»Und das haben Sie überlebt?« Ich wusste nicht, ob ich schockiert, angewidert oder beeindruckt sein sol te.

Sein Blick wurde beinahe ehrfürchtig. »Ja. Ich konnte meine Beine zwei Wochen lang nicht bewegen, aber es hat sich gelohnt.«

Mit klopfendem Herzen steckte ich das Buch in meine Tasche. Inzwischen erhob er sich mit einem charmanten Lächeln und schlenderte nach vorne, um auszusteigen. Es war nicht zu übersehen, dass er humpelte. Ich wunderte mich, dass er überhaupt gehen konnte. Während er die Treppe hinunterstieg, sah er mich unverwandt an; schließlich zwang ich mich, die Augen abzuwenden.

Von Neugier gepackt, holte ich Ivys Buch wieder aus der Tasche, noch bevor die letzten Fahrgäste den Bus verlassen hatten. Mit klammen Fingern öffnete ich es. Ich ignorierte das Bild und las stattdessen das Kleingedruckte unter der fröhlichen Anleitung. Mir wurde übel.

Es war eine Warnung, dieser Art der Vereinigung nicht zuzustimmen, bevor man nicht mindestens dreimal gebissen worden war. Andernfal s bestand die Möglichkeit, dass sich nicht genügend Vampirspeichel im Kreislauf befand, der die Schmerzrezeptoren so weit ausschaltete, dass der Schmerz als Lust empfunden werden konnte. Es gab sogar Tipps gegen Ohnmachtsanfäl e, wenn man tatsächlich zu wenig Vampirspeichel in sich trug und dem quälenden Schmerz ausgeliefert war. Offenbar verringerte sich der Genuss des Vampir-Liebhabers, wenn es zu einem Blutdruckabfal kam.

Doch es gab keine Hinweise, wie man ihn oder sie aufhalten konnte.

Erneut fielen mir die Augen zu. Als ich sie, aufgeschreckt durch die einsteigenden Fahrgäste, wieder öffnete, sah ich den Mann auf dem Bürgersteig stehen. Er beobachtete mich.

Dabei lächelte er, als sei ihm nie fachgerecht in die Leiste geschnitten und anschließend sein Blut in einer unheiligen Kommunion getrunken worden. Er hatte es genossen, oder zumindest dachte er das.

Auf einmal hob er die Finger zum Pfadfindergruß, führte sie an die Lippen und hauchte mir einen Kuss zu. Als der Bus sich wieder in Bewegung setzte, ging er endlich weiter, wobei ihm sein langer Mantel gegen die Beine schlug.

Ich starrte noch immer aus dem Fenster. Hatte Ivy jemals bei so was mitgemacht? Viel eicht hatte sie aus Versehen jemanden getötet. Viel eicht war das der Grund, warum sie abstinent war. Viel eicht sol te ich sie fragen. Viel eicht sol te ich aber auch einfach meine Schnauze halten, damit ich nachts ruhig schlafen konnte.

Ich schloss das Buch und schob es ganz nach unten in meine Tasche. Dabei stieß ich auf ein Stück Papier mit einer Telefonnummer, das zwischen die Seiten geschoben worden war. Ich zerknül te es und stopfte es zu dem Buch in die Tasche. In diesem Moment kam Jenks zurück, der mit dem Fahrer gesprochen hatte.

Er landete auf der Lehne meines Vordersitzes. Heute trug er Arbeitskleidung: al es schwarz, bis auf einen knal roten Gürtel. »Keine Zauber gegen dich, auch nicht von den neu Zugestiegenen«, verkündete er fröhlich. »Was wol te der Typ gerade?«

»Nichts.« Ich vertrieb die Erinnerung an dieses Bild aus meinem Kopf. Wo war Jenks letzte Nacht gewesen, als Ivy mich in ihren Klauen hatte? Das hätte ich gern gewusst.

