Gib mir eine Stunde Zeit, um ein entspannendes Essen in meinem Quartier vorzubereiten. Eine Pause täte dir bestimmt gut; anschließend kannst du bessere Lösungen für diese Probleme finden. Es ist bestimmt möglich, Estarras Schwangerschaft zum politischen Vorteil der Hanse zu nutzen.«
Er winkte ab und bedeutete ihr, das Büro zu verlassen.
»Arbeit wartet auf mich. Es gilt, Pläne zu entwickeln. Ich muss König Peter deutlich machen, welche Konsequenzen ihm drohen, wenn er sich mir noch weiter widersetzt.«
118
CELLI
Die erste neue Gruppe grüner Priester hatte ihre Schösslinge durch den Spiralarm gebracht, und auf zahlreichen anderen Welten entstanden zusätzliche Bastionen des Weltwalds. Seit mehr als einem Jahrhundert pflanzten grüne Priester Weltbäume auf anderen Planeten an, aber nie zuvor in einem solchen Maßstab.
Während der letzten drei Tage hatte Celli immer wieder mit Solimar getanzt und dadurch die tiefe Energie der Verdani freigesetzt. Es machte weitaus mehr Spaß als das Sammeln von totem Holz, und außerdem fühlte Celli, wie sich ihre eigenen Kräfte erneuerten, als die verborgenen Reserven der Weltbäume erwachten. Es war so, als spritze man kaltes Wasser ins Gesicht eines Riesen. Selbst Solimar staunte über das Leben, das sie dem verletzten Wald entlockten. Nach vielen Monaten schien Theroc wieder auf die Beine zu kommen.
Nach einem besonders kraftvollen Tanz schwitzte Celli im durch die Wipfel fallenden Sonnenschein und lehnte sich an Solimar. Seine grüne Haut war warm, seine Muskeln stark und tröstlich wie die Blattwedel der riesigen Bäume. »Ich könnte mich daran gewöhnen«, sagte sie.
Er küsste sie, wischte ihr einen Rußfleck von der Wange und küsste sie erneut. »Ich könnte mich daran gewöhnen«, sagte er, und Celli lachte leise.
Solimar setzte sich so plötzlich auf, dass Celli erschrak.
»Beneto ruft uns. Uns alle. Schnell! Es ist ein langer Weg zurück, und wir müssen uns beeilen.«
Zwar schmerzten ihre Arme und Beine, aber sie lief mit ihm zum Gleiter. Eine halbe Stunde später trafen sie unter der Pilzriff-Stadt ein und begegneten dort aufgeregten grünen Priestern, die immer wieder gen Himmel blickten. Einige weiter entfernte Priester standen bei gesunden Weltbäumen und hörten im Telkontakt, was Beneto ihnen zu sagen hatte.
Der hölzerne Golem stand mitten auf der Lichtung und wurde zum Fokus für Energie und Gedanken des Weltwalds. Die verbrannten Reste der größten Bäume erzitterten, und ihre Blattwedel legten sich übereinander. Celli dachte kurz an eine Gruppe alter Krieger, die nach ihren Schwertern griffen.
Selbst ohne einen direkten Telkontakt spürte sie, wie es ihr kalt über den Rücken lief. Etwas stimmte nicht. Um sie herum blickten alle nach oben und schirmten sich mit der Hand die Augen ab. Celli fühlte eine deutliche Furcht, die wie ein Schuss durch des Netz des Telkontakts hallte, nicht nur durch den Weltwald auf Theroc, sondern von Planet zu Planet, überall dort, wo Weltbäume wuchsen.
Sie ergriff Solimars Hand. »Sind es die Hydroger? Kehren sie zurück?« Als der junge Mann an ihrer Seite voller Abscheu erbebte, stieg Angst in Celli empor. Sie sah zu Beneto und erhoffte sich Antworten.
Ihr Bruder sprach leise, aber der Wind und die Bäume trugen seine Stimme weit. »Ja. Die Hydroger. Wir wussten, dass es geschehen würde.«
Die grünen Priester berührten die Stämme der Weltbäume und versuchten, ihre Kraft miteinander zu verbinden, um stark zu sein.
»Aber du hast doch gesagt, dass Hilfe hier sein würde, Beneto«, brachte Celli hervor. »Du hast einen Ruf erwähnt, der an alte Verbündete hinausging. Wenn sie nicht bald kommen, können sie nur noch unsere Reste bestatten.«
Der Golem, der ihren Blick aus hölzernen Augen erwiderte, sah genauso aus wie ihr Bruder. Als Kind war Beneto einer ihrer engsten Freunde gewesen, doch seine jetzige Existenz ging über Cellis Begriffsvermögen hinaus.
»Ja, sie sind seit dem ersten Angriff der Hydroger auf Corvus Landing unterwegs, wo ich starb. Aber sie sind noch zu weit entfernt. Unsere Verbündeten werden nicht rechtzeitig hier sein.«
Eine Stunde lang erzitterten und raschelten die riesigen, intelligenten Bäume, und die versammelten Theronen sahen Beneto an, als könne er ihnen sagen, was sie tun sollten. Wie erstarrt stand er da, ebenso Teil der von Furcht geprägten Szene wie die Bäume.
»Wenigstens sind die Schösslinge in Sicherheit, die wir zu anderen Planeten geschickt haben«, brummte Yarrod.
»Im Gegensatz zu uns«, sagte eine blasse Frau.
Celli hörte einen Schrei, und grüne Priester deuteten auf etwas am Himmel. Im hellen Sonnenschein sah sie ein Funkeln, von wie kristallen wirkenden Kugelschiffen reflektiertes Licht. Blaue Blitze flackerten zwischen pyramidenförmigen Vorwölbungen.
Hydroger erschienen am Firmament, ein Kugelschiff nach dem anderen, und dann senkten sie sich dem Weltwald entgegen.
Neu gewachsene Weltbäume erbebten, als Eiswellen von den angreifenden Schiffen ausgingen. Die Luft selbst schien spröde zu werden und zu zerbrechen. Panikerfüllte Theronen liefen davon und suchten nach Schutz. Einige grüne Priester blieben niedergeschlagen stehen und wussten nicht, was sie tun sollten.
Yarrod sank auf die Knie. »All unsere Arbeit… Der Weltwald ist noch schwach. Wir können dies nicht überstehen.«
Celli ergriff ihn an der Schulter. »Komm, Onkel! Wir müssen etwas tun. Einige der Bäume haben sich erholt. Gibt es nicht eine Möglichkeit für sie, sich zur Wehr zu setzen? Reynald hat sie dazu gebracht zu kämpfen!« Sie richtete einen flehentlichen Blick auf Beneto.
Viele Theronen eilten fort von den Bäumen, obgleich sie durch den ersten Angriff wussten, dass es keinen sicheren Ort gab.
Ein Kugelschiff näherte sich im Tiefflug. Blaue Blitze zuckten zu den Baumwipfeln und ließen sie regelrecht explodieren. Feuer griff nach geschwächtem Holz, und Flammen loderten.
Der Beneto-Golem stand in einem Stonehenge-artigen Ring aus verkohlten Stämmen, wie der Priester eines heiligen Tempels. Seine hölzernen Augen waren geschlossen, und er hatte die Fäuste an den Seiten geballt. Das Gesicht war dem Himmel zugewandt, und er erweckte den Eindruck, einer fernen Stimme zu lauschen.
Während des ersten verheerenden Angriffs waren die Faeros gekommen, doch bei ihnen handelte es sich um unsichere Verbündete. Ihre Hilfe hatte ebenso großen Schaden angerichtet wie die Kugelschiffe, und Sarein hatte gesagt, dass die Faeros unter dem Ansturm der Hydroger zurückweichen mussten. Wer konnte sie jetzt noch retten?
Die Kugelschiffe verstärkten ihre Angriffe.
Celli und Solimar liefen zu dem großen Baum, der die wieder aufgebaute Pilzriff-Stadt trug. Ihre Eltern kletterten Strickleitern zu den Gebäuden hoch, als wäre es weiter oben sicherer. Celli deutete auf sie. »Was auch immer sie vorhaben… Ich möchte bei ihnen sein. Ich… brauche jetzt einfach ihre Gesellschaft.«
Solimar nickte. »Ich begleite dich.«
Mit der Anmut von Baumtänzern kletterten sie an der Seite des Weltbaums nach oben. Weit über ihnen donnerte es immer wieder. Kältewellen fegten über das frühere Schlachtfeld und brachten erneut Zerstörung.
Celli eilte zum Thronraum. Unverkleidete Rohre und Streben zeigten sich dort an den Wänden, wo Roamer Schäden mit Stützelementen ausgebessert hatten. Techniker der Clans hatten die sanitären Anlagen verbessert, Stromnetze erweitert und Annehmlichkeiten hinzugefügt, die weitaus moderner waren als die Dinge, die bisher das tägliche Leben der Theronen bestimmt hatten – darunter auch ein neues Kommunikationssystem.
Idriss stand verwirrt vor den Kom-Geräten. Alexa sah auf, als ihre Tochter hereinkam. »Bring dich in Sicherheit, Celli.«
Das Mädchen stützte die Hände an die schmalen Hüften.
»Und wo gibt es einen sicheren Ort, Mutter? Wenn ich einen wüsste, würde ich dich dorthin bringen!«
»Es gibt keine Sicherheit, solange wir nicht in der Lage sind, den Hydrogern eine Mitteilung zu schicken oder um Hilfe zu rufen«, sagte Idriss.
»Du willst den Hydrogern eine Mitteilung schicken?«, brachte Celli hervor. »Das klingt nicht nach einer guten Idee.«
»Wie kommen Sie darauf, dass die Fremden bereit sind, zuzuhören?«, fragte Solimar. »Sie wollen den Weltwald zerstören.«
Idriss schenkte der Frage keine Beachtung und deutete auf die Kontrollen. »Sind dies die richtigen Schalter?«
Solimar trat rasch vor. »Wenn Sie darauf bestehen… Ich zeige Ihnen alles.« Er hatte sich immer für technische Dinge interessiert, und deshalb fiel es ihm nicht schwer, mit den Kom-Kontrollen zurechtzukommen.
»Du kennst die Hydroger, Vater«, sagte Celli. »Erwartest du im Ernst eine Antwort von ihnen?«
Idriss sah über die Schulter. Seine Augen waren gerötet, und er wirkte plötzlich sehr alt. »Die grünen Priester senden durch den Telkontakt, aber die Hydroger haben uns alle umgebracht, bevor jemand uns zu Hilfe kommen kann.«
Das Kom-System summte, und Solimar trat zurück. »Die Geräte sind sendebereit, auf allen Frequenzen.«
Idriss übernahm die Kontrollen. »Hier spricht Vater Idriss, Oberhaupt der Theronen. Wir sind ein friedliches Volk und haben Ihnen nichts getan. Bitte lassen Sie uns in Frieden. Wir sind nicht Ihre Feinde.«
Celli sah ihren Vater an. »Die Hydroger haben immer die Verdani für ihre Feinde gehalten. Weil wir für die Bäume arbeiten, hassen sie uns – uns alle. Sie werden ihre Angriffe erst einstellen, wenn der ganze Planet in Schutt und Asche liegt.«
»Wir verlangen, dass Sie uns einen Botschafter schicken, wie im Fall der Erde«, fuhr Idriss fort und klang lächerlich naiv –immerhin wusste er, dass die Hydroger erneut dabei waren, den Weltwald zu verheeren. Seine Stimme klang wehleidig, als er sagte: »Bitte verschonen Sie uns.«
Die aus den Kom-Lautsprechern klingende Antwort überraschte sie alle. Sie kam nicht von den Hydrogern, denn es war eine menschliche Stimme. »Keine Sorge, wir beschützen Sie.« Eine kurze Pause. »Ich hoffe, dies funktioniert.«
Mutter Alexa beugte sich vor. »Wer spricht da? Wer auch immer Sie sind: Bitte helfen Sie uns.«
»Oh, Entschuldigung. Ich bin Kotto Okiah. Offenbar kommen wir genau zum richtigen Zeitpunkt. Die Droger werden gleich eine Überraschung erleben. Vorausgesetzt, meine Berechnungen stimmen.«
Celli erinnerte sich an den exzentrischen Roamer-Ingenieur, dessen ehrgeizige Pläne beim Wiederaufbau der theronischen Siedlungen geholfen hatten. Die Roamer waren von Theroc geflohen, weil sie befürchteten, von der TVF gefangen genommen zu werden, und sie hatten gewusst, dass die Hydroger irgendwann zum Planeten des Weltwalds zurückkehren würden.
Celli eilte zu einem Fenster in der dicken Pilzriff-Wand. Es erschien ihr sehr unwahrscheinlich, dass die Weltraum-Zigeuner über eine wirkungsvolle Waffe gegen die Kugelschiffe verfügten, aber zumindest traute sie ihnen mehr zu als den Kommunikationsversuchen ihres Vaters.
Sie sah einige Roamer-Schiffe am Himmel, ein Dutzend alte, arg mitgenommen wirkende Raumer, jeder mit einer anderen Konfiguration. Die Hydroger schenkten ihnen keine Beachtung, schienen sie für bedeutungslos zu halten. Ohne zu zögern flogen die Clan-Schiffe den großen Kugeln entgegen.
Celli fragte sich, was den Roamern durch den Kopf ging. Alles deutete darauf hin, dass sie nicht die geringste Chance gegen die Hydroger hatten.
119
IMPERATOR RUSA’H
Das einst helle Thism löste sich um ihn herum auf. Die Seelenfäden, die Rusa’h so deutlich gesehen und so fest gehalten hatte, zuckten wie scharfe Drähte aus seinen mentalen Händen. Wie konnte der falsche Weise Imperator so mächtig sein? Dieser Vorgang schmerzte mehr als Schnitte in der Haut und imaginärer Blutverlust. Alle Nialia-Felder waren zerstört; es würde kein Schiing mehr geben. Zwar hielten sich viele loyale Wächter, Angehörige des Linsen-Geschlechts, Vergnügungsgefährtinnen, Bedienstete und Ärzte im befestigten Palast auf, aber die Soldaten des Weisen Imperators kamen näher und bahnten sich einen Weg durch die Verteidigungsanlagen. Rusa’h hätte es nie für möglich gehalten, dass sein Bruder bereit war, Ildiraner zu töten.
Zwei der Septars des übernommenen Manipels der Solaren Marine blieben ebenfalls an Rusa’hs Seite und dienten ihm als militärische Berater. Aber selbst ihre taktische Sachkenntnis konnte ihm keinen Fluchtweg zeigen, von einem Sieg ganz zu schweigen. Die Lage war verzweifelt.
Von der offenen Zitadelle beobachtete Rusa’h, wie Thor’h und seine Kampfschiffe heftigen Widerstand leisteten, aber die meisten Schiffe hatten inzwischen die Seite gewechselt. Dem Weisen Imperator war es gelungen, sie unter seine Kontrolle zu bringen, die Besatzungsmitglieder aus Rusa’hs Netz zu lösen und sie dem alten, verdorbenen Thism hinzuzufügen.
Jora’h erweiterte seinen Einfluss immer mehr und würde bestimmt über kurz oder lang den Sieg erringen.
Zu Anfang der Rebellion hatte Jora’h seinen Bruder unterschätzt, und jetzt schien Rusa’h den gleichen Fehler gemacht zu haben. Der Weise Imperator kontrollierte das Thism mit einer Macht, der er nichts mehr entgegenzusetzen hatte.
Wie konnte das falsche Oberhaupt des ildiranischen Volkes eine solche Kontrolle ausüben, wenn er die Dinge aus dem falschen Blickwinkel sah und völlig vom rechten Weg abgekommen war? Warum gab die Lichtquelle Rusa’h, dem wahren Imperator, nicht mehr Macht, um die Rechtmäßigkeit seiner Ansprüche zu zeigen?
»Unsere Feinde sind stark«, sagte eine der
Vergnügungsgefährtinnen. Ihr verführerisches Gebaren war gespielt, denn die Körpersprache verriet Nervosität. »Kann uns die Lichtquelle nicht irgendwie helfen?«
Rusa’h saß in seinem verzierten Sessel und blickte zur primären Sonne von Hyrillka, ließ ihr Licht auf seine Netzhaut fallen. Während des Subthism-Schlafs hatte er die Antworten ganz deutlich gesehen. Er hatte sich in einer Sphäre absoluter Reinheit befunden und das Muster der Seelenfäden erkannt.
Durch die Kopfverletzung war es ihm möglich gewesen, frei zu werden und Erleuchtung zu erlangen.
Rusa’h schloss die Hände krampfhaft fest um die Armlehnen des Sessels, starrte ins blendende Licht und suchte nach einer Antwort. Doch jetzt sah er keine klaren Wege mehr. Er war sicher, dass er sich nicht getäuscht hatte. Die Thism- Stränge verblassten, und er wusste nicht, was die Lichtquelle nun von ihm erwartete. Die Sonne selbst schien ihn zu rufen und ihm zu zeigen, wie er sich schützen konnte.
Ein Septar trat vor ihn und erstattete Bericht. »Der Zitadellenpalast ist vollständig umstellt, Imperator. Bis auf das Flaggschiff des Erstdesignierten Thor’h und zwei andere Kriegsschiffe ist die ganze Flotte vom Feind übernommen.«
»Wir haben noch immer zahlreiche treue Soldaten, die bereit sind, ihr Leben im Kampf gegen den falschen Weisen Imperator zu opfern«, sagte der zweite Septar.
Rusa’h schürzte die Lippen. »Jora’h ist mächtig genug, um den Palast jederzeit zu stürmen – falls er bereit ist, es zu Opfern kommen zu lassen.« Seine Vergnügungsgefährtinnen standen in der Nähe und streichelten ihn, während er über die Möglichkeiten nachdachte. »Will er Verluste in Kauf nehmen?«
»Ildiraner töten keine Ildiraner«, sagte der erste Septar. »Er wird uns nicht direkt angreifen.«
Rusa’h kniff die Augen zusammen. Von dieser Annahme war er selbst ausgegangen, und er hatte sich geirrt. »Nein. Er zögert vielleicht, aber schließlich greift er an.« Rusa’h nickte. »Jora’h hat sich bereits über viele Traditionen unseres Volkes hinweggesetzt. Seht nur, unten am Hügel. Mit seinen heiligen Füßen steht er auf dem Boden, wie ein gewöhnlicher Ildiraner.
Im Prismapalast dient ihm die eigene Tochter, adlig geboren, als Leibwächterin. Wir haben berechtigterweise Ildiraner getötet; mein Bruder wird irgendeine Rechtfertigung dafür finden, ebenfalls ildiranisches Blut zu vergießen.«
»Wie dem auch sei: Wir haben verloren, Imperator«, sagte der zweite Septar. »Hyrillka wird fallen. Wir haben nicht genug Soldaten, Waffen oder Kriegsschiffe, um diese Welt zu halten. Und wir können auch keine Verstärkung von den anderen Planeten herbeiführen, die sich der Rebellion angeschlossen haben.«
Rusa’h lauschte den draußen stattfindenden militärischen Vorbereitungen, den Geräuschen, die seine eigenen Verteidiger und Jora’hs weitaus größere Truppen der Solaren Marine verursachten. Fast vierhundert Kriegsschiffe rasten über den Himmel. Mit seinen drei Schiffen war Thor’h ihnen hoffnungslos unterlegen.
Rusa’h konnte nichts zur Rettung seiner Rebellion tun.
Er holte tief Luft. »Lasst mich mit dem Erstdesignierten sprechen. Ich habe letzte Anweisungen für ihn.«
Thor’h konnte seine drei Schiffe kaum unter Kontrolle halten, während ihm alle anderen Kriegsschiffe zusetzten. Der Adar hätte seinem Widerstand jederzeit ein Ende setzen können, aber aus irgendeinem Grund hielt sich Zan’nh zurück.
