16. KAPITEL
Es wäre nicht ganz richtig zu behaupten, dass niemand Julia in ihrem neuen Staat erkannte, doch die Leute starrten sie offen an, und wenigstens ein junges Paar blieb mitten auf der Tanzfläche stehen und sperrte den Mund auf. Überall hörte man aufgeregtes Flüstern.
„Anscheinend sind wir das Gesprächsthema des heutigen Abends.“ Alec warf einen raschen Blick über die Schulter. „War ja nicht anders zu erwarten.“
Julia schaute sich ebenfalls um, zu Muck, der ihnen ehrfürchtig folgte. Das Kind hatte ein Wieselgesicht, zwei große Hasenzähne und eine dünne Nase, die wie bei einer Ratte zitterte, und dazu noch ein paar prächtige Segelohren.
Herrlich angetan mit einer blauen Samtlivree, benahm er sich mustergültig und hatte bisher nichts Schlimmeres angestellt, als in der Kutsche dauernd zu fragen, wann sie endlich ankämen.
Alec beugte sich vor. „Aufgeregt?“ Sein Atem streifte ihr Haar, und es lief ihr kalt den Rücken hinunter.
Sie nickte, wich jedoch seinem Blick aus. Allmählich wurde sie schwach. Um seinet- wie auch um ihrer selbst willen sollte sie ein wenig Abstand zu ihm wahren. Irgendwie musste sie Alec vor Augen führen, dass er so nicht weitermachen konnte, dass er seine Gaben an leere Freuden verschwendete. Wenn sie nur einen Weg fände, ohne ebendiesen Freuden selbst zu erliegen.
Nervös zupfte sie an ihrem weichen Kaschmirtuch. „Heute war es ziemlich hektisch, findest du nicht auch?“
„Allerdings.“
Etwas in seinem Ton erregte ihre Aufmerksamkeit, worauf sie ihm einen raschen Blick zuwarf, was sie aber sofort bedauerte. Mit seiner formellen Abendgarderobe und der dunklen Haarlocke, die ihm in die Stirn fiel und die silbergrauen Augen überschattete, sah er einfach umwerfend aus. Und er brauchte sie nur zu berühren, und sie schmolz dahin wie ein Stück Butter auf frischem Toast. Alec guckte sich im Saal um. „Verdammt. Nick ist auch da.“ Julia folgte seinem Blick. Nick stand neben Therese, und beide wirkten sie, als wären sie den Seiten der Modezeitschrift „La Belle Assemblée“ entsprungen. Nick bemerkte ihren Blick und verbeugte sich elegant. Er murmelte Therese etwas zu, worauf diese sich lachend hinter ihrem Fächer verbarg.
„Eines Tages“, stieß Alec zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „eines Tages werden wir abrechnen, ein für alle Mal.“ „Warum bist du so gegen ihn eingenommen?“
Alec zog die Brauen hoch und erwiderte kühl: „Mrs. Winston hat dir doch bestimmt schon von Nick berichtet. Ihr scheint es ja einen Riesenspaß zu machen, unsere Familiengeheimnisse auszuplaudern. “
Vermutlich war es wirklich lästig, wenn die Dienstboten jede Ungeschicklichkeit und Narretei weitererzählten. „Bis zu Nick ist Mrs. Winston noch nicht vorgedrungen. Sie teilt mir nämlich alles streng chronologisch mit. Bei unserem letzten Geplauder warst du gerade zwölf geworden und hast deinen Großvater in Rage gebracht, weil du das Milchmädchen geküsst hast.“
„Herr im Himmel“, murmelte er erschrocken. „So arg?“
„Ärger, als du glaubst. Sie berichtet alles bis ins kleinste Detail.“ Julia seufzte. „Ich würde sie ja gern ein bisschen antreiben, damit sie endlich von den interessanten Zeiten erzählt, aber ich befürchte, dass sie dann vergisst, wo sie gerade war, und von vom anfängt.“
Er lachte, und auch ihre Mundwinkel umspielte ein Lächeln. Erleichtert stellte sie fest, dass sie die Spannung des Nachmittags anscheinend hinter sich gelassen hatten. „Ich wollte dich nicht brüskieren, ich wollte nur wissen, warum du so gegen deinen Vetter eingenommen bist, wo er doch entschlossen scheint, dich ihm gewogen zu machen.“
Alec runzelte die Stirn. „Er will etwas.“ Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: „Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, aber es gab einmal eine Zeit, als er für mich wie ein Bruder war.“
Julia sah von einem zum anderen. Während Nick golden glänzte wie eine frisch geprägte Münze, war Alec eher der dunkle Typ. Beide wiesen fein gemeißelte, attraktive Gesichtszüge auf. „Wenn man mal von den Haarfarben absieht, ähnelt ihr beide euch enorm.“ „Die meisten Leute halten uns für völlig gegensätzlich.“ Sein Ton war lässig, und doch schwang Bitterkeit darin mit.