Normalerweise hätte ich ihn danach gefragt, aber ich hatte Angst, er könnte sagen, es sei meine eigene Schuld gewesen.

»Nein wirklich«, bohrte Jenks weiter. »Was hat er gewol t?«

Ich starrte ihn an. »Nein wirklich - nichts. Und jetzt vergiss es.« Ich war nur froh, dass der Tarnzauber schon wirkte. Ich hatte keine Lust, dass Mr. Neunundvierzig mich bei einer zukünftigen Begegnung auf der Straße wiedererkannte.

»Ist ja schon gut.« Jenks ließ sich auf meinem Ohrring nieder und begann zu summen: Strangers In The Night.

Seufzend fand ich mich damit ab, nun den Rest des Tages von diesem Song verfolgt zu werden. Dann zog ich meinen Handspiegel aus der Tasche und tat so, als wol te ich mein Haar richten. Dabei achtete ich darauf, mindestens zweimal heftig gegen den Ohrring zu stoßen, auf dem Jenks saß.

Ich war nun brünett, mit einer großen Nase. Ein Gummiband hielt mein immer noch langes und immer noch krauses Haar in einem Pferdeschwanz zusammen - manche Dinge sind schwieriger wegzuzaubern als andere. Ich trug die Jeansjacke auf links gedreht, sodass ein blumiges Paisley-Muster zu sehen war, und als Krönung hatte ich eine lederne Harley Davidson Kappe auf dem Kopf. Sobald ich Ivy das nächste Mal sah, würde ich sie ihr mit einer aufrichtigen Entschuldigung zurückgeben und sie dann sicherlich nie wieder tragen. Wenn man al die Fettnäpfchen bedachte, in die ich letzte Nacht gesprungen war, war es kein Wunder, dass Ivy sich vergessen hatte.

Der Bus fuhr in den Schatten eines großen Gebäudes. Da ich an der nächsten Haltestel e raus musste, packte ich meine Klamotten zusammen und stand auf. »Ich muss mir dringend irgendein Fortbewegungsmittel beschaffen«, murmelte ich, als meine Stiefel den Gehweg berührten und ich einen prüfenden Blick über die Straße warf. »Viel eicht ein Motorrad.« Ich stimmte meine Bewegungen so ab, dass ich beim Betreten des Archivgebäudes die gläserne Eingangstür nicht berührte.

Von meinem Ohrring kam ein Prusten. »Würde ich nicht machen«, riet Jenks. »An einem Mottorad kann man viel zu einfach rumschrauben. Bleib bei den öffentlichen Verkehrsmitteln.«

»Ich könnte es drinnen abstel en«, protestierte ich, während ich nervös die wenigen Leute im Foyer beobachtete.

»Du kannst so ein Ding doch noch nicht mal fahren, Sherlock«, meinte er vol er Sarkasmus. »Übrigens, dein Stiefel ist offen.«

Ich sah hinunter. War er nicht. »Sehr witzig, Jenks.«

Der Pixie murmelte etwas Unverständliches. »Natürlich nicht«, sagte er ungeduldig. »Du sol st ja auch nur so tun, als ob du deinen Stiefel zuschnürst. Ich prüfe in der Zwischenzeit, ob das hier einigermaßen sicher ist.«

»Oh.« Gehorsam ging ich zu einem Stuhl in der Ecke und schnürte meinen Stiefel neu. Jenks schwebte unauffäl ig über den wenigen anwesenden Runnern und versuchte, gegen mich gerichtete Zauber aufzuspüren. Mein Timing war gut.

Es war Samstag, deshalb war das Archiv nur wenige Stunden geöffnet; eine besondere Serviceleistung. Dennoch gab es ein paar Besucher: sie tauschten Informationen aus, brachten Akten auf den neusten Stand, machten sich Kopien oder versuchten einfach, durch die Wochenendschicht einen guten Eindruck zu machen.

