KAPITEL 8

»Herzlichen Glückwunsch!«

Sylvettes Augen wurden immer größer, während sie neugierig das Päckchen in Christophers Händen anstarrte. Sie versuchte spielerisch, es ihm aus den Fingern zu schnappen. Er aber lachte und hielt es einen Moment lang außerhalb ihrer Reichweite; dann reichte er es ihr.

»Danke!« jubelte sie aufgeregt und wich aus dem Türrahmen zurück in ihr Zimmer. »Vielen, vielen Dank!«

Christopher trat ein und schloß die Tür hinter sich. Es war warm hier drinnen. Die Diener hatten Anweisung, Sylvettes Kinderzimmer stets auf einer angenehmen Temperatur zu halten. Christopher dagegen vergaß seinen eigenen Ofen regelmäßig, was ihn im Bett oft genug jämmerlich frieren ließ. Aber es genügte wohl auch, wenn er auf einen Ofen zu achten hatte. Er war stolz darauf, daß die Flammen des Athanor in den vergangenen vier Monaten kein einziges Mal erloschen waren.

Sylvette ließ sich auf ihr Bett fallen und begann ungeduldig an dem bunten Papier zu zerren. Heute war ihr elfter Geburtstag, und er war das erste Familienmitglied, das ihr gratulierte. Nicht einmal Charlotte war so früh am Morgen, noch vor dem Unterricht, bei ihr gewesen.

Christopher lächelte gutmütig, während Sylvette die Verpackung in Stücke riß, und schaute sich derweil im Zimmer um. Es gab wenig, was darauf schließen ließ, daß es von einem Kind bewohnt wurde. Auf dem Garderobentisch lagen Bürsten und Cremedosen wie bei jeder Erwachsenen, allein zwei Plüschtiere unter dem Baldachin des Himmelbetts waren ein Hinweis auf Sylvettes Alter. Das Bleiglasfenster zeigte einmal mehr eine Leiter, die steil nach oben gen Himmel ragte. Eine große Anzahl Menschen drängte sich auf den Sprossen, doch während die oberen ihr Ziel fast erreicht hatten, wurden die unteren von geflügelten Teufelsgestalten attackiert, die immer wieder einzelne in die Tiefe rissen. Das ganze Bild war in Rot und Gelb gehalten, und die Strahlen der aufgehenden Frühlingssonne erfüllten das Zimmer mit der Illusion glühenden Feuerscheins.

Sylvette gelang es endlich, das letzte Stück der Verpackung zu lösen. Höflich – und ganz und gar damenhaft – überspielte sie mit einem Lächeln ihre Verwunderung über das, was zum Vorschein kam.

»Es ist etwas, das du dir immer gewünscht hast«, sagte Christopher und trat näher an sie heran.

»So?« Ihr Lächeln blieb, aber eine leichte Spur von Enttäuschung hatte sich in ihre Stimme geschlichen.

Es war ein gläsernes Fläschchen, nicht größer als Sylvettes Hand, bis zum Rand mit einer schmutzigbraunen, unappetitlichen Flüssigkeit gefüllt.

»Soll ich das trinken?« fragte die Kleine irritiert.

»O nein, nur nicht«, erwiderte Christopher lachend. »Es würde dir kaum bekommen. Und, so leid es mir tut, es riecht auch ziemlich scheußlich.«

»Aber, Christopher«, sagte sie gedehnt und mit altklugem Blick, »was soll ich denn dann damit anfangen?«

Er setzte sich zu ihr auf die Bettkante, nahm ihr vorsichtig das Fläschchen aus den Fingern und hielt es gegen das Licht. »Erinnerst du dich noch, als du mir von deinem Wunsch erzählt hast, damals, als wir mit dem Boot ums Schloß gerudert sind?«

»Ja, natürlich«, gab sie zurück, immer noch verständnislos.

Christopher nickte und schüttelte das verkorkte Gefäß. »Das hier ist die Lösung. Du hast gesagt, du willst schwarze Haare haben wie Mutter und Aura. Nun, hier sind sie! Oder besser: Hiermit hast du bald welche.«

Ein Leuchten erschien in Sylvettes blauen Augen. »Das da ist Farbe für meine Haare?«

»So was Ähnliches. Ich hab es selbst gemischt.«

»Du? Kannst du das denn?«

»Ich hab eines der Küchenmädchen gebeten, mir eine Strähne ihres blonden Haars abzuschneiden. Ich hab sie hiermit gefärbt, und sie wurde pechschwarz. Genau wie die Haare von Aura und Mutter.«

»Ehrlich?«

»Ehrenwort!« Er hob die Finger zum Schwur.

Das schien sie zu überzeugen, denn plötzlich stieß sie einen hellen Jubellaut aus und fiel ihm um den Hals. Christopher kippte überrascht nach hinten, während das Mädchen ihm einen schmatzenden Kuß auf die Wange gab. »Du bist toll«. Sie strahlte, nahm ihm das Fläschchen ab und eilte damit zum Garderobentisch. Sie setzte sich auf den Hocker und betrachtete im Spiegel ihre hellblonden Locken. Dann blickte sie wieder erwartungsvoll auf das Gefäß.

Christopher ging neben ihr in die Hocke. »Komm, ich erklär’s dir.«

Nachdem er sicher war, daß Sylvette die Flüssigkeit richtig anwenden würde, stand er auf und ging zur Tür. »Wir sehen uns beim Unterricht«, sagte er und wollte das Zimmer schon verlassen, als Sylvette ihm nachrief: »Warte noch!«

Sie sprang vom Hocker, jetzt wieder ganz die verspielte Elfjährige.

»Ich will dir was zeigen.« Sie ergriff seine Hand und zog daran. »Ein Geheimnis.«

Er folgte ihr mit einem gutmütigen Lächeln zum großen Kleiderschrank, einem reichverzierten Ungetüm, in dessen Türen bunte Blumenmuster eingelassen waren. Sylvette zog die rechte Seite auf, schob ihre zahlreichen Spitzenkleider zur Seite und offenbarte an der Rückseite etwas, das mit einem Tuch verhängt war. Der Form und Größe nach handelte es sich um einen Bilderrahmen.

»Es ist das größte Geheimnis, das ich habe«, sagte Sylvette stolz und blickte ihn verschwörerisch an. »Niemand weiß davon, kein Mensch auf der ganzen Welt. Du mußt mir versprechen, daß du niemandem davon erzählst.«

Christopher war tief gerührt von ihrem kindlichen Vertrauen. Mit Ausnahme von Bruder Markus hatte ihm noch nie jemand so ehrliche Zuneigung entgegengebracht. »Ich verspreche es«, flüsterte er und drückte sie an sich. »Aber«, fügte er hinzu, als sie das Tuch zur Seite ziehen wollte, »bist du wirklich sicher, daß du es mir zeigen willst? Ich meine, es wäre dann kein Geheimnis mehr.«

Sylvette zögerte unmerklich, drehte sich noch einmal zu ihm um.

