Grab auferstanden wie ein Monster in einem Horrorfilm? Das wäre ein herrlicher Trick, da der Mann - oder Un-Mann-nie begraben worden war, da sie lediglich einen Grabstein aus Pappmache auf ein unbenutztes Stück Friedhof...
Das bringt mich auf den letzten Punkt oder Aspekt oder wie immer Sie es nennen wollen... Welche Schuhgröße haben Sie, Mr. Beaumont?
Thad war in seinem Sessel zusammengesackt, trotz allem, was passiert war, leicht dösend. Jetzt fuhr er so plötzlich hoch, daß er fast seinen Tee verschüttet hätte. Fußabdrücke. Pangborn hatte so etwas gesagt...
Um was für Fußabdrücke handelte es sich?
Das ist nicht von Belang. Jetzt liegt alles auf dem Tisch...
»Thad? Was ist?« fragte Liz.
Hatte wirklich alles auf dem Tisch gelegen? Was für Fußabdrücke? Wo? In Castle Rock natürlich, sonst hätte Alan nichts davon gewußt. Waren sie vielleicht auf dem Homeland-Friedhof entdeckt worden, wo die neurasthenische Fotografin die Aufnahme gemacht hatte, die er und Liz so amüsant gefunden hatten?
»Kein angenehmer Zeitgenosse«, murmelte er.
Dann läutete das Telefon, und beide verschütteten ihren Tee.

4

Thads Hand schoß auf den Hörer zu - und hielt dann, unmittelbar darüber schwebend, einen Moment inne.
Was ist, wenn er es ist?
Wir sind noch nicht fertig miteinander, Thad. Komm nicht auf die Idee, dich mit mir anzulegen, denn wenn du dich mit mir anlegst, legst du dich mit dem Besten an.
Er zwang seine Hand, den Hörer zu ergreifen und an sein Ohr zu heben. »Hallo?« sagte er durch Lippen, die sich anfühlten, als wären sie mit Novocain vollgepumpt.
»Thad?« Alan Pangborns Stimme. Plötzlich fühlte er sich so schlaff, als wäre sein Körper von steifen Drähten zusammengehalten gewesen, die gerade entfernt worden waren.
»Ja«, sagte er. Das Wort kam fast wie ein Seufzer heraus. Er holte Atem. »Was ist mit Miriam?«
»Ich weiß es noch nicht«, sagte Alan. »Ich habe der New Yorker Polizei ihre Adresse gegeben. Wir sollten eigentlich bald von ihr hören. Aber ich fürchte, ihnen und Ihrer Frau werden eine Viertel- oder halbe Stunde heute abend sehr lang vorkommen.«
»So ist es.«
»Ist ihr etwas passiert?« fragte Liz, und Thad deckte die Sprechmuschel ab und sagte ihr, daß Pangborn es noch nicht wüßte. Sie nickte und lehnte sich zurück, immer noch zu blaß, aber offensichtlich ruhiger und beherrschter als zuvor. Zumindest wurde jetzt etwas unternommen, und die Verantwortung lag nicht mehr nur bei ihnen.
»Sie haben sich außerdem von der Telefongesellschaft die Adresse von Rick Cowley beschafft...«
»Sie werden doch nicht etwa...«
»Sie unternehmen nichts, bevor sie wissen, was mit Mrs. Cowley passiert ist. Ich habe ihnen gesagt, es handelte sich um einen Fall, in dem ein Geistesgestörter es möglicherweise auf eine oder mehrere Personen abgesehen hat, die in dem People-Artikel über das Stark-Pseudonym erwähnt wurden, und ihnen erklärt, in welcher Beziehung die Cowleys zu Ihnen stehen. Ich hoffe, ich habe alles richtig hingekriegt. Ich weiß nicht viel über Schriftsteller und noch weniger über ihre Agenten. Aber den Leuten ist klar, daß Cowley auf keinen Fall vor der Polizei bei seiner geschiedenen Frau ankommen darf.«
»Danke. Danke für alles, Alan.«
»Die Polizei in New York ist zu sehr damit beschäftigt, der Sache nachzugehen, um im Augenblick weitere Erklärungen zu verlangen oder zu brauchen, aber irgendwann wird sie sie verlangen, Thad. Und ich auch. Was glauben Sie - wer ist dieser Mann?«
»Das ist etwas, das ich Ihnen am Telefon nicht sagen möchte. Ich würde zu Ihnen kommen, Alan, aber ich kann meine Frau und meine Kinder jetzt nicht allein lassen. Ich denke, Sie verstehen das. Sie müssen schon hierher kommen.«
»Das kann ich nicht«, sagte Alan geduldig. »Ich habe eine Menge um die Ohren...«
»Ist Ihre Frau krank?«
»Heute abend geht es ihr halbwegs gut. Aber einer meiner Deputies hat sich krank gemeldet, und ich muß für ihn einspringen. Das ist in Kleinstädten so üblich. Aber ich möchte Ihnen ganz offen sagen, Thad - dies ist nicht der rechte Zeitpunkt, den Zurückhaltenden zu spielen.«
Thad dachte darüber nach. Er war sich ziemlich sicher, daß Pangborn die Geschichte akzeptieren würde, wenn er sie ihm erzählte. Aber nicht am Telefon.
