Samson starrte aus dem Fenster auf den halb leeren Swimmingpool, als Ray um acht Uhr klopfte. Er hatte sich immer einen Pool gewünscht, und mit sechs war er auf die Idee gekommen, hinter dem Haus selbst einen zu graben. Ich grabe einen Pool, hatte er seiner Mutter gesagt. Sie blickte von ihrer Zeitschrift auf, das Gesicht von einem Strohhut beschattet. Prima, hatte sie gesagt, ich ziehe mir schon mal den Badeanzug an.
«Lassen Sie sich Zeit», sagte Ray.
Im Tageslicht wirkte das Haus älter, schäbiger als am Vorabend. Außen blätterte die weiße Farbe ab, angegraut von Feuchtigkeit.
«Ich habe es 1970 gebaut. Damals war es hochmodern», erklärte Ray, der eine Kanne Kräutertee und eine Schale Obst hinaustrug. Samson folgte ihm auf die Schieferterrasse. Es gab einen Tisch und ein paar mit Plastik bespannte Gartenstühle von der Art, die Striemen an den Beinen hinterlassen.
«Ich hatte einen berühmten Architekten, der inzwischen fast vergessen ist. Das Haus erschien in Zeitschriften und so. Meine Frau musste wegen jedem bisschen mit ihm streiten. Er wollte das Kinderzimmer an Seilen aufhängen. Die Kids sollten mit Flaschenzügen rauf- und runterkommen. Gerade mal zwei und vier Jahre alt, wie Tarzans.»
Ein Rasenmäher brummte in der Ferne.
«Das Grundstück hatte ich schon vier oder fünf Jahre vorher gekauft, und zuerst wohnten wir in dem Bungalow, der darauf stand. Das Haus eines Fernsehunterhalters. Unser Plan war, es abzureißen und dieses zu bauen, sobald wir das Geld hatten, darum richteten wir uns gar nicht erst allzu häuslich ein. Komisch, dann zogen wir in das neue Haus, aber das Gefühl blieb. Wir lebten hier wie in den Flitterwochen.»
Jetzt fiel Samson ein, woran ihn das hier die ganze Zeit erinnert hatte. Ray hatte das Haus eines Fernsehunterhalters abgerissen und stattdessen eine Filmkulisse aufgebaut.
«Es ist wirklich wunderschön. Aber für eine Familie nicht unbedingt gemütlich.»
«Stimmt.» Ray lehnte sich auf dem Stuhl zurück, ein Mann, der ein Haus – ein ganzes Reich – errichtet hatte und sich die Großzügigkeit leisten konnte, seine Fehler zuzugeben. «Eigentlich sollte ich es verkaufen, ich bin selten da. Aber wenigstens wartet es, wenn ich zurückkomme. Hier sind meine Kinder groß geworden. Es gibt Erinnerungen.»
«Klingt beinahe wie eine Last.»
Ray schwenkte den Teebeutel hin und her, ehe er ihn aus der Kanne fischte. Er blickte zu Samson auf. «Die Erinnerungen oder das Haus?»
«Beides.»
«Es ist unversöhnlich. Man bewegt sich in lauter rechten Winkeln. Aber ich empfinde viel Wärme für dieses Haus. Wie für eine geliebte Frau, die einen jahrelang abgewiesen hat und der man irgendwie dankbar ist, weil man merkt, dass sie dem eigenen Leben Gestalt verliehen hat.»
Samson ließ die Aussicht auf sich wirken. Er fragte sich, ob es eine andere Frau gegeben hatte, vor Anna, eine, die er geliebt und die ihn verschmäht hatte. Wenn ja, waren ihre Spuren verloren wie alles andere. Er schirmte die Augen gegen die blendende Sonne ab.
«Ihre Forschung, machen Sie die in der Wüste?»
«Richtig, in Nevada.»
«Was ist dort?»
«Nichts – verkümmertes Gestrüpp, niedrige Gebäude: Bordelle, Casinos und Militärbasen. Billig und keine Nachbarn.»
Jetzt mochte Samson fast glauben, er sei wirklich in einem Film, ein Typ, cool und gelassen wie Bogart, durch nichts zu schockieren. «Soll ich lieber keine Fragen stellen? Ich nehme an, was Sie machen, ist legal.»
Ray lachte. «Und wie.»
«Verstehen Sie mich nicht falsch, Sie machen einen sehr achtbaren Eindruck.» Samson blickte verlegen beiseite. Er hatte gleichziehen, dem Doktor das Gefühl geben wollen, nichts Menschliches sei ihm fremd. Stattdessen war es naiv aus ihm herausgekommen. «Ich glaube, Sie sind ein guter Mensch, Ray. Keine Nachbarn, sagten sie.»
«Danke, ja. Wir haben ein Labor da draußen, eine ziemlich umfangreiche Anlage für ein einziges Projekt.»
«Ihr Projekt?»
«Könnte man sagen. Eine Sache, an der ich jahrelang gearbeitet habe. Aber jetzt sind wir ein ganzes Team. Wissenschaft wie diese, mit dem Niveau, auf dem wir arbeiten, verlangt unglaubliche Kooperation. Experten, die ihr Wissen zusammentun.» Er hob die Tasse an die Lippen und schluckte, ohne Samson aus den Augen zu lassen. Als er weitersprach, senkte er die Stimme. «Wir tüfteln da etwas wirklich verdammt Spannendes aus. Dringen in einer nie dagewesenen Weise ins Gehirn ein. Eine schöne Sache.»
«Und was ist es genau? Das Projekt? Ich vermute, das ist die Zwanzig-Millionen-Dollar-Frage, stimmt’s?»
«Hundert-Millionen.»
«Was?»
Ray lächelte. «Eine Hundert-Millionen-Dollar-Frage. Aber ja, fragen Sie, ich werde Ihnen erzählen, was Sie wissen wollen. Man bekommt keinen Anruf, alles fallen zu lassen und auf die andere Seite der USA zu fliegen, ohne eine gute Antwort, warum.»
«Gut. In Ordnung.» Samson hob ruckartig den Kopf, irgendwie erleichtert, obwohl er sich nicht sicher war, warum. Er spürte, dass Ray auf seiner Seite war, und jetzt wollte er unbedingt auf Rays sein. «Viel war da nicht fallen zu lassen. In New York habe ich nichts gemacht.»
«Umso besser für uns beide. Dann habe ich Sie ja genau zur richtigen Zeit gefunden. Und nebenbei, ich würde wirklich gern ein wenig über Sie reden. Ich halte Sie nämlich jetzt für einen höchst ungewöhnlichen Experten in Sachen Gedächtnis. Was sagte ich gestern Abend, Sie könnten das in einen Urlaub verwandeln? Ich nehme es hiermit zurück. Sie sind nicht aus dem Schneider, bis Sie mir erzählen, wie es in Ihrem Kopf aussieht. Sagen wir, das schulden Sie mir.»