„Was ist passiert, was hat euch auseinander gebracht?“
„Nichts, was dich in irgendeiner Weise berührt.“
Julia zog die Augenbrauen hoch, überrascht ob der Schärfe seines Tons. „Du kannst es mir genauso gut gleich erzählen. Mrs. Winston kommt früher oder später doch darauf zu sprechen.“ „Warum möchtest du denn so viel über Nick erfahren?“
„Weil du mich dauernd vor ihm warnst. Es wäre ganz hilfreich, wenn ich wüsste, warum.“
„Einen anderen Grund hast du nicht?“
„Welchen Grund könnte ich denn sonst haben?“ fragte sie überrascht.
„Vermutlich keinen. Und du hast Recht, Mrs. Winston wird dir irgendwann von Nick berichten.“ Er führte Julia an einer korpulenten Matrone vorbei, die sich ihnen in den Weg gestellt hatte. „Als ich zehn war, zog mein Vetter zu uns. Großvater hatte herausgefunden, dass seine Mutter ihn bei fast fremden Leuten zurückgelassen hatte, während sie mit ihrem Liebhaber durch Europa zog.“ „Was für eine furchtbare Frau! “
„Das ist nicht genau das, was mein Großvater sagte, aber es kommt dem nahe. Nick war eben dreizehn geworden und war außer sich vor Zorn, dass man ihn irgendwo auf dem Land versauern lassen wollte. Das hat er selbst so formuliert.“
„Nun ja, er war zornig, dass man ihn zurückgelassen hatte, das ist eine völlig normale Reaktion.“
„Vielleicht. Ich jedenfalls freute mich, einen Kameraden zu bekommen, auch wenn dieser ziemlich mürrisch war. Ich folgte ihm wie ein junger Hund. Er hatte schon so viel erlebt, hatte schon so vieles gesehen, während ich über London nie hinausgekommen war.“
„Mir ging es mit Therese ähnlich, als ich sie kennen lernte. Ich merkte aber ziemlich bald, dass ich mich geirrt hatte.“
„Du, mein Liebes, warst da schon ein wenig älter und erfahrener. Ich war ein Kind und hielt meinen aufregenden Vetter für unfehlbar.“ Er stockte. „Ein paar Monate schien es so, als würde alles gut gehen. Ich glaube, es hat ihm sogar bei uns gefallen. Bridgeton House hat einen ganz eigenen Charme. Aber dann verschwand eine größere Summe Geldes aus Großvaters Bibliothek.“
„Wie denn?“
„Sie wurde gestohlen. Anscheinend hatte ich mich in meinem Vetter getäuscht. Nick war auch nur ein Mensch mit Schwächen.“ „Woher willst du wissen, dass er der Täter war?“
„Großvater hat ihn mit den Beweisen konfrontiert. Nick hat nicht einmal versucht, es abzustreiten.“ Alec blieb neben einem Tisch stehen und goss etwas Limonade in ein Glas. „Natürlich hätte er auch nicht viel sagen können. Er hatte es getan, und wir alle wussten es.“
Abwesend nahm Julia das Glas entgegen. „Hmm.“
Alec zog eine Braue hoch. „Was soll das heißen?“
„Nur dass es mir etwas unwahrscheinlich vorkommt, dass dein Vetter es einfach zugegeben hat. Dazu ist er doch viel zu klug.“ Alecs Miene verfinsterte sich. „Du scheinst Nick ja sehr gut zu kennen.“