»Können Sie morgen herkommen?«
»Morgen müssen wir uns auf alle Fälle zusammensetzen«, sagte Alan. Seine Stimme war gelassen und eindringlich zugleich. »Aber das, was Sie wissen, brauche ich heute abend, Thad. Die Tatsache, daß die Kollegen in New York eine Erklärung verlangen werden, ist, soweit es mich betrifft, zweitrangig. Aber ich muß vor meiner eigenen Tür kehren. Hier gibt es eine Menge Leute, die wollen, daß Homer Gamaches Mörder gefaßt wird, und zwar schnell. Ich gehöre zu ihnen. Also lassen Sie sich nicht noch einmal bitten. So spät ist es noch nicht, daß ich nicht den Staatsanwalt von Penobscot County anrufen und ihn veranlassen könnte, Sie als wichtigen Zeugen in einem Mordfall in Castle County festzunehmen. Er ist bereits von der Staatspolizei informiert worden, daß Sie der Tat verdächtig sind, Alibi oder nicht Alibi.«
»Würden Sie das tun?« fragte Thad verwundert.
»Ich würde es tun, wenn Sie mich dazu zwingen, aber ich denke, dazu lassen Sie es nicht kommen.«
Thad hatte jetzt einen klareren Kopf; außerdem hatte er das Gefühl, daß seine Gedanken in eine bestimmte Richtung gingen. Im Grunde spielte es keine Rolle, weder für Pangborn noch für die New Yorker Polizei, ob der Mann, hinter dem sie her waren, ein Psychopath war, der sich für Stark hielt, oder Stark selbst - oder? Er glaubte es nicht, und ebensowenig glaubte er, daß sie seiner habhaft werden würden.
»Ich bin ziemlich sicher, daß es sich um einen Psychopathen handelt, wie meine Frau meinte«, erklärte er Alan schließlich. Er sah Liz an, versuchte, ihr mit den Augen eine Botschaft zu übermitteln, und offenbar gelang es ihm, denn sie nickte leicht. »Auf eine verrückte Art ergibt es einen Sinn. Erinnern Sie sich, daß Sie Fußabdrücke erwähnten?«
»Ja...«
»Sie waren auf dem Homeland-Friedhof, nicht wahr?« Liz’ Augen weiteten sich.
»Woher wissen Sie das?« Zum ersten Mal schien Alan verblüfft zu sein. »Das habe ich Ihnen nicht erzählt.«
»Haben Sie den Artikel in People inzwischen gelesen?«
»Ja.«
»Dort hat die Fotografin den Grabstein aus Pappmache aufgestellt. Dort ist George Stark beigesetzt worden.«
Stille am anderen Ende der Leitung. Dann: »Scheiße.«
»Sie haben begriffen?«
»Ich denke schon«, sagte Alan. »Wenn dieser Kerl sich einbildet, er wäre Stark, dann könnte er von Starks Grab aus losgezogen sein. Wohnt diese Fotografin in New York?«
Thad fuhr zusammen. »Ja.«
»Dann könnte sie gleichfalls in Gefahr sein?«
»Der Gedanke ist mir noch nicht gekommen - aber ja, das wäre durchaus möglich.«
»Name? Adresse?«
»Ihre Adresse weiß ich nicht.« Sie hatte ihm ihre Karte gegeben, wahrscheinlich, weil sie hoffte, daß er an ihrem Buch mitarbeiten würde, aber er hatte sie weggeworfen. Doch an ihren Namen erinnerte er sich. »Phyllis Myers.«
»Und wer hat die Geschichte geschrieben?«
»Mike Donaldson.«
»Auch in New York?«
Thad wurde plötzlich klar, daß er auch das nicht wußte, und er machte einen kleinen Rückzieher. »Es ist nur eine Vermutung, daß sie beide...«
»Eine recht naheliegende Vermutung. Wenn die Redaktion der Zeitschrift in New York sitzt, kann man davon ausgehen, daß sie in der Nähe wohnt, oder?«
»Ja, ich denke schon. Aber es kann natürlich auch sein, daß einer oder beide freie Mitarbeiter sind...«
»Kommen wir noch einmal auf dieses gestellte Foto zurück. Der Name des Friedhofs wurde nicht erwähnt, weder in der Bildunterschrift noch in dem Artikel. Da bin ich ganz sicher. Ich hätte ihn anhand des Hintergrunds erkennen müssen, aber ich habe mich auf die Details konzentriert.«
»Nein«, sagte Thad. »Der Name wurde nicht erwähnt.«
»Dan Keeton, der Vorsitzende des Stadtrats, hätte vermutlich darauf bestanden, daß der Name Homeland nirgendwo auftaucht. Er ist ein intelligenter, vorausschauender Mann. Er hätte zwar das Fotografieren erlaubt, aber die Namensnennung verboten, um Vandalismus vorzubeugen - um zu verhindern, daß Leute hingehen und den Grabstein sehen wollen und dergleichen.«
Thad nickte. Das leuchtete ihm ein.