Samson hob glücklich seine Tasse und kippte den Rest Tee herunter.
«Was ist das eigentlich für ein Zeug?»
«Distel. Wie wär’s mit einem Spaziergang?»
Die Luft war schon warm, ein spätwinterlicher Morgen in Kalifornien, wo Schnee nur fällt, wenn man eine Plastikkugel schüttelt, um das Krippenspiel zu berieseln. Unterwegs sahen sie kamerabewachte Einfahrten, frei stehende Skulpturen, Formschnittgärten. Ein Mann fuhr in einem roten Cabrio vorbei, die Hand im Fahrtwind aus dem Fenster hängend, während die Stereoanlage Stevie Wonder, Very Superstitious, spielte.
Am nächsten Tag saß Samson schwitzend und allein hinten in einem Taxi. Der Asphalt strahlte Hitze aus, es brodelte unter der Riesenstadt. Sie krochen durch den Mittagsverkehr über die Schnellstraße, und er versuchte in anderen Autos Stricher und Sternchen zu entdecken. In Gedanken spulte er zurück, was Ray ihm erzählt hatte, eins nach dem anderen. In der Mönchstradition sei die Wüste ein heiliger Ort von gleichzeitigem Sein und Nichts, hatte Ray gesagt. Eine Stätte der Prüfung, wo der Sinn für Individualität verwische und ein höherer Bewusstseinsstand erreicht werde. Samson dachte an ein Münztelefon mitten im Nirgendwo als Maßstab für die Trostlosigkeit. Er hatte es in einem Film gesehen, ein Mädchen in Cowboystiefeln, das Kaugummi kauend ein paar Quarters sammelte für die einzige Sorte Anruf, die aus Telefonzellen geführt werden, den Hilferuf der Verschollenen und Vermissten. Dabei durchbrachen nur der Wind oder Tarnkappenbomber die Schallmauer zwischen Schweigen und Schweigen.
Im Auto neben dem Taxi räkelte sich eine Frau mit zerzaustem blondem Pferdeschwanz, bei laufendem Radio vor sich hin singend. Als sie herübersah, winkte Samson ihr zu. Sie reagierte verlegen, und er war es ebenfalls, aber dann lächelte sie und wedelte mit den Fingern, die in fünf Zentimeter langen pinkfarbenen Nägeln endeten. Sie rollten mit der gleichen Geschwindigkeit dahin, warfen einander glückliche Blicke zu und winkten jedes Mal, wenn der eine eine Spur schneller geworden war und der andere wieder aufholte.
«Besorgen Sie sich ihre Nummer», ermutigte ihn der Taxifahrer, in den Rückspiegel grinsend.
«Ich hab schon eine Freundin», sagte Samson, um ein Gespräch zu vermeiden und die Augen nicht von dem Mädchen abwenden zu müssen.
«Dann haben Sie jetzt zwei!», gab der Fahrer fröhlich zurück und widmete sich wieder seinem nunmehr sehr ernst genommenen Job, auf gleicher Höhe zu bleiben. Als sie die Ausfahrt erreichten und abbiegen mussten, schienen alle ein wenig traurig, das Mädchen, der Fahrer und Samson, der sich fragte, wie sie wohl heißen mochte; wenigstens hätte er, über die Spur rufend, nach ihrem Namen fragen sollen.
Sie fuhren die Straßen am Ende des Campus auf und ab. Samson hatte Lanas Adresse auf einem Stück Papier in der Geldbörse aufbewahrt. Er hatte versucht, sie von Ray aus anzurufen, aber niemanden erreicht. Wahrscheinlich war sie in irgendeinem Seminar, und weil er jedenfalls hinfahren wollte, hatte er sich einfach auf den Weg gemacht, in der Annahme, bis er da wäre, würde sie wohl wieder zu Hause sein. Es erregte ihn zu wissen, dass dies die Straßen waren, die sie jeden Tag entlangging, ihre Tasche über die Schulter geschlungen, sich unwirsch gegen den Strich durchs Haar fahrend, sodass sie aussah wie eben aus dem Bett gekommen.
«Freundin Nummer eins?», fragte der Fahrer, indem er vor einer beige gestrichenen Wohnanlage hielt und sich den Hals verrenkte, um Samson ins Gesicht zu sehen.
«Was? Ja», sagte Samson, während er die frischen Scheine, die Ray ihm gegeben hatte, abzählte.
Der Fahrer hielt sich den Finger vor den Mund. «Viel Glück!», säuselte er, dann ließ er die Reifen quietschen und entschwand mit dem geteilten Geheimnis.
Samson klopfte an die Tür im Erdgeschoss. Als keine Antwort kam, drückte er die Klinke. Es war nicht abgeschlossen.
«Hallo?», rief er unter nochmaligem Klopfen an die geöffnete Tür.
Drinnen stand eine Couch an der Wand, es gab Korbstühle, einen aufgeblasenen Dinosaurier und einen in der Ecke abgestellten Fernseher, aus dessen Rückseite lose Drähte herausragten. Eine einzelne, scheppernde Stimme drang von irgendwoher, und es dauerte eine Sekunde, bis Samson begriff, dass es das Radio war, das tief vibrierende Brummen eines schlechten Empfangs im untersten Tonbereich. «Lana?»
Da sich nichts rührte, folgte er dem Klang des Radios geradewegs ins Schlafzimmer. Die Jalousien waren heruntergelassen, es war stockdunkel bis auf den leuchtenden Bildschirm eines Computers. Jemand hockte davor, den Rücken Samson zugewandt.
«Hallo?»
Der Junge drehte sich um, registrierte aber erst mit einiger Verzögerung die andere Person im Raum, als müsste er sich umstellen, sich von einer Ebene auf eine andere begeben.
«Oh, hallo. Willst du zu Lana? Sie kommt – verflucht, wie spät ist es?» Er blickte aufs Handgelenk, trug aber keine Uhr. «Na sagen wir, ungefähr in einer Stunde.» Ein Ausdruck von Verwirrung huschte über sein Gesicht, etwas, was unbeheimatet war und gleich wieder verschwand, als die Züge sich entspannten. Er langte nach oben und drehte die Lautstärke eines mit Klebeband zusammengehaltenen Radios herunter, so leise, dass man die Worte der Sendung gerade noch verstand. Beim normal alternden Affengehirn sterben achtundzwanzig Prozent der Nervenzellen ab. Er fummelte an seiner Brille und strich sich mit der Hand über den Hinterkopf, das platte, widerspenstige, ungesunde Haar eines Schlafgestörten oder Tagschläfers. «Weiß sie, dass du kommen wolltest?»
Das Interessante an der Sache ist, hatte Ray gesagt, dass wir bei der Arbeit am Gehirn mit einer Intelligenz zu tun haben, die unsere eigene weit übertrifft.