»Dem Geruch nach ist al es okay«, sagte Jenks bei seiner Rückkehr. »Ich denke nicht, dass sie hier mit dir gerechnet haben.«

»Gut.« Durch ein trügerisches Sicherheitsbewusstsein gestärkt, bewegte ich mich zielstrebig auf den Empfangstresen zu. Das Glück war auf meiner Seite: Megan hatte Dienst. Mein Lächeln schien sie ein wenig aus der Fassung zu bringen. Hektisch griff sie nach ihrer magisch verstärkten Bril e, die es ihr ermöglichte, fast jede Tarnung zu durchschauen, und schob sie sich auf die Nase. Eine solche Ausrüstung war Standard bei fast al en I. S.-Rezeptionisten.

Eine verschwommene Bewegung vor mir ließ mich innehalten.

»Kopf hoch, Frau!« Jenks' Warnung kam zu spät. Jemand streifte mich und ich konnte nur mit Mühe das Gleichgewicht halten, als sich ein Fuß zwischen meine Beine schob, um mich zu Fal zu bringen. Panisch drehte ich mich um und ging in die Hocke. Sobald ich mich so in Position gebracht hatte, beruhigte ich mich - jetzt war ich auf al es vorbereitet.

Es war Francis. Was zum Wandel tut der hier?, dachte ich, als ich mich wieder aufrichtete. Er hielt sich den Bauch vor Lachen. Wahrscheinlich hätte ich meine Tasche nicht mitbringen sol en. Aber ich hatte nicht erwartet, jemanden zu treffen, der mich trotz des Tarnzaubers erkennen würde.

»Netter Hut, Rachel«, wieherte er, während er am Kragen seines affigen Hemds herumfingerte. Es klang nach einer ätzenden Mischung aus Bravado und nachlassender Furcht nach meinem Beinahe-Angriff. »Hey, ich habe im Büro eine Wette laufen. Könntest du viel eicht morgen sterben, irgendwann zwischen sieben und Mitternacht?«

»Warum versuchst du nicht selbst, mich zu kriegen?«, erwiderte ich mit einem höhnischen Grinsen. Entweder hatte der Mann keinen Stolz oder er merkte nicht, wie albern er aussah, mit seinem offenen Segelschuh und der magisch fabrizierten Föhnfrisur, die al erdings bereits in Auflösung begriffen war. Und wie konnte man so früh am Tag schon so einen dichten Stoppelbart haben? Der kam wohl aus der Sprühdose.

»Wenn ich dich selbst festnagele, verliere ich die Wette.«

Er hatte zu seiner üblichen Arroganz zurückgefunden, die an mich jedoch völ ig verschwendet war. »Leider habe ich keine Zeit für eine Plauderei mit einer toten Hexe. Ich habe einen Termin mit dem Abgeordneten Trenton Kalamack und muss noch einiges recherchieren. Du weißt schon -Recherche?

Schon mal gemacht?« Er rümpfte seine dünne Nase. »Wohl eher nicht.«

»Geh und friss Tomaten, Fancis.«

Er warf einen Blick in den Korridor, der zum Archiv führte.

»Oh, jetzt habe ich aber Angst. Wenn du es lebendig zurück in deine Kirche schaffen wil st, sol test du jetzt abhauen.

Denn fal s Meg wegen dir noch keinen Alarm ausgelöst hat, werde ich es tun.«

»Hör auf, mir ein Ohr abzukauen, das nervt.«

»Ich seh' dich noch, kleine Rachel. Viel eicht in den Todesanzeigen?« Er lachte schril .

Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu und er trug sich mit einer überschwänglichen Geste in die Anwesenheitsliste ein, die auf dem Tresen lag. Dann drehte er sich noch einmal um und flüsterte: »Lauf, Hexe. Lauf.« Damit zog er sein Handy hervor, drückte ein paar Tasten und stolzierte an den unbeleuchteten V.I.R-Büros vorbei in Richtung Archiv. Megan zuckte entschuldigend mit den Schultern, als sie ihm mit dem elektronischen Türöffner den Zugang gewährte.