»Also gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder kennt unser Psychopath Sie - oder er kommt von hier«, sagte Alan.
Thad war von einem Vorurteil ausgegangen, dessen er sich jetzt schämte: daß der Sheriff eines kleinen Bezirks in Maine, wo es mehr Bäume als Einwohner gab, ein Trottel sein mußte. Pangborn war kein Trottel; er kreiste den berühmten Thaddeus Beaumont immer mehr ein.
»Davon müssen wir ausgehen, jedenfalls fürs erste. Es sieht aus, als ob er über Informationen aus erster Hand verfügt.«
»Also waren die Fußabdrücke, die Sie erwähnten, tatsächlich auf dem Friedhof?«
»Natürlich waren sie dort«, sagte Alan fast geistesabwesend. »Womit halten Sie hinter dem Berg, Thad?«
»Was meinen Sie damit?«
»Lassen Sie uns keine Spielchen spielen. Ich muß diese anderen beiden Namen nach New York weitergeben, und Sie müssen Ihre Denkmütze aufsetzen und überlegen, ob es noch weitere Namen gibt, die ich erfahren sollte. Verleger - Lektoren - ich weiß es nicht. Sie haben gesagt, der Bursche, den wir schnappen wollen, bildete sich ein, er wäre George Stark. Gestern abend haben wir darüber theoretisiert, einfach auf blauen Dunst hin, und heute abend servieren Sie mir das als unumstößliche Tatsache. Und untermauern es, indem Sie mir die Fußabdrücke an den Kopf werfen. Entweder sind Sie anhand der Tatsachen, die wir beide kennen, zu einer verblüffenden Schlußfolgerung gelangt, oder Sie wissen etwas, das ich nicht weiß. Natürlich gefällt mir die zweite Möglichkeit besser. Also reden Sie.«
Aber was hatte er überhaupt? Trancezustände, denen die von Tausenden von Sperlingen verursachten Geräusche vorausgingen? Worte, die er ohne weiteres auf eine Manuskriptseite geschrieben haben konnte, nachdem Alan Pangborn ihm mitgeteilt hatte, daß dieselben Worte an die Wand von Clawsons Wohnung geschrieben worden waren? Weitere Worte auf einem Blatt Papier, das er in Fetzen gerissen und im Gebäude der Englischen Fakultät in den Verbrennungsofen geworfen hatte? Träume, in denen ein fürchterlicher Mann ihn durch sein Haus in Castle Rock führte und in denen alles, was er berührte, seine eigene Frau eingeschlossen, sich auflöste? Ob er nun, was er glaubte, eine Wahrheit des Herzens nannte oder eine Intuition des Verstandes - Beweise hatte er trotzdem nicht. Die Fingerabdrücke und der Speichel deuteten darauf hin, daß hier etwas sehr seltsam war, gewiß - aber dermaßen seltsam?