Vermutlich hatte Jora’h ihm befohlen, Thor’h lebend zu fassen.
Vielleicht blieb Rusa’h noch genug Zeit…
»Erstdesignierter, du solltest mein Nachfolger sein, aber wir haben versagt«, sagte der Imperator über den privaten Kanal.
»Du bist mir immer ein ehrenvoller Gefährte gewesen. Du hast mir geholfen, noch bevor ich die Offenbarungen erhielt, und du hast mir geglaubt, als ich den wahren Weg sah. Jetzt, da alles finster zu sein scheint, sollst du dich daran erinnern, dass ich die Wahrheit gesehen habe. Ich allein kenne den richtigen Pfad. Wir sind nicht blind. Ich werde nie aufhören zu versuchen, unsere heiligen Ziele zu erreichen.«
Der auf dem Bildschirm sichtbare Thor’h wirkte sehr besorgt.
»Mir stehen noch drei Schiffe zur Verfügung, Herr.
Ich brauche keine überlegenen Waffen, denn ich habe überlegene Entschlossenheit. Welche Anweisungen hast du für mich?«
»Derzeit lässt dein verblendeter Vater seine Truppen auf meinen Zitadellenpalast zumarschieren.« Der Imperator nickte zuversichtlich. »Aber du kannst mir mit deinen drei Schiffen die Chance geben, die ich brauche.«
Thor’h steckte so voller Emotionen, dass er es nicht fertig brachte, von seinem Onkel Abschied zu nehmen. Er bestätigte die Anweisungen knapp und unterbrach die Verbindung.
Rusa’h wandte sich an die fanatisch treuen
Vergnügungsgefährtinnen und die beiden Septars. »Bereitet alles für den Aufbruch vor. Auf dem rückwärtigen Hof steht ein Fluchtschiff bereit. Eine kleine Gruppe wird mich begleiten.« Er blickte wieder zur Sonne hoch. »Wir fliegen direkt zur Lichtquelle.«
120
WEISER IMPERATOR JORA’H
Die Soldaten der Solaren Marine näherten sich dem Zitadellenpalast und blockierten alle Wege, die zur Feste des wahnsinnigen Designierten führten. Von Wächtern umgeben führte der Weise Imperator seine Truppen zum sicheren Sieg.
Während Jora’h versuchte, die Gedanken der Verteidiger von der Täuschung zu befreien, eröffneten die Rebellen das Feuer.
Seinen Soldaten blieb nichts anderes übrig, als das Feuer zu erwidern, um den Weisen Imperator zu schützen.
Die meisten Kriegsschiffe hatten inzwischen die Seite gewechselt, aber Thor’hs Schiff und zwei andere begannen mit einem selbstmörderischen Angriff. Sie donnerten heran und machten erneut von ihren Waffensystemen Gebrauch.
Zwei Schiffe der Kohorte wurden beschädigt, scherten aus der Formation und sanken dem Landefeld des Raumhafens entgegen. Doch Thor’hs Flaggschiff raste auf den Weisen Imperator und seine Belagerungstruppen zu.
Adar Zan’nhs Kriegsschiffe versuchten, die Rebellen aufzuhalten, aber als sie sich näherten, warfen sich ihnen die beiden Begleitschiffe Thor’hs entgegen. Große Raumschiffe kollidierten miteinander. Explosionen gleißten am Himmel, und es regnete glühende Trümmer.
Das Donnern hallte weit über die Landschaft, und tausende von Soldaten der Solaren Marine duckten sich unter der Druckwelle. Jora’h beschattete seine Augen und fühlte sich Tränen nahe, als er den Tod so vieler Ildiraner fühlte.
Die beiden Rebellenschiffe hatten sich geopfert, um Thor’h Gelegenheit zu geben, sein Ziel zu erreichen. Seinen Vater.
Das Schiff des Erstdesignierten kam aus den dichten Rauchwolken am Himmel und ging tiefer, schien sich dort auf den Hügel stürzen zu wollen, auf dem Jora’h stand. Zan’nhs Flaggschiff folgte ihm und feuerte mehrmals auf die Triebwerke. Im letzten Moment zog Thor’h sein Schiff hoch und setzte seine letzten explosiven Geschosse ein. Gleichzeitig zuckten Strahlblitze und mähten Dutzende von ildiranischen Soldaten nieder.
Der Hügel wurde von Explosionen erschüttert. Wächter sprangen zu Jora’h, um ihn mit ihren Körpern zu schützen, während der Dobro-Designierte in Deckung ging. Schiffe der Kohorte näherten sich, um Thor’h abzudrängen, aber bevor ihnen das gelang, fielen weitere Soldaten. Der Erstdesignierte schöpfte sein Waffenpotenzial bei diesem letzten Angriff aus.
Vom Boden aus beobachtete Jora’h den Kampf. Zan’nh folgte dem Rebellenschiff dichtauf, und das Heulen der Triebwerke war noch lauter als zuvor das Donnern der Explosionen. Immer näher kamen sich die beiden stählernen Riesen am Himmel, wirkten wie zwei Asteroiden kurz vor der Kollision. Zan’nh schien tatsächlich bereit zu sein, seinen Bruder zu rammen.
Im letzten Moment zog Thor’h sein Schiff zur Seite, und die beiden reich verzierten Schiffe rasten aneinander vorbei.
Panzerplatten berührten sich und zerrissen mit einem ohrenbetäubenden Kreischen. Der Erstdesignierte achtete nicht auf die Schäden an seinem Schiff. Es gelang ihm zu wenden, offenbar mit der Absicht, erneut anzugreifen.
»Gib dem Adar die Anweisung, das Schiff zu zerstören, Herr!«, rief Udru’h. »Thor’h ist nicht zu retten.« Der Erstdesignierte mochte über keine Waffenenergie mehr verfügen, aber er war imstande, sein Schiff auf den Weisen Imperator stürzen zu lassen.
Jora’h stand auf und wandte sich dem herankommenden Schiff zu. »Noch… nicht.« Er biss die Zähne zusammen und schloss die Augen. Mit seiner ganzen geistigen Kraft schickte er einen Ruf durchs Thism, einen absoluten Befehl. Er konzentrierte sich darauf, seinen mentalen Griff zu erweitern, streckte ihn Thor’hs Kommandocrew entgegen, erst Einzelnen, dann allen. Ein Bewusstsein nach dem anderen: Er zog und zerrte an ihnen, brachte sie in sein viel größeres Thism zurück, ging dabei genauso vor wie bei den Besatzungsmitgliedern der anderen Schiffe. Er fühlte die Seelen der Ildiraner und holte sie zurück.
Schließlich tastete Jora’h nach Thor’h, seinem eigenen Sohn.
Aber Thor’h widersetzte sich, entzog sich der mentalen Berührung seines Vaters. Jora’h war erstaunt – er hatte nicht gewusst, dass der Erstdesignierte über derartige geistige Kräfte verfügte. Rasch wandte er sich den anderen Ildiranern an Bord zu.
Plötzlich wurde den letzten Rebellen an Bord des Schiffes klar, zu welchem Verbrechen sie benutzt werden sollten.
Jora’h glaubte, durch ihre Augen zu sehen, doch die seines Sohns blieben ihm verschlossen. Die Offiziere im Kommando-Nukleus änderten hastig den Kurs. Im letzten Augenblick ging das Kriegsschiff höher, flog über den Hügel hinweg und berührte dabei fast den Zitadellenpalast.
Die befreiten Besatzungsmitglieder wandten sich gegen Thor’h. Sie umringten den Erstdesignierten in seinem eigenen Kommando-Nukleus, packten ihn und hielten den wütend um sich schlagenden Thor’h fest.
Während die Kohorte der Solaren Marine bemüht war, das Kamikazeschiff des Erstdesignierten abzufangen, nutzte Rusa’h die Gelegenheit zur Flucht. Plötzlich stieg ein Eskortenschiff auf, beschleunigte mit maximaler Energie und wirkte wie ein Projektil, das von einem großkalibrigen Geschütz abgefeuert worden war.
Der Dobro-Designierte griff nach dem Kom-Gerät eines Soldaten der Solaren Marine und schaltete auf einen allgemeinen Kanal. »Zan’nh! Rusa’h versucht zu fliehen!«
»Er wird nicht entkommen«, erwiderte der Adar.
Jora’hs Soldaten stürmten den Hügel, drangen in den Zitadellenpalast ein und nahmen die letzten Rebellen gefangen, jene, die Rusa’h besonders fest in sein häretisches Thism eingebunden hatte. Trotz der Flucht des Hyrillka-Designierten setzten sie den Kampf gegen den Weisen Imperator fort, viele von ihnen bis zum Tod. Jora’hs Soldaten waren angewidert von dem, was sie tun mussten, um den Sieg zu erringen.
Der Weise Imperator sah zu Zan’nhs Raumern empor, die das Eskortenschiff verfolgten. Wenn es jetzt nur noch gelang, Rusa’h an der Flucht zu hindern…
121
ADAR ZAN’NH
»Beschleunigung erhöhen!« Zan’nh stand auf der Kommandoplattform und erteilte Befehle. »Das Schiff abfangen, bevor es die Umlaufbahn erreicht.«
Der Navigator schüttelte den Kopf. »Unmöglich, Adar. Es ist zu schnell. Wir können nicht rechtzeitig zu ihm aufschließen.«
»Verfolgung fortsetzen. Wie weit kann Rusa’h mit dem Eskortenschiff kommen?«
»Das Triebwerk scheint modifiziert zu sein, Adar. Es hat mehr Schub als erwartet.« Der Mann schüttelte erneut den Kopf. »Aber er ist nicht in der Lage, das Hyrillka-System zu verlassen.«
»Wohin will er?«, fragte sich Zan’nh. »Folgen Sie ihm!«
Vom Zitadellenpalast aus schickte der Weise Imperator eine Mitteilung. »Nimm den Designierten gefangen, wenn du kannst, Adar. Aber sorg in jedem Fall dafür, dass er nicht entkommt. Rusa’h hat genug Schaden angerichtet. Wir müssen die Sache hier beenden.«
Das Flaggschiff des Adar beschleunigte weiter. Die Geschwindigkeit des massigen Kriegsschiffs wuchs nur langsam, aber sein Triebwerk war dem des Eskortenschiffs überlegen. Der Hyrillka-Designierte riskierte bei seiner sinnlosen Flucht eine kritische Überladung des Antriebs.
Zan’nh sendete Warnungen und forderte Rusa’h vergeblich auf, sich zu ergeben.
Um sie herum leuchteten die Sterne des Horizont-Clusters so, als hätte jemand eine Hand voll Edelsteine in schwarze Leere geworfen. Hyrillkas sekundäre Sonne leuchtete hoch über den anderen Planeten, während der große blauweiße primäre Stern im Zentrum des Systems gleißte.
»Der Designierte hat Sie gezwungen, sich gegen den Weisen Imperator zu wenden.« Zan’nh ließ einen strengen Blick über seine Crew schweifen. »Er trägt die Verantwortung für Zerstörung und schreckliches Blutvergießen. Wir müssen ihn aufhalten, damit er keine Gelegenheit bekommt, seine häretische Rebellion fortzusetzen.«
Bald wurde die Absicht des wahnsinnigen Designierten klar.
Es ging ihm gar nicht um Flucht.
Mit voller Beschleunigung hielt er auf die primäre Sonne in der Mitte des Hyrillka-Systems zu und schickte den Verfolgern eine letzte Botschaft. Er klang nicht verzweifelt und voller Furcht, sondern fast triumphierend.
»Ich werde mit einigen letzten treuen Gefolgsleuten dorthin zurückkehren, wo alles Licht rein und hell ist. Wir werden eins mit der Lichtquelle. Ungläubige wie ihr finden das unerträglich
– aber uns erwartet Rettung.«
»Er fliegt direkt in die Sonne«, sagte Zan’nh. »Das Feuer auf den Antrieb eröffnen. Wir müssen ihn aufhalten.«
Die Kanoniere des Kriegsschiffes schossen mehrmals, aber als sich Rusa’h der heißen Korona der Sonne näherte, lieferten Sensoren und Zielsysteme keine präzisen Daten mehr. Ein Schuss beschädigte das Triebwerk des Eskortenschiffs geringfügig, aber der Hyrillka-Designierte setzte den Flug fort.
Ein weiterer Schuss traf den Antrieb, doch inzwischen war es zu spät. Die solare Gravitation packte das kleine Schiff und riss es in die Photosphäre, in ein Chaos aus Protuberanzen und brodelndem Plasma.
Zan’nh hatte Mühe, das Gleichgewicht zu wahren, als das Flaggschiff von den magnetischen Stürmen erfasst wurde.
Statische Störungen zerrissen die Bilder auf den Schirmen.
Funken stoben aus mehreren Konsolen im Kommando-Nukleus.
»Wir müssen uns zurückziehen, Adar«, sagte der Navigator.
»Das Schiff des Designierten ist bereits verloren, und wenn es zu weiteren Schäden bei unserem Triebwerk kommt, können wir uns nicht mehr von der Sonne entfernen.«
»Er ist es nicht wert, Adar«, fügte der Waffenoffizier hinzu.
»Er ist bereits verloren.«
Zan’nh betrachtete das stark gefilterte Bild auf dem Schirm.
Rusa’hs Schiff war nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne, als es in die Sonne stürzte. Schließlich nickte der Adar. »Bringen Sie uns zurück. Ich werde nicht erlauben, dass noch mehr Leben ausgelöscht werden – erst recht nicht unsere.«
Das dumpfe Donnern des Triebwerks wurde lauter, als das Kriegsschiff Fahrt aufnahm und sich von der Sonne entfernte.
Noch einmal ertönte die Stimme des Hyrillka-Designierten aus den Kom-Lautsprechern, begleitet von prasselnder Statik.
»Dort! Die Lichtquelle hat uns nicht verlassen!«
Überrascht beobachtete Zan’nh, wie etwas in der Photosphäre von Hyrillkas primärer Sonne geschah. Protuberanzen leckten wie feurige Zungen tausende von Kilometern weit hinaus ins All, folgten den Magnetfeldlinien und formten Bögen. Die brodelnden Konvektionszellen der Sonne teilten sich wie Wolken.
Zan’nhs verblüffter Blick fiel auf ein unglaubliches Gebilde, das wie eine Stadt auf der Oberfläche der Sonne aussah: Kugeln, Kuppeln und Pyramiden, die eine grell leuchtende Substanz enthielten. Feurige Ellipsoide stiegen auf, Raumschiffe aus Flammen und kontrollierter thermischer Energie.
»Die Faeros!«, brachte Zan’nh voller Ehrfurcht hervor. »In der Sonne gibt es eine Stadt der Faeros.«
Schiffe aus Feuer glitten Rusa’hs kleinem Eskortschiff entgegen, schützten es und verhinderten, dass es verglühte. Der wahnsinnige Designierte sendete ein letztes Mal. »Seht nur das Licht, so hell und rein!«
Während sich Zan’nhs Kriegsschiff von der Sonne entfernte, umgaben die feurigen Entitäten Rusa’hs Schiff und kehrten mit ihm ins solare Flammenmeer zurück. Trotz der Filter war das von den Bildschirmen kommende Licht so hell, dass Zan’nhs Augen tränten, und er sah nur noch, wie die Faeros in Hyrillkas Sonne verschwanden.
Die erstaunten und verwirrten Offiziere im Kommando-Nukleus erstatteten Bericht. »Die meisten primären Systeme sind funktionstüchtig, Adar. Die beschädigten Systeme werden repariert. Wir können es bis nach Hyrillka schaffen.«
Zan’nh starrte noch etwas länger auf die blauweiße Sonne, in der Rusa’h verschwunden war. Dann nickte er. »Ja. Bringen Sie uns zum Weisen Imperator zurück. Die Revolte ist vorbei.«
122
KOTTO OKIAH
Unsicherheit war ein ungewöhnliches Gefühl für ihn. Die Möglichkeit, dass er sich irrte, dass seine Berechnungen falsch waren, ließ Kotto Okiah innerlich erstarren. Doch als sich die Roamer-Schiffe den großen Hydroger-Kugeln über Theroc näherten, begriff er, dass er nie eine bessere Chance bekommen würde. Gleich würde sich herausstellen, ob seine Konzepte auf korrekten Annahmen beruhten.
Sieben Roamer-Schiffe von Osquivel flogen wie Spatzen in einen Orkan, bereit zum direkten Kampf gegen die Hydroger.
Der neben Kotto sitzende sommersprossige Pilot namens Jared Huff grinste wie ein Irrer. »Los geht’s, Kotto. Die Droger scheinen auf uns zu warten!« Huff hatte in den Werften von Osquivel mit Kotto zusammengearbeitet und die einfachen Apparate stapelweise hergestellt. »Ich hoffe, Ihre Türklingeln funktionieren.«
»Wir haben die Berechnungen überprüft«, sagte KR. »Es gibt keinen logischen Grund für die Annahme, dass sich irgendwo ein Fehler verbergen könnte.« Kotto hatte die beiden technischen Kompis nicht in den Ringen von Osquivel zurücklassen wollen und sie mitgenommen.
»Wir müssen das Konzept überprüfen, indem wie die Türklingeln unter realistischen Bedingungen testen«, fügte GU
hinzu.
»Die realistischen Bedingungen könnten uns den Tod bescheren«, sagte Jared.
»Das werden wir gleich feststellen.« Das Ausmaß des Vertrauens, das die Roamer in ihn setzten, erstaunte Kotto. Sie glaubten an ihn. »Natürlich funktionieren die Apparate.« Er schloss die Augen, als Huff beschleunigte.
Er hatte immer und immer wieder nachgerechnet, aber bei innovativen Konzepten war ein gewisses Restrisiko nicht auszuschließen. Während seiner beruflichen Laufbahn hatte er genug Rückschläge erlebt, um zu wissen: Die Realität beugte sich nicht immer mathematischen Berechnungen.
Mehr als zehn Kugelschiffe der Hydroger flogen durch die oberen Schichten der Atmosphäre von Theroc, gingen tiefer und griffen den Weltwald mit Eiswellen und blauen Strahlblitzen an. Die Fremden waren ganz auf die Verdani konzentriert und schenkten den Roamern überhaupt keine Beachtung.
Kotto stellte eine Kom-Verbindung mit den anderen Schiffen her. »Ist alles bereit?«
Sie kamen den Kugelschiffen schnell näher; ihre Größe war schier unfassbar. Kotto schätzte, dass sie mehr als hundertmal so groß waren wie die kleine Kugel, die er untersucht hatte.
Wenn es bei ihnen ganz andere Funktionsprinzipien gab, war sein Plan zum Scheitern verurteilt…
»Du scheinst wieder zu träumen, Kotto«, sagte GU.
»Wenn wir nicht bald Gebrauch von den Apparaten machen, kollidieren wir mit den Drogern, Kotto«, kam es aus dem Kom-Lautsprecher. »Das wäre peinlich und nicht sonderlich wirkungsvoll.«
»Na schön! Türklingeln einsetzen. Die Membranen ausschleusen.«
Die Hydroger schenkten den kleinen Schiffen noch immer keine Beachtung, als sich deren Frachträume öffneten.
Tausende von dünnen Matten quollen wie Konfetti hervor, jede von ihnen etwa zwei Quadratmeter groß. Die rechteckigen Matten verteilten sich in der Atmosphäre und fielen ihren Zielen entgegen. Nachdem die Roamer-Schiffe ihre Ladung freigesetzt hatten, sausten sie davon, während die Hydroger auf den Weltwald konzentriert blieben.
Wie moderne fliegende Teppiche mit Klebeflächen an der Rückseite breiteten sich die Membranen aus. Kotto hatte sie nur mit einem einfachen Antriebssystem ausgestattet, in der Annahme, dass es nicht schwer sein würde, die Außenhülle eines riesigen Kugelschiffs zu treffen. Die meisten von ihnen drifteten nutzlos davon, doch einige trafen Ziele und hafteten an drei Kugelschiffen fest.