„Die letzten vier Jahre bin ich ihm oft genug begegnet, auch wenn wir kaum miteinander geredet haben.“ Sie blickte sich nach Muck um, der eben voll Ehrfurcht den großen Kronleuchter betrachtete, der von der Decke hing. Sie lächelte und wandte sich wieder Alec zu. „Was geschah, nachdem dein Vetter den Diebstahl zugegeben hatte?“
„Großvater war vollkommen verstört. Nachdem er Nick bei sich aufgenommen hatte, fühlte er sich jetzt grausam verraten. Zum Glück war Nicks Mutter gerade aus Europa zurückgekehrt. Großvater befahl ihr, mit ihrem Sohn zu verschwinden. Sie hatten einen Riesenstreit, weil sie sich nicht mit ihrem Sohn belasten wollte. Aber Großvater war unerbittlich, und so nahm sie Nick am nächsten Tag mit nach Frankreich.“
Julia entschied, dass sie Mrs. Winston nun doch ein wenig drängen wollte - diese Geschichte musste sie in allen Einzelheiten erfahren. „Als ich Nick kennen lernte, war er gerade vom Kontinent zurückgekehrt. “
„Wir können uns an seiner Anwesenheit erfreuen, weil die Familie seiner Mutter vor Napoleons Truppen fliehen musste.“
Julia nippte an ihrer Limonade. „Sie haben also zur französischen Aristokratie gehört?“
„Ja.“ Alec nahm ihr das Glas ab und stellte es auf den Tisch. „Möchtest du ein Glas Wein?“
Obwohl Julia das Thema gern weiterverfolgt hätte, erkannte sie, dass Alecs Mitteilsamkeit erlahmte. „Nein, danke. Wie lief es mit den Testamentsvollstreckern?“
„Sie haben sich erstaunlich schnell damit arrangiert, dass ich statt Therese dich geheiratet habe.“
„Ich habe schon befürchtet, sie könnten Einwände erheben.“
Das hatte Alec auch befürchtet und damit gerechnet, seine Heirat rechtfertigen zu müssen. Doch die Testamentsvollstrecker hatten die Papiere, die Julias Anspruch bewiesen, nur kurz durchgeblättert, bevor sie sich daran machten, all seine Charakterfehler einer höchst demütigenden Prüfung zu unterziehen.
Einer der Herren, ein wichtigtuerischer Esel, der ihn dauernd provozierte, hatte sogar anzudeuten gewagt, sobald Julia „guter Hoffnung“ sei, könne die Erbschaftsangelegenheit sofort geregelt werden. Alec war sich vorgekommen, als hätte man ihm die Schlinge um den Hals gelegt und diese Zoll für Zoll zugezogen.
Wie die Testamentsvollstrecker ihm genüsslich erläuterten, stand Julia unter seinem Schutz. Wenn ihr irgendetwas zustoßen sollte, sei er direkt dafür verantwortlich. Er dachte an den morgendlichen Zwischenfall in der Eingangshalle und verzog das Gesicht. Bevor er Julia vor Nick schützen konnte, musste er erst einen Weg finden, sie vor der Begierde ihres eigenen Mannes in Sicherheit zu bringen. Aber schon ihr Duft nach Zimt und Zitronen genügte, um seine Männlichkeit anschwellen zu lassen.
Er schaute auf seine Frau hinunter, und die Kehle wurde ihm eng. Obwohl sie nie so herausragend schön wie Therese sein würde, war Julia eine durchaus attraktive Frau. Außerdem besaß sie eine sinnliche Eleganz und einen scharfen Witz, mit dem sie ihm selbst unter widrigsten Umständen ein Lachen entlocken konnte, und damit überstrahlte sie ihre weniger faszinierende Cousine mit Leichtigkeit.