»Willst du es denn nicht sehen?«

»O doch«, versicherte er, mit einemmal von unbestimmter Traurigkeit erfüllt, »natürlich will ich das. Aber meinst du nicht, man muß sich so eine Ehre erst verdienen?«

»Du bist doch jetzt mein Bruder. Und du hast mir ein Geschenk gemacht.«

»Daniel wird dir auch etwas schenken. Genau wie Mutter.«

Sie kräuselte trotzig die Stirn. »Aber die beiden hab ich nicht so lieb wie dich.«

Ich habe deinen Vater im Dachgarten verscharrt, dachte Christopher, und du sagst mir, daß du mich lieb hast? Plötzlich war er von sich selbst so angewidert, daß er nur noch fort wollte, fort aus diesem Zimmer und fort von diesem Kind, das ihm trotz allem so sehr vertraute.

Noch einmal umarmte er sie und sagte dann: »Es ist kein Geheimnis mehr, wenn du es mir zeigst – auch wenn ich keinem davon erzähle. Warte noch ein wenig damit. Irgendwann werde ich es verdient haben. Verstehst du, was ich meine?«

Seine Wortwahl war ungeschickt und verworren, und er fürchtete, daß sie ihm seine Weigerung übelnahm. Doch zu seinem Erstaunen huschte ein kluges Lächeln über Sylvettes zartes Puppengesicht.

»Wir schwören es uns gegenseitig, ja? Du beschützt mich, und ich beschütze dich. Wenn ich dir helfe, verrätst du mir dein Geheimnis, und wenn du mir hilfst, zeige ich dir meins.«

Er streichelte ihr über die langen Locken. »So machen wir’s. Das schwöre ich.«

»Ich auch.«

Sylvette schob sorgfältig die Kleider vor den verhüllten Rahmen und schloß die Schranktür. Christopher sah ihr zu, und wieder überkam ihn das schlechte Gewissen mit solcher Macht, daß er den Blick abwenden mußte, damit sie die Qual in seinen Augen nicht sah.

Er verließ das Zimmer tief in Gedanken, erfüllt vom Wissen um seine Schuld, aber auch mit der Überzeugung, daß es zu spät war, um noch irgend etwas zu ändern. Der Weg, den er eingeschlagen hatte, gestattete keine Umkehr, keine Reue. Zu viel war in den vergangenen vier Monaten geschehen.

An einem Abend vor nahezu drei Wochen – war es wirklich schon so lange her? – hatte er Charlotte in ihren Räumen im Westflügel aufgesucht. Die anderen hatten sich um diese Uhrzeit bereits auf ihre Zimmer zurückgezogen. Christopher hatte darauf geachtet, daß er das Gespräch mit seiner Stiefmutter an einem Tag suchte, an dem ihr Liebhaber nicht im Schloß weilte. Es verging keine Woche, in der der Freiherr nicht auf die Insel kam und für mindestens eine Nacht blieb. Christopher hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, den beiden zu folgen und ihren Gesprächen beim Liebesspiel in der Familiengruft zu lauschen – nicht, wie er sich eifrig selbst versicherte, ihres Treibens wegen, sondern um mehr über sie und ihre Schwächen zu erfahren.

An jenem Abend war seine Stiefmutter früh zu Bett gegangen, und so trat sie ihm im Nachtgewand und mit einigem Erstaunen entgegen, als er gegen halb elf an ihre Tür klopfte.

»Christopher! Was ist geschehen?« Leichter Schrecken stand in ihren Augen.

Der erste große Riß im Verputz deines Familienglücks, dachte Christopher bitter. Aber er fragte nur: »Darf ich einen Moment hereinkommen? Keine Bange, es ist nichts Schlimmes.«

»Natürlich, ja«, gab sie zerfahren zurück, eilte ihm voraus und warf sich einen dünnen Seidenmantel über. Christopher schloß hinter sich die Tür.

»Setz dich«, bat sie ihn und deutete auf eine Sitzgruppe unter einem der vielfarbigen Fenster. Sie befanden sich im Vorraum ihres Schlafzimmers. Durch die offene Flügeltür konnte Christopher die blütenweißen Bezüge ihres Himmelbettes sehen. So rein, dachte er, so anständig; wie verlogen doch die künstliche kleine Welt ist, mit der du dich umgibst.

Wirklich verblüffend aber war die Einrichtung des Zimmers. Die Wände waren mit Muscheln getäfelt, und Muscheln lagen auch auf jeder Kommode, jedem Regal, sogar auf kleinen Säulen und in einem Schaukasten zwischen den Fenstern. Die meisten waren klein, nichts Besonderes, doch es waren auch einige außergewöhnliche darunter, wie jene, die Friedrich ihr aus den Kolonien mitgebracht hatte – große, mächtige Gehäuse, vielfach in sich gedreht und schillernd in den sonderbarsten Farben. Christopher hatte gewußt, daß seine Stiefmutter Muscheln sammelte, aber er war nie zuvor in diesem Zimmer gewesen, und er hatte nicht geahnt, welches Ausmaß ihre Obsession angenommen hatte.

»Sie sind herrlich, nicht wahr?« sagte sie, als sie bemerkte, daß er sich umschaute.

»Das sind sie, allerdings.« Noch immer stand er mitten im Raum, während Charlotte bereits auf dem Sofa Platz genommen hatte; es war weinrot und an den Rändern golden abgesetzt.

»Ich mag es, dem Meeresrauschen zuzuhören«, sagte sie, und einen Augenblick lang wich ihr sorgenvoller Gesichtsausdruck einer verträumten Wehmut.

Christopher brauchte einen Moment, ehe ihm klar wurde, daß sie das Rauschen im Inneren der Muscheln meinte, nicht das vor den Fenstern. »Aber du hast das Meer doch direkt vor der Tür – ist dir die Natur nicht lieber als ihre Nachahmung?«

»Soll ich ehrlich sein?« Sie schaute zu ihm auf und begann, mit beiden Händen ihre Wangenknochen zu massieren. »Ich hasse die See. Es widerstrebt mir, mich einem Boot anzuvertrauen, nur eine dünne Wand aus Holz zwischen mir und dem Wasser. Das Meer macht mir Angst. Die Unendlichkeit und diese Tiefe … liebe Güte, mir wird schwindelig, wenn ich nur daran denke. Ich bin wahrscheinlich der einzige Bewohner dieses Schlosses, der dankbar ist für die Bleiglasfenster. So muß ich nicht ständig hinausblicken, in diese graue Einöde.« Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie das Bild aus ihren Gedanken vertreiben. »Wellen, Wellen, bis weit über den Horizont hinaus. Die See ist uns Menschen fremd. Und doch besitze ich mit jeder Muschel ein Stück davon, und ich kann damit tun, was ich will. Ich kann sie zerschlagen, und dann ist auch das Meer darin fort. Schau mich nicht so an, Christopher, es ist wahr! Jede Muschel hält ein wenig vom Meer gefangen. Du kannst es hören. Wenn mir danach ist, kann ich den Stimmen des Ozeans lauschen, aber ich kann sie auch für immer zum Schweigen bringen. Die Muscheln helfen mir, mit dieser Insel fertig zu werden, mit der See, die sie umgibt. Die Muscheln …, sie geben mir Macht darüber, Macht über das Meer. Und über die Angst.« Sie lächelte, jetzt beinahe ein wenig beschämt.