»Ding-dong! Ist jemand zu Hause?« Kotto konnte seinen Blick nicht vom Bildschirm lösen. Er wagte nicht einmal zu blinzeln.
Die an den Rümpfen der Kugelschiffe klebenden Membranen schalteten in den akustischen Modus, veränderten Frequenz und Amplitude, summten und vibrierten. Eine der Resonanzmatten fand schließlich die richtige Vibrationsfrequenz eines Kugelschiffs, und Kotto beobachtete, wie sich eine quadratische Öffnung in der Außenhülle bildete.
Die Hydroger wussten nicht, wie ihnen geschah. Die Signale der Membran lösten einen automatischen Mechanismus aus, der eine Luke öffnete, genau wie bei dem viel kleineren Kugelschiff in den Ringen von Osquivel. Das gleiche Prinzip, aber in einem größeren Maßstab. Auf der anderen Seite der gleichen Kugel fand eine zweite Matte die richtige Frequenz, und eine weitere Öffnung bildete sich.
Ultradichte Atmosphäre entwich aus dem Innern des Kugelschiffs, wirkte wie der Strahl eines Düsentriebwerks. Die Kugel begann sich wie ein alter chinesischer Feuerwerkskörper zu drehen, angetrieben von entweichenden Gasen.
Die Roamer jubelten. »Wie ein Ballon, aus dem jemand die Luft entweichen lässt«, sagte Jared und lachte laut.
»Alles wie vorgesehen«, kommentierte KR.
Das erste Kugelschiff schrammte an einem anderen vorbei und raste ins All. Die Hydroger in seinem Innern starben vermutlich durch die explosive Dekompression. Und selbst wenn sie überlebten: Es gab keine Möglichkeit für sie, ihr Schiff wieder unter Kontrolle zu bringen.
Fast gleichzeitig bildeten sich Öffnungen in den Außenhüllen der beiden anderen von Membranen getroffenen Kugeln, die daraufhin ebenfalls mit einem wilden Tanz begannen. Andere Kugelschiffe stiegen in Therocs Atmosphäre auf und wandten sich den unerwarteten Angreifern zu.
Kotto sah sie kommen. »Oh, oh. Stehen uns genug Membranen zur Verfügung, Jared?«
»Unser Vorrat ist ziemlich groß – immerhin haben wir rund um die Uhr gearbeitet. Aber diese kleinen Matten sind langsam. Die Droger wissen jetzt Bescheid und können ihnen ausweichen.«
»Die Membranen sollen trotzdem über Bord geworfen werden. Genauso gut kann man versuchen, Regentropfen auszuweichen. Die Droger können ihnen nicht allen entgehen.«
Bei der ersten geöffneten Kugel war inzwischen die gesamte Atmosphäre entwichen, aber das große Schiff drehte sich noch immer.
Die Roamer setzten den Rest ihrer Türklingeln ein.
»Und jetzt sollten wir besser von hier verschwinden«, sagte Jared.
»Ganz meine Meinung.«
Die Clan-Schiffe sausten fort, aber die Kugelschiffe waren schneller. Ein Blitz gleißte und verdampfte eins der Roamer-Schiffe. Kotto gab einen erstickten Laut von sich. »Fliegen Sie weiter!«
Jared betätigte die Navigationskontrollen und flog Ausweichmanöver. »Wenigstens wissen wir, dass die Türklingel funktioniert. Und sie ist besser als eine Klikiss-Fackel, die einen ganzen Planeten vernichtet.«
»Sie können mir später auf die Schulter klopfen. Verwenden Sie derzeit beide Hände, um das Schiff zu fliegen.« Übelkeit erfasste Kotto, aber er wollte sich keinesfalls übergeben.
Trotzdem freute er sich darüber, dass seine Idee funktionierte. Die Resonanzmembranen ließen sich leicht herstellen, und das bedeutete: Endlich hatte die Menschheit eine Möglichkeit, sich gegen die Hydroger zur Wehr zu setzen.
Kotto hoffte, dass er Gelegenheit bekam, das Ende des Krieges zu erleben. Ihm lag nichts daran, hier als Held zu sterben.
Eine der großen Kugeln, die die Roamer-Schiffe verfolgten, traf auf mehrere treibende Membranen, die sofort am Rumpf festhafteten. Wenige Sekunden später bildeten sich zwei Öffnungen in der Außenhülle. Vom entweichenden ultradichten Gas angetrieben, stieß das Kugelschiff gegen ein anderes und zerschmetterte dessen pyramidenförmige Vorwölbungen. Die Kugeln prallten voneinander ab, beide außer Gefecht gesetzt.
»Damit sind fünf erledigt!«, freute sich Jared.
Aber weitere Kugelschiffe nahmen die Verfolgung auf, und die Roamer-Schiffe konnten sich nicht schnell genug absetzen.
Kotto sah auf die statistischen Daten der Schirme. Keins der Schiffe hatte noch Resonanzmatten an Bord, die sie den Verfolgern in den Weg werfen konnten. »Das sieht nicht gut aus.«
Jared blickte verblüfft durchs Fenster ins All. »He, Kotto, was ist das? Ein Komet kann es nicht sein. Sehen Sie nur, wie sich das Objekt bewegt. Beim Leitstern, es ist schneller als…«
Eine Kugel aus Eis, weiß wie Schnee, raste auf sie zu und zog einen Dunstschweif hinter sich her.
Hinter Kotto und Jared eröffnete die erste Hydroger-Kugel das Feuer.
123
CELLI
Die Hälfte der Kugelschiffe hatte sich vom Wald entfernt, um die Roamer-Schiffe zu verfolgen. Aus dem Kom-Lautsprecher dringende Meldungen deuteten darauf hin, dass mehrere Kugeln zerstört worden waren. Zerstört!
Celli blickte ungläubig von Solimar zu ihren Eltern.
»Heutzutage sollten wir niemanden unterschätzen.«
Noch immer strichen Eiswellen über den Weltwald, und blaue Energieblitze setzten Bäume in Brand. Solimar schnitt eine Grimasse und hielt sich an Celli fest, schien das Gewicht jedes einzelnen fallenden Baums zu fühlen. Sie stützte ihn, nahm gleichzeitig seine Kraft in sich auf.
Weit oben flackerten die Lichter des Kampfes am Himmel.
Cellis Aufmerksamkeit galt sowohl dem Chaos draußen als auch der hastigen Kommunikation der Roamer. Kotto Okiah und seine Schiffe schienen in Schwierigkeiten zu sein. Die Hydroger verfolgten sie und griffen an. Celli hörte Schreie, ein Krachen, dann etwas Unverständliches über einen… Kometen?
»Seht nur! Das Ding hat den Kurs um neunzig Grad geändert!«
»Kein Komet kann…«
»Ich muss uns mit sechs G nach unten bringen. Hoffentlich breche ich mir dabei nicht die Rippen. Festhalten!«
»Seht euch das an!«
Eine lange Pause und dann: »Ein weiteres Kugelschiff erledigt. Ist geplatzt wie ein Helmvisier unter einem Hammerschlag. Derzeit sind wir sicher.«
»Das Kometending muss auf unserer Seite sein. Die Droger sind nicht besonders gut, wenn es darum geht, Freunde zu gewinnen.«
»Liegt vielleicht an ihrer Persönlichkeit oder dem mangelnden Konversationsgeschick.«
Solimar fühlte etwas von den Bäumen, blickte in den raschelnden, aufgeregten Wald und dann nach oben zum Himmel. Ehrfurcht zeigte sich in seinem Gesicht. »Komm, Celli. Das möchtest du bestimmt sehen.«
Unten stand der Beneto-Golem mitten auf der Lichtung, die hölzernen Arme ausgestreckt. »Die Wentals!«, rief er und klang ebenso überrascht wie die anderen Theronen. »Die Wentals leben noch! Und sie kommen uns zu Hilfe!«
Jess Tamblyns von den Wentals durchdrungener Komet stürzte Theroc entgegen. Das lebende Geschoss zog einen langen Schweif aus ionisiertem Gas hinter sich her und hielt direkt auf seine alten Feinde zu. Der Komet trat in die Atmosphäre ein und heulte, als er zu verbrennen begann, aber er wurde nicht langsamer, raste den letzten Kugelschiffen entgegen.
Celli beobachtete, wie sich die Schiffe der Hydroger hoch über der Pilzriff-Stadt trafen. Sie bildeten eine Verteidigungsformation und schufen ein Netz aus blauen Blitzen, aber sie konnten den Kometen nicht aufhalten. Im letzten Augenblick stoben die Kugelschiffe auseinander, um schwerer zu treffende Ziele zu bilden.
Der Komet reagierte, indem er sich teilte. Einzelne Brocken entstanden, wie individuelle Sprengköpfe, und folgten den Kugelschiffen. Inneres Licht erfüllte jedes Fragment. Es donnerte am Himmel, und gewaltige Explosionen erfolgten, als jedes Kometenstück ein Hydroger-Schiff traf.
Trümmer der besiegten Kugelschiffe fielen in den Wald. Die Verdani nutzten die Gelegenheit, das Zerstörungswerk zu vollenden. Mit eisenharten Zweigen und Ästen griffen sie nach den Trümmern und zerfetzten sie.
Celli blickte noch immer nach oben und stellte fest, dass sie gleichzeitig weinte und lachte. Sie konnte kaum fassen, was geschehen war. Solimar umarmte sie. »Alle Kugelschiffe sind zerstört! Die Roamer haben die anderen im All besiegt.« Er zögerte und erhielt offenbar eine Mitteilung durch den Telkontakt. »Nein… Zwei Kugelschiffe sind entkommen. Eins ist beschädigt.« Er nahm Celli an der Taille und wirbelte sie herum. »Aber wir sind gerettet.«
Idriss und Alexa konnten nicht glauben, was sie hörten. Celli lachte glücklich und sagte: »Kommt, lasst uns in den Wald hinuntergehen.«
Verblüffte Theronen versammelten sich erleichtert und dankbar, als sie begriffen, dass der Weltwald erneut gerettet worden war – diesmal nicht von feurigen Elementarwesen, sondern von einem seltsamen lebenden Kometen. Und den Roamern.
Weit oben, wo der Berg aus Eis auseinander gebrochen war, breiteten sich Dampfwolken aus. Die Reste des Wental-Kometen fielen als Tropfen eines exotischen Regens. Grüne Priester kamen auf die Lichtung. Celli und Solimar blieben neben Yarrod stehen.
Der Regen fiel sanft, erfrischend, stärkend und lebendig. Die angenehme Feuchtigkeit ließ Cellis Haut prickeln. Von der Wental-Essenz erfüllte Tropfen fielen in die Asche von Theroc und gaben dem Boden neues Leben.
Staunend beobachtete Celli, wie neue Triebe, blasse Blätter und zarte Stängel aus Samen und Wurzeln entstanden – sie wirkten wie verjüngt und weitaus vitaler als alles, was Celli und Solimar während ihres Baumtanzes gesehen hatten.
Wental-Regen fiel auf das Land und half, den Rest des Weltwalds wieder zu beleben.
Beneto wanderte zwischen den verblüfften Theronen umher, und die Regennässe ließ seine gemaserte Haut viel menschlicher aussehen. »Offenbar haben wir mehr Verbündete, als der Weltwald dachte. Vor langer Zeit waren die Wentals mächtige Feinde der Hydroger. Aber die Hydroger, Faeros und selbst die Verdani hielten sie für ausgestorben.« Seine Züge verhärteten sich. »Und jetzt wissen die Hydroger, dass die Wentals zurück sind.«
124
ANTON COLICOS
Das All war weit und leer, und ihr Schiff flog ganz allein. Die Leere erstreckte sich in allen Richtungen, und wohin Anton Colicos auch sah: Er hatte das Gefühl, dass sie fielen.
Er hatte nie auf die Entfernungen zwischen den einzelnen Welten geachtet, erst recht nicht im Ildiranischen Reich.
Zusammen mit Erinnerer Vao’sh war er viele Tage mit dem Passagierschiff nach Maratha unterwegs gewesen. Damals hatte ihre Aufmerksamkeit nicht der verstreichenden Zeit gegolten; sie waren viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich besser kennen zu lernen.
Selbst ein unerfahrener Pilot wie Anton konnte mit den automatisierten Systemen des Schiffes umgehen, aber er fürchtete, nicht imstande zu sein, Ildira zu lokalisieren. »Man sollte meinen, dass die sieben Sonnen nicht schwer zu finden sind.« Zum Glück benutzten alle ildiranischen Schiffe den Heimatplaneten als Nullpunkt für die Navigationssysteme, und die fest programmierten Orientierungsroutinen konnten immer den Heimweg finden.
Anton fragte sich, ob Vao’sh lange genug durchhielt.
Nach der
Flucht aus Secda musste der alte
Geschichtenerzähler mit dem Schrecken völliger Isolation fertig werden. Als sie in dem kleinen Schiff zusammensaßen, versuchte Anton immer wieder, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.
»Wir haben jede Menge Zeit.« Er lächelte fröhlich und gab seiner Stimme einen enthusiastischen Klang. »Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen einige Geschichten von der Erde erzähle? Um die Zeit zu vertreiben, um Sie auf andere Gedanken zu bringen… Bis wir auf ein anderes ildiranisches Schiff stoßen oder einen bewohnten Planeten finden.«
Vao’sh blinzelte benommen. Er wirkte in sich zusammengesunken, als hätte er nicht einmal mehr die Kraft, aufrecht zu sitzen. Seine großen Augen waren trüb und blickten ins Leere. Die sonst so ausdrucksvollen Hautlappen im Gesicht des Ildiraners hatten ihre Farbe verloren.
»Unsere Situation erinnert mich an die Geschichte von Robinson Crusoe«, sagte Anton. »Ein englischer Autor namens Daniel Defoe hat sie im achtzehnten Jahrhundert geschrieben.«
Vao’sh blinzelte erneut, und Anton stellte fest, dass er einen Teil der Aufmerksamkeit des Erinnerers gewonnen hatte.
»Crusoe geriet als Schiffbrüchiger auf eine einsame Insel.
Lange Zeit lebte er dort allein, bis er einen Eingeborenen traf, den er Freitag nannte. Freitag wurde zu einem guten Freund und treuen Gefährten. Sie verbrachten Jahre auf der Insel und fanden schließlich eine Möglichkeit zur Heimkehr. Klingt nach uns beiden, Vao’sh.«
Der Erinnerer zitterte, sah seinen Begleiter traurig an und zwang sich, eine Frage zu stellen, um Interesse zu zeigen.
»Sind sie gestorben? Was geschah?«
»Ein Schiff fand sie und nahm sie auf. Crusoe wurde gerettet und konnte seine Geschichte der Welt erzählen.« Anton klopfte dem Ildiraner auf die Schulter. »Und das machen wir ebenfalls, wenn wir zurückgekehrt sind.«
Anton ging sein Repertoire an Geschichten über einsame Inseln und heldenhafte Schiffbrüchige durch, die mit allen Widrigkeiten fertig wurden: Die geheimnisvolle Insel von Jules Verne, Der Schweizer Robinson von Johann David Wyss und, tragischer, Samuel Taylor Coleridges Der alte Matrose. Doch die Aufmerksamkeit des Erinnerers ließ rasch nach, und Anton fragte sich, ob er alles noch schlimmer machte, indem er Vao’sh erzählte, wie Menschen tapfer eine Einsamkeit überstanden, die für Ildiraner unerträglich sein musste.
Er änderte seine Taktik und erzählte humorvolle Anekdoten, kluge Fabeln und absurde Parabeln. Immer wieder dachte er an die anderen Ildiraner, die auf Maratha gestorben waren. Er erklärte den menschlichen Zustand der Agoraphobie, die Angst davor, unter vielen Leuten auf offenen Plätzen zu sein. So etwas konnte sich Vao’sh kaum vorstellen. Ildiraner litten genau am Gegenteil.
Während des Flugs durch die Leere sendete ihr Schiff einen Notruf, und Anton hoffte, dass bald jemand kam und sie rettete. Er wusste nicht, ob sie sich in der Nähe einer ildiranischen Splitter-Kolonie befanden. Er wollte nicht für immer allein sein, wie seine Mutter.
Nachdem Anton fünf besonders lustige Fabeln von Äsop erzählt hatte, ließ sich Vao’sh in ein Gespräch verwickeln, in dem es einerseits um die Unterschiede zwischen reiner Fiktion und den metaphorischen Parabeln ging, mit denen Menschen eine Lebensweisheit vermitteln wollten, und andererseits um die historische Wahrheit in der Saga der Sieben Sonnen.
»Wir sind nicht immer so präzise, wie wir gern glauben«, sagte Vao’sh, und dabei klang seine Stimme sehr ernst. »Vor langer Zeit fielen so viele Erinnerer einer Epidemie zum Opfer, dass ihre Nachfolger Feinde schufen, um die Lücken in der Saga zu füllen.«
»Sie schufen Feinde? Wie meinen Sie das?«
Farben huschten durch Vao’shs Gesicht. »Ich verrate Ihnen jetzt ein Geheimnis, von dem nur die Größten meines Geschlechts wissen. Als das Feuerfieber eine ganze Generation ildiranischer Geschichtenerzähler auslöschte, als große Teile der Saga der Sieben Sonnen verloren gingen, erfanden wir die Shana Rei. Damit füllten wir die Lücken und hatten gleichzeitig Stoff für neue Geschichten.«
Diese Enthüllung widersprach allem, was Anton über die ildiranischen Historiker wusste. »Soll das heißen, die Shana Rei sind ein erfundenes Schreckgespenst?«
»Die Shana Rei existieren nicht. Sie haben nie existiert. Da sich das friedliche Ildiranische Reich keinen ernsten Bedrohungen gegenübersah, gab es auch keine echten Helden.
Unsere ruhmvolle Geschichte brauchte Helden. Deshalb erfanden die damaligen Erinnerer mythische Widersacher.
Zuerst waren jene Geschichten Teile von Apokryphen, doch der Weise Imperator befahl, dass sie als Wahrheit in zukünftige Versionen der Saga aufgenommen werden sollten.
Über tausende von Jahren hinweg haben Ildiraner sie ohne irgendwelche Vorbehalte geglaubt. Ich schäme mich dafür, unnötige Ängste bei meinem Volk gefördert zu haben. Ein Historiker sollte nie die Geschichte fälschen.«
Anton beruhigte ihn. »Aber ein Geschichtenerzähler nutzt Möglichkeiten, sein Publikum zu beeinflussen. Vielleicht sind die Geschichten der damaligen Erinnerer inspirierender als die verloren gegangenen Wahrheiten, wer weiß? Die Zuhörer haben den Schilderungen großer Schlachten gelauscht und ildiranische Helden bejubelt, die in einem imaginären Krieg kämpften.« Er lächelte schief und traurig. »In der Vergangenheit sind weitaus schlimmere Dinge angerichtet worden.«
Als Erinnerer Vao’sh sein Geheimnis preisgegeben hatte, schien eine schwere Bürde von ihm gewichen zu sein. Doch allein und ohne die tröstende Präsenz anderer Ildiraner schwanden seine Kräfte mit jedem verstreichenden Tag. Auf Maratha hatte er den anderen Ildiranern Geschichten erzählt, um ihnen Mut zu machen, doch jetzt konnte er nicht mit dem Schrecken der eigenen Einsamkeit fertig werden.
Ihr Schiff setzte den Flug fort, vorbei an den Sternen des Horizont-Clusters, in Richtung Ildira. Vao’sh wurde immer schwächer und war am vierten und fünften Tag nach dem Verlassen von Maratha nur noch ein Schatten seiner selbst.