Julia fing seinen Blick auf und errötete. Sie trug ein Gewand aus weißer Gaze über einem mintgrünen Unterkleid; das Haar hatte sie zu Korkenzieherlocken gedreht und locker aufgesteckt, und von ihrem Handgelenk baumelte ein hübscher Fächer. Sie bot einen Anblick vollkommener Unschuld - nun, sie war ja auch vollkommen unschuldig.
Sie zog die zarten Brauen zusammen. „Vielleicht sollte ich mich einmal an die Testamentsvollstrecker wenden. Wenn ich ... “
„Nein“, unterbrach er sie. Ihn schauderte, wenn er sich vorstellte, was diese gesetzten und zurückhaltenden Gentlemen von Julias direkter Art halten würden. „Das ist nicht nötig.“
„Nun“, meinte sie zweifelnd, „wenn du es wirklich nicht für nötig hältst... Mir ist nur nicht recht, dass du ihnen allein gegenübertreten musst.“
So sehr er auch grübelte, ihm wollte keine andere junge Frau einfallen, die ihn in eine derartige Höhle der Löwen begleitet hätte. „Julia, du bist...“
„Hunterston! “ drang Lady Birlingtons laute Stimme an sein Ohr. „Kommen Sie her. Ich möchte Ihre Gattin begrüßen.“ Die Dame war in ein scheußlich grünes Gewand und ein knallgelbes Tuch gehüllt und winkte ihnen herrisch zu.
Einen Seufzer unterdrückend, brachte er sie zu Lady Birlington. Hinter ihrem Sessel stand der leidgeprüfte Edmund und blickte sehnsüchtig zum Spielzimmer.
Lady Birlington deutete mit dem Stock auf Muck. „Das also ist der Junge von der Bücherei, was?“
„Donner und Doria, Tante Maddie! “ rief Edmund aus, „wer sollte es denn sonst sein? Es wird doch wohl kaum zwei Gassenjungen mit demselben Gesicht geben, oder? Es sei denn, sie wären Zwillinge, aber selbst dann würde ich darauf wetten, dass sie sich nicht völlig gleichen. Obwohl ich auf einem Jahrmarkt mal Zwillinge gesehen hab, die ..."
„Teufel noch mal, Edmund! Hör auf zu faseln.“ Lady Birlington legte die Hände auf ihren Stock und beugte sich vor, bis sie mit der Nase fast an Mucks Gesicht stieß. Der Gassenjunge schob das Kinn vor, und seine Miene verfinsterte sich. Offensichtlich befriedigt, richtete Lady Birlington sich wieder auf. „Was für ein Glück, dass er keine dunklen Haare hat, Hunterston. Soll schließlich keiner denken, er wäre einer Ihrer Bälger.“
„Tante Maddie!“ Edmund guckte verzweifelt Julia an. „Tut mir Leid. Sie denkt manchmal nicht, bevor sie redet.“
Julia musterte erst Muck, dann Alec. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand zu so einem Schluss gelangen könnte. Es besteht ja kaum Ähnlichkeit.“
Alec betrachtete das hässliche Kind. Pflichtbewusst erwiderte Muck den Blick. „Was meinst du mit ,kaum‘?“
Julia legte den Kopf schief. „Die Nase ist dieselbe.“
Wenn er nicht gesehen hätte, dass ihr Mund vor unterdrücktem Gelächter zitterte, wäre er vielleicht darauf hereingefallen. „Wenn seine Nase ausschaut wie meine, dann hat er dein Haar.“ Er lachte und zog an einer Locke, wobei er ihre Wange streifte. Ein Prickeln lief ihm über den Arm.
Julia trat so schnell zurück, dass sie gegen einen Sessel stieß.
„Entschuldigung“, murmelte sie.
Alec ließ die Hand sinken und ballte sie verärgert zur Faust. War er ihr denn wirklich so zuwider? Waren ihre Küsse nur auf ungezügelte Leidenschaft zurückzuführen und auf sonst nichts?