»Manchmal fühle ich mich sehr hilflos.«

Er wußte, daß dies kein guter Augenblick war, trotzdem fragte er leise: »Gehst du deshalb mit Friedrich zur Friedhofsinsel?«

Ihre Züge, gerade noch verträumt und schwermütig, zerflossen wie ein Stück Seife. Alle Farbe wich aus ihren Wangen, ihr Blick wurde trübe und verletzlich. »Wie lange weißt du es schon?«

»Schon lange. Über drei Monate.«

Sie versuchte vergeblich, Strenge in ihre Stimme zu legen. Statt dessen aber klang sie nur schrill und verzweifelt. »Es geht dich nichts an, Christopher. Niemanden geht das etwas an.«

»Aber andere könnten sich dafür interessieren.«

Sie schwieg, nahezu eine Minute lang, und in dieser Zeit begriff sie, was er damit sagen wollte. Er war nicht, wie sie erst angenommen hatte, verstört über seine Entdeckung, auch nicht verbittert.

Um Himmels willen, war es möglich? Wollte er sie, nach allem, was sie für ihn getan hatte, erpressen? Der Gedanke war so abwegig, so absurd – und doch so naheliegend. Wie hatte sie sich nur derart in ihm täuschen können?

Christopher konnte in ihrem Gesicht lesen, in jeder Regung, jedem Beben ihrer Züge. Er kam sich abscheulich vor, niederträchtig. Doch er spürte auch die Macht, die er dadurch erlangte. Fühlte die Kraft, sah seine Möglichkeiten. Um zu sein wie Nestor, mußte er es tun. Es war der einzige Weg. Der richtige.

»Meine Güte, Junge, willst du mir drohen?« Es waren nur blasse Worthülsen für das, was sie wirklich empfand. Empörung, aber auch so etwas wie enttäuschte Liebe.

»Nein«, erwiderte er, innerlich schwankend in seiner Selbstsicherheit. »Ich werde ihm nichts davon erzählen. Diesen Gefallen bin ich dir schuldig.«

»Diesen Gefallen?« Ihre Stimme drohte jetzt überzukippen.

»Herrgott, ich habe dich aus dem Heim geholt, hierher, in dieses Schloß, in eine –«

»Familie?« unterbrach er sie. »Siehst du denn nicht, was um dich herum geschieht? Dein Mann versteckt sich vor der ganzen Welt, Aura habt ihr fortgeschickt, Daniel ist ein ausgebranntes Wrack. Und Sylvette … sie liebt jeden, der ehrlich zu ihr ist – und du bist es nicht.«

»Wie meinst du das?« Charlotte begann jetzt, hysterisch zu werden. »Wie, zum Teufel, meinst du das? Hat Aura dir das erzählt?«

Aura wußte auch davon? Das hätte er sich denken können. »Nein«, sagte er leise, »aber glaubst du denn, es ist nicht für jeden offensichtlich, der um dein kleines Techtelmechtel mit Friedrich weiß? Glaubt Nestor denn wirklich, er sei Sylvettes Vater? Lieber Himmel, man muß sie nur anschauen, um die Wahrheit zu erkennen.«

Charlotte sprang auf. Ihre Finger waren zu Krallen gekrümmt. Sie sah aus, als wolle sie sich jeden Moment auf ihn stürzen. »Verschwinde! Geh mir aus den Augen!«

Seine Knie zitterten leicht, doch er blieb stehen und erwiderte starr ihren Blick. »Du hast nicht etwa vor, mich zurückzuschicken, nicht wahr? Du willst doch nicht, daß jemand die Wahrheit erfährt?«

Ein häßliches Lachen kam über ihre Lippen. »Du glaubst, Nestor weiß nicht, was zwischen mir und Friedrich ist? Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Oh, Nestor weiß es bestimmt. Aber was ist mit Sylvette? Wie würde sie reagieren, wenn sie erfährt, daß – «

Charlottes Hand zuckte vor und schlug ihm ins Gesicht. Er keuchte auf, als ihre Fingernägel blutrote Schrammen auf seiner Wange hinterließen.

»Das würdest du nicht wagen«, stammelte sie atemlos. »Das … das würdest du Sylvette niemals antun! Das glaube ich dir nicht!«

»Ich liebe sie wie ein älterer Bruder seine kleine Schwester liebt«, entgegnete er aufrichtig und tupfte sich mit dem Hemdsärmel über die Wunden in seinem Gesicht. Als er das Blut auf seinen Manschetten sah, wurde er blaß. »Aber vielleicht verdient sie es gerade deshalb, die Wahrheit über sich zu erfahren, über ihre Herkunft – und über ihre Zeugung in einem Grab!«

Charlotte sank wie unter einem Hieb in sich zusammen. Einen Augenblick lang fürchtete er, sie würde fallen, vielleicht das Bewußtsein verlieren. Dann aber fing sie sich, stand reglos da und musterte ihn eisig. »Was hast du vor?« fragte sie tonlos. »Worauf willst du hinaus?«

Er schloß einen Herzschlag lang die Augen, und als er sie wieder öffnete, war Charlotte so nahe herangekommen, daß er mühsam seinen Schrecken unterdrücken mußte. »Ich weiß es noch nicht genau«, gestand er. »Aber ich kenne den ersten Schritt.«

»Nun?« fragte sie ungeduldig.

»Daniel muß von hier verschwinden.«

Charlotte schnaubte abfällig. »Verschwinden, ja? Du mußt den Verstand verloren haben, Christopher. War das Nestors Idee? Steckt er hinter all dem?«

Er fürchtete plötzlich, sie könne versuchen, den Alten im Dachgarten aufzusuchen, daher sagte er geschwind: »Nein. Vater hat nichts damit zu tun. Er weiß nicht einmal, daß ich bei dir bin.« Christopher atmete tief durch. »Aber es bleibt dabei: Daniel muß fort von hier.«

Mit einem Ruck wandte sie sich um und lief mit wehendem Gewand im Zimmer auf und ab. »Ich könnte es mir einfach machen und dich statt seiner fortschicken.«

»Und Sylvette dabei verlieren«, gab er zurück. »So wie Aura.«

Sie schleuderte ihm einen haßerfüllten Blick zu. »Warum Daniel? Was hat er dir getan?«

Darüber hatte er selbst lange nachgedacht, ohne eine überzeugende Antwort zu finden. Es war nicht der Schlag, den Daniel ihm auf dem Flur verpaßt hatte, nicht einmal ihre offene Feindschaft. Aber da war etwas in Daniels Blicken, in der Art, wie er ihn zu beobachten schien, bei jedem Schritt, jedem Wort, das er sagte. Christopher spürte die Präsenz seines Stiefbruders sogar dann noch, wenn er gar nicht in der Nähe war. Ständig war ihm, als werde er von Daniel verfolgt, gejagt, belauert. Und was immer die wahren Ursachen sein mochten, er spürte, daß ihm von Daniel Gefahr drohte. Ihm selbst und seinem Werk. Nestors Werk.