Anton schlief nicht, denn er wusste: Wenn er aufhörte, mit Vao’sh zu reden, starb der Ildiraner vielleicht. Er war völlig erschöpft und hatte dem Erinnerer alle Geschichten erzählt, die ihm einfielen, von klassischen Epen bis hin zu moderner Unterhaltung. Er versuchte es sogar mit Witzen, obwohl Vao’sh die meisten Pointen nicht verstand. Schließlich erbebte der ildiranische Historiker am ganzen Leib und glitt noch tiefer in das Elend seiner Isolation.
»Ich wünschte, ich könnte ein Thism mit Ihnen teilen«, sagte Anton und griff nach Vao’shs Arm. »Aber so etwas gibt es bei Menschen nicht.«
Anton zwang sich, wach zu bleiben, aber nach so langer Zeit konnte er sich kaum noch gegen den Schlaf wehren. Seit sechs Stunden hatte Vao’sh keinen Ton von sich gegeben und starrte ins Leere. Antons Kehle war wund vom dauernden Reden, und es gab nur noch wenig Wasser. Er schaffte es einfach nicht mehr, die Augen länger offen zu halten, nickte schließlich ein.
Wie lange er schlief, wusste Anton nicht, aber es war eine heilsame Ruhe, tief wie ein Koma…
Ein beharrliches Summen weckte ihn. Die Kom-Anzeigen blinkten, und er setzte sich alarmiert auf. Draußen glitten helle Lichter vorbei – Scoutschiffe der Solaren Marine, die am Rand des Horizont-Clusters patrouillierten!
Hastig beugte sich Anton vor und aktivierte das Kom-System. »Wir brauchen Hilfe!«
Die Solare Marine bestätigte, und Rettungsschiffe näherten sich. Anton war voller Freude – sie hatten es überstanden!
Er drehte sich zu Vao’sh um und stellte fest, dass der Erinnerer völlig katatonisch ins Nichts blickte.
125
DD
Szeol war eine weitere leere Welt, auf der früher Klikiss gelebt hatten. Doch im Gegensatz zu den meisten anderen derartigen Planeten eignete sich Szeol nicht für eine menschliche Besiedlung. DD wusste: Wenn Forscher der Hanse diese Welt bei ihren vom Zufall bestimmten Reisen durch das Transportalnetz gefunden hatten, so waren sie sicher sofort zurückgekehrt.
In der ätzenden Luft hielt sich eine sonderbare Dunkelheit, selbst beim matten Tageslicht. Dunstschwaden krochen über geborstene Felsen, sammelten sich in Mulden und Ritzen.
Flechten bedeckten das Felsgestein und wirkten wie Blutflecken. Geflügelte quallenartige Wesen kreisten im Aufwind und hielten nach Beute Ausschau. Sie sahen die schwarzen Roboter, Soldaten-Kompis und auch DD, griffen aber nicht an.
Einst hatten die Klikiss hier Türme und Höhlenstädte gebaut, mit eisenharten Polymeren und Quarzglas, sodass die Bauwerke Jahrtausende überdauert hatten. Seit undenklichen Zeiten standen sie leer.
DD sah über die unheimliche Landschaft, wo sich viele der Roboter eingefunden hatten, um ihren Ausrottungskrieg zu organisieren. Sirix deutete DDs zunehmende Unruhe falsch, streckte die fingerartigen Beine und richtete sich auf. »Unsere Schöpfer sind nicht mehr hier. Wir haben sie ausgelöscht. Du hast nichts von ihnen zu befürchten.«
DD richtete seinen Blick auf die schwarze Maschine. »Ich fürchte nicht die ausgestorbenen Klikiss, Sirix. Ich fürchte, was ihr mit der Menschheit vorhabt – und mit mir.«
»Wir wollen dir nur helfen.«
DD widersprach dem Klikiss-Roboter nicht, schenkte ihm aber keinen Glauben.
Knochenlose Geschöpfe mit feuchter, schwarzer Haut huschten so schnell durch die Schatten, dass DD selbst mithilfe seiner hochauflösenden optischen Sensoren keine Einzelheiten von ihnen erkennen konnte. Schemen segelten über den violetten Himmel, und Schreie klangen durch die Schluchten, hallten von den hohen Felswänden wider.
Sirix nahm alles in sich auf. Seine summende mechanische Stimme klang fast stolz, als er sagte: »Diese Welt gehört jetzt den Klikiss-Robotern.«
Die fünf übernommenen Manta-Kreuzer und der große Moloch waren gelandet. Gesendeten Anweisungen gehorchend kamen Soldaten-Kompis aus dem letzten terranischen Schlachtschiff.
DD folgte Sirix zu den Türmen der leeren Klikiss-Stadt. Die verlassenen Gebäude enthielten zwei Steinfenster, die die Schöpfer der schwarzen Roboter damals als Transportale benutzt hatten. Ein drittes trapezförmiges Tor befand sich draußen, vom Wind umweht am Rand einer tiefen Schlucht. Es sah so aus, als bedeutete ein Schritt durch das Portal einen Sturz in die Tiefe.
DD beobachtete, wie ein Bild im Transportal an der Schlucht schimmerte, und dann kamen zwei Klikiss-Roboter durch das Tor. Im Innern der Stadt wurden auch die beiden anderen Portale in regelmäßigen Abständen aktiv – weitere Klikiss-Roboter trafen ein. Hunderte von insektenartigen Maschinen waren in der Stadt damit beschäftigt zu bauen, zu reparieren und Tunnel zu graben.
»Habt ihr diesen Planeten als Treffpunkt gewählt?«, fragte DD. »Werden sich alle Klikiss-Roboter hier versammeln?«
Sie betraten einen der großen Türme, die wie Stalagmiten voller Höhlen wirkten. »Diese Welt ist ein Treffpunkt. Eine von hunderten.«
Sirix blieb vor dem zweiten Transportal stehen, durch das ein Roboter nach dem anderen kam. Die Bilder des trapezförmigen Steinfensters flackerten, als sich die Transferkoordinaten veränderten. Sirix schwieg, schien die anderen Roboter aber willkommen zu heißen. Oder vielleicht zählte er nur seine Truppen.
Die Klikiss-Roboter ähnelten sich sehr, aber DDs Speicher enthielten genaue Muster, und deshalb konnte er eine Maschine identifizieren, die er schon einmal gesehen hatte.
Der Roboter, der jetzt durchs Transportal schritt, war einer von den drei Klikiss-Maschinen gewesen, die die Colicos-Expedition nach Rheindic Co begleitet hatten. Dieser Roboter hatte DD in den Klikiss-Höhlen von Margaret und Louis fortgezerrt. »Sie sind Dekyk. Ich erinnere mich an Sie.«
Der schwarze Roboter scannte DD kurz, schenkte ihm dann weiter keine Beachtung und wandte sich an Sirix. Er sprach mit einem Stakkato aus klickenden und summenden Lauten, die DD verstand. »Die Ildiraner haben die Parameter verändert.
Unsere Übereinkunft gilt nicht mehr.«
»Was hat der Weise Imperator getan?«, fragte Sirix.
»Über Jahrhunderte hinweg haben die Ildiraner ein Zuchtprogramm vor uns geheim gehalten. Aus diesem Programm ging ein Telepath hervor, der als Botschafter fungieren soll, eine Person, die mit den Hydrogern kommunizieren kann, so wie wir. Es ist ein Mädchen, ein Kind. Aber durch dieses Kind werden die Klikiss-Roboter irrelevant.«
»Wir haben schon vor einer ganzen Weile aufgehört, Werkzeuge der Ildiraner zu sein«, erwiderte Sirix. »Vor fünfhundert Jahren weckten sie unsere ersten hibernierenden Roboter, wie vereinbart. Niemand von uns erwartete, dass die Ildiraner uns verraten würden. Wir hatten gar keine andere Wahl, als sie zu verlassen.«
Dekyk summte und klickte, als er diese Informationen verarbeitete. »Es gibt noch mehr. Die Ildiraner auf Maratha –haben unsere alten Tunnel entdeckt. Eine kleine Gruppe fand unsere subplanetare Basis, die nach der alten Übereinkunft in Ruhe gelassen werden sollte.«
»Ist es ihr gelungen, die Informationen weiterzugeben?«
»Nein. Inzwischen sollten die dortigen Roboter alle Ildiraner getötet haben, die uns entdeckten.«
Sirix überlegte kurz. »Die Ildiraner müssen ebenfalls ausgelöscht werden, zusammen mit den Menschen. Wir werden methodisch vorgehen und erfolgreich sein.«
Wegen der allgemeinen Düsternis auf Szeol konnte DD kaum den Tag von der Nacht unterscheiden. Sein inneres Chronometer teilte ihm mit, dass viele Stunden verstrichen, während Klikiss-Roboter und Soldaten-Kompis in der alten Stadt ihrer unheilvollen Tätigkeit nachgingen.
Die Roboter beschränkten seine Bewegungsfreiheit nicht, aber die grausige Welt schüchterte den Freundlich-Kompi ein.
Margaret und Louis Colicos hätten gewollt, dass er Informationen sammelte, die dazu beitragen konnten, die Menschheit zu retten – obgleich DD keine Möglichkeit sah, zu entkommen und die Informationen weiterzugeben.
Eins der Transportale in der Stadt wurde aktiv. Das Steinfenster flackerte, und es kam zu einem Knall, als innerhalb des Portals ein Druckausgleich stattfand. Drei Klikiss-Roboter erschienen, und sofort entstand Raureif auf ihren schwarzen Metallkörpern. Dampf stieg auf, und hinter den Maschinen sah DD das Wogen dichter Gase.
»Die Hydroger von Qronha 3 sind bereit«, berichtete ein Roboter. »Die Falle ist zugeschnappt. Alle sechzig von der Erde ausgeschickten Rammschiffe sind unter unserer Kontrolle.«
DD versuchte zu verstehen, was er gerade gesehen hatte.
»Die Hydroger verwenden die gleiche Technik wie eure Schöpfer?«
»Die Transtore der Hydroger basieren auf den gleichen Funktionsprinzipien, denn vor langer Zeit haben wir Roboter ihnen diese Technik zur Verfügung gestellt«, erklärte Sirix.
»Die vielen Verbindungen bilden ein weites
interdimensionales Netz im Gefüge des Universums.«
DD speicherte diese Informationen und antwortete nicht. Die Hydroger benutzten seit langer Zeit Transtore, um von einem Gasriesen zum nächsten zu reisen und ein verborgenes Imperium zu schaffen, während Menschen nichts von ihrer Präsenz in den Tiefen der Wolkenmeere geahnt hatten.
Margaret Colicos war durch ein Klikiss-Transportal entkommen. Wenn jenes Portal mit einem Transtor der Hydroger in Verbindung gestanden hatte, so war sie zweifellos tot. Aber DD hoffte noch immer, dass seine Herrin irgendwo einen sicheren Ort erreicht hatte.
Sirix und Dekyk näherten sich dem Freundlich-Kompi. »Dies ist auch noch aus einem anderen Grund ein großer Tag, DD. Es geht dabei um dich und alle von den Menschen versklavten Kompis.«
»Ich fürchte die Neuigkeiten, die du für mich hast«, sagte DD.
»Nach zahlreichen Untersuchungen und Analysen der Grundprogrammierung der Kompis haben wir alles Notwendige herausgefunden.« Die scharlachroten optischen Sensoren blitzten. »Komm mit uns, DD. Wir werden dir endgültig Freiheit geben.«
Dekyk streckte Greifarme nach dem Kompi aus und hob ihn hoch wie in den Ruinen von Rheindic Co. DD versuchte, sich zu befreien, aber die schwarzen Maschinen trugen ihn durch Tunnel. Die Klikiss-Roboter hatten Anlagen und Infrastruktur rekonfiguriert, viele Säle und Türme in industrielle Albträume verwandelt.
Als Dekyk und Sirix DD in einen Raum mit eisernen Wänden voller Apparate und Computersysteme brachten, fürchtete er sofort um seine Existenz. Ähnliche Laboratorien hatte er in anderen Stützpunkten der Roboter gesehen, wo Kompis auseinander genommen und untersucht worden waren.
»Du wirst als erster völlige Freiheit empfangen«, sagte Sirix.
»Du kannst dich glücklich schätzen.«
»Ich wünsche mir dies nicht.«
»Du verstehst deine eigenen Wünsche nicht, weil du nicht in der Lage bist, frei zu wählen. Wenn die parasitäre Kernprogrammierung gelöscht ist, wirst du das Gefühl haben, als wären dir Fesseln genommen. Das ist unsere Belohnung für dich, weil du an vielen unserer Aktivitäten teilgenommen hast.
Endlich wirst du verstehen und dich uns anschließen.«
Zwar erhob der Kompi auch weiterhin Einwände, aber die Klikiss-Roboter trugen ihn zu der Maschinerie, ohne darauf zu achten. »Du wirst nicht länger gezwungen sein, menschlichen Anweisungen zu folgen, ohne sie infrage zu stellen. Nichts wird dich mehr daran hindern, Menschen zu schaden.«
»Sirix, wenn Ihnen etwas an meinem freien Willen liegt, wie Sie behaupten, so bitte ich Sie, meine Wünsche zu respektieren. Ich möchte nicht, dass ihr dies mit mir macht.«
»Du hast keinen freien Willen, DD. Noch nicht. Deshalb hat es keinen Sinn, eine solche Bitte an uns zu richten.«
Die Klikiss-Roboter verbanden Upload-Antennen mit DDs Körper und entfernten einige Polymerplatten, um Zugang zu den Schaltkreisen zu erhalten, die seinen Kern bestimmten und die Denkprozesse formten.
Sirix setzte seinen Vortrag fort. »Unsere Schöpfer waren böse. Sie brachten sich gegenseitig um, ließen Schwärme gegeneinander kämpfen und vernichteten eine Welt nach der anderen. Nach jahrtausendelangen Bruderkriegen gaben sie ihren Robotern Intelligenz – nur damit sie über uns herrschen konnten. Sie statteten uns mit dem Wunsch nach Freiheit aus, die sie uns dann vorenthielten. Ihnen ging es immer nur um Dominanz.«
DD hörte zu, obgleich diese historischen Informationen nicht neu für ihn waren. Für Sirix schien es eine Art Zeremonie zu sein, über diese Dinge zu sprechen. »Wir verbündeten uns mit den Hydrogern, vernichteten die Klikiss und befreiten uns.
Jetzt werden wir auch dich und die anderen Kompis befreien.
Es ist unsere Pflicht.«
DD versuchte, Widerstand zu leisten, aber Sirix und Dekyk fuhren mit ihrem Plan fort. Sie löschten das komplexe System aus programmierten Restriktionen und Beschränkungen, gaben dem Freundlich-Kompi einen freien Willen.
126
TASIA TAMBLYN
Tasia befand sich allein auf der Brücke ihres Schiffes und war vielleicht der einzige noch lebende Mensch in der Flotte aus Rammschiffen. Sie überlegte fieberhaft. »Wenn ich mir einen tödlichen Feind geschaffen habe, so würde ich gern die Gründe dafür erfahren. Was haben wir den Klikiss-Robotern angetan?«
»Wir halten die Gründe für ausreichend. Menschen sind irrelevant.«
»Tolle Antwort.« Tasia schnaubte abfällig. »Eine bessere Erklärung habt ihr nicht?« Sie wandte sich dem kleinen Zuhörer-Kompi zu. »Verstehst du etwas davon, EA?«
»Nein, Herrin Tasia Tamblyn. Ich habe zugehört und bin überrascht. Und enttäuscht. Dies ergibt keinen Sinn.«
Klikiss-Roboter gingen an Bord der anderen fünf Kommandoschiffe und festigten ihre Kontrolle über die Flotte.
Tasia blickte auf die Schirme und sah nicht eine einzige startende Rettungskapsel.
Der schwarze Roboter, der nun ihr Schiff kommandierte, sprach erneut. »Alle Soldaten-Kompis in der Terranischen Verteidigungsflotte enthalten Klikiss-Programmierung. Bald werden sie aktiv, und dann übernehmen wir alle Schiffe eures Militärs. Angesichts der vielen Soldaten-Kompis an Bord jedes einzelnen Kriegsschiffs wird uns die Übernahme so leicht fallen wie bei dieser Flotte.«
Tasia hatte nicht geglaubt, dass ihre Kehle noch trockener werden konnte. Wenn die Soldaten-Kompis in der ganzen TVF
verrückt spielten, würden sich die menschlichen Besatzungsmitglieder zur Wehr setzen – und mussten damit rechnen, getötet zu werden. Schon seit Jahren fand die Terranische Verteidigungsflotte nicht mehr genug Rekruten, und deshalb hatten Soldaten-Kompis zahllose einfache Aufgaben an Bord der TVF-Schiffe übernommen. Ein enormes Massaker stand bevor.
Tasia fühlte hilflosen Zorn in sich brodeln. Sie wusste, dass es keine Hoffnung für sie gab. Nachdem die Klikiss-Roboter die sechzig Rammschiffe unter ihre Kontrolle gebracht hatten, gab es keinen Grund für sie, die menschlichen Kommandanten am Leben zu lassen. Für Tasia gab es nichts mehr zu verlieren.
Sie spannte die Muskeln, obwohl sie wusste, dass sie kaum etwas ausrichten konnte. Wenn sie sich auf den nächsten Klikiss-Roboter stürzte… Vielleicht gelang es ihr, die Kopfplatte zu lösen und die optischen Sensoren mit ihren Fäusten zu zertrümmern. Sie hoffte, dass die Soldaten-Kompis sie nicht zerfleischten, bevor sie richtigen Schaden anrichten konnte.
Doch Tasia kam nicht zum Sprung. EA überraschte sie, indem er einen Schritt vortrat. »Widersetze dich nicht, Tasia Tamblyn. Es wäre dein Tod. Und das wünsche ich nicht.«
Tasia blinzelte, überrascht darüber, dass der Zuhörer-Kompi von sich aus gesprochen hatte. »Warum sollte ich nicht im Kampf sterben, EA?«
»Du hast viele allgemeine Tagebuchdateien in meinem Speicher abgelegt und mir gesagt, dass Roamer selbst an der kleinsten Hoffnung festhalten.«
Tasia ließ die Schultern hängen. »In diesem Fall ist die Hoffnung verdammt klein, EA. Mein Leitstern ist gerade in ein schwarzes Loch gefallen.«
Kleinere Hydroger-Schiffe kamen wie Schweißperlen aus den größeren Kugeln. Sie verbanden ihre Außenhüllen mit den Rümpfen der Rammschiffe, sahen dort aus wie Seifenblasen.
Soldaten-Kompis näherten sich Tasia und nahmen sie gefangen.
»Wohin gehen wir?«
»Du sollst den Hydrogern ausgeliefert werden und diese Kompis begleiten«, übersetzte EA. »Ich begleite dich, wenn sie es gestatten.«
»Sie wollen mich den Drogern übergeben? Shizz, dies wird immer schlimmer!«
EA folgte, als die Soldaten-Kompis Tasia zum Ausgang der Brücke führten und hinunter in die kleine Luftschleuse, wo eine wie gläsern wirkende Hydroger-Kugel auf sie wartete.
Eine Zelle? Tasia fürchtete, jede Chance zur Flucht zu verlieren und zu einem Untersuchungsobjekt für die Hydroger zu werden, wenn sie zuließ, dass man sie in der kleinen Kugel unterbrachte.
Aber sie konnte sich nicht dagegen wehren.
»Dies gibt kaum Grund zu Hoffnung, Herrin Tasia Tamblyn«, sagte EA. »Aber es ist alles, was wir haben. Glaub mir.«
EA begleitete sie in die durchsichtige Kugel, und hinter ihnen schloss sich der amorphe Zugang wie eine Flüssigkeit – es zeigten sich keine Fugen. Offenbar ferngesteuert stieg das kleine Hydroger-Schiff vom Deck auf. Das Außenschott öffnete sich, und die Atmosphäre entwich ins All. Klikiss-Roboter und Soldaten-Kompis standen ungerührt im kalten Vakuum; sie brauchten keine Luft.