Er musterte seine Frau von der Seite, ihre zart gewölbte Stirn, die dichten, langen Wimpern, den geschwungenen Mund. Sie hätte einen ritterlichen Verehrer verdient, einen, der Gedichte auf ihre Schönheit schrieb, ihr Wesen zu schätzen wusste und sich ihrer Wohltätigkeitsarbeit widmete. Keinen Mann, der so selbstsüchtig war, dass er nicht neben ihr stehen konnte, ohne sich zu fragen, wie sich ihre glatten Oberschenkel unter seinen Lippen wohl anfühlen würden.
Angeekelt von seiner eigenen Laszivität, drehte er sich um. „Sie sehen heute Abend einfach wunderbar aus, Lady Birlington.“
Die Dame tätschelte sich das rote Haar, in dem eine recht willkürliche Ansammlung von Saphiren und Smaragden steckte. „Danke, Hunterston. Nett, dass es Ihnen aufgefallen ist.“ Sie wandte sich an Edmund. „Wolltest du Julia nicht etwas fragen?“ „Was? Ach so, ja. Darf ich Sie zum Tanz auffordern, Julia? Hab schon voll Vorfreude auf diese Gelegenheit gewartet.“
Julia seufzte bedauernd. „Lieber nicht. Ich habe nämlich zwei linke Füße.“
„Unsinn“, erklärte Lady Birlington barsch. „Allein in der letzten Woche war dieser französische Tanzmeister viermal bei Ihnen. Inzwischen sollten Sie zumindest tanzen können wie Prinzessin Charlotte.“
„Es hat nichts genutzt. Monsieur Armonde sagte, ich wäre so anmutig wie eine Kuh in Abendschuhen.“
„Nein!“ rief Lady Birlington aus. „Wie unverschämt!“ „Vielleicht war Monsieur Armonde nicht klar, dass Julia hervorragend Französisch spricht“, meinte Alec kurz angebunden. Ihm fehlten die Crêpes seines Kochs.
Julia runzelte die Stirn. „Sehr nützlich, wenn man Französisch kann. Man erfährt alles Mögliche.“
Eine rundliche Blondine tanzte vorbei und winkte Edmund über die Schulter ihres Partners hinweg zu.
Edmund packte Julia bei der Hand und drängte: „Die Quadrille. Mein Lieblingstanz. Kommen Sie, Julia.“
Sie verzog das Gesicht. „Na gut. Es würde vermutlich seltsam wirken, wenn ich nicht wenigstens einmal tanzen würde.“
Alec fiel auf, dass sie gar nicht erst in seine Richtung schaute. Das störte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte.
Julia legte ihr Retikül auf einen Stuhl und wies Muck an: „Bewachst du das bitte für mich?“
Er verzog das Gesicht.
Sie tätschelte ihm die Hand. „Ich bin nur kurz weg. Seine Lordschaft ist ja da, wenn du etwas brauchst.“
Der Junge warf Alec einen misstrauischen Blick zu, bevor er sich neben dem Stuhl aufbaute und Habachtstellung annahm. „Ich halt die Augen offen für Sie, Missus, falls irgendwelche Kerle kommen.“
Alec versuchte, sich nicht darüber zu ärgern, dass seine Frau einfach mit Edmund davonspazierte. Nach ein paar Anläufen absolvierten sie die Quadrille mit mehr Begeisterung als Können. Er lehnte sich an eine Säule und beobachtete Julia. Wer hätte gedacht, dass unter dem langweiligen Äußeren des ,Drachen“ ein so zauberhaftes Wesen steckte? Er versuchte sich daran zu erinnern, wie sie vor ihrer erstaunlichen Verwandlung ausgesehen hatte, aber er wusste es nicht mehr. Sie war einfach Julia - elegant, attraktiv und aufreizend.
Es war komisch, Edmund bei den Verrenkungen zuzuschauen, die er anstellte, um in die Nähe der rundlichen Lady Chowerton zu gelangen. Als es ihm schließlich gelungen war, gab er ihr über Julias Schulter hinweg eindeutig Zeichen. Julia drehte sich um und runzelte die Stirn.