Ich sammelte mich kurz, signalisierte Megan, noch einen Moment zu warten, und ließ mich dann in einen Stuhl sinken, um zur Tarnung in meiner Tasche zu wühlen. Jenks landete auf meinem Ohrring. »Lass uns gehen«, sagte er besorgt,

»wir kommen heute Nacht noch mal her.«

Ich musste ihm zustimmen. Dass Denon mein Apartment verflucht hatte, war reine Schikane gewesen. Ein Kil erkommando auf mich anzusetzen wäre zu teuer, das war ich nicht wert. Aber warum Risiken eingehen?

»Jenks, kannst du ins Archiv kommen, ohne von den Kameras erfasst zu werden?«

»Natürlich kann ich das, Frau. Wenn Pixies eines können, ist es herumschnüffeln. Ob ich an den Kameras vorbeikomme? Wer, glaubst du, ist für ihre Wartung zuständig? Ich werd's dir sagen - Pixies. Und kriegen wir dafür auch nur einen Funken Anerkennung? Nein. Nur der Penner von einem Handwerker, der mit seinem Fettarsch unten auf der Leiter sitzt, seinen Truck fährt, die Werkzeugkiste öffnet und sich Donuts reinzieht. Was tut der denn schon groß?«

»Ist ja großartig, Jenks. Jetzt halt die Klappe und hör zu.«

Ich schaute kurz zu Megan hinüber. »Finde heraus, welche Akten sich Francis anschaut. Ich werde so lange wie möglich auf dich warten, aber wenn sich hier irgendeine Bedrohung ankündigt, haue ich ab. Du schaffst es doch von hier aus nach Hause, oder?«

Jenks' Flügel wehten mir eine Haarsträhne in den Nacken.

»Klar, schaff ich schon. Sol ich ihn für dich anpixen, wenn ich schon mal da bin?«

»Ihn anpixen? Das kannst du? Ich dachte immer, das gäbe es nur im, äh. . Märchen.«

Er schwebte vor mir in der Luft und platzte fast vor Selbstzufriedenheit. »Ich werde ihn in den Wahnsinn treiben.

Das können Pixies nämlich am zweitbesten.« Er zögerte und grinste spitzbübisch. »Nein, eher am drittbesten.«

»Warum nicht?«, beendete ich seufzend die Diskussion, woraufhin er lautlos aufstieg, um zunächst die Kameras zu beobachten. Für einen Moment hing er bewegungslos in der Luft und wartete ihre Rotationsbewegung ab. Dann schoss er direkt unter die Decke und flog den langen Korridor hinunter zur Tür des Archivs. Wenn ich das Ganze nicht gespannt beobachtet hätte, hätte ich ihn überhaupt nicht wahrgenommen.

Ich nahm einen Stift aus meiner Tasche, schloss sie sorgfältig und ging zu Megan hinüber. Der massige Mahagonitresen trennte die Lobby vol ständig von den nicht sichtbaren Büros im Hintergrund. Es war die letzte Bastion zwischen der Öffentlichkeit und den kleinlichen Arbeitstieren, die hier die Akten verwalteten. Durch den offenen Durchgang hinter Megan war eine lachende Frauenstimme zu hören; samstags wurde nicht viel gearbeitet. »Hi, Meg«, sagte ich, als ich näher trat.

»Guten Tag, Ms. Morgan«, erwiderte sie betont laut und fummelte an ihrer Bril e herum. Ihre Aufmerksamkeit war auf einen Punkt hinter meinem Rücken gerichtet und ich kämpfte gegen den plötzlichen Drang, mich umzudrehen.

Ms. Morgan?, dachte ich. Seit wann bin ich Ms. Morgan?

»Was gibt es, Meg?« Ich warf nun doch einen Blick über die Schulter, doch die Lobby war leer.