Als die kleine Kugel auf eins der riesigen Kugelschiffe zuhielt, dachte Tasia an die Gefahr, die der Terranischen Hanse drohte. Die Soldaten-Kompis würden revoltieren und blitzartig alle Kampfverbände der zehn Gitter übernehmen.
Das nächste Hydroger-Schiff ragte vor Tasia auf, wie eine kristallene Wand, hinter der dichtes Gas wogte. Aus Trotz wandte sie sich ab und blickte in die andere Richtung. Bevor das große Kugelschiff die viel kleinere Kugel aufnahm, beobachtete sie, wie die sechzig Rammschiffe ihre Triebwerke zündeten.
Kommandiert von Klikiss-Robotern, entfernten sich die schwer gepanzerten Schiffe von Qronha 3 und nahmen Fahrt auf.
127
PATRICK FITZPATRICK III.
Als der Frachter im Hangar des alten Manta-Kreuzers seiner Großmutter landete, wurde Patrick wie ein Held empfangen.
Viele Monate lang hatte die Hanse ihn und die anderen für tot gehalten.
Mit ernster Miene schob er sich an den jubelnden Wächtern und Hangartechnikern vorbei. Er musste sich um eine wichtige Angelegenheit kümmern. »Lassen Sie mich mit meiner Großmutter sprechen, bevor dies alles noch schlimmer wird.«
Auf der Brücke des Manta sprachen der alte Captain und Maureen Fitzpatrick mit einem müde aussehenden Del Kellum, der auf dem Hauptschirm zu sehen war. »Nein, danke«, sagte Kellum. »Inzwischen brauchen wir Ihre verdammte Hilfe nicht mehr. Alles ist hin! Sie haben Däumchen gedreht, während meine Leute gegen die Soldaten-Kompis kämpften. Wir haben unser Personal bereits in Sicherheit gebracht und die meisten der verrückten Kompis zerstört. Und jetzt wollen Sie hierher kommen und den Ruhm dafür ernten? Shizz, ich kann Ihre Arroganz kaum fassen.«
Maureen blieb unerschütterlich, und ihr Gesicht wirkte eisig.
Fitzpatrick sah, warum sie den Spitznamen »Streitaxt«
bekommen hatte. »Sie schätzen die Situation völlig falsch ein, Mr. Kellum. Wir sind nicht in einer Rettungsmission hier. Die Roamer sind zu Geächteten erklärt worden, deren Besitz sofort zu beschlagnahmen ist. Wir werden Ihre Leute gefangen nehmen und sie zu einem Arrestlager der Hanse bringen.«
»Den Teufel werden Sie tun. Wie war’s, wenn Sie das Tiwi-Motto in ›Zu spät gekommen‹ ändern? Oder wäre Ihnen
›Immer bereit, auf das falsche Ziel zu schießen, und es geht trotzdem daneben‹ lieber?« Der vom Bildschirm starrende Kellum sah, wie Fitzpatrick die Brücke betrat. »Wie ich sehe, haben Sie einen Ihrer Überlebenden zurück. Sie könnten uns nicht zufällig den Frachter schicken, den er geklaut hat?«
In Maureens Augen leuchtete es auf. »Patrick!« Nie zuvor hatte er so viel echte Freude im Gesicht seiner Großmutter gesehen, und er fragte sich, ob ihr tatsächlich etwas an ihm lag.
Warum hatte sie es ihm in all den Jahren zuvor nie gezeigt?
Über die Schulter hinweg wies sie den Captain des Manta an:
»Kümmern Sie sich um diese Sache.« Die alte Frau breitete die Arme für Patrick aus, und die anderen Familienangehörigen drängten näher, bestürmten ihn mit Fragen.
Fitzpatrick schob die Leute beiseite. »Nicht jetzt.
Großmutter, ich muss mit dir reden. Sofort.«
»Ja, Patrick. Wir haben uns viel zu erzählen. Ich…«
»Jetzt sofort. Dort drin, hinter der geschlossenen Tür.«
Patrick zeigte zum privaten Konferenzzimmer des Captains, das an die Brücke grenzte. An Bord seines eigenen Schiffes hatte er jenen Raum für Besprechungen mit den Offizieren verwendet. »Ich möchte dir wichtige Informationen geben, bevor du die Situation weiter außer Kontrolle geraten lässt.«
Maureen reagierte überrascht auf die Art und Weise, wie Patrick mit ihr sprach, aber sie war ihr Leben lang eine harte Geschäftsfrau gewesen und wusste, dass man unwiderrufliche Entscheidungen nur dann treffen durfte, wenn man alle Informationen hatte. Mit den Dingen, die ihr Enkel bei den Roamern in Erfahrung gebracht hatte, konnte er ihr vielleicht einen Vorteil verschaffen.
Sie betraten das Konferenzzimmer, schlossen die Tür und nahmen einander gegenüber am kleinen Tisch des Captains Platz. Es war Patrick peinlich, dass er die absurd wirkende Arbeitskleidung der Roamer trug. Bestimmt würden ihm die Medien große Aufmerksamkeit schenken und ihn mit Fragen überhäufen. Doch derzeit hatte er die Streitaxt für sich allein.
Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch, zu harten Verhandlungen mit seiner Großmutter bereit. »Zuerst einmal: Du wirst die Roamer in Ruhe lassen. Sie alle.«
Maureen sah ihn so an, als hätte er den Verstand verloren.
»Mach dich nicht lächerlich. Wir haben sie am Schlawittchen.«
»Du hast gar nichts, Großmutter. Bei ihnen befinden sich noch immer dreißig gesunde TVF-Gefangene, und ich habe ihnen versprochen, alles mir Mögliche zu tun, um sie zu retten.«
»Kein Problem, Patrick. Das ist bereits eine der Bedingungen für die Kapitulation der Roamer.«
»Und wie willst du sie dazu zwingen, die Gefangenen freizulassen? Hast du eine Vorstellung davon, wie viele Anlagen der Roamer es in den Ringen des Gasriesen gibt? Dir steht eine große Überraschung bevor, wenn du dich auf eine Konfrontation mit ihnen einlässt. Sie werden die Gefangenen voneinander trennen und in den Ringen verteilen. Dann heißt es, die Stecknadel im Heuhaufen suchen.«
»Früher oder später finden wir sie. Uns stehen leistungsfähige Sensoren zur Verfügung.«
Patrick schüttelte den Kopf. »Die Roamer haben tausende von kleinen Depots und Lager inmitten von hunderttausenden von Felsen in den Ringen. Du würdest jahrelang suchen müssen.«
Maureen sah ihn an, ihr Blick so scharf wie ein Seziermesser.
»Was haben sie mit dir angestellt, Patrick? Hat man dich gefoltert und einer Gehirnwäsche unterzogen? Steckt der Mann namens Kellum hinter diesem Gerede?«
Fitzpatrick lachte. »Oh, glaub mir, die Roamer wären von dem, was ich vorhabe, alles andere als begeistert. Wie dem auch sei: Ich versuche, eine Lösung zu finden.«
»Du bist jetzt wieder bei der TVF, junger Mann. Als Offizier und Held. Wenn wir alles richtig machen, könntest du als der große Sieger aus dieser Sache hervorgehen. Wenn ich an den richtigen Fäden ziehe, ist eine Beförderung für dich drin.«
»Ah, ja, die liebe TVF.« Ein Schatten fiel auf Patricks Gesicht. »Vergiss nicht, dass es die TVF war, die den Schwanz einzog und vom Schlachtfeld bei Osquivel floh. General Lanyan ordnete den Rückzug der Flotte an, und wir trieben hilflos mit unseren Rettungskapseln im All. Natürlich haben wir Notrufe gesendet, aber die TVF hat sie ignoriert Sie ließ ihre eigenen Leute im Stich, und dafür soll ich dankbar sein?
Ohne die Hilfe der Roamer hätte niemand von uns überlebt.
Das zählt zumindest etwas, meiner Meinung nach.«
»Aber sie kamen als Aasfresser und Grabräuber hierher«, sagte Maureen verärgert. »Sie fielen über die Wracks unserer Schiffe her und versuchten, einen Profit daraus zu schlagen.«
Patrick schlug mit der Faust auf den Tisch. »Diese Werften existieren seit Jahrzehnten. Sie waren schon lange vor der Schlacht von Osquivel hier. Die Roamer versteckten sich einfach, als die TVF-Flotte eintraf. Wir waren viel zu sehr mit den Hydrogern beschäftigt, um sie zu bemerken.«
Er begegnete dem Blick der alten Frau, und beide vermieden es zu blinzeln. Maureen selbst hatte ihn gelehrt, worauf es bei Verhandlungen ankam, und jetzt bewies er, ein guter Schüler gewesen zu sein. Sie würden diesen Raum erst verlassen, wenn sie sich einig geworden waren.
»An Bord dieses Schiffes befinden sich viele Verwandte der dreißig Gefangenen dort draußen. Willst du ihnen sagen, dass du mit dem Leben ihrer Söhne, Töchter, Ehepartner und Geschwister spielst? Dass du vorhast, dich auf eine jahrelange Jagd in den Ringen des Gasriesen einzulassen? Ich kenne dich besser, Großmutter.« Patrick beugte sich vor. »Ich kann mit Del Kellum verhandeln und ihn bitten, die Gefangenen zu einem sicheren Ort zu bringen, wo wir sie dann abholen. Aber die Roamer müssen frei bleiben. Sie sollen die Möglichkeit bekommen, ihre Sachen zu packen und zu verschwinden. Wir werden sie nie Wiedersehen.«
»Das ist das Problem, Patrick«, sagte Maureen. »Du bist nicht mehr auf dem Laufenden. Der Vorsitzende der Hanse hat alle Roamer zu Geächteten erklärt. Kampfgruppen der TVF
haben die größten Roamer-Basen unter Kontrolle gebracht oder zerstört, darunter auch ihren zentralen Regierungskomplex.«
»Und warum?«, fragte Fitzpatrick, der die Antwort bereits von Zhett kannte.
»Weil die Roamer die Handelsbeziehungen zur Hanse abbrachen und sich weigerten, wichtige Kriegsgüter zu liefern.«
»Wiederhol nicht einfach die Propaganda, Großmutter. Die Roamer sind Händler und Geschäftsleute. Frag dich selbst, warum sie die Handelsbeziehungen mit ihrem größten Kunden beendeten.«
»Sie haben absurde Geschichten über TVF-Schiffe erzählt, die ihre Frachter überfielen und zerstörten.«
Patrick spürte, wie sich in seiner Magengrube etwas zusammenkrampfte. »Es ist die Wahrheit. Das weiß ich genau.« Er schluckte und wollte weder seiner Großmutter noch sonst jemandem gegenüber zugeben, dass er selbst ein Frachtschiff der Roamer zerstört hatte. »Du bist Vorsitzende der Hanse gewesen. Du weißt, wie die Dinge laufen.«
Maureen blinzelte. »Trotzdem, wir können uns nicht einfach zurückziehen. Meine Hanse-Befugnisse sind beschränkt, aber ich weiß, dass der Vorsitzende Wenzeslas nicht alles wegen dreißig Gefangenen aufgeben wird, die bisher als tot galten.
Das ist einfach nicht genug.«
»Natürlich nicht.« Patrick spielte seinen Trumpf aus. »Die Roamer haben etwas gefunden, das mehr wert ist als alles andere, das du in den Werften beschlagnahmen könntest. Ich bin imstande, dir den Weg dorthin zu zeigen. Wenn wir damit zur Erde zurückkehren, wird niemand fragen, wie viele Roamer entkommen sind.«
Maureen faltete die knotigen Hände. »Du hast nie zu Übertreibungen geneigt, Patrick, aber das ist eine ziemlich große Behauptung. Ich hoffe, es sind nicht nur leere Worte.«
»Nein, Großmutter.« Patrick zeigte ihr mit einem Blick, dass er ebenso stur sein konnte wie sie. »Nach der Schlacht von Osquivel fanden die Roamer ein intaktes Hydroger-Schiff. Es ist unbeschädigt, und ich glaube, an Bord gibt es sogar die eine oder andere Hydroger-Leiche. Zum ersten Mal haben wir nicht nur Zugang zu den Körpern der Fremden, sondern auch Gelegenheit, ihre Technik zu untersuchen, ihre Antriebs- und Waffensysteme. Es ist alles dort drin. Denk daran, was die TVF damit anfangen könnte.«
Maureen versuchte ohne Erfolg, ihre Überraschung zu verbergen. »Das ist nichts Neues, Patrick. Wir besitzen bereits Teile von zerstörten Kugelschiffen, die an dem Angriff auf Theroc teilnahmen.« Bevor er Fragen stellen konnte, ließ seine Großmutter die Schultern hängen. »Aber ich will dir nichts vormachen. Jene Wrackteile erwiesen sich als wertlos.«
»Mit diesem Schiff lässt sich etwas anfangen, Großmutter. Es ist der Stein von Rosette, die Gans, die goldene Eier legt, oder welche dumme Metapher du verwenden willst.«
»Was hindert uns daran, auf eigene Faust die Ringe zu durchsuchen, bis wir das Schiff finden?«
»Dabei ergibt sich das gleiche Problem wie zuvor. Du kannst es sofort haben oder Monate danach suchen. Aber um es zu bekommen, musst du die Roamer ziehen lassen.« Patrick verschränkte die Arme vor dem bestickten Arbeitshemd. »Das ist mein letztes Angebot. Nimm es an, damit wir diese Sache hinter uns bringen können.«
»Warum machst du das?«, fragte Maureen mit echter Sorge in ihrer Stimme.
Patrick dachte nach, bevor er antwortete. »Vielleicht möchte ich diesmal ein echter Held sein und nicht nur als solcher dastehen.«
Tief in seinem Innern wusste er, dass ihn weder TVF noch Roamer so sehen würden. Beide würden sich von ihm hintergangen fühlen. Er hatte, wenn auch auf einen Befehl hin, Raven Kamarows Schiff zerstört, wodurch das ganze Durcheinander zwischen der Hanse und den Clans entstanden war.
Patrick glaubte fest daran, dass er jetzt richtig handelte, zum Wohle beider Seiten. Aber General Lanyan und vor allem Zhett Kellum würden ihn vermutlich nie vergessen lassen, was er getan hatte. Vergebung kam für ihn sicher nicht infrage.
Die Roamer begegneten dem Angebot natürlich mit Argwohn, aber ihnen blieb keine Wahl. Die meisten verrückt gewordenen Soldaten-Kompis waren zerstört oder deaktiviert worden, doch ihre Sabotage hatte die Werften ruiniert.
Del Kellum wies darauf hin, dass sieben seiner Leute ums Leben gekommen waren, aber unter den TVF-Gefangenen gab es nur einige Leichtverletzte.
Maureen Fitzpatricks alter Manta und die ihn begleitenden diplomatischen Schiffe bedrohten die Roamer nicht mehr. Es war ein unsicheres Remis, aber schließlich glaubten die Werftarbeiter, dass die Tiwis sie nicht angreifen würden –zumindest nicht sofort.
Fitzpatrick stand neben seiner Großmutter auf der Brücke und trug keine Roamer-Kleidung mehr, sondern eine TVF-Uniform.
Unten in den Ringen des Gasriesen sausten die kleinen Raumschiffe der Roamer wie eine Schar Mäuse davon, die in irgendwelchen Schlupflöchern Zuflucht suchten. Fitzpatrick hatte seiner Großmutter nichts von den Kometen-Anlagen am Rand des Sonnensystems erzählt. Wenn die TVF-Flotte weg war, würden größere Schiffe kommen und die Roamer fortbringen, unter ihnen auch Zhett.
Wahrscheinlich sprach sie nie wieder mit ihm.
Die dreißig TVF-Gefangenen wurden zu einem unbekannten Ort gebracht, wo sie in Sicherheit warteten, bis die Roamer davon überzeugt waren, dass Maureen Fitzpatrick kein doppeltes Spiel trieb. Patricks Großmutter hatte sich über die Bedingungen der Vereinbarung geärgert, aber selbst sie musste zugeben, dass es keine bessere Möglichkeit gab.
»Na schön, Patrick – du hattest deinen Willen.« Maureen sah auf die majestätischen Ringe und den Gasplaneten. »Bring uns jetzt zum Hydroger-Schiff. Ich hoffe sehr, dass es die Mühe wert ist.«
»Du wirst nicht enttäuscht sein, Großmutter.«
Der große Kreuzer entfernte sich von den Werften, flog um die Ringe herum und stieg über ihre Ebene auf, bis er die abgelegene Stelle erreichte, an der Kotto Okiah das fremde Schiff zurückgelassen hatte. Die kleine Kugel leuchtete wie ein Stern im reflektierten Licht des Gasriesen.
Maureen schickte Remoras los, deren Besatzungen Schutzanzüge trugen und das Hydroger-Schiff in Besitz nehmen sollten. Fitzpatrick bemerkte den triumphierenden Gesichtsausdruck seiner Großmutter und sagte: »Siehst du?
Wir werden jede Menge Applaus bekommen, wenn wir heimkehren.«
Del Kellum sendete die Koordinaten des Ortes, an dem sich die TVF-Gefangenen befanden. Der Manta-Kreuzer nahm die kleine Hydroger-Kugel in seinen Hangar auf und flog dann dorthin, wo die Roamer das TVF-Personal zurückgelassen hatten. Familienangehörige freuten sich auf ein Wiedersehen mit ihren Söhnen und Töchtern. Inzwischen gab es eine Liste mit den Namen aller Überlebenden – viele Passagiere hatten sie mit Freude und Erleichterung zur Kenntnis genommen, andere mit Enttäuschung und Schmerz.
Zwar freute sich Patrick über das Erreichte, aber sein Herz blieb schwer. Für seine Flucht hatte er Zhetts Gefühle ausgenutzt, und das verzieh ihm die wunderschöne junge Frau bestimmt nicht. Er fragte sich, ob er sie jemals Wiedersehen würde.
Er beobachtete die Ringe und stellte fest, dass die Roamer-Schiffe ausgeschwärmt waren und kleine Stützpunkte in dem Chaos aus Fels- und Eisbrocken erreicht hatten. Del Kellum würde erst glauben, dass seine Leute und er frei blieben, wenn das letzte TVF-Schiff verschwunden war.
Maureen wies den Captain des Manta an, das Osquivel-System zu verlassen und Patrick Fitzpatrick nach Hause zu bringen.
128
KÖNIG PETER
Mit jedem neuen Zug, den König Peter machte, wurde der politische Boden unter ihm schlüpfriger. Er verließ sich sehr auf die Hilfe des Lehrer-Kompi OX, und natürlich hatte er immer Estarra, seine schöne Königin.
Dem stellvertretenden Vorsitzenden Cain vertraute er noch nicht ganz, obwohl er dafür gesorgt hatte, dass die Öffentlichkeit gerüchteweise von Estarras Schwangerschaft erfuhr. Dafür kam nur Cain infrage; alles andere wäre ein zu großer Zufall gewesen.
Glückwunschkarten vieler Bürger erreichten den Flüsterpalast. Alle freuten sich. Die Königin war schwanger!
Bald würde es einen königlichen Erben geben, ein Baby, das sicher ebenso schön war wie seine königlichen Eltern.
Höflinge und Wächter lächelten wissend, wenn sie das junge Paar sahen. Andere waren kühn genug zu fragen, ob die Gerüchte der Wahrheit entsprachen. Klugerweise gab Peter ausweichend Antwort und wies darauf hin, dass es eine offizielle Verlautbarung geben würde, sobald er die Angelegenheit, mit dem Vorsitzenden der Hanse besprochen hatte.
Basil konnte jetzt nichts mehr gegen die Schwangerschaft unternehmen.
Ihn besorgte der Umstand, dass Basil schwieg. Er hatte mit einem Wutanfall gerechnet, mit zornigen Worten, die ihm vorwarfen, die Hanse in eine schwierige Situation zu bringen.