Nach ein paar weiteren Runden hatte sich ihr Stirnrunzeln in eine böse Grimasse verwandelt. Als die Musik dann verklang, waren Edmund und Julia in einen lebhaften Streit verwickelt. Als sie näher kamen, hörte Alec, wie Julia sagte: „Trottel.“
In kaltem Zorn verneigte sich Edmund vor ihr. „Ich lasse mich nicht dazu herab, darauf zu antworten.“ Danach ruinierte er die ganze Wirkung dieser würdevollen Worte, indem er schmollend die Lippen vorschob.
„Wer ist ein Trottel?“ erkundigte sich Lady Birlington mit neugierig blitzenden Augen.
„Niemand.“ Edmund starrte Julia herausfordernd an.
Sie streckte das Kinn vor. „Edmund.“
„Ach, Kind“, meinte Lady Birlington enttäuscht, „das weiß doch jeder.“
Julia wandte sich an Alec. „Edmund hat auf schamloseste Weise mit einer verheirateten Frau geflirtet.“
Lady Birlington schnalzte mit der Zunge. „Es würde dir nur Recht geschehen, wenn dich Lord Chowerton zum Duell fordert, Edmund. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich nicht zögern, dir mitten ins Herz zu schießen.“
Edmund riss den Mund auf, doch bevor er noch etwas sagen konnte, stieß Julia ihm den Fächer zwischen die Rippen. „Sie sollten sich ein nettes, ungebundenes Mädchen suchen. Es gibt davon jede Menge - auch welche ohne Tanzpartner.“ Sie guckte sich im Raum um, als wollte sie irgendein unglückliches Mädchen aus dem Stuhl reißen und in Edmunds ausgebreitete Arme schieben.
Edmund wandte sich mit wildem Blick an Alec. „Sag Julia, dass es verteufelt unschicklich ist, über solche Sachen zu sprechen.“ „Zu meiner Zeit war es das nicht“, erklärte Lady Birlington. „Wir haben über viel schlimmere Sachen geredet. Stunden haben wir damit verbracht, darüber zu spekulieren, wer mit wem etwas hat, und haben uns dabei prächtig amüsiert.“
Julia nickte. „Mein Vater meinte, dass eine nicht ausgesprochene Wahrheit genauso viel Schaden anrichten kann wie die übelste Lüge.“ Zornig starrte sie Edmund an. „Man sollte immer die Wahrheit sagen, was es einen auch kosten mag.“
Edmund ließ sich in einen Sessel fallen und zerrte an seinem Halstuch. „Könnten, wir jetzt bitte von etwas anderem sprechen?“ Alec erbarmte sich seiner. „Lady Birlington, ich wollte mich bei Ihnen bedanken, dass Sie sich Julias angenommen haben.“
Die alte Dame musterte seine Frau eingehend und erwiderte widerstrebend: „Ja, ja, es geht schon, aber mit dem Bronzefarbenen hätte sie mehr Aufsehen erregt.“
Julia fing Alecs fragenden Blick auf und errötete. „Es ist sehr unschicklich und bis hierher ausgeschnitten.“ Sie deutete mit ihrem Fächer auf ihren Ausschnitt.
Alec starrte auf die Stelle direkt an ihrem Busenansatz, der jetzt von einem keuschen Spitzeneinsatz verdeckt war. Er räusperte sich. „Lady Birlington kann doch nicht gewollt haben, dass du etwas so Offenherziges trägst.“
Lady Birlington schnaubte. „Doch, natürlich. Ich hab ihr auch vorgeschlagen, dass sie sich die Unterröcke anfeuchtet, aber auch davon wollte sie nichts wissen. Schade. Ich hätte lieber eine verwegene als eine gesetzte Dame in die Gesellschaft eingeführt, aber man kann eben nicht alles im Leben haben.“ „Sie haben ihr was vorgeschlagen?“ Vielleicht war mit seinem Gehör etwas nicht in Ordnung.