Sie wirkte verkrampft. »Gott sei Dank sind Sie noch am Leben«, flüsterte sie, das professionel e Lächeln noch immer an seinem Platz. »Was tun Sie hier? Sie sol ten sich besser in irgendeinem Kel er verstecken.« Bevor ich antworten konnte, legte sie den Kopf zur Seite wie ein Cockerspaniel und strahlte mich an wie die Blondine, die sie gern gewesen wäre.

»Was kann ich heute für Sie tun, Ms. Morgan?«

Ich machte ein verblüfftes Gesicht und Megan deutete mit den Augen bedeutungsvol über meine Schulter hinweg.

»Die Kamera, Idiotin«, murmelte sie. »Die Kamera.«

Als mir klar wurde, was sie meinte, atmete ich auf. Im Moment bereitete mir Francis' Telefonanruf wesentlich mehr Kopfzerbrechen als die Kamera. Die Bänder wurden immer nur gesichtet, nachdem etwas geschehen war. Bis dahin würde es schon zu spät sein.

»Wir halten hier al e zu Ihnen«, flüsterte Megan. »Die Chancen stehen zweihundert zu eins, dass Sie bis zum Ende der Woche durchhalten. Ich persönlich sehe sie bei einhundert zu eins.«

Ich fühlte mich krank. Ihr Blick glitt wieder über meine Schulter hinweg und sie erstarrte. »Sie sind hinter mir, nicht wahr?«, fragte ich und Megan zuckte zusammen. Ich seufzte und schob mir die Tasche auf den Rücken, damit sie mich nicht behinderte. Dann drehte ich mich langsam um.

Er trug einen sauberen schwarzen Anzug, ein gestärktes weißes Hemd und eine dünne, schwarze Krawatte. Seine Arme waren selbstbewusst hinter dem Rücken verschränkt und er machte keine Anstalten, die Sonnenbril e abzunehmen. Mir stieg ein leichter Moschusgeruch in die Nase, und nach dem weichen, roten Bart zu urteilen handelte es sich bei ihm wohl um einen Fuchsmenschen.

Ein weiterer Mann gesel te sich zu ihm und postierte sich zwischen mir und der Ausgangstür. Auch er behielt seine Sonnenbril e auf. Ich beobachtete die beiden und versuchte, sie einzuschätzen.

Irgendwo - vermutlich hinter mir - musste noch ein Dritter sein. Die Kil er arbeiteten immer zu dritt. Nicht mehr. Nicht weniger. Immer drei, dachte ich nüchtern und spürte, wie sich mein Magen zusammenzog. Drei gegen einen war nicht fair.

Ich sah zum Flur hinüber. »Wir sehen uns zu Hause, Jenks«, flüsterte ich, obwohl ich wusste, dass er mich nicht hören konnte.

Die beiden Schatten nahmen Haltung an; einer öffnete sein Jackett und zeigte sein Pistolenhalfter. Ich zögerte. In Gegenwart einer Zeugin würden sie mich wohl kaum einfach kaltblütig abknal en. Denon mochte angepisst sein, aber er war nicht dumm. Sie warteten darauf, dass ich die Flucht ergriff.

Stattdessen stemmte ich die Hände in die Hüften und spreizte die Beine ein wenig, um einen besseren Stand zu haben. Haltung ist al es. »Ich nehme nicht an, dass wir darüber reden können, Jungs?«, sagte ich bissig, wenn auch mit klopfendem Herzen.

Der Typ, der sein Jackett geöffnet hatte, grinste. Seine Zähne waren klein und scharf und sein Handrücken mit einem feinen roten Flaum bedeckt. Ja, eindeutig ein Fuchsmensch. Großartig. Ich hatte zwar mein Messer dabei, hier ging es aber darum, möglichst viel Abstand zu halten, sodass ich es nicht einsetzen konnte.

Hinter mir schrie Megan wütend: »Nicht in meiner Lobby.