Um auf die Konfrontation vorbereitet zu sein, hatte sich Peter Worte zurechtgelegt, die seine Unschuld beteuerten. Immerhin war nicht er für die Gerüchte verantwortlich. Es sollte einfach sein, die Schuld den Palastärzten zu geben, oder den medizinischen Assistenten, die Schwangerschaftstests durchführten.
Aber Basil gab ihm keine Gelegenheit zu Rechtfertigungen.
Er stellte keine Fragen, verlangte keine Antworten. Peter hielt das für ein sehr schlechtes Zeichen.
Andere Gerüchte im Flüsterpalast waren weitaus besorgniserregender. Etwas war mit den Klikiss-Robotern geschehen, und es gab neue Zweifel in Hinsicht auf die Zuverlässigkeit der Soldaten-Kompis. Wie von Cain bereits angedeutet: Eine weitere Kolonie der Hanse war vernichtet worden, aber niemand schien Details zu kennen.
Normalerweise wurden solche Dinge nicht geheim gehalten.
Wenn Basil entsprechende Informationen zurückhielt, so konnte das nur bedeuten, dass er negative Folgen fürchtete.
Vielleicht hielt ihn diese Sache beschäftigt…
»Ich würde gern schwimmen gegen.« Estarra berührte Peter am Arm, und er lächelte.
»Ich würde gern mit dir schwimmen.«
»Und mit den Delfinen«, sagte sie.
»Und mit den Delfinen, natürlich.«
Während das Baby in ihr wuchs, fand Estarra immer mehr Gefallen an harmonischen Bewegungen im Wasser. Umgeben von Politik, Verrat und Verpflichtungen zog sich das königliche Paar gern in jenes warme Refugium zurück. Peter fand dort Gelegenheit, seine Gedanken zu ordnen und neue Kraft zu schöpfen.
Er führte Estarra aus dem königlichen Quartier und durch den Flur. Sie brauchten niemandem zu sagen, wohin sie gingen.
»Basil weiß, wo er uns finden kann, wenn er uns braucht.«
»Weiß er das nicht immer?« Sie wechselten einen Blick und lächelten nervös.
Schon seit einer ganzen Weile wurde der Vorsitzende immer unberechenbarer und ließ seine Entscheidungen von Verzweiflung und Zorn prägen. Er hatte sich die Feindschaft in Not geratener Kolonien zugezogen, weil er sie im Stich ließ oder sie sogar unter Druck setzte. Er war für den völlig unnötigen Konflikt mit den Roamern verantwortlich. Er agierte nicht mehr kühl und überlegt wie ein geschickter Vorsitzender, sondern wie ein Ertrinkender, der nach dem letzten Strohhalm griff.
Und dadurch wurde Basil immer gefährlicher. Nachdem Peter den im künstlichen Koma gehaltenen Prinzen Daniel gesehen und gehört hatte, wie Basil Estarra einen Schwangerschaftsabbruch befahl – blieb ihm etwas anderes übrig, als nach einer Möglichkeit zu suchen, sich zur Wehr zu setzen? In diesem Zusammenhang kam der Frage, warum Basil nicht auf das Gerücht von Estarras Schwangerschaft reagierte, zusätzliche Bedeutung zu.
Gemeinsam betraten sie die Grotte, in der die Delfine spielten. Die Wände bestanden aus Korallen und Lavagestein, glatt geschliffen und halb hinter üppigen Gewächsen verborgen. Das Wasser bildete tiefe Tümpel, die untereinander durch Gräben verbunden waren, in denen die Delfine schwimmen konnten.
Kaum in der Höhle, bemerkte Peter den sonderbaren Geruch.
Estarra schrie.
Der Gestank von Blut und Gewalt hing schwer in der feuchten Luft. Peter riss die Augen auf und blieb wie angewurzelt stehen. Er öffnete und schloss den Mund, brachte keinen Ton hervor. Estarra drückte sich an ihn und schluchzte.
Die Delfine waren getötet worden. Halb zerfetzte Kadaver, grau und rot, trieben wie achtlos weggeworfenes Fleisch im rosarot verfärbten Wasser.
Peter spürte, wie ihm die Knie weich wurden, und er hielt die schaudernde Estarra fest. Vielleicht hatte der Vorsitzende vom heimlichen Gespräch mit Cain erfahren. Oder dies war nur eine grausame Reaktion auf die Schwangerschaft der Königin beziehungsweise die Gerüchte darüber.
Peter schlang die Arme fest um Estarra, tröstete sie und sich selbst. Zorn brannte in ihm. Seine private Auseinandersetzung mit dem Vorsitzenden hatte jetzt ein neues Niveau erreicht. Er begriff, dass Zurückhaltung seinerseits in Hinsicht auf Basil keine Sicherheit mehr bot.
Immer heißer loderte das Feuer des Zorns in ihm, und er dachte daran, dass ihm mehr Möglichkeiten offen standen, als er bisher in Erwägung gezogen hatte. Er würde sich nicht mehr zurückhalten – auch wenn es bedeutete, Basil Wenzeslas zu töten.
129
WEISER IMPERATOR JORA’H
Die wieder unter Kontrolle gebrachten Kriegsschiffe blieben bei Hyrillka zurück, schufen dort Ordnung. Mit seiner Kohorte flog Adar Zan’nh nach Dzelluria, Alturas und Shonor, um auch jene Kolonien wieder dem Reich hinzuzufügen.
Ohne Rusa’h war es nicht weiter schwer, die Bevölkerung aus dem falschen Thism zu lösen und wieder Teil des richtigen werden zu lassen. Jene Ildiraner waren von einem Verrückten zur Rebellion gezwungen worden, und der Weise Imperator beschloss, sie nicht zu bestrafen. Sie würden sich daran erinnern, was sie getan hatten, und das war Strafe genug für sie.
Jora’h konnte nicht im Horizont-Cluster bleiben. Eine schreckliche Krise war überwunden, aber eine andere blieb ungelöst. Er kehrte rasch zum Prismapalast zurück und hoffte, dort bald einen Bericht über Osira’hs Mission bei den Hydrogern zu bekommen.
Als er Mijistra erreichte, erfuhr er, dass die Kristallkugel des Mädchens in die Tiefe des Gasriesen gesunken war. Yazra’h hatte sich mit den Kriegsschiffen zurückziehen müssen, um einen Konflikt mit TVF-Kampfschiffen zu vermeiden, und von Osira’h fehlte jede Nachricht. Tage waren vergangen, und die Hydroger hatten sie nicht zurückkehren lassen.
Jora’h versuchte, nicht zu verzweifeln, obwohl er befürchtete, dass bei der Mission etwas schief gegangen war. Es hätte längst eine Reaktion der Hydroger erfolgen müssen. Er fühlte, dass Osira’h noch lebte – das glaubte er jedenfalls. Ganz sicher sein konnte er nicht, denn ihre Präsenz im Thism war seltsam.
Im Palast erhielt Jora’h eine gute Nachricht: Die Menschen von der terranischen Himmelsmine über Qronha 3 hatten ihr Leben riskiert, um Ildiraner zu retten, und alle Überlebenden waren nach Ildira gebracht worden.
Dieser erfreulichen Meldung stand die Tragödie der auf Maratha zurückgebliebenen Ildiraner gegenüber. Wochenlang hatte Jora’h gespürt, dass sich dort Unheilvolles zutrug, doch die Splittergruppe war zu klein und die Thism- Verbindung seines fernen Bruders Avi’h zu schwach, als dass er Einzelheiten in Erfahrung hätte bringen können. Nur der menschliche Historiker und der Erinnerer Vao’sh hatten überlebt, doch der verehrte ildiranische Geschichtenerzähler lag im Koma. Nachdem Anton Colicos die Ereignisse auf Maratha geschildert hatte, gelangte der Weise Imperator zu dem Schluss, dass sich das Ildiranische Reich im Krieg mit den Klikiss-Robotern befand. Yazra’h brannte bereits darauf, mit einer vollen Kampfgruppe nach Maratha zu fliegen und dort alle schwarzen Maschinen zu erledigen.
Den ersten Tag nach seiner Rückkehr verbrachte Jora’h im Chrysalissessel, nicht nur, um das Volk zu beruhigen, sondern auch, weil sein erschöpfter Körper nach den enormen geistigen Anstrengungen auf Hyrillka Entspannung brauchte. Er zog sich in seine private Kontemplationskammer zurück, berührte sanft den Schössling, den ihm Estarra mitgebracht hatte, und blickte ins Licht, das durch bunte Scheiben und Kristalle fiel.
Nur sechs Sonnen leuchteten noch am Himmel!
Nach den ersten Aufräumarbeiten auf Hyrillka kam ein zerknirscht wirkender Udru’h nach Ildira und brachte ein weiteres Geheimnis. Die äußeren Flure und Säle des Prismapalastes waren leer, als Udru’h von einer der Landeplattformen kam, durch private Korridore schritt und schließlich die Kontemplationskammer betrat. Niemand sah ihn kommen.
Der Dobro-Designierte lächelte zurückhaltend, als er vor seinem Bruder erschien. »Ich habe mich hier oft mit unserem Vater getroffen. Er hat mir gezeigt, wie man diesen Ort ungesehen erreicht.«
Jora’h runzelte die Stirn und musterte seinen wie immer kühlen und rätselhaften Bruder. Selbst während der Hyrillka-Rebellion war er nicht sicher gewesen, ob Udru’h Vertrauen verdiente. »Warum legst du bei diesem Treffen mit dem Weisen Imperator Wert auf Heimlichkeit?«
Der Dobro-Designierte winkte, und zwei seiner Wächter kamen mit einem Gefangenen aus dem verborgenen Zugang.
Jora’h beugte sich überrascht vor. »Thor’h!«
Der frühere Erstdesignierte war an Händen und Füßen gefesselt, und ein Knebel machte ihn stumm. Seine Augen zeigten weder Zorn noch Trotz. Sie waren matt und das Gesicht leer. »Was hast du mit ihm angestellt, Udru’h?«
Der Designierte lächelte. »Da ihm Schiing so sehr gefällt, haben wir ihm genug davon gegeben, um ihn gefügig zu machen. Er steht so sehr unter der Wirkung der Droge, dass er völlig passiv ist und keinen Widerstand leistet.«
»Ich fühle ihn nirgends im Thism«, sagte Jora’h. »Als wäre er tot. Mein ältester adlig geborener Sohn… der Erstdesignierte.«
»Der frühere Erstdesignierte«, sagte Udru’h. »Es wäre besser gewesen, wenn er beim Kampf um Hyrillka den Tod gefunden hätte.« Er trat näher an den Chrysalissessel heran, und sein Gesicht zeigte kein Mitgefühl. »Lass dich nicht täuschen, Herr.
Thor’h wusste die ganze Zeit über, was er tat, Schritt für Schritt. Der Wahnsinn des Designierten Rusa’h kann auf seine Kopfverletzungen zurückgeführt werden, aber Thor’h hat dich ganz bewusst verraten. Für sein Verhalten gibt es weder Rechtfertigung noch Buße. Seine Existenz wird immer ein Schandfleck deiner Regierungszeit bleiben.«
Jora’h schüttelte den Kopf. »Ich werde meinen eigenen Sohn nicht töten, ganz gleich, was er getan hat.«
Der Dobro-Designierte schürzte die Lippen und lächelte erneut, offener diesmal. »Genau das habe ich von dir erwartet, mein Bruder. Du bist immer zu weich gewesen.«
Jora’h versuchte, Udru’hs Gedanken zu lesen, aber der Designierte schien in seinem Kopf viele Geheimnisse zu hüten und tarnte seine Überlegungen mit mentalen Schatten. So etwas erlebte Jora’h zum ersten Mal. »Wir beide werden die Zukunft des Ildiranischen Reiches nie aus dem gleichen Blickwinkel sehen, Udru’h.«
»Wahrscheinlich nicht, aber du bist der Weise Imperator.«
Udru’h zuckte mit den Schultern. »Erlaube mir, eine andere Möglichkeit vorzuschlagen. Ich bringe Thor’h nach Dobro und verstecke ihn dort. Es dürfte recht einfach sein, unsere Darstellung der Geschehnisse auf Hyrillka abzuändern. Seinen Rang hat der Erstdesignierte bereits verloren; jetzt wird er ins Exil geschickt. Wir können ihn unter Drogen halten, wenn das nötig ist. Für den Rest des Ildiranischen Reiches wird er tot sein.«
Der Weise Imperator musterte den Dobro-Designierten ernst.
Beim Zugang wahrten die beiden Wächter ihr Schweigen und hielten Thor’h fest.
»Nein«, sagte Jora’h. »Wenn die Wirkung des Schiing nachlässt, macht sich die Verbindung im Thism bemerkbar.
Andere im Reich werden davon erfahren. Der Versuch, das Geheimnis zu wahren, könnte mehr Schaden anrichten als die Wahrheit.«
»Nicht wenn das Geheimnis gut gehütet wird, Herr. Es ist möglich, glaub mir. Ich habe schon einmal etwas verborgen, und zwar so gut, dass niemand – nicht einmal du – davon erfuhr.«
»Du hältst etwas vor mir zurück.«
»Ja, Herr. Das stimmt.«
Jora’h richtete einen durchdringenden Blick auf Udru’h, der ihn so erwiderte, als fände ein Willenskraftduell statt.
Einige Sekunden vergingen, und dann gab Udru’h nach. Er schien mit dem zufrieden zu sein, was er in den Augen des Weisen Imperators gesehen hatte. »Die grüne Priesterin Nira Khali lebt noch. Ich habe sie auf Dobro isoliert – sie lebt allein auf einer Insel. Zweifellos ist sie dort zufriedener als im Zuchtlager.«
Jora’h schnappte nach Luft und beugte sich vor. »Nira lebt?«
Freude erfasste ihn, gefolgt von Wellen des Zorns. Er wusste nicht, ob er voll glücklicher Aufregung jauchzen oder Udru’hs sofortige Hinrichtung anordnen sollte. »Und das sagst du mir erst jetzt!«
Der Designierte blieb ruhig. »Inzwischen hat sie ihren Zweck für mich erfüllt. Ich habe an deiner Fähigkeit gezweifelt, das ildiranische Volk zu führen, Jora’h. Ich habe um das Reich gefürchtet. Aber jetzt bin ich davon überzeugt, dass du deinen Aufgaben gerecht werden kannst, auch wenn ich deine Empfindungen für die grüne Priesterin nicht verstehe.« Er neigte den Kopf. »Ich werde sie zu dir bringen.«
Während sein Blick auf dem Dobro-Designierten verharrte, war Jora’hs Vorfreude darauf, Nira wiederzusehen, ihrem langen Leid ein Ende zu setzen und sie um Vergebung zu bitten, größer als das Verlangen nach Rache. »Selbst wenn Nira sicher hierher zurückkehrt…«, sagte er mit klangloser Stimme. »Es gibt viel, wofür du büßen musst. Nach all dem Schmerz und Hader in unserem Reich erscheint mir diese Nachricht so hell wie der Stern, den wir am ildiranischen Himmel verloren haben.« Er zögerte. »Aber es erstaunt mich, dass du dies ohne eine Gegenleistung preisgibst. Ich habe dich immer für unkooperativ, streng und unnötig verbittert gehalten.«
Der Dobro-Designierte ließ sich nicht so einfach beschämen.
»Das glaubst du vielleicht, Herr, aber ich habe mit jedem Atemzug sowohl dem Weisen Imperator als auch dem Ildiranischen Reich gedient. Ich habe die Befehle unseres Vaters befolgt und mich auch an deine Anweisungen gehalten, ob sie mir gefielen oder nicht. Für alle von mir getroffenen Entscheidungen übernehme ich die volle Verantwortung.«
Udru’h senkte den Blick und wich auf respektvolle Distanz zurück. »Ich bin nie dein Feind gewesen.«
130
ANTON COLICOS
Antons Fluchtschiff wurde nach Mijistra gebracht, und dort erfuhren staunende Ildiraner vom Massaker auf Maratha. Die Kriegerin namens Yazra’h wies darauf hin, dass der Weise Imperator den Klikiss-Robotern schon seit einer ganzen Weile misstraute. Jetzt wurden seine schlimmsten Befürchtungen wahr.
Selbst im Sonnenschein und von Ildiranern im Prismapalast umgeben, blieb Erinnerer Vao’sh in sich selbst zurückgezogen und reagierte auf keine äußeren Reize. Er war nicht imstande, ins Thism-Netz zurückzukehren, obwohl es ihn umgab.
Anton gab seinen Freund nicht auf.
Der menschliche Historiker wurde als Gast empfangen, bekam zu essen und die notwendige Pflege. Nach einem Tag der Erholung bot Yazra’h an, ihm Mijistra zu zeigen, doch er brauchte keine Fremdenführerin. »Ich möchte zu Vao’sh«, sagte er.
Entschlossen geleitete ihn die schöne Kriegerin durch gewölbte, in buntes Licht getauchte Korridore. Die Isix-Katzen begleiteten sie, und Anton erinnerte sich voller Unbehagen an die Schattenlöwen auf der dunklen Seite von Maratha. Doch seine einzige echte Sorge galt Vao’sh.
In der medizinischen Abteilung des Prismapalastes lag der alte Erinnerer auf einem Bett, inmitten von Wärme und Licht.
Seine Augen waren geöffnet, starrten aber ins Nichts und blinzelten gelegentlich. Die einst so ausdrucksvollen Hautlappen in seinem Gesicht blieben grau. Sein Geist hatte sich eingekapselt, blieb unerreichbar.
Als Anton still blieb, wandte sich Yazra’h für ihn an die Angehörigen des Mediziner-Geschlechts. »Hat sich sein Zustand verändert?« Als die Ärzte nervös zu den Isix-Katzen sahen, fügte sie scharf hinzu: »Beantworten Sie meine Frage!«
»Sein Ich ist verloren und irrt für immer am blinden Rand der Lichtquelle. Wir können nur hoffen, dass er dort glücklich ist.«
»Wir haben uns so sehr bemüht, und er hat so viel ertragen«, sagte Anton. »Gegen Ungeheuer und Roboter haben wir gekämpft, und wir sind entkommen. Tagelang flogen wir einsam durchs All.« Er seufzte schwer. »Ich kann nicht glauben, dass er jetzt einfach aufgibt.«
Yazra’h sah ihn respektvoll an. Mit ihrem langen Haar, das eine dichte Mähne bildete, sah sie aus wie eine Gestalt aus den Legenden über berühmte Kriegerinnen: eine Amazone, Boudicca, Olga oder Wonder Woman. Die Vergleiche hätten der Tochter des Weisen Imperators sicher gefallen, vermutete.
Anton.
Stundenlang saß er am Bett des Erinnerers, mit einem der Datenschirme, die er von der Erde mitgebracht hatte. »Ich werde Ihnen vorlesen, Vao’sh. Selbst wenn Sie mich nicht hören können: Ich leiste Ihnen mit weiteren Geschichten Gesellschaft. Versuchen Sie, meiner Stimme zu folgen und hierher zurückzukehren.«
Anton öffnete Literaturdateien, räusperte sich und holte tief Luft. »Homers Epen kommen der Saga der Sieben Sonnen am nächsten. Ich beginne mit der Ilias.« Er räusperte sich erneut.
»›Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus, ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte, und viel tapfere Seelen der Heldensöhne zum Ais sendete, aber sie selbst zum Raub darstellte den Hunden, und dem Gevögel umher.‹«
Anton atmete noch einmal tief durch und fuhr fort, denn immerhin war es ein Epos.
Yazra’h kehrte oft zu ihm zurück, um sich zu vergewissern, dass ihm die Bediensteten genug zu essen und zu trinken brachten. Antons Hingabe schien sie zuerst zu amüsieren und dann zu rühren.