„Sie sollten sich mehr mit Mode befassen, Hunterston. Alle feuchten die Unterröcke an. Ich würd’s ja auch machen, wenn ich nicht Angst hätte, mir dabei den Tod zu holen. Ich mag zwar wie eine alte Hexe aussehen, aber ich habe noch immer eine Figur wie ein junges Mädchen. Zumindest hat man mir das gesagt.“ Etwas, was verdächtig an ein geziertes Lächeln erinnerte, huschte über ihr Gesicht.
„Wer hat etwas derartig Ungehöriges dir gegenüber geäußert?“ verlangte Edmund zu wissen.
„Sei still. Wir sprachen von Julia, nicht von mir.“
Die Unterhaltung zwischen Edmund und seiner Tante artete bald in einen Streit aus, und Alec wandte sich an Julia.
„Lass uns tanzen.“
„Aber das ist ein Walzer.“
„Umso besser.“ Er fasste sie um die Taille und zog sie auf die Tanzfläche.
Gleich darauf begriff er Monsieur Armondes Verzweiflung. Julia besaß keinerlei Sinn für Rhythmus, dafür eine enervierende Neigung, die Führung zu übernehmen. Indem er sie eisern festhielt, zwang er sie zu etwas, was einem Walzer entfernt ähnelte.
Allerdings gab es für ihr Unvermögen auch Entschädigungen. Zum einen musste er sie sehr viel enger umschlungen halten als die empfohlenen zwölf Zoll. Bei jeder Drehung streiften ihre Brüste seine Rockaufschläge, worauf sie bezaubernd errötete. Er stellte sich vor, wie sich ihre Brustspitzen versteiften, wie ...
Zum Teufel mit dem Testament, zum Teufel mit den Testamentsvollstreckern, zum Teufel mit der ganzen Tortur. Lieber Himmel, er würde noch in der Irrenanstalt enden.
Nach schier endlosem Schweigen raffte Alec sich zu einem Kommentar auf: „Ganz schönes Gedränge, was?“ Gleich darauf ärgerte er sich darüber, wie banal die Bemerkung war.
„Hmm.“
„Vermutlich wird es so bald nicht regnen, oder was meinst du?“
Diesmal gab sie sich nicht einmal den Anschein, ihm antworten zu wollen.
„Der Frühling war unglaublich kalt dieses Jahr. Die Rosen sterben bestimmt einen furchtbaren, grausamen Tod. Ihre zarten Blütenblätter werden unweigerlich verdorren, ihre Blätter sich im Todeskampf winden ... “
Verwirrt blickte sie auf. „Was?“
„Ich habe nur ein wenig vom Wetter gesprochen.“
Julias Lippen zitterten amüsiert. „Ich stelle mich wohl wie ein echtes Trampeltier an.“
„Das würde ich nicht sagen. Ich bin es nur nicht gewohnt, von meiner Tanzpartnerin ignoriert zu werden.“
„Ich kann’s nicht ändern. Weißt du, ich muss auf meine Schritte achten. Ich würde dir wirklich nur ungern die Zehen brechen.“ Alec lachte und zog sie noch näher an sich. „Erlaube mir, die Schritte für dich zu zählen, Liebes. Ich gelte allgemein als recht guter Tänzer.“
„O ja, ich weiß.“
Er runzelte die Stirn. Die Vorstellung, er habe vielleicht schon einmal mit ihr getanzt und könne sich nicht daran erinnern, gefiel ihm nicht. „Haben wir schon einmal miteinander getanzt?“
Ihre Grübchen erschienen. „Da hättest du noch einige Schrammen vorzuweisen. Therese sagte, dies sei eins der Dinge, die ihr an dir gefielen. Das andere war, wie du küsst. Ich weiß natürlich, wie du kü...“ Julia verstummte. Sie war feuerrot geworden.