»Alan«, sagte er langsam, »Sie würden mich auslachen. Nein - das nehme ich zurück. Dazu kenne ich Sie inzwischen gut genug. Sie würden mich nicht auslachen - aber Sie würden mir auch nicht glauben. Ich habe mir die Sache durch den Kopf gehen lassen, aber es ist nur eines dabei herausgekommen: Sie würden mir nicht glauben.«
Sofort war Alans Stimme wieder da, eindringlich, befehlend, fast unwiderstehlich. »Lassen Sie’s doch darauf ankommen.«
Thad zögerte, warf einen Blick auf Liz und schüttelte dann den Kopf. »Morgen. Wenn wir uns gegenseitig ins Gesicht sehen können. Heute abend müssen Sie sich mit meinem Wort begnügen, daß ich ihnen alles gesagt habe, was für Sie von praktischem Nutzen ist - alles, was ich Ihnen sagen kann.«
»Thad, ich habe Sie darauf hingewiesen, daß ich Sie als wichtigen Zeugen...«
»Wenn Sie meinen, Sie müßten das tun, dann tun Sie es. Ich würde es Ihnen nicht verübeln. Aber mehr kann ich Ihnen erst sagen, wenn wir uns wiedersehen.«
Alan schwieg ein paar Sekunden. Dann sagte er: »Okay.«
»Ich gebe Ihnen jetzt eine Beschreibung des Mannes. Ich bin nicht ganz sicher, ob sie zutrifft, aber ich glaube, sie kommt ihm ziemlich nahe. Auf jeden Fall so nahe, daß Sie sie an die Cops in New York weitergeben können. Haben Sie einen Stift zur Hand?«
»Ja. Legen Sie los.«
Thad schloß die Augen, die Gott ihm ins Gesicht gesetzt hatte, und öffnete dasjenige, das Gott in seinen Verstand gesetzt hatte, das Auge, das beharrlich auch Dinge wahrnahm, die er nicht sehen wollte. Wenn Leute, die seine Bücher gelesen hatten, ihm zum ersten Mal begegneten, waren sie unfehlbar enttäuscht. Sie versuchten zwar, es sich nicht anmerken zu lassen, aber es gelang ihnen nicht. Er machte ihnen keinen Vorwurf daraus, weil er ihre Gefühle verstand. Wenn sie seine Bücher mochten (und manche behaupteten sogar, sie zu lieben), dann stellten sie sich unter ihm so etwas vor wie einen Gott. Anstelle eines Gottes sahen sie einen Mann, der gut einsachtzig groß war, eine Brille trug, anfing, kahl zu werden, und die Angewohnheit hatte, über alle möglichen und unmöglichen Gegenstände zu stolpern. Sie sahen einen Mann, dessen Kopfhaut leicht schuppig war und dessen Nase zwei Löcher hatte, genau wie ihre eigene.
Was sie nicht sehen konnten, war das dritte Auge, das in seinem Kopf saß. Dieses Auge, das in der dunklen Hälfte von ihm strahlte, der Hälfte, die immer im Schatten lag - das war etwas Göttliches, und er war froh, daß sie es nicht sehen konnten. Wenn sie es könnten, dann würden vermutlich viele versuchen, es zu stehlen. Selbst wenn sie es mit einem stumpfen Messer aus seinem Fleisch herausbohren mußten. Er schaute ins Dunkel und beschwor sein privates Bild von George Stark herauf - dem wirklichen George Stark, der mit dem Mann, der für das Foto auf dem Schutzumschlag posiert hatte, keinerlei Ähnlichkeit hatte. Er hielt Ausschau nach dem Mann im Dunkeln, der im Laufe der Jahre lautlos herangewachsen war, und ging daran, Alan Pangborn diesen Mann zu zeigen.
»Er ist ziemlich groß«, sagte er. »Größer als ich. Ungefähr einsfünfundachtzig, in Schuhen vielleicht sogar einsachtundachtzig. Er hat blondes Haar, kurz und sauber geschnitten, und blaue Augen. Auf größere Entfernung kann er ausgezeichnet sehen. Seit ungefähr fünf Jahren hat er eine Brille, die er zum Lesen und Schreiben aufsetzt.
Das Auffallende an ihm ist weniger seine Größe als seine Breite. Er ist nicht dick, aber extrem breit gebaut. Kragenweite vierundvierzig, vielleicht auch fünfundvierzig. Er ist in meinem Alter, aber er wird noch nicht grau und hat kein Fett angesetzt. Er ist kräftig. So, wie Schwarzenegger heute aussieht, nachdem er ein bißchen nachgelassen hat. Er trainiert mit Hanteln. Er kann seinen Bizeps so anspannen, daß eine Naht an seinem Hemdsärmel aufplatzt, aber er ist kein Muskelpaket.