Christopher wandte sich um und ging zur Tür. »Veranlasse einfach, was ich dir gesagt habe«, sagte er barsch, aber mit leichtem Zittern in der Stimme. »Daniel muß gehen. Wohin, ist mir gleichgültig. Nur fort aus meinen Augen.«

»Und dann?« fragte Charlotte, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch. »Was wirst du als nächstes verlangen?«

»Wir werden sehen.«

Er ging und schloß die Tür hinter sich, sehr leise, fast behutsam, als wolle er sie in ihrem Leid nicht stören.

Seither waren drei Wochen vergangen. Doch auch heute, an Sylvettes Geburtstag, fühlte er sich noch nicht besser, ganz im Gegenteil. Immer noch war ihm, als lauere bei allem, was er tat, jemand in seinem Schatten, und nachdem Daniel ausgezogen war, gelangte er zu der Überzeugung, es sei Nestor. Oder besser: Nestors Geist.

Daniel hatte dem Schloß nicht gänzlich den Rücken gekehrt. Zwar hatte niemand Christopher gesagt, wohin er verschwunden war, doch es hatte nicht lange gedauert, bis er die Wahrheit herausgefunden hatte.

Daniel hatte sein Lager im alten Leuchtturm aufgeschlagen, auf der nördlichsten der fünf Felseninseln, die das Schloß umgaben. Nachts stand Christopher hinter den Scheiben des Dachgartens und konnte den trüben Schimmer sehen, der durch die Tür des Leuchtturms fiel. Die Seeadler mieden die Insel seit Daniel sich dort eingenistet hatte.

Christopher sollte es recht sein. Er war froh, daß sein Stiefbruder ihm nicht mehr über den Weg lief. Aus Nestors Erzählung wußte er, daß ein Geheimgang unter dem Meer zum Leuchtturm führte, ähnlich wie jener zur Friedhofsinsel, doch bislang hatte er noch nicht in Erfahrung bringen können, wo dieser Gang ins Schloß mündete. Sylvette wußte es nicht, die Diener zuckten ebenfalls mit den Schultern, und Charlotte tat zumindest so, als hätte sie keine Ahnung, wovon er sprach. Er ahnte, daß sie ihn anlog, aber er brachte es nicht über sich, sie weiter mit Fragen zu bedrängen. Ihre Traurigkeit machte ihm zu schaffen, und allmählich begann er zu wünschen, auch Charlotte würde fortgehen, und sei es nur, damit sein Gewissen endlich Ruhe fand.

Er war nicht dabeigewesen, als sie Daniel klarmachte, was zu tun sei, und so konnte er sich die Reaktion seines Stiefbruders nur ausmalen. Er stellte sich vor, wie er Christopher verfluchte, wie er schwor, sich an ihm zu rächen – und doch war Christopher klar, daß keine dieser Regungen wirklich in Daniels Natur lag. Sogar den Schlag hatte er damals bedauert.

Nein, je länger Christopher darüber nachdachte, desto sicherer war er, daß sein Stiefbruder sich schweigend in sein Schicksal gefügt hatte. Schweigend und mit einem leidenden Ausdruck von Schwermut.

Seit Wochen schon ging Christopher nicht mehr zum Unterricht. Es war nicht mehr nötig, diese Maskerade aufrechtzuerhalten. Sein Stand im Schloß war gefestigt, niemand würde wagen, ihn dafür zur Rede zu stellen. Im Dachgarten gab es Wichtigeres zu erlernen, Drängenderes zu begreifen. Sicher, er vermißte die Stunden mit Sylvette, aber viele davon holte er an den Nachmittagen nach. Dann spielten sie miteinander, Karten und andere einfache Dinge, unternahmen auch die eine oder andere Bootstour. Nur den Ausflug ins Dorf, um den sie ihn gebeten hatte, hatte er ihr ausgeschlagen. Er war noch nicht bereit, zum Festland zurückzukehren – und sei es nur für wenige Stunden. Allein bei dem Gedanken war ihm, als lege sich eine Hand aus Eis auf seine Schulter, als hielte Nestor selbst ihn zurück und flüstere ihm Warnungen ins Ohr.

Seit etwa einem Monat sprießten aus dem Kräuterbeet im Herzen des Dachgartens seltsame Pflanzen, genau an jener Stelle, unter der Nestor begraben lag. Erst hatte Christopher sie für schlichtes Unkraut gehalten – er hatte die Pflege der Gewächse zugunsten seiner Studien im Laboratorium vernachlässigt –, dann aber hatte ihn eine seltsame Ahnung überkommen.

Er hatte erneut das Werk über alchimistische Pflanzenkunde aus der Bibliothek geholt, und noch einmal hatte er sich in die Sage vom Gilgamesch-Kraut vertieft. Es gab in diesem Kapitel des Buches keine Zeichnungen, nicht einmal grobe Skizzen, und doch war da eine verschlüsselte Beschreibung, von Nestor am Seitenrand markiert. Dort war die Rede von sogenannten Schwertern des Lebens, und als Christopher versuchte, eines der Pflänzchen zu pflücken, schnitt er sich an den scharfen Kanten der Blätter – eine Verletzung, die er für einen Hinweis darauf hielt, daß es sich bei den langen, klingenähnlichen Pflanzen tatsächlich um das gesuchte Gilgamesch-Kraut handelte.

Wiewohl, auch er war nicht verblendet genug, die Kräuter am eigenen Leib zu testen. »Schwerter des Lebens« mochte eine passende Beschreibung sein, aber ein endgültiger Beweis war es nicht. Wer wußte schon, was der Verzehr der Kräuter bewirken mochte? Außerdem besagte die Legende, das Kraut komme erst nach sieben Jahren zu voller Reife und Kraft. Was, wenn er mit seiner Vermutung falsch lag, wenn der Leichendünger des Toten nicht Leben, sondern Gift aus der Erde wuchern ließ? Und überhaupt, warum sollte das Gilgamesch-Kraut ausgerechnet auf Nestor Grab wachsen, nachdem so viele Generationen von Alchimisten und Wunderheilern vergeblich danach geforscht hatten?