«Ich bin ein Freund von ihr aus New York. Ich dachte, ich könnte sie überraschen.»
«Oh», nickte er. «Also ich, ich bin hier gerade an etwas dran.» Der Junge – er sah nicht viel älter aus als neunzehn oder zwanzig – schwenkte herum und betrachtete den Bildschirm. Er drückte ein paar Tasten, wartete, was da kommen würde, dann drehte er sich zerstreut wieder um.
«So, ja. Willst du warten, bis sie kommt? Ach übrigens, ich heiße Wingate.»
Samson schüttelte die feuchte Hand und stellte sich ebenfalls vor, worauf Wingates Miene sich aufhellte. Er schob ein paar Zeitschriften von einem braunen Samtsessel, der kleine kahle Stellen hatte wie ein kranker Hund. Samson hatte noch nie von einer dieser Zeitschriften – Nuts and Volts oder Midnight Engineer – gehört.
«Man muss sie sich schicken lassen», sagte Wingate. «Ich kenne den Typ, der in Volts die meisten Sachen schreibt.» In seinem Gesicht leuchtete ein Grinsen auf. «Dann bist du also Samson. Cool. Lana hat mir von dir erzählt.»
Dass Wingate etwas von ihm wusste, gab Samson die einzige Sicherheit, am richtigen Ort zu sein, denn außer ein paar Mädchenturnschuhen am Fußende des Bettes und einem Fläschchen Nagellack auf dem Nachttisch deutete nichts darauf hin, dass Lana je dort gewesen war. Er fragte sich, was sie über ihn erzählt hatte.
Wingate plauderte locker drauf los, sein Haar durchfurchend, als hätte er etwas darin verloren. Er machte keine Anstalten, die Jalousien zu öffnen oder ein Licht anzuknipsen, und so saßen sie im Dunkeln, während dickflüssige Blasen über den Bildschirm nach oben schwammen wie bei einer Lavalampe. Er knüllte sein Flanellhemd zusammen und warf es in die Ecke. Das Radio machte sich bemerkbar: «Es sind noch einige Schwierigkeiten zu überwinden, bevor diese Therapie an Menschen erprobt werden kann. Ab und zu spitzte Wingate die Ohren wie ein Wildhund, der im Wind nach dem Rudel lauscht.
Wingate erzählte, wie er vor ein paar Monaten, von Palo Alto kommend, hier gelandet war, die Riege der Hacker mit Silikonstaub an den Fingern hinter sich gelassen hatte. Nach seinem Abschluss in Stanford war er noch ein Jahr geblieben, unsicher, ob er einen Doktor machen sollte oder nicht. Er schrieb Programme für seinen Studienberater und für ein Betriebssystem namens Linux oder traf sich hinten im Café auf dem Campus mit Typen aus den kleinen Balkanstaaten, die irgendwas mit Roboterentwicklung oder künstlicher Intelligenz machten, die sich ausdachten, wie mit Hilfe der Spieltheorie und der Boole’schen Algebra ein Bewusstsein zu schaffen sei, und die Welt in Form binärer Gleichungen sahen, eins oder null. Das seien Typen, die zehn Jahre an der Fakultät verbracht hätten, erklärte Wingate, und die die großen blonden Mädchen aus den jüngeren Semestern wie exotische Tiere betrachteten, die kaputte Autos führen, die Rücksitze mit Müll beladen, obwohl ihre Arbeit ungreifbar sei, rein virtuell. Sie hätten einen feinen, hintergründigen und leicht pubertären Sinn für Humor, der nur in ihren eigenen Kreisen verstanden werde. Auch wenn sie aus kriegsgeschüttelten Ländern kämen, die ihre Besten zum Studieren nach Amerika geschickt hätten – jetzt brächte sie nichts mehr aus Kalifornien zurück. Wingate kam aus einem Vorort von Chicago, aber er hätte ebenso gut von hinter dem Eisernen Vorhang kommen können. Als er bei seiner Ankunft in Stanford verwirrt durch den Komplex der im Missionsstil gehaltenen Gebäude gelaufen und den Hügel hinauf zu einem gewaltigen Radioteleskop gewandert war, hatte er gleich gewusst: bis hierher und nicht weiter.
Samson hatte keine Ahnung, wovon Wingate redete. Er schien ein schon weiter entwickeltes, aus der Zukunft zurückgekehrtes Wesen zu sein, und Samson bekam ein hohles Gefühl im Bauch, als ihm dämmerte, dass dies die Gesellschaft war, die Lana sich gesucht hatte.
«Ich bin dort in der Nähe aufgewachsen», sagte er, Wingates Monolog unterbrechend. Er wollte ihn jede Menge fragen, was zum Teufel Linux bedeute und was das für Leute seien, die von hinter dem Eisernen Vorhang? Er wollte ihn fragen, welcher Art genau seine Beziehung zu Lana sei. Und zumindest wollte er von ihm die Namen der vertrauten Straßen seiner Kindheit hören, einen Plan zeichnen und Sehenswürdigkeiten identifizieren.
Stattdessen sagte er: «Ich war Lanas Professor an der Columbia.»
Wingate nickte, schien aber kaum beeindruckt. Er sprang auf und drehte an der Lautstärke des Radios. Vorgebeugt ließ er die Hand auf dem Kasten. Hier ist die Stimme der laotischen Gemeinde: Halten Sie die Ohren offen und den Sucher links.
«Mist. Ich dachte, es käme was anderes.»
Sie hörten ein paar Minuten lang einem mit schwerem Akzent Englisch sprechenden Mann zu, der über ein Hochwasser am Mekong berichtete, dann stellte Wingate das Gerät ab.
«Was ist mit dem Radio passiert?»
Wingate nahm den verbeulten Kasten und öffnete das Batteriefach, als wäre die Antwort darin versteckt. «Es ist nur ein alter Transistor, den ich auseinander gebaut und wieder zusammengesetzt habe. Ich wollte schauen, ob ich diesen Piratensender bei Pasadena kriege.» Einer von denen, dachte Samson, die alles zerlegen, um zu sehen, wie es verdrahtet ist. Die erst Pennys zum Plattfahren auf die Eisenbahnschienen legen und am Ende an den Knöpfen für Atombomben sitzen.
«Dieser Typ schickt sein Signal an eine Fünfzig-Meter-Antenne, die er auf dem Hausdach hat, und dann wird es verstärkt ausgestrahlt und auf UKW gesendet. Auf einer freien Frequenz, genau vor der Nase der Kontrollbehörde. Sie haben ihn auffliegen lassen, aber er hat einfach eingepackt und ist mit seiner Anlage ein paar Blocks weiter gezogen.»
«Was sagt er denn, wenn er auf Sendung ist? Scheint ja ein großer Aufwand zu sein.»