Macht das draußen.«

Mein Puls raste. Wol te Megan mir helfen? Vielleicht wil sie einfach keine Flecken auf ihrem Teppich, dachte ich, als ich elegant über den Tresen hechtete.

»Hier lang.« Megan zeigte auf den Türbogen, durch den man zu den hinteren Büros gelangte.

Mir blieb keine Zeit, ihr zu danken. Ich stürzte durch die Tür und fand mich in einem offenen Bürobereich wieder.

Hinter mir erklangen gedämpfte Schläge und laute Flüche.

Der Raum hatte die Größe einer Lagerhal e und war durch die üblichen 1,5 m hohen Trennwände unterteilt - es war ein Irrgarten biblischen Ausmaßes.

Lächelnd winkte ich den wenigen Leuten zu, die ich von ihrer Arbeit aufgeschreckt hatte. Meine Tasche schlug gegen die Raumteiler, an denen ich vorbeirannte. Im Laufen versetzte ich dem Wasserspender einen Schubs und rief ein halbherziges »Sorry« über die Schulter, als er umfiel. Er ging nicht völ ig zu Bruch, fiel aber auseinander. Das gurgelnde Geräusch des ausfließenden Wassers wurde bald von den bestürzten Schreien und dem Ruf nach einem Mopp übertönt.

Ich drehte mich kurz um. Einer der Schatten wurde von drei Büroangestel ten aufgehalten, die versuchten, die schwere Flasche in den Griff zu bekommen. Er hielt seine Waffe bedeckt. So weit, so gut. Die Hintertür sprang mir ins Auge. Ich lief zur gegenüberliegenden Wand, riss die Tür auf und nahm einen tiefen Zug von der kühlen Luft, die mir entgegenschlug.

Ich wurde bereits erwartet. Sie legte ihre offenbar großkalibrige Waffe auf mich an.

»Scheiße!« Ich sprang zurück und knal te die Tür zu. Bevor sie ins Schloss fiel, klatschte etwas gegen die Abtrennung hinter mir und hinterließ einen gal ertartigen Fleck. Mein Nacken brannte. Ich betastete ihn und schrie auf, als Ich eine münzgroße Blase entdeckte. Die Finger, mit denen Ich sie berührt hatte, brannten jetzt auch.

»Großartig«, flüsterte ich und wischte den farblosen Schleim mit dem Saum meiner Jacke ab. »Ich habe keine Zelt für so was.« Mit einem gezielten Tritt ließ ich die Türsperre einrasten und stürzte zurück in den Irrgarten. Sie benutzten keine zeitverzögerten Zauber mehr. Diese Sprüche wurden fertig in Splat Bal s geladen. Einfach klasse. Es war wahrscheinlich ein spontaner Verbrennungszauber. Hätte ich mehr als einen Spritzer abbekommen, wäre ich schon tot. Ein netter kleiner Haufen Asche auf dem Berberteppich. Das hätte Jenks niemals riechen können, nicht einmal, wenn er bei mir gewesen wäre.

Ich hätte es bevorzugt, von einer Kugel getötet zu werden, das war wenigstens romantisch. Aber es war schwieriger, dem Schöpfer eines tödlichen Zaubers auf die Spur zu kommen als dem Fabrikanten einer Kugel oder Waffe. Ganz zu schweigen davon, dass ein guter Zauber keine Spuren hinterließ. Oder im Fal eines direkten Feuerzaubers nicht einmal eine Leiche. Keine Leiche, kein Fal , kein Grund zur Aufregung.

»Da!«, schrie jemand. Ich hechtete unter einen Schreibtisch und landete mit vol er Wucht auf dem El bogen, der sofort zu schmerzen anfing. Mein Nacken fühlte sich an, als stünde er in Flammen. Ich musste unbedingt etwas Salz auf die Wunde streuen und den Zauber neutralisieren, bevor er sich ausbreitete.