Wäre Alec ein Gentleman gewesen, hätte er die Angelegenheit auf sich beruhen lassen, doch er drückte sie so fest an sich, dass die anderen Tänzer ihn, empört anstarrten, und fragte: „Und, findest du auch, dass ich gut küsse?“
„Das ist nicht fair“, erwiderte sie rau. Sie lief noch röter an, machte jedoch keinerlei Anstalten, sich ihm zu entziehen.
„Warum nicht?“ Sie hatte wunderbare Haut, wie Sahne, glatt und durchscheinend.
„Ich habe keinen Vergleich. Schließlich habe ich noch nie einen anderen geküsst.“
„Und diesen Vergleich brauchst du?“
„O ja.“ Julia legte den Kopf schief. „Vielleicht könnte ich es mit Edmund versuchen. Er hat doch eine Vorliebe für verheiratete Frauen.“ Sie begegnete seinem erstaunten Blick und kicherte.
Ihr Lachen durchströmte ihn heiß, und sofort lockerte er seinen Griff. Alec rang sich ein Lächeln ab, mehr nicht. Eine einzige Berührung, so unschuldig sie auch sein mochte, und er hätte jede Kontrolle über sich verloren und sie auf der Stelle an sich gerissen.
Julia merkte, wie er sich zurückzog, und alle Lebhaftigkeit wich von ihr. Sie schaute ihn nur beschämt an und enthielt sich ansonsten jeglichen Kommentars. Noch nie war Alec so dankbar gewesen, dass ein Tanz vorüber war. Gleich als die Musik verklang, führte er Julia zu Lady Birlington.
Die Dame war mit der Dowager Duchess of Roth in ein Gespräch vertieft, einer eindrucksvollen, mageren Frau, die für ihr wohltätiges Engagement bekannt war. Die beiden hießen Julia willkommen, zogen sie sofort ins Gespräch und lobten Muck, der stoisch neben dem Stuhl stand und das Retikül bewachte.
Alec entschied, dass es ihm leichter fallen würde, Julia von weitem zu beobachten. Wenn Nick sich näherte, würde er einfach wieder zur Gruppe um Lady Birlington stoßen. Er stellte sich an strategisch günstiger Position auf und machte sich auf einen Abend voll Frustrationen gefasst. Ohne die geringste Notiz von ihm zu nehmen, plauderte und tanzte Julia mit einer endlosen Reihe grüner Jünglinge.
Alec hielt es für eine gute Sache, dass seine Frau so schlecht tanzte. Kein Mann konnte ihre Anmut rühmen, wenn sie ihm dauernd auf die Füße stieg.
Auch Alec tanzte noch ein paar Walzer mit ihr, doch ein Tanz war so quälend wie der andere. Gegen Ende des Abends hatte Alec ziemlich schlechte Laune. Zu Hause küsste er Julia nur die Hand und zog sich mit einer Flasche Brandy in die Bibliothek zurück.
Er schenkte sich einen großzügig bemessenen Drink ein und stürzte ihn hinunter. Im ganzen Haus war nicht genug Brandy, um seine Leidenschaft zu zügeln, aber etwas anderes hatte er nicht. Er schenkte sich noch einmal nach und wollte sich in seinem Lieblingssessel niederlassen, doch der war noch in der Reparatur. Sämtliche Reformerinnen und ihre lästigen Schützlinge in Bausch und Bogen verdammend, setzte er sich auf das Sofa und rückte die spärlichen Kissen zurecht.
Er überlegte, ob Julia bereits schlief, die Decke ihres jungfräulichen Lagers bis ans Kinn hochgezogen. Doch da seine Gedanken die verstörende Tendenz besaßen, unter diese Decke zu wandern, wandte er sich entschlossen wieder dem Brandy zu.
Schwer seufzend richtete er den Blick zum Kaminsims, um auf die Uhr zu schauen, doch die Uhr war nicht da. Auch sie war Muck zum Opfer gefallen. Fluchend stand Alec auf und trat an die Anrichte. Er entkorkte eine weitere Flasche Brandy und trug sie zum klumpigen Sofa.
Vor ihm lag eine höllische Nacht.