Er ist in New Hampshire geboren. Nach der Scheidung seiner Eltern zog seine Mutter mit ihm nach Oxford, Mississippi, wo er aufgewachsen ist. Dort hat er den größten Teil seines Lebens verbracht. Als er jünger war, hatte er einen knüppeldicken Südstaatenakzent. Auf dem College haben viele Leute Witze darüber gemacht - allerdings nicht in seiner Gegenwart, man macht keine Witze in Gegenwart eines Mannes, wie er einer ist. Und er hat sich sehr bemüht, den Akzent loszuwerden. Jetzt hört man ihm seine Herkunft nur an, wenn er wütend ist, und ich glaube, die Leute, die ihn wütend gemacht haben, stehen später in der Regel nicht mehr als Zeugen zur Verfügung. Seine Sicherungen brennen sehr schnell durch. Er ist gewalttätig. Er ist gefährlich.«
»Was...« setzte Alan an, aber Thad redete weiter.
»Er ist ziemlich braungebrannt, und da blonde Männer im allgemeinen nur schlecht bräunen, könnte das ein guter Anhaltspunkt für eine Identifizierung sein. Große Füße, große Hände, massiger Hals, breite Schultern. Sein Gesicht sieht aus, als hätte es jemand, der zwar begabt, aber in Zeitnot war, aus einem harten Felsblock herausgeschlagen.
Und schließlich: er fährt vielleicht einen schwarzen Toronado. Ich weiß nicht, welches Baujahr. Auf jeden Fall einen von den alten, die eine Menge Kraft unter der Haube haben. Einfarbig schwarz. Wahrscheinlich Kennzeichen von Mississippi, aber er könnte sich auch andere beschafft haben.« Er hielt einen Moment inne, dann setzte er hinzu: »Ach ja, auf der hinteren Stoßstange des Toronado ist ein Aufkleber. GRANDIOSER HURENSOHN steht darauf.«
Er öffnete die Augen.
Liz starrte ihn an. Ihr Gesicht war wieder sehr blaß.
Am anderen Ende der Leitung herrschte eine ganze Weile Stille.
»Alan? Sind Sie...«
»Moment. Ich schreibe.« Eine weitere, kürzere Pause. »Okay«, sagte er schließlich. »Ich habe es. Sie können mir all das sagen, aber nicht, wer der Kerl ist oder in welcher Beziehung Sie zu ihm stehen oder woher Sie ihn kennen?«
»Ich kann Ihnen das alles sagen, und ich werde es tun. Morgen. Sein Name würde Ihnen heute abend ohnehin nicht weiterhelfen, weil er einen anderen benutzt.«
»George Stark.«
»Es könnte auch sein, daß er so irre ist, sich Alexis Machine zu nennen, aber ich bezweifle es. Ja, ich glaube, er nennt sich George Stark.« Er versuchte, Liz zuzublinzeln, vielleicht weil er in seiner Verzweiflung glaubte, die düstere Stimmung damit etwas lockern zu können. Es gelang ihm nur, die Lider zu bewegen wie eine verschlafene Eule.
»Und ich kann Sie nicht dazu bringen, mir heute abend mehr zu erzählen?«
»Nein. Es tut mir leid, aber es geht nicht.«
»Also gut. Ich rufe so bald wie möglich zurück.« Und dann hatte er aufgelegt. Einfach so, kein Dankeschön, kein Auf Wiederhören. Als er noch einmal über ihr Gespräch nachdachte, fand Thad, daß er im Grunde auch kein Dankeschön verdient hatte.
Er legte den Hörer auf und ging zu seiner Frau, die ihn ansah, als wäre sie in eine Statue verwandelt worden. Er ergriff ihre Hände - sie waren sehr kalt - und sagte: »Es kommt alles wieder ins Lot, Liz. Ganz bestimmt.«
»Hast du vor, ihm von den Trancezuständen zu erzählen, wenn er morgen kommt? Von den Vogelgeräuschen? Daß du sie als Kind gehört hast und was damals dahintersteckte? Von den Dingen, die du geschrieben hast?«
»Ich werde ihm alles erzählen«, sagte Thad. »Was er dann an die anderen Behörden weitergibt...« Er zuckte die Achseln. »Das ist seine Sache.«
»So viel«, sagte sie mit kraftloser, leiser Stimme. Ihre Augen fixierten ihn - schienen außerstande, ihn zu verlassen. »Du weißt so viel über ihn, Thad - woher?«
Er konnte nur vor ihr niederknien und ihre kalten Hände halten. Woher konnte er so viel über ihn wissen? Das wurde er immer wieder gefragt. Die Leute benutzten unterschiedliche Formulierungen - wie sind Sie darauf gekommen? wie konnten Sie das schreiben? wieso erinnern Sie sich daran? wie haben Sie das erkannt? -, aber es lief immer auf dasselbe hinaus: woher wissen Sie das? Und er konnte die Frage nicht beantworten. Er wußte nicht, woher er es wußte.