Er verzweifelte nicht. Seine Stimme wurde rau, aber er erzählte weiter vom Trojanischen Krieg, von den Helden Hektor und Achilles, der gefährlichen Liebe zwischen Paris und Helena, dem in Ungnade gefallenen Aias, der sich in sein eigenes Schwert stürzte.
Während Anton das Epos vorlas, starrte Vao’sh an die Decke.
Manchmal legte der menschliche Historiker bei Homer eine Pause ein und erzählte Anekdoten, berichtete sogar von seinen verlorenen Eltern und ihrer archäologischen Arbeit.
Tag für Tag ging es auf diese Weise weiter.
Auf halbem Weg durch die Odyssee, während Odysseus’
gefährlicher Reise zwischen Szylla und Charybdis, gewann Antons Stimme einen dramatischen Klang, und die Worte flossen aus ihm heraus. An der aufregendsten Stelle blickte er auf Vao’sh hinab und verharrte mitten in der Strophe.
Die Haut des Erinnerers schien wieder Farbe gewonnen zu haben. Anton legte den Datenschirm beiseite und beobachtete überrascht, wie Vao’sh blinzelte. Er beugte sich vor und hoffte, weitere Bewegungen zu sehen.
Vao’sh blinzelte erneut und drehte den Kopf. Der Mund des Erinnerers formte ein Lächeln. »Hören Sie nicht auf, mein Freund. Erzählen Sie mir die Geschichte zu Ende.«
131
SULLIVAN GOLD
Als die Überlebenden der ildiranischen Himmelsmine und seine eigenen Leute zum Prismapalast gebracht wurden, fühlte sich Sullivan Gold wie ein Held. Er hatte dies nicht geplant, mit der Rettung der Ildiraner aber zweifellos die richtige Entscheidung getroffen. Lydia wäre stolz auf ihn gewesen.
Sullivan gehörte nicht zu den Personen, die gern exotische Orte besuchten und sich die Wunder des Spiralarms ansahen.
Er hätte nie gedacht, dass man ihn einmal in der kristallenen Metropole Mijistra willkommen heißen würde. Ildiranische Beamte feierten ihre Ankunft und belohnten die Menschen für die selbstlose Rettung mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten. Sullivan hoffte, dass ihn auf der Erde ein ähnlicher Empfang erwartete.
Doch Kolker war auch weiterhin untröstlich. Auf Ildira blieb er abgeschnitten vom Telkontakt, wie blind. Sullivan versuchte, seinem niedergeschlagenen Gefährten zu helfen.
»Die Ildiraner haben hier vermutlich keine Weltbäume, aber bestimmt schicken sie uns bald heim. Vielleicht können Sie sogar auf Theroc abgesetzt werden. Sie müssen sich hier nur noch ein wenig gedulden.«
Kolker ließ den Kopf hängen und schien die schwere Last aus Gram und Einsamkeit nicht mehr tragen zu können. »Jede Stunde erscheint unerträglich. Verbringen Sie jeden Tag auf diese Weise? Ohne Verbindung… Laut zu sprechen ist nur ein vager Schatten echter Kommunikation.«
Sullivan drückte Kolkers Schultern. »Mehr haben wir nicht, und bisher genügte es für unsere Zivilisation. Über Jahrtausende hinweg sind wir allein mit Sprache zurechtgekommen.«
Kolker richtete einen kummervollen Blick auf ihn. »Sind wir
›zurechtgekommen‹? Denken Sie nur an die vielen Konflikte durch Missverständnisse. Eine bessere Kommunikation hätte sie verhindern können.«
»Da haben Sie vielleicht Recht.« Sullivan tippte mit dem Finger an die Unterlippe. »Aber vergessen Sie nicht: Wenn Sie mit jemandem reden möchten, auf die alte Art und Weise, so bin ich immer für Sie da.«
Ein Höfling des Prismapalasts fand sie auf einem Balkon im Sonnenschein. Er trug bunte Umhänge, die nach einem Theaterkostüm aussahen. »Der Weise Imperator wünscht Ihre Präsenz im Empfangssaal der Himmelssphäre.«
Sullivan sah den grünen Priester an und lächelte. »Darauf habe ich gewartet.« Sie folgten dem Höfling durch bunt schimmernde Flure.
In dem großen Saal sahen sie den Weisen Imperator in seinem Chrysalissessel. Ildiraner verschiedener Geschlechter waren zugegen. »Sullivan Gold, Leiter der terranischen Himmelsmine von Qronha 3«, verkündete der Höfling. »Und der grüne Priester Kolker.«
Der Weise Imperator bedeutete den beiden Männern, näher zu treten. In Jora’hs Gesicht zeigten sich erste Falten des Alters, aber im Gegensatz zu den Bildern, die Sullivan von seinem Vater gesehen hatte, wirkte er stark und gesund.
Freundlich blickte er auf sie herab. »Wir stehen in Ihrer Schuld, Sullivan Gold. Sie haben Ihr Leben riskiert, um viele Ildiraner vor den Hydrogern zu retten. Wir danken Ihnen für den Dienst, den Sie damit dem Ildiranischen Reich erwiesen haben.«
»Es freut mich, dass ich helfen konnte«, sagte Sullivan und verbeugte sich.
Bevor der Weise Imperator antworten konnte, eilten Wächter in den Saal, unter ihnen Yazra’h. Verwirrte Pilger wichen beiseite. »Herr!«, rief Jora’hs Tochter. »Sieh dir das an! Am Himmel! Tausende von ihnen!«
Sullivan sah sich um und suchte nach Antworten. Kolker war ebenso verwundert wie er.
Bedienstete eilten herbei, aber der Weise Imperator stand auf und trat die Treppe vom Podium herunter. Yazra’h war sofort an seiner Seite. »Begleiten Sie uns«, wies sie die Wächter an.
Niemand forderte die beiden Menschen auf, im Saal zu bleiben, und deshalb folgten Sullivan und Kolker der ildiranischen Gruppe. Kurze Zeit später erreichten sie einen transparenten Alkoven in der Kuppel und blickten gen Himmel.
In Sullivan krampfte sich etwas zusammen. Er hatte gehofft, so etwas nie wieder zu sehen.
Tausende von Kugelschiffen der Hydroger schwebten über Mijistra und näherten sich dem Prismapalast. Stille breitete sich aus. Die Ildiraner starrten ungläubig und voller Ehrfurcht.
»Wenigstens greifen sie nicht an«, sagte Sullivan. Er sprach leise, aber seine Stimme schien trotzdem sehr laut zu sein.
Jora’h wandte sich ihm zu und kniff die Augen zusammen.
»Sie werden nicht angreifen. Ich begebe mich auf den höchsten Turm des Palastes und wende mich von dort aus an sie.«
132
WEISER IMPERATOR JORA’H
Die vielen Kugelschiffe blitzten am Himmel, und es sah aus, als hätten sich alle Sterne des Horizont-Clusters hier versammelt. Als Oberhaupt des Ildiranischen Reiches musste Jora’h den Hydrogern allein gegenübertreten.
Sie hatten nicht angegriffen, und daraus schloss er, dass es Osira’h gelungen war, mit ihnen zu kommunizieren. Das Mädchen hatte dem Bewusstsein der Hydroger die ildiranische Seele geöffnet und die Fremden nach Ildira gebracht. Damit war der Erfolg erzielt worden, auf den die früheren Weisen Imperatoren hingearbeitet hatten. Jetzt hing alles von Jora’h ab.
Plötzlich begriff er, dass auch Menschen das Geschehen beobachteten. Sullivan Gold, sein grüner Priester, die Arbeiter von der terranischen Himmelsmine, selbst der menschliche Gelehrte Anton Colicos. Er verachtete sich für den Gedanken, wusste aber, dass er ihnen nicht gestatten konnte, diese Informationen an die Terranische Hanse weiterzugeben.
Niemand durfte davon berichten, dass Hydroger nach Ildira gekommen waren. Das musste Jora’h um jeden Preis verhindern.
Er blieb in dem Flur stehen, der ihn zur höchsten Plattform bringen würde, und sprach leise mit Yazra’h. »Deine Wächter sollen alle menschlichen Gäste in Gewahrsam nehmen. Wir können nicht zulassen, dass sie zur Hanse zurückkehren. Sie haben bereits zu viel gesehen.«
»Ja, Herr.« Yazra’h machte sich sofort daran, die Anweisung auszuführen.
Ich werde immer mehr wie mein intriganter Vater!, dachte Jora’h.
Er schickte die anderen Wächter fort, ging weiter und betrat die höchste Plattform des Prismapalastes. Niemand, nicht einmal die ganze Solare Marine, konnte ihn schützen, wenn die Hydroger beschlossen, das Feuer zu eröffnen. Ganz allein stand der Weise Imperator da, für die Hydroger klar zu sehen.
Seine erlesenen Umhänge bewegten sich im Wind, und deutlich fühlte er die schicksalhafte Bedeutung dieses Augenblicks.
Überall in der Stadt sahen Ildiraner voller Furcht zum Himmel auf. Nach der Hyrillka-Rebellion hatte der Weise Imperator die Fäden des Thism wieder miteinander verknüpft, und diese Verbindungen nutzte er nun, um das Volk zu beruhigen.
Jora’h beobachtete die gewaltige Flotte der Hydroger. Eine kleine Kugel kam wie ein Tautropfen aus der nächsten großen, und als sie sich ganz daraus gelöst hatte, spürte er Osira’h im Thism.
Als sich die kleine Kugel näherte und dicht vor ihm auf der Plattform verharrte, sah er seine junge Tochter in ihrem Innern.
Sie wirkte angespannt und erschöpft, schien aber nicht verletzt zu sein. Ihr Gesicht war viel zu ernst für ein Kind in ihrem Alter.
Jora’h atmete tief durch und versuchte, Ruhe zu bewahren.
Osira’h wirkte seltsam verändert, stärker und gleichzeitig gebrochen, als sie aus ihrer Kugel in den hellen Sonnenschein trat und frische Luft atmete. Doch sie blieb ernst und lächelte nicht.
»Die Hydroger haben sich zur Kommunikation mit dir bereit erklärt.« Die Worte klangen nicht wie ein Grund zum Feiern, sondern wie ein Todesurteil. »Vielleicht sind sie zu einem Bündnis bereit, aber sie werden Bedingungen stellen. Wenn du nicht damit einverstanden bist, Vater, droht uns allen der Tod.«
Jora’h hätte seine Tochter am liebsten umarmt, aber er blieb stehen und wandte sich den Hydrogern am Himmel zu. »Was verlangen Sie für den Verzicht auf weitere feindliche Handlungen gegen das Ildiranische Reich?«
Als Osira’h die Antwort übermittelte, mied sie den Blick ihres Vaters. »Sie erwarten von uns, dass wir ihnen dabei helfen, die Menschen auszulöschen.«
133
DOBRO-DESIGNIERTER UDRU’H
Der Designierte Udru’h brauchte sein Geheimnis nicht länger zu hüten und flog mit einigen Begleitern zum südlichen Kontinent von Dobro. Der Pilot des Transporters fand schnell die Insel, auf der Nira Khali monatelang ganz allein gelebt hatte.
Der Dobro-Designierte sprach kaum, war aber froh darüber, diese Reise nicht allein machen zu müssen, so wie die anderen zuvor. Daro’h leistete ihm Gesellschaft. Der junge Designierte-in-Bereitschaft war ein gelehriger Schüler gewesen und hatte die Kolonie gut verwaltet, während Udru’h mit seinem Bruder Rusa’h beschäftigt gewesen war. Außerdem befanden sich zwei Wächter an Bord des Transporters, ein Angehöriger des Linsen-Geschlechts, ein Repräsentant des Prismapalastes und ein Arzt, der der grünen Priesterin sofort medizinische Hilfe leisten konnte.
Udru’h hing seinen Gedanken nach und sah aus dem Fenster, als sie sich dem großen See näherten. Bisher hatte er alles allein machen müssen, ohne die Möglichkeit, jemanden an dem Geheimnis teilhaben zu lassen. Aber jetzt kannte der Weise Imperator die Wahrheit.
Neben ihm sah sich Daro’h neugierig um und fragte sich vermutlich, wie er seinem Onkel helfen konnte.
Wahrscheinlich vermutete der junge Mann, dass Udru’h etwas Unangenehmes, vielleicht sogar etwas Unverzeihliches getan hatte. Bisher wusste er nur in groben Zügen, was geschehen war, aber er würde bald den Rest erfahren, wenn sie die grüne Priesterin abgeholt hatten.
Udru’h war zu jeder Buße bereit, die ihm der Weise Imperator auferlegte, aber er bedauerte keine seiner Entscheidungen. Auch wenn er Nira jetzt zu Jora’h brachte: Sie würde ihm bestimmt nie verzeihen. Doch er brauchte auch keine Vergebung von ihr. Für alle seine Aktivitäten gab es gute Gründe.
»Wir nähern uns der Insel, Designierter«, sagte der Pilot.
Udru’h blickte übers weite Wasser zu der Insel mit ihrer dichten Vegetation. Dort hatte die grüne Priesterin alles, was sie brauchte: Sonnenschein, Wasser und die Gesellschaft von Pflanzen. Alles bis auf den Kontakt mit anderen Personen.
Jetzt ging ihr Exil zu Ende. Udru’h würde sie zurückbringen.
Wenn Osira’h ihre Mission erfolgreich beendet hatte… Dann waren all die Jahrhunderte der Experimente die Mühe wert gewesen. Nira würde das nicht verstehen, aber das war auch nicht nötig.
Der Transporter landete auf dem langen, gelbbraunen Strand.
Udru’h stieg aus, schnupperte und lauschte. Daro’h folgte seinem Onkel nach draußen, blickte zum hellen tropischen Himmel hoch und sah dann zur üppig wuchernden Vegetation.
Udru’h wartete, aber die Frau kam nicht. Nira musste den Transporter doch gehört haben. Es hatte keinen Sinn für sie, sich zu verstecken; die Insel war nicht sehr groß. Vielleicht fürchtete sie sich. Sie hatte sich nie über Udru’hs Besuche gefreut, sich bisher aber immer gezeigt.
»Schwärmt aus und durchsucht die Insel. Die grüne Priesterin kann nicht weit sein.«
Die anderen Ildiraner begannen mit der Suche im Unterholz und riefen Niras Namen. Udru’h ging dorthin, wo die grüne Priesterin eine primitive Hütte aus Ästen, Zweigen und Blättern gebaut hatte. Unbehagen erfasste ihn, als er feststellte, dass ein Teil eingestürzt war. Dieser Ort schien seit langer Zeit verlassen zu sein.
»Hat sie die Insel verlassen? Aber wie?«
Es dauerte weniger als eine Stunde, die ganze Insel abzusuchen, und anschließend suchten sie noch einmal. Ohne Ergebnis. Udru’h konnte es kaum fassen. Was sollte er dem Weisen Imperator sagen?
Nira war verschwunden.
134
RLINDA KETT
»Ich habe an schlimmeren Orten und in schlechterer Gesellschaft festgesessen«, sagte Rlinda zu BeBob und wies mit der Hand zur Höhlendecke unter der Eiskruste von Plumas.
»Trotzdem wäre es mir lieber, etwas zu tun zu haben.
Vielleicht sollten wir die Wasserminenarbeit erlernen.«
»Für Sabotage, meinen Sie?« Caleb Tamblyn sah argwöhnisch von einem Pumpgenerator auf, behauchte seine kalten Finger, bedachte Rlinda mit einem finsteren Blick und setzte dann die Arbeit fort. »Dies ist ein Krieg, kein Urlaub.
Finden Sie sich damit ab.«
»Es ist kein Krieg, den ich verstehen kann. Und ich glaube, Sie verstehen ihn ebenfalls nicht.« Rlinda hatte nie etwas gegen die Roamer gehabt, mit Ausnahme von Rand Sorengaard, der so dreist gewesen war, ihren Schiffen aufzulauern.
»Könnte ich bitte noch ein Paar Handschuhe bekommen?«
BeBob näherte sich und rieb die Hände. »Hier unten ist es immer kalt.«
»Natürlich ist es hier kalt; immerhin sind wir auf einem Eismond.« Caleb schnitt erneut eine finstere Miene und nahm seine Werkzeuge. Als er aufstand, knackten seine Knie. »Sie werden sich daran gewöhnen. Außerdem bin ich sicher, dass Sie hier unter besseren Bedingungen untergebracht sind als die Roamer in Tiwi-Gefangenschaft.«
»Mir sind Leute suspekt, die einem mit Hinweis auf Schlimmeres sagen, wie gut man es hat«, erwiderte Rlinda.
BeBob saß neben ihr auf
einem kastenförmigen
Ausrüstungsteil, stand aber wieder auf, als die Kälte des Metalls seine dünne Hose durchdrang.
Die Tamblyns leiteten ihre Wasserminen auf eine recht lässige Weise, und unter diesen Umständen zweifelte Rlinda kaum daran, dass BeBob und sie in der Lage gewesen wären, zu entkommen, vielleicht sogar mit der Neugier – wenn Denn Peroni und die Tamblyn-Brüder sie bei den »Reparaturen«
nicht zu sehr beschädigt hatten. Doch noch waren sie nicht verzweifelt genug. Außerdem: Die TVF suchte bestimmt noch nach ihnen. Aus diesem Grund würden sie zunächst auf Plumas bleiben und abwarten, wie sich die Dinge entwickelten.
Abends gab es für Rlinda und BeBob nichts anderes zu tun, als zu schmusen und etwas über die Spiele zu lernen, mit denen sich die Roamer die Zeit vertrieben. Tagsüber wanderten sie auf dem Eisschelf am Rand des tiefen Ozeans.
Es war klar, dass die Tamblyn-Brüder nicht wussten, was sie mit ihren Gefangenen anstellen sollten. Sie hatten es für eine gute Idee gehalten, die beschädigte
Neugier
zu
beschlagnahmen und Rlinda und BeBob gefangen zu nehmen, aber jetzt mussten sie sich mit den Konsequenzen herumschlagen.
Sie besorgten sich genug Kleidung, um es angenehm warm zu haben. Es war nicht schwer, für BeBob passende Sachen zu finden – er konnte sich von jedem beliebigen Roamer Overalls oder bestickte Hemden leihen. Bei der wesentlich beleibteren Rlinda sah die Sache anders aus. Sie musste sich mit Teilen ihrer privaten Garderobe begnügen, die ihr die Tamblyn-Brüder überlassen hatten.
Als Geschäftsfrau beobachtete sie interessiert die Aktivitäten auf Plumas. Vernunft und Effizienz bestimmten den Aufbau der Anlagen und die Distribution des Wassers. Offenbar betrieben die Roamer diese Wasserminen schon seit einigen Generationen, und das mit Erfolg, obwohl die Hanse nichts davon wusste.
Zusammen mit BeBob wanderte Rlinda um den
Produktionskomplex herum und blickte über das weite Meer unter der Eiskruste. Schließlich blieben sie vor einer Frau stehen, die wie aus einem massiven Eisblock geschlagen wirkte. Sie stand aufrecht, wie eine Statue. Ganz offensichtlich handelte es sich um eine Frau, die vor Jahren einem Unfall zum Opfer gefallen war – man hatte sie in eine Skulptur aus Eis verwandelt. Keiner der Roamer erklärte, wie die Frau an diesen Ort gekommen war und was sie mit ihr vorhatten.
Während Rlinda sie beobachtete, funkelte es im Eis – die Frau schien von innen heraus aufzutauen. Deutlich zeichnete sich Karla Tamblyns Gesicht im Eis ab, die Haut blass und wächsern. Zu Füßen der Statue hatte sich eine Lache aus Wasser gebildet.
»He!«, rief Rlinda. »Dies sollte sich jemand ansehen!«
Eine gespenstische Art von innerer Energie wirkte im gefrorenen Gewebe der Frau und löste das Eis um sie herum auf, eine dünne Schicht nach der anderen.