Wingate zuckte die Achseln. «Er ist Anarchist. Ein Typ, der sein Ding durchzieht, aus Prinzip. Es gibt jede Menge Leute, die das machen; das Zubehör kann man übers Netz bestellen. In Florida sitzt ein Kid, der fünfzehn Stunden am Tag Anleitungen sendet, wie man Sachen in die Luft sprengt. Er ist ein Freak, aber meistens sind es Antikapitalisten, die die gesellschaftliche Kontrolle aushebeln, die geballte Macht der Medien aus dem Untergrund aufmischen wollen. Leute, die für offene Systeme leben.»
In der Wüste zelten Hippies an den heißen Quellen, hatte Ray gesagt. Sie plantschen splitternackt herum, während die Hochspannungsleitungen über ihren Köpfen knisternd Strom durchs Tal befördern. Während die Militärs eine M-16-Ladung nach der anderen in den Dreck schießen. In der Wüste bilden Militärs und Anarchisten eine Art perfektes Gleichgewicht, die ganze Skala der Werturteile. Die übrigen warten dort ab, bis ihre Zeit gekommen ist: die mexikanische Bundesarmee, abgetaucht wie Che in Bolivien, um Guerillataktik zu üben und am Ende Kalifornien zurückzuerobern; der japanisch-amerikanische Arm der Yakuza, die Farbpistolen fürs Blitztraining im Gepäck; Skinheads, die im Schatten der Panamints Kundgebungen proben. Einzelgänger, die auf die Apokalypse warten.
Wingate wirbelte herum und begann, in die Tasten des Computers zu hauen. Er suchte etwas im Netz, eine Website, die er Samson zeigen wollte, während Samson sich ein zartes Gewebe aus Licht und Glas vorstellte, schimmernd und durchsichtig, sich kreuzend und dehnend, gegen Unendlich strebend. Einmal, als er klein war, hatte er ein Knäuel Garn genommen und die Wände ringsum der Länge nach bespannt, den kleinen Vorraum zwischen zwei Zimmern in eine Menschenfalle verwandelnd, in die seine Mutter fröhlich hineingelaufen war.
Er starrte von hinten auf Wingates verfilztes Haar, und einen Augenblick setzte sein Geist aus, er hatte das Gefühl, sich nicht mehr erinnern zu können, wie er in das dunkle Schlafzimmer gelangt oder wer Wingate war, woher er ihn kannte. Laut, als versuchte er selbst, seine Stimme über Vakuumröhren zu senden, erklärte Samson, er verstehe so gut wie gar nichts von Computern. Allerhöchstens könne er Signaturen in der Bibliothek aufrufen. Er habe den Computer in seinem Büro an der Columbia nicht einmal angestellt. Eine Frage des Schalters, den er nicht gefunden habe.
Wingate blinzelte. Es war merkwürdig, wie die Einwürfe einer anderen Person ihn zu verwirren schienen, wenn er sich einmal in Fahrt geredet hatte. Als wäre das Gespräch keine angeborene Fähigkeit, sondern etwas, was er unbeholfen zu imitieren gelernt hatte, wie ein Affe in Gefangenschaft, dem beigebracht worden ist, sich durch Gebärden zu verständigen und Küsschen zu geben, der aber ein Zwitterwesen bleibt.
«Welches ist das letzte Jahr, an das du dich erinnerst?», fragte er.
«Neunzehnhundertsechsundsiebzig.»
«Verdammt.» Wingate pfiff anerkennend. «Also, wenn ich sagen würde, ich weiß nicht, Iran-Contra? Sagt dir das was?»
«Nein.»
«Breakdance?»
«Nein.»
«Moonwalk?»
«Sicher, habe ich im Fernsehen gesehen.»
«Nein, den da …» Wingate stand auf und schlidderte rückwärts über den Boden.
Samson zog die Augenbrauen hoch. «Was ist das?»
Wingate hielt inne, zog ein ernstes Gesicht.
«Ich sag’s dir ungern, Mann. Der alte Elvis ist tot.»
Als Lana zurückkam, juchzte sie und packte ihn, hängte ihm den Arm über den Rücken und grinste wie für ein Foto. Samson fühlte sich alt und erbärmlich, wie ein wollüstiger Onkel, der im Cadillac durch die Stadt kurvt, um seine Lieblingsnichte ins Steakhaus auszuführen. Ein Stich Elend verdarb ihm die Laune, und er wünschte sich, er könnte dem Augenblick durch ein Schlupfloch entrinnen. Er unterdrückte ein seltsames, unerklärliches Bedürfnis, «Hei! Wie geht’s? Hei! Wie geht’s?» zu brüllen wie der asiatische Lionel-Richie-Fan in den Gängen von Lavells Krankenhaus.
Er folgte Lana in die Küche, wo sie einen Sechserpack Bier aus einem Schrank zog. Sie kam ihm noch größer vor, noch unfallgefährdeter, obgleich weniger zerbrechlich, schöner geworden.
«Hier wohnst du also?»
Sie rüttelte den Eisbehälter über der Spüle. «Im Grunde habe ich ihn gleich in der ersten Woche hier kennen gelernt. Das hat mir den Ärger erspart, eine Unterkunft suchen zu müssen.»
Samson senkte die Stimme. «Du sitzt in deinen Kursen, während er zu Hause hockt und im Dunkeln bastelt? Bomben und so weiter.»
«Ha-ha. Er ist ein Genie, wenn du’s wissen willst.»
«So nennt man das also? Was ist Wingate überhaupt für ein Name?»
«Hör mal», sagte sie, «ich freue mich wirklich, dich zu sehen.» Sie drückte ihm ein Bier und ein Glas mit Eis in die Hand. Im Licht bemerkte er einen Silberring an ihrer Augenbraue.
«Sie haben wieder dein Ohrläppchen verpasst.»
«Du bist ein echter Komiker. Alle nennen ihn Winn.»
«Wer sind alle?» Er ging ihr nach, durch das Wohnzimmer und den Flur entlang, trug die Flasche wie eine Laterne vor sich her.
Abends aßen sie an einem Plastikklapptisch draußen vor dem India Sweets and Spices Mart am Venice Boulevard, dampfende Töpfe mit Tikka Masala und Lamm-Korma und kleine Schälchen mit Chutney und eingelegten Limonen. Samson konnte sich nicht erinnern, jemals indisches Essen geschmeckt zu haben, und probierte kleine Gabeln voll. Lana und Winn schaufelten es sich in den Mund, ließen keuchend vor Schärfe Reis auf die Teller zurückfallen, spülten die zähen Fleischbrocken mit Bier hinunter. Winn leckte sich die Finger und redete mit vollem Mund, erklärte Samson aufgeregt, wie die Server brummen, wenn Daten abgerufen werden, und wie Router die Signale mit Lichtgeschwindigkeit, von Station zu Station verstärkt, über den Meeresgrund versenden. Er war brillant und magnetisierend: ein geborener Seifenkistenredner, der Massen in den Bann gezogen hätte. Samson konnte nicht dagegen an, er fühlte sich enttäuscht, dass eine gewisse Nähe, die er sich von Lana erhofft hatte, jetzt unmöglich schien.