Er wußte es eben.
»So viel«, wiederholte sie, und sie sprach wie jemand, der schlief und einen quälenden Alptraum hatte. Dann schwiegen sie beide. Er rechnete ständig damit, daß die Zwillinge den Kummer ihrer Eltern spürten, daß sie aufwachten und weinten, aber es war nichts zu hören außer dem stetigen Ticken der Uhr. Er nahm auf dem Fußboden neben ihrem Sessel eine bequemere Stellung ein und hielt weiter ihre Hände, hoffte, sie aufwärmen zu können. Als fünfzehn Minuten später das Telefon läutete, waren sie immer noch kalt.

5

Pangborn war kühl und sachlich. Rick Cowley befand sich in seiner Wohnung und stand unter Polizeischutz. Er würde sich bald zu seiner geschiedenen Frau begeben. Aber die Aussöhnung, das Wiederzusammenfinden, von dem beide des öfteren gesprochen hatten, würde nicht mehr stattfinden können. Miriam war tot. Rick würde sie im Leichenschauhaus von Manhattan formell identifizieren. Thad sollte nicht damit rechnen, heute abend noch von Rick zu hören, und ihn auch nicht selbst anrufen; daß zwischen Thad und Miriams Mörder eine Beziehung bestand, war Rick »bis auf weiteres« vorenthalten worden. Phyllis Myers war ausfindig gemacht und gleichfalls unter Polizeischutz gestellt worden. Mike Donaldson hatte sich als härtere Nuß erwiesen, aber sie hofften, seinen Aufenthalt bis Mitternacht ermittelt zu haben, um ihn gleichfalls schützen zu können.
»Wie wurde sie getötet?« fragte Thad. Er kannte die Antwort, aber manchmal mußte man trotzdem fragen, Gott weiß, warum.
»Er hat ihr die Kehle durchgeschnitten«, sagte Alan mit, wie Thad glaubte, beabsichtigter Brutalität. Und eine Sekunde später fragte er: »Sind Sie immer noch sicher, daß es nichts gibt, was Sie mir mitteilen wollen?«
»Morgen früh. Wenn wir einander ansehen können.«
»Okay. Ich dachte nur, fragen schadet nichts.«
»Nein. Das tut es nicht.«
»Die New Yorker Polizei fahndet nach einem Mann namens George Stark, Ihre Beschreibung.«
»Gut.« Und das war es wohl auch, obwohl es gleichzeitig zwecklos war. Sie würden ihn nicht finden, wenn er nicht gefunden werden wollte, und wenn jemand ihn fand, so würde er es, wie Thad glaubte, zu bereuen haben.
»Um neun«, sagte Alan. »Sehen Sie zu, daß Sie dann da sind, Thad.«
»Ich werde da sein.«

6

Liz nahm ein Beruhigungsmittel und schlief schließlich ein, Thad driftete in einen leichten Halbschlaf und wieder heraus, und um Viertel nach drei stand er auf, um ins Badezimmer zu gehen. Als er dastand und urinierte, glaubte er die Sperlinge zu hören. Er erstarrte, lauschte, und der Fluß seines Wassers geriet ins Stocken. Das Geräusch wurde weder stärker noch schwächer, und nach ein paar Augenblicken begriff er, daß es nur Grillen waren.
Er schaute aus dem Fenster und sah, daß auf der anderen Straßenseite ein Streifenwagen der Staatspolizei parkte, dunkel und schweigend. Er hätte sich einbilden können, daß der Wagen leer war, wenn er nicht das Aufglühen einer Zigarette gesehen hätte. Es sah so aus, als stünden er, Liz und die Zwillinge gleichfalls unter Polizeischutz.
Oder unter Bewachung, dachte er und kehrte ins Bett zurück.
Was es auch sein mochte - es schien ihm etwas Seelenfrieden zu verschaffen. Er schlief ein und wachte um acht auf, ohne die Erinnerung an schlimme Träume. Aber der schlimme Traum war natürlich da draußen. Irgendwo.