Nein, sicher konnte er nicht sein. Was blieb, war ein Hauch von Gewißheit, eine instinktive Ahnung, daß er die Lösung des Rätsels entdeckt hatte. Kurz spielte er mit dem Gedanken, das Kraut einem anderen Familienmitglied ins Essen zu mischen, kam von diesem Einfall aber schnell wieder ab. Falls die Blätter tatsächlich Unsterblichkeit schenkten, so gönnte er sie niemandem außer sich selbst, mit Ausnahme Sylvettes vielleicht. Um sie aber empfand er die gleiche Angst wie um sein eigenes Wohlergehen. Der Gedanke, ihr Schaden zuzufügen, war ihm unerträglich.

Christopher verbrachte den Rest von Sylvettes Geburtstag im Dachgarten, untersuchte zum unzähligsten Male eines der Kräuter unter dem Mikroskop, verglich die Struktur der Blätter mit allen Pflanzendiagrammen, die er finden konnte, und kam dennoch zu keinem Ergebnis. Nur eines war sicher: Eine bekannte Kräuterart war dies nicht.

Gegen halb sechs ging er zum Abendessen. Er hatte es immer öfter ausfallen lassen, doch heute wollte er zur Feier von Sylvettes Geburtstag dabeisein. Er wußte, sie würde es ihm übelnehmen, wenn er sich nicht zeigte.

Charlotte saß schon an der Tafel und würdigte ihn keines Blickes. Wie Daniel zu seinem Essen kam, konnte Christopher nur ahnen; jemand aus der Dienerschaft mußte den geheimen Weg zur Leuchtturminsel kennen und ihm die Mahlzeiten hinüberbringen. An der abendlichen Tafel zumindest hatte Daniel seit seinem Auszug aus dem Schloß nicht mehr gesessen. Christopher war selbst überrascht, wie eisern Charlotte sich an seine Anweisungen hielt. Ihr mußte noch viel mehr daran liegen, Sylvette die Wahrheit über ihre uneheliche Herkunft zu verschweigen, als er angenommen hatte. Was ihm freilich nur recht sein konnte.

Die Mahlzeiten waren seit seinem Gespräch mit ihr eine trostlose Angelegenheit geworden, es wurde kaum geredet, und wenn doch, dann bestritt Sylvette mit ihrer kindlichen Plauderei die gesamte Unterhaltung. An diesem Abend aber hatten Köchin und Dienerschaft sich besondere Mühe gegeben, die drei übriggebliebenen Familienmitglieder aufzuheitern. Der Tisch war festlich geschmückt, sogar Papiergirlanden hingen im Kronleuchter, und vor Sylvettes Platz war eine hohe Torte mit elf Kerzen aufgebaut worden.

Christopher und Charlotte saßen schweigend da, während zwei Dienstmädchen das Essen auftrugen. Deckel wurden von dampfenden Schüsseln gehoben, die Kerzen auf der Geburtstagstorte entzündet.

Sylvette war unpünktlich. Die Vorbereitungen für die Mahlzeit waren bereits seit einigen Minuten beendet, als draußen auf dem Flur endlich das vergnügte Poltern ihrer Schritte ertönte. Sie hatte es eilig, wie alle Kinder auf dem Weg zum Geburtstagstisch. Um so erstaunlicher war, daß sie zu spät kam.

Noch bevor sie die Tür erreichte, erklang auf dem Gang der erschrockene Ausruf eines der Dienstmädchen. »Aber Fräulein Sylvette …«

Charlotte wurde aufmerksam, und auch Christopher blickte erwartungsvoll zur Tür. Einen Herzschlag später erschien das Mädchen im Türrahmen.

»Großer Gott!« entfuhr es Charlotte. Sie sprang so heftig auf, daß beinahe ihr Stuhl nach hinten kippte.

Sylvettes Haare waren schwarz, fast mit einem Stich ins Blaue. Ihre Locken hatten sich von der Lösung ein wenig geglättet, und wer nicht genau hinblickte, hätte sie für das kleinwüchsige Ebenbild Auras halten können. Sie strahlte glücklich übers ganze Gesicht.

»Schau nur, Mutter«, rief sie aus. »Mein Haar!«

Christopher spürte, wie Stolz in ihm aufstieg. Seine Mixtur hatte nicht nur gewirkt, sie schien auch keine Nebenwirkungen zu haben. Nicht einmal die Haut am Haaransatz war verfärbt. Mehr noch als über seinen Erfolg freute er sich aber für Sylvette, deren Wunsch endlich in Erfüllung gegangen war.

Charlotte hingegen stürmte auf ihre Tochter zu, packte sie an den Schultern und brüllte: »Wer hat dir das angetan? Sag mir sofort, wer dir das angetan hat!«

»Aber, Mutter«, piepste sie erschrocken, »ich –«

»Wer?«

»Christopher hat mir ein Geschenk –«

Charlotte wirbelte aufgebracht herum und starrte Christopher durch das Feuer der Kerzenflammen an. »Wie konntest du das nur tun?« Ihr Gesicht war eine Fratze aus Empörung und Haß.

»Warum regst du dich so auf?« fragte er, erstaunt über ihre heftige Reaktion. »Sylvette hat es sich gewünscht.«

»Sie sieht aus wie Aura. Und wie ich.« Plötzlich schwammen Tränen in ihren Augen. Sie wischte sie mit einer heftigen Handbewegung quer übers Gesicht. »Sylvette war anders, sie war rein.« Charlotte wandte sich wieder zu ihrer Tochter um, bückte sich und drückte sie an sich. »Was hat er nur aus dir gemacht, mein kleiner Engel …«

Und damit ließ sie Sylvette los und stürmte aus dem Zimmer.

Das Mädchen stand da, nun ebenfalls mit Tränen in den Augen, und blickte Charlotte nach, wie sie mit wehendem Kleid den Flur hinabrannte. Dann aber drehte die Kleine sich um, legte den Kopf schräg, strich sich gedankenverloren über ihr rabenschwarzes Haar und schenkte Christopher ein Lächeln, das sogar ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

***

Der Zugang vor dem Altar war geschlossen, aber das war keine Überraschung. Die Bodenplatte lag an ihrem Platz, und als Christopher nach den verborgenen Kerben tastete, um sie hochzuziehen, bemerkte er, daß von unten ein Schloß angebracht worden war. Die Platte ließ sich nicht um einen Fingerbreit bewegen. Friedrich und Charlotte hatten dazugelernt.

Zum dritten Mal, seit Christopher seine Stiefmutter mit seinem Wissen konfrontiert hatte, trafen sich die beiden Liebenden wieder auf der Friedhofsinsel. Bei ihren beiden letzten Stelldicheins hatte Christopher nicht gewagt, ihnen zu folgen – Friedrich war gewarnt, und er war alles andere als ein Schwächling –, doch heute, einen Tag nach Sylvettes Geburtstagsfeier, mußte er einfach erfahren, was sie über ihn sprachen. Denn daß sie über ihn sprachen, daran gab es keinen Zweifel. Der Freiherr war nicht dumm, und es war durchaus möglich, daß ihm ein Weg einfiel, Charlottes unbequemen Ziehsohn in die Schranken zu weisen.