Beim Dessert erzählte Samson von Ray Malcolm. Er sprach schnell, den Blick auf einen Punkt irgendwo über ihren Schultern geheftet, eine elektronische Lotterieanzeige auf der anderen Straßenseite, mit einer Zahl und einem Rattenschwanz von Nullen. Als er auf Rays Forschung zu sprechen kam, erstarrte Winn, sein Kokosgebäck mitten in der Luft.
Einen Moment herrschte Schweigen, dann beugte Winn sich über den Tisch. Er flüsterte heiser, als hörten ringsum Leute zu, aber es war niemand da, nur der Inhaber des Ladens und seine Frau, die in Jutesäcken mit Bohnen, Nüssen und getrockneter Tamarinde wühlten und in ausgetretenen Latschen den Mittelgang auf und ab schlurften.
«Ich sag’s mal in Klartext: Ein Mann ruft dich aus dem Nichts heraus an, mitten in der Nacht. Er bittet dich, ein Flugzeug quer durchs Land zu nehmen, und als er dich abholt, sagt er dir, er arbeite mehr oder weniger für die Regierung. Er will dich auf ein Forschungsgelände schicken, das strategisch irgendwo im Niemandsland der Mojave-Wüste liegt. Dann erzählt er dir, er möchte ein bisschen mit deinem Gehirn spielen. Und du sagst, prima, das klingt gut? Hast du sie noch alle?» An seiner Schläfe stand eine blaue Vene heraus, Blut, das seinem Körper entzogen und nach oben gepumpt worden war, Nahrung für das überragende Gehirn.
«Er arbeitet nicht für die Regierung.» Hundert Millionen Dollar, hatte Ray ungerührt gesagt, leichthin, als schnipste er einen Penny in den Brunnen. Ein bisschen was von der Regierung in Form eines Zuschusses aus dem Verteidigungsetat, der Rest von privaten Investoren: gerade einmal so viel, wie zwei Hollywoodfilme kosten. «Und er will nicht mit meinem Gehirn spielen. Er will es studieren.» Ray hatte eine Art, über seinen Fall zu sprechen, wie ungewöhnlich, wirklich bemerkenswert er sei, die Samson ein wenig die Brust schwellen ließ vor Stolz auf sein medizinisches Dossier, sein beschädigtes Gehirn, auf die ganze verfluchte Geschichte eines Zustands, der nebenbei auch sein Leben zerstörte, von Annas ganz zu schweigen, aber den er überlebt hatte, intakt und geradezu – wie Ray nicht direkt sagte, aber zu implizieren schien – begabt.
«Winn, komm runter bitte, ja?» Lana wandte sich Samson zu. «Winn ist einer, der sein Leben auf Misstrauen baut, auf ein abgrundtiefes Misstrauen gegen jede Form von Autorität. Gegen – wie würdest du sagen, Winn? – jede zentralisierende Gewalt. Was zur Folge hat, dass er manchmal» – sie sah Winn an – «leicht paranoisch ist.»
Winn wollte protestieren, aber ihr Ausdruck hielt ihn zurück. Kein Ausdruck der Strenge, sondern der Liebe, jener zärtliche Blick einer ungewöhnlich schönen Frau, die dich nicht lieben sollte, es aber tut, der einen Mann zum Schweigen bringen kann. Das Abendlicht fiel auf ihr an den Wurzeln speckig blondes Haar. Irgendwo in oder genau hinter der Stadt ging die Sonne unter, am Wüstenrand, wo leere Straßennetze mit unbeschrifteten Schildern auf die Metropole warteten.
«Also», sagte sie, und die Geschichte begann zum dritten Mal, wieder etwas anders: «Dieser Typ, dieser Dr. Malcolm, ruft dich an. Er bittet dich, nach L.A. zu kommen, und bietet dir eine ganze Menge Geld …»
Ehe sie ins Auto stiegen, machte Samson ein Foto von den beiden. Sie standen nebeneinander, die Lotterieanzeige hinter sich, Wingates Arm um Lanas Taille. Genau in dem Moment, als er den Auslöser drückte, donnerte ein Sattelschlepper vorbei und verdeckte den Rattenschwanz der Nullen, einen Streifen Ungewissheit wie eine Fahne hinter sich her ziehend.
Auf dem Rückweg hielten sie an, um einen kleinen Menschenauflauf vor einem Einkaufszentrum zu beobachten. Seitwärts geparkte Autos, aufgerissene Türen, Leute, die auf Zehenspitzen schwankten, mit sanfter Gewalt von Sicherheitskräften zurückgedrängt. Die Gruppe war nicht groß, die Körperdichte gerade ausreichend, um sie als Menge zu bezeichnen, aber weit davon entfernt, eine schäumende Masse zu ergeben, deren Stimmen sich, aufgeputscht von Adrenalin, zu einem einzigen elektrisierten Geschrei verbinden könnten, die fähig wäre, Menschen bei lebendigem Leibe totzutrampeln. Alle – die Menge, die Sicherheitskräfte und der verflossene Star, der schließlich in einer geschlossenen Limousine anrollte – schienen sich dem gewohnten Ablauf hinzugeben, als hätten sie geschworen, um jeden Preis die Illusion des Ruhmes aufrechtzuerhalten, ohne den die Stadt brutal in Traurigkeit und Banalität versänke. Der alternde Rockstar stieg aus dem Wagen. Er hob die Arme, presste die Hände zusammen und schüttelte die Fäuste. Er wand und drehte sich einige Male, und die Leute johlten und drängten spielerisch an den Sicherheitskräften vorbei, die ein paar von ihnen durchließen, seinen Mantelsaum zu berühren.
«Mein Gott, sieht der erbärmlich aus.»
«Wer ist das?»
«Billy Joel.»
«Du machst Witze. Autsch», sagte Samson.
Winn schüttelte den Kopf. «Ich kann das gar nicht mit ansehen», sagte er. «In meinem Schulchor in der Siebten haben wir ‹Piano Man› gesungen. Ich habe richtig für den Typ geschwärmt.»
«Du, für Billy Joel geschwärmt?» Lanas Augen weiteten sich in spöttischem Entsetzen. «Jetzt kommt die Wahrheit heraus.»
«Ein paar Wochen, ja. Komm, sag bloß nicht, ‹Captain Jack› sei kein guter Song.»
Lana zog die Augenbrauen hoch und wandte sich um zu den letzten paar in Trübsal gesunkenen Gestalten.