Ich schälte mich aus meiner Jacke, die vol er Schleimspritzer war. Wenn ich sie nicht getragen hätte, hätte es mich vol erwischt. Ich schmiss sie in einen Mül eimer.

Dann zog ich ein Fläschchen mit Salzwasser aus meiner Tasche. Meine Finger brannten und die Schmerzen im Nacken wurden unerträglich. Meine Hände zitterten, darum biss ich den Plastikverschluss der Ampul e ab und kippte mir das Fläschchen mit angehaltenem Atem über die Finger und ins Genick. Mit einem heftigen Ziehen und einer kleinen Schwefelwolke verlosch der Zauber und etwas Salzwasser tropfte auf den Boden. Einen glorreichen Moment lang genoss ich das Gefühl, wie der Schmerz nachließ, dann tupfte ich mir zitternd mit dem Ärmel das Genick trocken. Die Blase tat zwar noch weh, als ich sie vorsichtig berührte, aber das leichte Brennen des Salzwassers war nichts im Vergleich zu vorher. Ich blieb, wo ich war, und fühlte mich wie ein Idiot, während ich nach einer Fluchtmöglichkeit suchte. Ich war eine gute Hexe. Al e meine Amulette waren defensiv, nicht offensiv. Meine Aufgabe war es, Gegner vorübergehend auszuschalten und ruhigzustel en, bis ich sie unter Kontrol e hatte. Dabei war ich immer der Jäger gewesen, nie der Gejagte. Stirnrunzelnd musste ich feststel en, dass ich auf Situationen wie diese kein bisschen vorbereitet war.

Durch den Aufstand, den Megan veranstaltete, hatte ich eine Ahnung, wo sie sich al e befanden. Ich tastete noch einmal nach der Brandblase; sie hatte sich nicht ausgebreitet.

Ich hatte Glück. Mir stockte der Atem, als ich ein paar Abteile weiter leise Schritte hörte. Ich wünschte plötzlich, ich würde nicht so stark schwitzen. Die Tiermenschen hatten exzel ente Nasen, doch einen sehr einseitigen Verstand. Ich hatte es wahrscheinlich nur dem anhaltenden Schwefelgeruch zu verdanken, dass er mich noch nicht geschnappt hatte. Hier konnte ich nicht bleiben. Ein schwaches Klopfen an der Hintertür überzeugte mich endgültig, dass es an der Zeit war, zu gehen.

Mit vor Anstrengung dröhnendem Schädel spähte ich vorsichtig über die Trennwände hinweg und entdeckte Schatten Nummer eins, wie er zwischen den Abteilen hindurchtapste, um Schatten Nummer drei reinzulassen.

Geduckt bewegte ich mich in die entgegengesetzte Richtung. Ich verwettete mein Leben darauf, dass die Kil er einen vor dem Vordereingang postiert hatten und ich ihm so nicht auf halbem Wege begegnen würde.

Dank Megans ununterbrochenem Gezeter über das verschüttete Wasser schaffte ich es bis zum Zugang zur Lobby, ohne bemerkt zu werden. Als ich einen Blick in die Hal e warf, stel te ich fest, dass der Empfangstresen verlassen war. Der Boden war mit Papier übersäht, unter meinen Fü-

ften rol ten heruntergefal ene Stifte herum und Megans Tastatur baumelte an ihrem Kabel hin und her. Atemlos schlich ich zu dem hochklappbaren Durchgang im Tresen ohne meine Deckung zu verlassen, linste ich um den Schreibtisch. Mein Herz machte einen Sprung. Einer der Schatten zappelte vor der Tür herum, offenbar beleidigt, dass er zurückgelassen worden war. Aber ich hatte bessere Chancen, einem zu entkommen als zweien.