Nachdem sich der geheime Weg als unzugänglich erwiesen hatte, stürmte Christopher aus dem Schloß. Die Nacht war kühl und vom Donnern der Brandung erfüllt. Die weiße Glut der Mondsichel schälte Wolkengiganten aus dem Schwarz des Himmels. Über Christophers Kopf wisperten die Zweige der Zypressen geisterhaft im Seewind. Er beschleunigte seine Schritte, während er durch den dunklen Hain eilte, gejagt von den Schatten der Bäume und seinen eigenen Ängsten. Erst als jenseits der Stämme die Bucht schimmerte, gestattete er sich ein Aufatmen.

Christopher sprang vom Steg in eine der verlassenen Jollen, löste das Tau und steuerte das Boot mit kraftvollen Ruderschlägen hinaus aufs Meer. Schwitzend umrundete er die Ostseite des Schlosses, bis die Friedhofsinsel im Mondschein sichtbar wurde. Aus der Ferne war sie nichts als ein zerklüfteter Felsklotz, doch Christopher wußte, daß der Anschein trog. Den Mittelpunkt des Eilands bildete eine Vertiefung, wie das Innere eines Kraters. Darin lag die Familiengruft der Institoris’, umgeben von uralten Seeräubergräbern.

Er brauchte über eine halbe Stunde, um die hundert Meter bis zur Insel zurückzulegen. Der Wellengang war stark, und mehr als einmal hatte er mit hereinrollenden Brechern zu kämpfen, ohne sich dabei von der Stelle zu bewegen. Schließlich aber erreichte er den zerschundenen Felskamm, sprang an Land und zog das Boot mit aller Kraft ein Stück aus dem Wasser. Das Risiko, daß es dennoch abgetrieben wurde, war hoch, aber er fand weit und breit nichts, an dem er das Tau hätte festknoten können.

Völlig durchnäßt von Salzwasser und Schweiß kletterte er die Felsen hinauf, bis er von oben in die Senke im Inneren der Insel blicken konnte. Im Mondenschein war die klobige Familiengruft nur schwer auszumachen, ein runder Bau, der ringsum von einem Säulengang umgeben war. Aus den Hängen, die zum Felswall des Eilands hinaufführten, ragten Grabsteine und halbzerfallene Kreuze. Manche Gräber bestanden nur aus aufgeschichteten Steinen, die längst in sich zusammengefallen waren. Christophers Herz schien sich beim Anblick des alten Piratenfriedhofs zusammenzuziehen.

Das Gruftgebäude hatte keine Fenster, doch durch den Spalt unter der Tür fiel sanfter Kerzenschimmer. Christopher eilte zwischen Gräbern und Felsbrocken den Hang hinab, bis er unter dem Säulengang des Rundbaus zum Stehen kam. Vorsichtig näherte er sich der Tür und legte ein Ohr an das wettergegerbte Holz. Er frohlockte angesichts seines Glücks: Die Stimmen der beiden waren ganz deutlich zu hören. Denn in der Tat, es waren Stimmen, kein Seufzen und Rascheln wie sonst, nicht die geheimen Laute der Leidenschaft. In dieser Nacht schienen Charlotte und Friedrich ein ernstes Gespräch zu führen.

»Du kannst dich nicht von einem Kind herumkommandieren lassen«, sagte Friedrich mit strenger Stimme. Es klang, als stritten sie miteinander, wahrscheinlich schon seit geraumer Zeit.

»Christopher ist kein Kind mehr«, widersprach Charlotte kleinlaut. »Gerade das macht ihn so gefährlich.«

»Nicht gefährlich. Boshaft, vielleicht, und undankbar, sonst gar nichts.«

»Du hast ihn nicht erlebt.«

»Was kann er schon tun? Nestor weiß alles über uns. Und Sylvette, nun, glaubst du nicht, sie würde es verkraften?«

»Nein! Sie darf es nicht erfahren, verstehst du? Ich will nicht auch noch sie verlieren.«

Schritte ertönten, vermutlich ging Friedrich in der Gruft auf und ab. »Du willst es ihr ein Leben lang verheimlichen?«

»Welchen Sinn hätte es, wenn sie es erfährt? Nestor mag ein Ungeheuer sein, aber sie hält ihn immerhin für ihren Vater. Und noch scheint sie sich keine ernsten Gedanken über sein Verhalten zu machen.«

»Und wenn sie es aber eines Tages tut?« fragte Friedrich gereizt. »Herrgott, Charlotte, er wird sie genauso fortschicken wie Aura. Er duldet nicht, daß man sich in seine Angelegenheiten mischt.«

Charlotte schnaubte aufgebracht. »Wie gut, daß er wenigstens mich nicht länger zu seinen Angelegenheiten zählt.«

Abermals Schritte, dann ein leises Rascheln von Kleidung, als sie einander umarmten.

Schließlich sagte Friedrich: »Christopher muß von hier verschwinden. Und wenn es nur um Daniels willen ist.«

»Der arme Daniel! Ich mache mir Sorgen um ihn. Er ist so schwach und sensibel. Ich weiß nicht einmal, was er den ganzen Tag in diesem Leuchtturm treibt.«

»Hast du Angst, er könnte noch einmal versuchen, sich das Leben zu nehmen?«

»Seit Aura fort ist – jeden Tag, jede Stunde. Ich kann kaum an etwas anderes denken.« Sie weinte leise.

»Um so wichtiger ist es, Christopher loszuwerden. Was treibt er überhaupt den ganzen Tag mit Nestor auf dem Dachboden?«

»Was weiß ich! Wahrscheinlich hilft er ihm bei … bei was auch immer Nestor dort oben tun mag. Ich war seit Jahren nicht mehr auf dem Speicher. Nestor könnte genausogut tot sein.«

»Vielleicht ist es an der Zeit, ihm noch einmal einen Besuch abzustatten.«

Charlotte klang erschrocken. »Du willst zu ihm gehen? Zu Nestor?«

»Warum nicht? Mehr als mich beschimpfen kann er nicht tun. Vielleicht hilft es, wenn ich ihm von den kleinen Intrigen seines Schützlings erzähle.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob Nestor nicht selbst dahintersteckt.«

»Und Sylvette?«

»Sie bedeutet ihm nichts, das weißt du. Er würde in Kauf nehmen, daß sie an der Wahrheit zerbricht.«

Eine Weile lang herrschte Stille. Christopher wagte kaum zu atmen, aus Angst, die beiden könnten ihn hinter der Tür bemerken.