Das Spektakel dauerte knapp zwei Minuten, dann verschwand Billy Joel in dem Mega-Plattenladen, und die schlappe, pflichtbewusste Menge zerstreute sich; es blieben nur die schwenkenden Spotlights, in alter Treue immer noch auf der Suche nach Billy Joel, an Orten, wo sie ihn nie finden würden: hinter den Fenstern umliegender Häuser, unter Autos, in leeren Himmelsausschnitten. «Und ‹She’s Got a Way›?», fuhr Winn fort, während sie wieder zum Auto gingen. «Großartiger Song, gib’s zu.» Er trat einen Schritt vor Lana, um ihr damit ein Ständchen zu bringen. Irgendwie hatte die ganze Sache Samson traurig gemacht, die vielen verflossenen Jahre, das Theater des vorgespiegelten Versuchs, lebendig zu halten, was längst verblasst, in die Geschichte eingegangen war.
Zu Hause angekommen, ging Winn wieder an den Computer, während Samson und Lana sich draußen auf die Stufen setzten. Die Sonne war untergegangen, der Himmel indigoblau. Im ersten Stock des Nachbarhauses stritt ein Paar, und jedes Mal, wenn der Mann etwas zu sagen versuchte, brüllte die Frau, halt’s Maul. Ein paar Minuten später kam sie heraus, einen kleinen Fernseher mit schleifendem Kabel unter dem Arm. Sie packte das Gerät auf den Rücksitz ihres Autos und brauste davon. Als das Motorgeräusch unten auf der Straße erstarb, tauchte ein hemdloser Mann am Fenster auf. Er schaute hinunter und winkte.
«Die streiten sich dauernd. Sie haut immer mit irgendwelchen Gerätschaften oder ein paar Klamotten ab, aber am nächsten oder übernächsten Tag kommt sie wieder.» Lana zündete sich eine Zigarette an und schleuderte ihre Flipflops in die Luft. Sie hatte kräftige, jungenhafte Füße, so beeindruckend und ausdrucksvoll, als wäre ihre ganze Persönlichkeit darin versammelt und wanderte die langen Beine hinauf, ihren Körper durchflutend wie das Summen eines angestimmten Instruments.
«Dann liebst du ihn also? Winn?»
Lana zuckte die Achseln. «Mag sein.»
«Er scheint dir gut zu tun.»
Samson war froh, mit ihr allein zu sein. Seit sie New York verlassen hatte und er nicht mehr zu Lavell ging, war niemand mehr da gewesen, mit dem er wirklich reden konnte. Lana hatte etwas Offenes und Unfertiges an sich, bei dem er sich wohl fühlte. Sie wusste zumindest von ferne, wie er früher gewesen war, schien sich aber nicht an der plötzlichen Veränderung zu stören, vielleicht, weil sie sich selbst laufend veränderte. Sie machte den Eindruck, als bewegte sie sich sorglos, auf gut Glück durch die Welt und nähme alles auf, was sich ihr zufällig bot. Manchmal erinnerte sie Samson an die schlafwandelnden Comicfiguren, die blindlings an Felskanten entlangtorkeln, aber nie abstürzen. Er wusste, sie mochte ihn, konnte aber nicht sagen, warum, und jetzt fragte er sich, ob sie vielleicht mit jedem, der ihr über den Weg lief, so schnell vertraut wurde.
«Wie stehen die Dinge mit Anna?», fragte sie.
«Besser, seit ich aus der Wohnung bin. Ich fühlte mich dort immer schuldig. Es ist mir erst später aufgegangen, aber all diese Fotos anzusehen und in unserem alten Bett zu liegen, das habe ich irgendwie als Verrat an ihr empfunden. Ich glaube, nachdem ich ausgezogen war, hat sie angefangen, die Situation zu akzeptieren, und aufgehört, sich so viel zu erhoffen.»
«Das freut mich für sie. Es muss schrecklich gewesen sein.»
«Sie kam in deine Wohnung, um sich zu verabschieden, bevor ich nach L.A. fuhr. Irgendwann stand sie am Fenster, einfach so, in Gedanken. Als hätte sie vergessen, dass ich da war. Und einen Augenblick schien es mir vollkommen klar, warum ich mich in sie verliebt hatte.»
«Sicher, in dem Augenblick, als sie dir nicht mehr gehörte.»
«Sie schien so ganz sie selbst zu sein.»
Lana stöhnte und stieß eine Rauchwolke aus. «Männer. Ihr wollt Frauen immer dann, wenn sie euch nicht wollen.»
«Danke. Dies aus dem reichen Schatz deiner Erfahrungen mit zwischenmenschlichen Beziehungen.»
«Hey, du hörst dich an wie mein alter Professor. Der einzige coole Professor der ganzen Fakultät.»
«Tatsächlich?»
Sie klopfte die Asche ab und lächelte schwach.
«Egal», fuhr er fort, «darum geht’s nicht. Es war, als sähe ich sie so, wie sie ausgesehen haben mochte, als ich ihr das erste Mal begegnet bin. Bevor es ein Wir gab. Und ich hatte das Gefühl, etwas zu verstehen, das ist alles.»
Publikumsgelächter drang aus der Wohnung des Paares nebenan, vielleicht ein Ersatzfernseher, den der Mann in Nächten wie dieser hervorkramte, wenn seine Frau mit schleifendem Kabel in der Dunkelheit verschwand. Samson nahm Lana die Zigarette aus der Hand und zog daran. Der Rauch brannte in den Lungen, er musste husten.
«Anna hat mir erzählt, ich sei ein sehr sexy Raucher gewesen.»
«Im Ernst? Dabei hast du uns immer weisgemacht, Rauchen sei eine abscheuliche Gewohnheit, wenn du uns vor der Stunde erwischt hast. Aber das erinnert mich an was, es fiel mir neulich wieder ein. Etwas, was du voriges Jahr im Seminar über zeitgenössische Schriftsteller gesagt hast.»
«Das wäre?»
«Ich glaube, wir lasen, ich weiß nicht mehr was, aber es ging um die Erinnerung. Du hast von einem Engel im Talmud oder so erzählt, dem Engel des Vergessens, der dafür sorgen muss, dass die wandernden Seelen, ehe sie in den Körper der Neugeborenen einziehen, einen See des Vergessens durchqueren. Und dass der Engel des Vergessens manchmal selbst vergisst, dass dann Überreste eines anderen Lebens in uns bleiben und diese manchmal unsere Träume sind.»
«Das habe ich gesagt?»
«Es war ein gutes Seminar», sagte Lana und drückte ihre Zigarette auf der Stufe aus. «Eins, wo du wie in Trance rauskommst, ein bisschen in den Prof verliebt.» Sie lächelte und blickte zu dem mit Konservengelächter erfüllten Apartment hinauf. Ihr Gesicht verwischte in den Schatten wie ein Schwarzweißfoto.