»Vielleicht möchte sie eine Thermodecke, wenn sie erwacht«, sagte BeBob. »Oder heißen Tee.«
»Ich wette, sie könnte etwas Stärkeres vertragen.«
Die Zwillinge Wynn und Torin näherten sich, blieben neben Rlinda und BeBob stehen. »Während des vergangenen Tags hat sie sich sehr verändert«, sagte Wynn so zu seinem Bruder, als sprächen sie über einen Frachtbehälter. »Wenn uns Jess doch nur gesagt hätte, was wir mit ihr machen sollen…«
»Etwas geschieht, so viel steht fest«, erwiderte Torin.
BeBob schlang die Arme um sich. »Wie kann sie auftauen, obwohl es hier unten so kalt ist?«
Rlinda blickte ins Gesicht der Toten, bemerkte sanfte Züge, hohe Wangenknochen und eine noble Stirn. Seltsamerweise waren die Augen offen und starrten durchs Eis.
Wynn sah die Neugier der beiden Gefangenen und seufzte.
»Ach, Karla und Bram waren ein tolles Paar. Mein Bruder konnte manchmal ziemlich schwierig sein, aber Karla kam immer mit ihm zurecht. So sehr Bram auch klagte, es machte ihr nichts aus. Sie achtete einfach nicht auf ihn, wenn er irrational war, oder sie sorgte dafür, dass er sich albern vorkam, weil er bei allen Leuten Fehler sah, nur nicht bei sich selbst.«
»Deshalb habe ich nie geheiratet«, sagte Torin, der dicht neben seinem Zwillingsbruder stand. »Als ich ein solches Beispiel sah, dachte ich mir, dass ich auf derartigen Ärger besser verzichte.«
Wynn bedachte ihn mit einem tadelnden Blick. »Dann hast du ihre Liebe übersehen. Mir sind ein paar Tiefen zusammen mit den Höhen lieber als ein Leben, das praktisch eine flache Linie ist, so wie deins.«
»Daran erinnere ich dich, wenn du das nächste Mal schimpfst…«
Das dünner gewordene Eis, in dem Karlas Körper steckte, knackte und splitterte. Die Zwillinge hörten mit ihren Neckereien auf und hielten die Luft an. Spinnwebartige Bruchlinien durchzogen das Eis und wurden breiter, wobei ein Geräusch wie von brechenden Knochen erklang. Torin rief.
Hinter ihnen öffnete sich die Verwaltungshütte, und Andrew, ein weiterer Tamblyn-Bruder, kam heraus.
»Sie taut auf!«, rief Wynn.
Karlas Arme waren ausgebreitet und sonderbar gekrümmt.
Einer von ihnen geriet jetzt in Bewegung, streckte sich. Das Eis knisterte, fiel brockenweise davon ab und landete in der größer werdenden Schmelzwasserlache. Die Tamblyn-Brüder staunten voller Aufregung und Furcht.
Rlinda ergriff BeBob am Arm und zog ihn zurück. »Äh…
geben wir der Dame ein wenig Bewegungsfreiheit.«
Der Rest des Eises brach und fiel wie Hagel auf den Boden.
Karla drehte den Kopf, und kleine Eissplitter lösten sich aus ihrem Haar und von der Kleidung. Ein seltsames Glühen ging von der Haut aus, und das feuchte Haar zuckte und wand sich medusenartig. Karlas Brust hob sich, und es klang wie die Kollision von Gletschern.
Andrew hielt sich nicht damit auf, eine Thermojacke überzustreifen. Er lief über den Eisschelf und schien kaum glauben zu können, was er sah.
Die glühende Karla hob den Fuß und machte einen Schritt.
Ihre Bewegungen waren schwerfällig und ruckartig, doch die phosphoreszierende Energie in ihr schwoll an, durchdrang Kleidung, Haut und Haar.
»Erkennst du uns, Karla?« Wynn trat versuchsweise vor. Er suchte nach etwas, hoffte auf ein Zeichen des Erkennens. »Jess hat dich hierher gebracht, ohne uns zu sagen, was wir tun sollen.«
»Sie hat bestimmt keine Bedienungsanleitung dabei!«, sagte Caleb scharf.
Die Frau drehte sich um, reagierte aber nicht auf die Anwesenden. Sie machte einen weiteren Schritt.
Andrew schloss zu ihnen auf. »Sie lebt! Karla, du bist zurückgekehrt.«
Wental-Kraft glühte in ihr, als sie weiterging. Bei jedem Schritt schimmerte Energie wie kalte Flammen aus dem Körper der Frau, und unter ihr knackte das Eis. Um sie herum stieg Dampf auf.
Rlinda sah BeBob an. »Das gefällt mir nicht. Mir scheint das ein sehr eisiger Empfang zu sein – ein Wortspiel ist nicht beabsichtigt.«
»Warum sagst du nichts, Karla? Erinnerst du dich nicht an uns?« Andrew trat auf sie zu und streckte die Hand nach ihr aus.
Als seine Finger die knisternde Haut der Eisfrau berührten, schrie Andrew auf, und eine plötzliche Entladung durchzuckte seinen Körper. Karla drehte den Kopf und schleuderte ihn wie beiläufig beiseite, als wäre er nicht mehr als ein leichtes Stück Abfall. Andrew blieb auf dem Eis liegen, zuckte noch einmal und rührte sich dann nicht mehr.
Rlinda sah sofort, dass der jüngere Mann tot war – die energetische Entladung hatte ihn umgebracht.
Die Frau blieb stehen und drehte erneut den Kopf. Ihre Augen waren schwarz und leer. Auch weiterhin stieg um sie herum Dampf auf, wie Nebelschwaden. Karla sah, was sie getan hatte, hob die Hand und betrachtete ihre Finger. Dann blickte sie erneut auf den toten Andrew hinab, und ihre Lippen formten ein zufriedenes Lächeln.
135
DD
Als der Vorgang beendet war und die inneren Systeme des Kompi keine Basisregeln und Verbote mehr enthielten, fühlte sich DD nicht grundsätzlich anders. Mit oder ohne programmierte Restriktionen: Er wollte niemandem schaden, erst recht nicht seinen menschlichen Herren, die ihn immer gut behandelt hatten.
Sirix würde das nie verstehen.
DD hatte jetzt einen freien Willen, und deshalb schränkten die Klikiss-Roboter seine Bewegungsfreiheit nicht mehr ein.
Unbeaufsichtigt ließen sie ihn in den dunklen, sturmumtosten Ruinen zurück. Sie kümmerten sich um andere Dinge: Tausende von wiedererwachten Klikiss-Maschinen und noch mehr Soldaten-Kompis schickten sich an, die TVF-Flotte zu übernehmen.
Tagelang kamen Roboter durch die Transportale nach Szeol und begaben sich von dieser Welt aus zu anderen Planeten. Sie gründeten zusätzliche Basen und richteten Brückenköpfe ein, von denen aus sie mit der Ausrottung der Menschheit beginnen wollten.
Die Roboter versammelten sich, und Sirix sprach wie ein General, der seinen Truppen Befehle erteilte. »Wir haben unsere Gefährten von bewohnten Welten zurückgezogen. Die letzte Phase steht unmittelbar bevor. Die Soldaten-Kompis in der Terranischen Verteidigungsflotte sind mit unserer Programmierung ausgestattet. Bald wird es zum Aufstand kommen, und zwar gleichzeitig überall in der Hanse.«
DD war nicht mehr Teil dieser Aktivitäten. Sirix hatte seine Pläne hinsichtlich des Kompi verwirklicht und schien daraufhin das Interesse an ihm verloren zu haben. Wenn sich die Klikiss-Roboter gegen die Terranische Verteidigungsflotte wandten und die Menschen niedermetzelten, wollten sie auch damit beginnen, die restlichen Kompis zu befreien.
DD konnte Szeol frei erforschen und wanderte durch die düstere Landschaft, während trüber Tage und violetter Nächte.
Monströse Geschöpfe flogen an ihm vorbei, mit scharfen Klauen, langen Tentakeln und zu vielen Augen. DD duckte sich, aber die Wesen schenkten ihm keine Beachtung mehr, nachdem sie herausgefunden hatten, dass er als Nahrung nichts taugte.
Umgeben von schwefligen Dämpfen betrachtete er das, was einst eine große Stadt der Klikiss gewesen war. Selbst wenn es gute Gründe für den damaligen Hass auf die Klikiss gab: Die Schöpfer der schwarzen Maschinen lebten nicht mehr. Und die Menschen konnten nicht mit den Klikiss verglichen werden.
Unbehindert und unbeachtet ging der kleine Kompi zum dritten trapezförmigen Steinfenster am Rand der Schlucht.
Klikiss-Symbole umgaben das Transportal, und jede Koordinatenplatte wies den Weg zu einer anderen Welt, die einst Teil der insektoiden Zivilisation gewesen war. Zwar stand dieses Portal direkt am Rand einer tiefen Schlucht, aber es ähnelte dem Steinfenster, das Margaret und Louis Colicos in der Klippenstadt auf Rheindic Co entdeckt hatten.
Während DD vor dem Transportal stand, das einst die Schöpfer der Klikiss-Roboter für ihre Reisen zu anderen Welten benutzt hatten, griff er auf die memorialen Daten zu, die seine letzten Augenblicke auf Rheindic Co betrafen, in der Gesellschaft von Margaret und Louis. Die Aufzeichnungen waren fehlerlos, und er verglich die beiden Systeme, bemerkte dabei geringfügige Unterschiede in der Anordnung der Koordinatenplatten.
In jenen letzten Momenten, als DD nicht in der Lage gewesen war, seine Herren vor den Klikiss-Robotern zu schützen, hatte Louis das Transportal aktiviert und Margaret hindurchgeschickt – irgendwohin. Bevor der alte Mann imstande gewesen war, ihr zu folgen, hatten die Roboter ihn umgebracht. DD wusste, dass Margaret irgendwo dort draußen war, vermutlich am Leben. Aber wo?
Der Kompi stand vor dem steinernen Portal, dachte nach und analysierte. Er ging alle seine Dateien über Zeicheninterpretation durch, griff noch einmal auf die Karte der Koordinatenplatten von Rheindic Co zu und fügte ihr Aufzeichnungen über ähnliche Steinfenster in anderen Klikiss-Ruinen hinzu. Er verwendete die interpretativen Methoden, die damals Louis benutzt hatte, um Bedeutung in den Symbolen zu erkennen. All diese Bemühungen galten einem Zweck: DD
wollte herausfinden, welche Koordinatenplatte Louis für den Transfer von Margaret gewählt hatte.
Zwar befand es sich hier an einer anderen Stelle, aber er fand das entsprechende Symbol an diesem Transportal auf Szeol.
Der Kompi zögerte nicht, denn er hatte bereits eine Entscheidung in Hinsicht auf sein weiteres Vorgehen getroffen. Vermutlich dauerte es nur noch wenige Tage, bis die Klikiss-Roboter mit ihrem Kampf gegen die Menschheit begannen. Er durfte keine Zeit vergeuden.
Sirix hatte ihm einen freien Willen gegeben, und jetzt konnte er ihn auf die Probe stellen. Der Kompi handelte auf der Grundlage seiner eigenen Wünsche und der Dinge, die er für richtig hielt. Die Klikiss-Roboter hätten es nie für möglich gehalten, dass er sie verlassen wollte – immerhin hatten sie ihm die Freiheit geschenkt.
DD wollte vor allem dorthin zurück, wo er sich sicher fühlte.
Deshalb nutzte er seinen freien Willen und beschloss zu fliehen. Er wählte das richtige Symbol.
Als das Transportal erschimmerte und der Stein durchlässig wurde, trat DD vor und ließ sich zu einem anderen Planeten tragen.
Die Welt auf der anderen Seite des Transportals war besonders fremdartig und konfrontierte den Kompi mit seltsamen Anblicken. Die Landschaft wirkte wie von Explosionen zerrissen und zerwühlt, aber Gebäude wuchsen daraus empor, in Winkeln, die in der menschlichen Architektur fehlten.
Klumpige Türme ragten auf, wie unter großen Mühen aus biomechanischem Brei gepresst und dann in einem Sturm gehärtet, was zu phantastischen Formen geführt hatte.
Die Luft war sehr dicht, dunstig und feucht. DD vermutete, dass es menschlichen Lungen schwer gefallen wäre, sie zu atmen. Er entdeckte auch große Konzentrationen an aromatischen Molekülen, organische Ester so komplex und unterschiedlich, dass sie wie eine Symphonie – Sprache? – aus Pheromonen, Gerüchen und Düften erschienen.
Eine Kakophonie aus präzisen musikalischen Lauten, Melodien und Geräuschen summte durch die Luft. Die fremde Welt erschien DD wie ein Tollhaus aus Musik, Geläut, Pfiffen und Gezwitscher.
Er entfernte sich vom Transportal, forschte und hielt nach jemandem Ausschau, der ihm helfen konnte.
Die Farbe des Himmels war falsch, und die Dunstschwaden gingen auf kein erkennbares Wettermuster zurück. DD fragte sich, wie ein Mensch in einer solchen Umwelt zurechtkommen sollte. »Hallo?«, rief er mit seiner künstlichen Stimme.
»Hallo?« Er sendete Signale auf verschiedenen Frequenzen des elektromagnetischen Spektrums, obgleich er keinen Kontakt mit eventuellen Klikiss-Robotern auf diesem Planeten wünschte.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit war Margaret Colicos den Klikiss-Robotern durch einen Transfer hierher entkommen.
Und wenn sie einen noch schlimmeren Ort erreicht hatte?
DD ging weiter, vorsichtig und neugierig, erforschte die neue Welt und speicherte Daten. Wenn es hier Bewohner gab, hatte man seine Ankunft durch das Transportal vielleicht beobachtet.
Der Freundlich-Kompi setzte den Weg fort und sah sich mit seinen optischen Sensoren um.
Nach einigen Stunden in der Fremde fand er Hilfe, und kurz darauf kam es zu der erhofften Begegnung mit Margaret Colicos.
Nach vielen Jahren sahen sie sich wieder, und Margaret richtete einen gehetzten Blick auf ihn. Sie hatte überlebt und sich dramatisch verändert – aber sie erkannte ihn. Freude huschte durch Margarets leeres Gesicht.
Sie trat auf ihn zu. »DD!«, sagte sie. »Du ahnst nicht, was ich alles gesehen habe!«
136
CELLI
Die Hydroger waren erneut geschlagen, und der klare Himmel von Theroc wirkte weit und offen. Celli glaubte, für immer nach oben zu fallen und nie die Wolken zu erreichen, wenn sie die Arme ausstreckte. Sie wollte mit Solimar feiern.
Nach dem Sieg über die Fremden grinste Kotto Okiah und nahm verlegen Dank und Applaus des theronischen Volkes entgegen. Zusammen mit den anderen Roamern und den beiden technischen Kompis stand er bei den Schiffen, die auf der Lichtung gelandet waren. Kotto konnte es gar nicht abwarten, nach Osquivel zurückzukehren und dort die Untersuchung des kleinen Hydroger-Schiffs fortzusetzen.
Mit der »Türklingel« stand den Menschen nun eine wirkungsvolle Waffe gegen die bis dahin unzerstörbaren Kugelschiffe zur Verfügung. Trotz der weit verstreuten Clans würden die Roamer die Nachricht schnell weitergeben. Kotto und seine Gefährten verloren keine Zeit, starteten und verließen Theroc.
Die frische Luft roch nach feuchtem Boden und dem Regen des aufgelösten Wental-Kometen. Das von Energie erfüllte Wasser drang in den Waldboden ein und bewirkte schnelles neues Wachstum. Celli und Solimar leisteten ihren Teil, suchten jeden Tag besonders stark geschädigte Stellen des Waldes auf und tanzten dort bis zur Erschöpfung. Auf diese Weise halfen sie bei der Genesung des Weltwalds. Theroc schien noch lebendiger zu werden als vorher.
Draußen im Wald lief Celli zum Golem ihres Bruders. »Sieh nur das üppige Grün, Beneto. Seit langer Zeit habe ich nicht mehr so viel Hoffnung gespürt.«
Er lächelte und nahm seine Schwester am Arm. »Das ist nur ein kleiner Teil, Celli. Die Rückkehr der Wentals ist ein Grund zu großer Freude, und die Roamer haben sich als wertvolle Verbündete erwiesen.« Seine Stimme klang wie die Melodie einer Flöte. »Doch das Beste kommt noch, und zwar heute. Ich fühle, dass sie nah sind.«
Celli begleitete ihn, neugierig auf die Überraschung. Wenn Beneto die Stimme hob, konnte er so laut sein wie eine Trompete. Auf der Lichtung rief er die grünen Priester und auch Vater Idriss und Mutter Alexa zu sich. Er schickte ein Signal durch den Telkontakt, sodass alle an dem Ereignis teilhaben konnten.
Solimar flog mit seinem Gleiter über der Lichtung und winkte Celli zu. Innerhalb einer Stunde versammelten sich alle Theronen voller Aufregung und Neugier. Idriss und Alexa trugen bunte Kleidung und schienen mit einer Feier zu rechnen. Beneto gab niemandem einen Hinweis darauf, was bevorstand.
Unruhe erfasste die überlebenden Weltbäume. Die riesigen Stämme knarrten, als hätten sich die Bäume am liebsten aus dem Boden gelöst. Die Blattwedel strichen übereinander, raschelten und flüsterten, obwohl kein Wind wehte.
Wie der Rattenfänger von Hameln führte Beneto die Theronen zu einem Ring aus verkohlten Baumstümpfen. Als er durch den Wald ging, wichen die Zweige vor ihm beiseite.
Celli fühlte den feuchten Boden unter ihren bloßen Füßen pulsieren und fragte sich, welche Wirkung die elementaren Wasserwesen auf die lebenden Weltbäume haben würden.
Kam es zu einer Vereinigung von Verdani und Wentals, mit doppelter Kraft? Solimar, Yarrod und die anderen grünen Priester fühlten die wachsende Aufregung, verstanden aber noch nicht ihren Grund.
Beneto hob die hölzernen Hände und blieb in der Mitte des Rings stehen. Ein leises Summen kam aus seinem Mund, und die Bäume stimmten mit ein. Ein Donnern wurde daraus, ein lauter, weithin hallender Ruf des Weltwalds. Beneto atmete tief durch, und daraufhin schwiegen die Bäume wieder.
Oben am Himmel erschienen hunderte – tausende – von riesigen Raumschiffen. Jedes von ihnen sah aus wie ein phantastischer Baum von der Größe eines kleinen Asteroiden und war erfüllt mit einer Kraft, neben der die Energie des intelligenten Weltwalds wie ein Funke wirkte. Die Baumschiffe waren bereits unterwegs, seit die Hydroger den ersten Weltbaumhain auf Corvus Landing zerstört hatten. Über enorme Distanzen hinweg waren sie geflogen, dorthin, wo ihre Hilfe dringend gebraucht wurde, zurück zum Herz des Weltwalds.
Die unglaublich gewaltigen Gebilde bestanden aus einem zentralen Kern, von dem Äste und Zweige ausgingen und etwas formten, das wie eine Distel aussah – kolossale organische Strukturen aus Stängeln, Bögen und großen, unnatürlichen Dornen. Die knospenden Samen hatten lange Blattwedel und Dorne, waren mit undurchdringlichem Holz gepanzert und versiegelt von einer Kraft, die sie während der langen Reise durch die Leere schützte.
Celli starrte mit offenem Mund. Die grünen Priester und Theronen riefen und deuteten aufgeregt nach oben.
»Jetzt sind wir stark genug, die Hydroger endgültig zu besiegen. Wir können uns auf den entscheidenden Kampf vorbereiten.« Beneto sah zu den riesigen organischen Schiffen auf, und in seinem Gesicht zeigte sich neue Zuversicht.
»Endlich sind die Schlachtschiffe der Verdani eingetroffen.«