Dann sagte Friedrich: »Ich gehe zu ihm, gleich morgen früh. Und ich werde mir Christopher vorknöpfen.«

»Es wird kaum einen Sinn haben, ihn zu verprügeln.«

»Verprügeln? Nein, ich fürchte, aus dem Alter ist er heraus.«

Er lachte bitter. »Ich werde ihm drohen, ihn im Meer zu ersäufen.«

»Du redest Unsinn.«

»An wem hängst du mehr? An ihm oder an Sylvette?« Als Charlotte keine Antwort gab, fuhr Friedrich ruhiger fort: »Er läßt uns doch gar keine andere Wahl, oder?«

»Hätte ich ihn nur nie hierhergeholt!«

»Hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Du hast selbst gesagt, daß er sich verändert hat. Er war nicht so, als du ihn aufgenommen hast.«

»Nein, bestimmt nicht.«

»Keiner hat ahnen können, wie er sich entwickeln würde.«

»Es ist Nestors Einfluß, glaub mir. Nestor hat die Macht, einem Menschen so etwas anzutun. Er verändert einen, er –«

»Nestor ist ein Einsiedler«, fiel Friedrich ihr scharf ins Wort, »vielleicht sogar ein Verbrecher. Aber er ist kein Hexenmeister. Wenn Christopher sich wirklich so gewandelt hat, wie du sagst, dann liegt der Grund dafür bei ihm selbst, nicht bei Nestor.«

So ging es noch eine Weile hin und her. Charlotte gab immer wieder Nestor die Schuld an ihrem Unglück, während Friedrich versuchte, sie entweder zu trösten oder mit Schärfe zurechtzuweisen.

Sein schwankendes Temperament verriet nur allzu deutlich seine eigene Unsicherheit.

Christopher grinste zufrieden.

Endlich verkündete Charlotte, es sei spät geworden und sie wolle sich zurückziehen. Friedrich machte nur einen halbherzigen Versuch, sie umzustimmen.

»Geh schon vor«, sagte er dann, »und laß den Schlüssel stecken. Ich räume noch die Decken beiseite.«

Christopher horchte auf die Schritte seiner Stiefmutter, die sich auf der Treppe zum Geheimgang entfernten. Nach zwei Minuten war er sicher, daß Friedrich allein und Charlotte außer Hörweite war.

Er holte aus und trat mit einem heftigen Tritt die Tür auf. Der Flügel krachte scheppernd gegen die Wand, Staub wirbelte auf.

Friedrich schrak zusammen, fing sich aber bemerkenswert schnell wieder. Gelassen starrte er Christopher durch den Dunst an.

»Natürlich«, sagte er leise. »Ich nehme an, daß du alles gehört hast, nicht wahr?«

»Das meiste«, gab Christopher trocken zurück. »Das Wichtigste. Wenn ich mich recht entsinne, wollen Sie mich im Meer ersäufen.«

»Gut, daß du es dir gemerkt hast. Das erspart mir die Wiederholung. Drohungen können so albern klingen, wenn man wütend ist, findest du nicht?«

Einen Moment lang durchzuckte Christopher die Gewißheit, daß sein rüder Auftritt ein Fehler gewesen war. Der Freiherr hatte die Kolonien bereist, hatte sich mit fremden Sitten und Eingeborenen abgegeben – und da wollte Christopher ihn mit einer eingetretenen Tür beeindrucken? Der Drang, einfach davonzulaufen, wurde beinahe übermächtig. Und doch – da war dieser unbestimmte Zorn in ihm, als hätten Friedrichs Worte ein unberührtes Reservoir aus Wut in ihm geöffnet; ganz langsam sickerten die ersten Tropfen hervor, während dahinter die tobende Flut nachdrängte.

Keine fünf Schritte trennten sie voneinander. Der Freiherr stand in der Mitte der Gruft, im Zentrum des Sterns aus steinernen Bahren. Christopher wartete immer noch im Türrahmen. Ihm war klar, daß er den nächsten Schritt tun mußte. Wenn er jetzt einen Rückzieher machte, konnte er das Schloß genausogut freiwillig verlassen, gleich heute nacht.

Nestor, dachte er unentschlossen, warum hilfst du mir nicht? Niemand gab Antwort, und doch wurde sein ganzer Körper plötzlich von Hitze erfüllt, als ströme neue Kraft durch seine Glieder.

»Haben Sie das ernst gemeint?« fragte er lauernd. »Denken Sie wirklich daran, mich zu töten?«

»Du wärst nicht der erste.« Der Freiherr spannte sich wie eine Raubkatze. Seine breiten Schultern wurden straff, seine Züge härter.

»Du hast da etwas angezettelt, das du selbst nicht mehr überschauen kannst, nicht wahr, mein Junge? Und nun stehen wir uns gegenüber wie zwei Hornochsen und wissen nicht recht, wie wir uns benehmen sollen.«

»Wollen Sie tatsächlich, daß Sylvette erfährt, daß Sie ihr Vater sind?«

Friedrich lachte schallend auf. »Ich? Sylvettes Vater? Wer hat dir denn diesen Blödsinn ins Ohr gesetzt?«

»Jetzt enttäuschen Sie mich aber.« Christopher schenkte ihm ein böses Lächeln. »So ein Bluff ist unter Ihrer Würde.«

Der Freiherr lachte noch einmal – und sprang blitzartig auf Christopher zu. Ehe der sich’s versah, hämmerte Friedrich ihm die rechte Faust unters Kinn und warf ihn mit der Linken nach hinten. Christopher stolperte rückwärts ins Freie, halb betäubt vor Schmerz. Er stieß mit dem Rücken gegen eine der Säulen, glitt ab und fiel hin. Felskanten bohrten sich in seinen Rücken.

Stöhnend lag er am Boden, versuchte sich aufzurichten, doch der Freiherr rammte den Fuß auf seine Brust.

»Was glaubst du, wer du bist, Junge?« Die Stimme des Mannes war schneidend vor Zorn. »Glaubst du, du kannst hierherkommen, dich mit mir anlegen und danach so tun, als sei nichts gewesen? So, wie du es mit Charlotte getan hast?« Sein Fuß trat kräftiger nach unten, bis Christopher kaum noch Luft bekam. »Du bist armselig! Ein Verlierer. Ich habe viele von deinem Schlag kennengelernt. Und ich hätte das hier schon viel früher tun sollen. Charlotte hat sich für dich eingesetzt, sie glaubte, Nestor treibe dich zu all dem. Aber wir beide wissen genau, daß das nicht stimmt, nicht wahr? Du bist einfach nur ein verkommenes Stück Dreck. Ungeziefer. Und wie Ungeziefer sollte ich dich auch behandeln. Ich könnte dich zertreten, wenn ich wollte, hier und jetzt!«

»Warum … tun Sie es … dann nicht?« preßte Christopher hervor. Jeden Augenblick konnten seine Rippen unter dem Fuß des Freiherrn zersplittern.