Als Samson zu Ray zurückkehrte, war das Haus dunkel, und es lag ein Zettel von ihm da, er sei zu Bett gegangen. Am Morgen solle Samson ihm sagen, wie er sich entschieden habe. So unbekümmert er vor Lana und Winn getan hatte, so nervös machte ihn der Gedanke. Es stimmte, er konnte das Geld gebrauchen. Er selbst gab nicht viel aus, abgesehen von der Miete für Lanas Wohnung, die er noch bezahlte, aber er fühlte sich verantwortlich dafür, dass Anna sich wenigstens in absehbarer Zukunft keine Sorgen zu machen brauchte. Doch obwohl er in den letzten Monaten in New York darum gekämpft hatte, sich von allem zu entbinden, war er nicht sicher, wie er sich fühlen würde, wenn er sich jetzt wieder mit jemandem zusammentat, noch dazu mit einem ganzen Team draußen in der Wüste. Dennoch schien das Projekt, wie Ray es beschrieb, eine umwerfende Sache zu sein, eine Gruppe forschender Wissenschaftler, die sich allein in die Leere der Wüste zurückgezogen hatten. Und Rays Stimme hatte etwas Faszinierendes, gewinnend und vertraulich wie die eines Discjockeys, der seine nächtlichen Zuhörer einlädt, bis zum Morgengrauen bei ihm zu bleiben. Ray strahlte Größe aus, und es schmeichelte Samson, dass der Doktor ihn auserwählt, ihn gebeten hatte, an dem Vorhaben teilzunehmen.
Er fürchtete sich, aber er wollte Ray jetzt sagen, er werde mitgehen und sei jederzeit zum Aufbruch bereit. Er hatte getan, was er in L.A. zu tun hatte, und hier nichts mehr zu suchen. Beim Abschied hatte Lana sich an ihn gelehnt und flüchtig seine Lippen berührt. Er hätte sich ein Zeichen gewünscht, dass er irgendetwas Besonderes für sie sei, nicht nur einer von denen, die blindlings in ihr Leben gestolpert und unter ihre Herrschaft gefallen waren. Aber es war nur eine süße, vage Entschuldigung gewesen und hatte eine Sehnsucht geweckt, ein scharfes Stechen in der Brust, das er unerträglich fand.
Nur schlief Ray jetzt. Das gehörte zu den Regeln seiner gesunden Lebensweise: makrobiotisch essen, acht Stunden Schlaf. Dreihundert Meter tief tauchen. Wahrscheinlich einer der wenigen Männer, die solche Uhren auf ihre Grenzen testeten und den Beweis – eine zarte Korallenblüte – aus der Karibik mit nach Hause brachten.
Er dachte an das Gespräch vom Vorabend. Nach dem Essen hatten sie auf der Terrasse gesessen und darüber diskutiert, was es bedeute, die Erinnerung an so viel Erfahrung zu verlieren und dennoch, wie Samson, einen ausgeprägten Sinn für die Welt zu bewahren. Da seien natürlich die Kindheitserinnerungen, hatte Ray betont, indem er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und seine Augen geduldig auf Samson ruhen ließ. Aber es gebe auch das Gedächtnis einer Weisheit, so hatte er gesagt, die «nicht unser Eigen» sei. Ein Gedächtnis, das die Evolution uns mitgegeben habe, etwas Ähnliches wie Intuition, das den Menschen dieses Gefühl von Verbundenheit verleihe, mit dem sie auf die Welt kämen. Unten im Tal hatten die Lichter gebrannt und versprengt durch die leise raschelnden Bäume geschimmert: Natriumdampflampen, nahende Scheinwerfer, Leuchtsignale auf Türmen zur Warnung tief fliegender Flugzeuge. Der Blick auf die lasterhafte Stadt und etwas an der Aussicht, der Perspektive, schienen Ray zu inspirieren.
«Es gibt so viel, was wir nicht wissen, Samson. Über das Gehirn, und darüber, was Bewusstsein eigentlich ist. Die Leute winden sich, wenn das Thema Spiritualität aufkommt, und ich kann es ihnen nicht verübeln – die Begegnung von Wissenschaft und Spiritualität hat ziemlich fadenscheiniges Zeug hervorgebracht.» Die Eiswürfel in seinem Wasserglas waren verrutscht und klickten aneinander. Ray sah nach unten, dann richtete er den Blick wieder auf Samson. «Trotzdem, vergessen wir nicht, dass die verdammte Bhagavadgita geholfen hat, die Bombe zu bauen.» Ein flüchtiges Lächeln hatte seine Lippen umspielt, ehe sein Gesicht wieder die üblichen entspannten Züge annahm. Er hatte die Reste auf seinem Teller zur Seite geschoben, wie um dem Platz zu machen, was er gerade sagen wollte.
«Was meinen Sie, wenn wir den spirituellen Aspekt des menschlichen Wesens einfach als das Bedürfnis nach Zugehörigkeit definieren – sei es auf einer kosmologischen, biologischen oder gesellschaftlichen Ebene. Das, was die Leute spirituelle Erfahrungen nennen, impliziert gewöhnlich das plötzliche Gefühl irgendeiner übernatürlichen Verbundenheit, stimmt’s? Weißes Licht, eine Vereinigung mit Gott, ein Moment, in dem man plötzlich das ganze verdammte Universum begreift. Was immer das sein mag. Aber wer weiß schon etwas über Gott oder nicht Gott? Und wer weiß am Ende wirklich etwas über die Funktionsweise dieses Dings, in dem wir uns befinden, das Universum, wie man es in Ermangelung eines besseren Wortes nennt? Niemand. Eine sehr einsame Vorstellung, finde ich.»
Er hatte Samsons Gesicht beobachtet, die Reaktion auf jedes Wort registriert wie ein großer Interpret, der sein Publikum ständig im Auge behält, um die Stimmung abzulesen.
«Was wir wissen, ist, dass wir uns alle miteinander in diesem Ding befinden. Also warum nicht den Schrecken erträglicher machen, indem wir, wenn es möglich wäre, wechselseitig das Bewusstsein der anderen erleben? Sehr kontrolliert natürlich, wie wenn man eine Erinnerung teilt.»
Er hatte eine Pause eingelegt, gab Samson Zeit, die Information aufzunehmen.
«Überhaupt, das Teilen ist die ganze Wissenschaft. Wir quantifizieren nur, damit wir kommunizieren und besser teilen können. Je genauer ich etwas definieren kann, umso eher bin ich in der Lage, es zu teilen. Wenn mir beispielsweise einer sagt, ‹Eben habe ich das Licht gesehen›, und ich nicht weiß, wovon er redet, kann ich das nicht teilen. Wenn er mir aber ermöglicht, die gleiche Erfahrung zu machen, fängt die Wissenschaft schon an.»