»Ach, spiel doch nicht den Helden!« fuhr Friedrich ihn an. »Du magst es für besonders tapfer halten, das Schicksal herauszufordern, aber, glaube mir, das ist es nicht. Trotzig zu sein verrät in deiner Lage nichts als Dummheit.«

Nach einem letzten heftigen Druck auf Christophers Brustkorb zog er seinen Fuß zurück. Er stemmte die Hände in die Hüften und blickte verächtlich auf sein Opfer hinab. »Du bist es nicht wert, daß irgendwer sich deinetwegen Sorgen macht. Schau dich an, wie du daliegst und wimmerst!«

»Was wollen Sie … jetzt tun?« Jeder Atemzug brannte wie Feuer in Christophers Lungen, jedes Wort war eine Qual.

»Morgen früh bist du fort. Und damit meine ich fort! Kein Abschied von Sylvette, keine Spuren. Es wird sein, als hättest du dich mit all deinen Sachen in Luft aufgelöst.«

»Sind Sie sicher, daß das auch Charlottes Wunsch ist?«

»Es ist meiner, und das reicht.«

»Sie können mich nicht einfach umbringen. Das Waisenhaus wird Fragen stellen, die Dienerschaft –«

Friedrich beugte sich vor, seine Augen wurden zu schwarzen Schattenlöchern. »Wer wird schon im Meer nach deiner Leiche suchen, mein Junge? Es wird heißen, du seiest ausgerissen. Waisenkinder tun so was.« Er packte Christopher am Kragen, hob seinen Oberkörper ein Stück vom Boden und warf ihn dann mit Wucht zurück auf die scharfen Kanten. »Wage nicht, mich noch einmal herauszufordern.«

Damit drehte der Freiherr sich um und ging auf die Tür der Familiengruft zu. Christophers Hand tastete über den Boden, blitzschnell umschlossen seine Finger einen faustgroßen Stein. Ohne nachzudenken holte er aus und schleuderte ihn in Friedrichs Richtung.

Der Stein krachte gegen den Hinterkopf des Freiherrn. Friedrich stolperte haltsuchend vorwärts, knickte mit einem Knie ein und stürzte mit Schulter und Schädel gegen eine der Säulen. Mit einem seltsamen Laut sackte er zusammen, versuchte aber noch, sich umzudrehen und seinen Gegner anzuschauen. Die Mondsichel verschwand hinter den Wolken. Es begann zu regnen, schlagartig. Eine wahre Sturzflut ergoß sich vom Himmel.

Christopher hatte Schmerzen am ganzen Körper, vor allem in Brust und Rücken, dennoch gelang es ihm, sich auf alle viere zu stemmen. Unweit von ihm lag die obere Hälfte eines zerbrochenen Steinkreuzes. Er zog es heran, taumelte auf die Füße und umfaßte das Kreuz mit beiden Händen. Es war so schwer, daß er es nur unter Mühen hochheben konnte.

Friedrichs Augen weiteten sich, als er Christopher auf sich zukommen sah. Er war wie gelähmt, Blut aus einer Platzwunde durchnäßte sein blondes Haar. Mit ruckartigen Bewegungen versuchte er, auf die Beine zu kommen, sackte aber immer wieder zur Seite.

Christopher kam näher.

Der Freiherr keuchte etwas, das Worte sein mochten; sie klangen wie rasselnde Schmerzenslaute. Sein Blick war verschleiert, sein Körper auf der Seite zusammengerollt. Er hob eine Hand, streckte sie bittend zum Nachthimmel empor.

Dann war Christopher heran, holte mit beiden Händen aus und rammte das Steinkreuz mit aller Kraft in Friedrichs Gesicht. Ein sprödes Splittern ertönte, dann sackte der Körper des Freiherrn endgültig in sich zusammen. Nur seine Hand blieb ausgestreckt, wie eine einsame Flagge nach verlorener Schlacht.

Christopher wußte, daß kein Leben mehr in seinem Gegner war, doch der Wahn in seinem Kopf trieb ihn zu weiteren Hieben, noch einem und noch einem. Dann endlich ließ er von der Leiche ab, warf das Kreuz beiseite und sank in die Knie.

Über eine Stunde hockte er so da, während Friedrichs Blut auf den Felsen geronn. Schließlich rappelte er sich hoch, packte den Toten an den Füßen und zerrte ihn den Hang hinauf, über den Felskamm hinweg und auf der anderen Seite zum Wasser hinab. Dann lief er zurück, schleppte das Steinkreuz herbei und öffnete Hemd und Jacke des Freiherrn. Er legte ihm das Kreuz auf die Brust, schloß darüber soweit wie möglich die Knöpfe und sicherte das Ganze mit dem Gürtel des Toten. So verschnürt zog er den Leichnam ins Boot, ruderte auf der schloßabgewandten Seite der Friedhofsinsel einige Dutzend Meter aufs Meer hinaus und zerrte dort den Körper über die Reling. Die Jolle neigte sich gefährlich zur Seite, schon ergossen sich die ersten Wellen hinein – doch dann rutschte der Leichnam hinab ins Wasser. Das Steinkreuz zog ihn unerbittlich in die Tiefe, und nur zwei Herzschläge später war keine Spur mehr von ihm zu entdecken.

Widerwillig ruderte Christopher zurück zur Insel und vergewisserte sich, daß der Regen das Blut von den Felsen wusch. Dann räumte er in der Gruft das Liebeslager auf. Er wollte, daß es aussah, als habe Friedrich seine Arbeit beendet und sei anschließend spurlos verschwunden. Christopher lief sogar durch den Geheimgang zur Kapelle, verschloß den Einstieg von unten und eilte zurück zur Familiengruft. Dort löschte er alle Kerzen und bemerkte erst im Hinausgehen sein größtes Problem: Der Tritt hatte das Türschloß zerbrochen. Es blieb ihm nichts übrig, als die Tür einfach zuzuziehen, in der unguten Gewißheit, daß der Wind sie früher oder später wieder aufdrücken würde. Aber selbst wenn, es bewies nicht das geringste.

Zuletzt schob er die Jolle wieder ins Wasser und ruderte zurück zum Schloß. Alle Fenster waren dunkel. Selbst wenn jemand hinausgesehen hätte, er hätte das Boot auf dem pechschwarzen Meer nicht entdecken können.

Ungesehen gelangte Christopher ins Schloß, eilte hinauf ins Laboratorium und verbrannte seine Kleidung in den Flammen des Athanor. Dann legte er sich in Nestors altes Bett auf der anderen Seite des Dachgartens, blickte durch die Scheiben hinaus in die Nacht und versuchte, seine eigene Verwirrung zu meistern. Doch aus dem Wust von Ängsten und Skrupeln und Zweifeln an seinem Tun kristallisierte sich allmählich ein einziger klarer Gedanke heraus:

Nestor wäre stolz auf mich.