Samson hatte das Gefühl gehabt, allmählich zu verstehen, das Bild nehme Konturen an. «Dann hat das ganze Projekt, einen Weg für die Übertragung von Erinnerungen zu finden, also mit der Hoffnung zu tun, solche Momente könnten geteilt werden?»
«Ja, aber es ist mehr als das. Der Grund, warum ich Wissenschaftler geworden bin – Sie wissen ja, ich war Arzt, habe aber schon immer die reine Wissenschaft angestrebt –, ist der, dass ich die Sehnsucht lindern wollte. Angefangen mit meiner eigenen, aber es war mir klar, dass ich nicht der Einzige bin. Die meisten – Physiker oder so – werden Ihnen sagen, wir seien alle mit dem Universum verbunden, mit etwas Größerem als wir selbst. Ich aber sage, warum versuchen wir nicht, diese entfernte Verbindung auf niedrigstem Niveau zu teilen? Ich sage, warum versetzen wir uns nicht wechselseitig in unsere Köpfe? Schlüpfen von Zeit zu Zeit aus uns selbst heraus und in jemand anderen hinein? Eine einfache Idee, aber mit unerhörten Folgen. Die Möglichkeit für wahre Empathie – stellen Sie sich vor, wie das die menschlichen Beziehungen verändern würde. Schon das allein reicht, um schlaflose Nächte zu verbringen.» Ray grinste. Seine Zähne waren makellos. «Oder um Sie in die Wüste zu schicken.»
Sie hatten schweigend dagesessen, während Ray ihn forschend ansah. Samson wich aus, wandte seinen Blick der Aussicht zu. Er versuchte, das Rumoren seiner Gedanken in Schach zu halten, damit sich die Ungeheuerlichkeit all dessen, was Ray gesagt hatte, erst einmal setzen konnte. Er stellte sich vor, Annas Erinnerungen an ihn in sich zu haben, in seinen Kopf verpflanzt: sich zu fühlen wie sie, die sich an ihn erinnerte. Zu erfahren, wie es war, sich selbst zu erinnern.
«Wir sind einander gar nicht so unähnlich, wir beide», hatte Ray schließlich gesagt. Samson straffte sich und sah dem Doktor in die Augen. «Finden Sie nicht auch, Samson?»
Er tastete im Dunkeln nach dem Telefon auf dem Flurtischchen. Als es am anderen Ende klingelte, fiel ihm die Zeitverschiebung ein; in New York war es drei Stunden später, und Anna schlief wahrscheinlich schon. Ihm gefiel die Vorstellung, sie aufzuwecken, die Intimität des nächtlichen Eindringens, ihre Stimme, die weich und schutzlos klingen würde. Doch als es weiter klingelte und niemand abnahm, begann er sich zu fragen, was sie wohl so spät noch draußen machte, oder ob sie gar woanders schlief. Der Gedanke beunruhigte ihn, und er versuchte sich zu erinnern, ob sie in den letzten Wochen irgendjemanden erwähnt hatte, einen Mann, der im Begriff sein könnte, sich mühelos an dem Platz in ihrem Leben einzunisten, den er geräumt hatte. Er legte auf und wählte noch einmal, aber keine Antwort. Er wollte es gerade ein drittes Mal versuchen, als die Tür aufging und Ray in einem hellblauen Schlafanzug erschien.
«Alles in Ordnung?»
«Ja. Tut mir Leid, ich wollte Sie nicht aufwecken.»
«Macht nichts, ich habe einen leichten Schlaf. Das leiseste Geräusch, und ich sitze auf der Bettkante.»
Samson blickte auf den Hörer, den er noch in der Hand hielt, und legte ihn aufs Telefon zurück. «Ich wollte nur eben anrufen … Ich dachte, Anna – meine Frau – wäre vielleicht zu Hause. Inzwischen sind wir getrennt. Sie hat mich gebeten, anzurufen, wenn ich angekommen sei.»
«Und, haben Sie sie erreicht?»
«Nein, es hat niemand abgenommen. Ich mache mir nur etwas Sorgen …» Samson blickte kurz nach unten, auf seine Uhr, ein Versuch, überzeugend zu wirken. «Es ist spät dort.»
Ray nickte. Nach ein paar Sekunden sagte er: «Geben Sie ihr Zeit. Und sich selbst ebenso. Es ist eine tragische Sache, jemanden zu verlieren, egal unter welchen Umständen. Aber es ist auch erstaunlich, wie stabil die Menschen sind. Gewiss, jetzt ist es kaum zu glauben, aber eines Tages werden Sie beide aufwachen und merken, es ist gut so. Sie öffnen die Augen, und vielleicht wirkt das Licht irgendwie besonders, und dann setzen Sie sich auf und denken, in Ordnung.»
«Für sie ist es schwieriger.»
«Mag sein. Aber Sie sollten nicht unterschätzen, unter welchem Stress Sie selber stehen. Selbst wenn Sie derjenige waren, der die Entscheidung getroffen hat, bedeutet das nicht, dass Sie nicht traurig sein dürften. Das ginge jedem so. Traurig und verwirrt, da bin ich sicher.»
Er war dankbar für Rays Großzügigkeit, für seine weise, ruhige Art, die nur das Ergebnis von großer Erfahrung sein konnte.
«Also gut, ich bin froh, dass Sie auf sind», sagte Samson. «Ich wollte Ihnen sagen, ich habe über alles nachgedacht und beschlossen, es zu machen.»
Ray grinste und reckte die Fäuste in die Luft. «Phantastisch! Was für eine verdammt gute Nachricht, Samson. Sie wissen gar nicht, wie mich das freut. Sie werden sehen, was wir da draußen machen, ist einfach ungeheuerlich.» Er hatte glänzende Augen, einen leuchtenden, stechenden Blick. Schließlich sah er auf das Telefon hinab. «Was meinen Sie, sollen wir nicht versuchen, sie morgen früh anzurufen?»
Samson nickte.
«Einfach phantastisch», wiederholte Ray, dann drehte er sich um und zog sich, Gute Nacht! hinter sich her rufend, ins Schlafzimmer zurück.
Samson stand am Fenster und schaute auf den dunklen Swimmingpool hinunter. Die Sehnsucht, die er empfand, war ein Gefühl des Vermissens, das er bisher nicht gekannt hatte, obwohl er nicht genau wusste, nach wem oder was er sich sehnte, ob es seine Frau war oder Lana oder etwas ganz anderes, etwas viel Größeres, das er nicht benennen konnte. Lange Zeit verging, ehe er sich aufs Bett legte und die Augen schloss. Im Geist wanderte er wie ein Asket durch die verbrannte Leere. Er beschloss, noch weiter zu gehen, noch mehr aufzugeben. Doch es kam nichts dabei heraus, und so zog er die Knie an die Brust, und morgens wachte er genau so auf.