Francis' weinerliche Stimme tönte aus den Weiten des Archivs. »Hier? Denon hat sie hier auf sie angesetzt? Er muss wirklich angekotzt sein. Ich bin gleich zurück; das muss ich einfach sehen. Wird sicher spaßig.«

Seine Stimme kam näher. Vielleicht wil Francis ja einen kleinen Spaziergang mit mir machen, dachte ich hoffnungsvol . Bei Francis konnte man sich darauf verlassen, dass er neugierig und dumm war. Eine gefährliche Kombination in unserem Metier. Das Adrenalin schoss mir ins Blut während ich wartete, bis er den Tresen passiert hatte und zum Schreibtisch kam.

»Was für ein Chaos«, stel te er fest. Das Durcheinander auf dem Boden nahm ihn so gefangen, dass er nicht bemerkte, wie ich hinter ihm auftauchte. Präzise wie ein Uhrwerk legte ich einen Arm um seinen Hals und drehte ihm gleichzeitig die Hände so brutal auf den Rücken, dass er beinahe den Boden unter den Füßen verlor.

»Au! Verdammt noch mal, Rachel!« Er war zu eingeschüchtert, um zu realisieren, wie leicht er mir seinen El bogen in den Bauch rammen und abhauen konnte. »Lass mich los! Das ist nicht witzig!«

Ich schluckte und versuchte verzweifelt, den Schatten an der Tür im Auge zu behalten, der seine Waffe gezogen hatte und auf mich zielte. »Nein, das ist es wirklich nicht, Schätzchen«, hauchte ich in Francis' Ohr. Mir war schmerzlich bewusst, wie nah wir dem Tod waren. Francis hingegen kapierte gar nichts, und der Gedanke daran, dass er irgendwelche Dummheiten machen könnte, jagte mir mehr Angst ein als die Waffe. Mein Puls raste und ich fühlte, wie mir die Knie weich wurden. »Halt stil . Wenn er denkt, dass er mich erwischen kann, drückt er viel eicht ab.«

»Was geht mich das an?«, fauchte Francis.

»Siehst du hier noch jemanden außer dir, mir und der Knarre?«, fragte ich sanft. »Einen einzelnen Zeugen loszuwerden ist nicht so schwer, oder?«

Francis erstarrte. Ich hörte ein leises Stöhnen, als Megan im Durchgang erschien. Im Hintergrund tauchten noch mehr Leute auf, die sich die Hälse verrenkten und laut flüsterten.

Panik stieg in mir auf. Zu viele Leute. Zu viele Möglichkeiten, dass etwas schief laufen konnte. Ich fühlte mich besser, als der Schatten aus der Hocke hochkam und seine Pistole wegsteckte. Er ließ die Arme sinken und präsentierte seine Handflächen - eine geheuchelte Geste der Resignation. Mich vor so vielen Zeugen zu schnappen wäre zu kostspielig. Es war eine klassische Pattsituation.

Ich behielt Francis als unfreiwil igen Schutzschild vor mir.

Fast geräuschlos schlichen inzwischen die beiden anderen Schatten aus dem Büroraum und drückten sich an die Rückwand von Megans Büro. Einer hatte seine Waffe gezogen; als er die Situation überblickte, steckte er sie weg.

»Okay, Francis. Es ist Zeit für deinen Nachmittagsspa-ziergang. Und schön langsam.«

»Leck mich, Rachel«, erwiderte er mit zitternder Stimme.

Auf seiner Stirn hatte sich Schweiß gebildet, der ihm nun das Gesicht hinunterlief.

Wir schoben uns um den Schreibtisch herum, wobei ich Francis mit al er Kraft festhalten musste, da er auf den herumliegenden Stiften ins Rutschen kam. Der Tiermensch an der Tür machte uns bereitwil ig Platz. Seine Einstel ung war klar: Sie brauchten sich nicht zu beeilen, sie hatten Zeit.

Unter ihren wachsamen Augen ging ich mit Francis rückwärts durch die Tür nach draußen.

»Lass mich gehen!«, forderte Francis und begann zu zappeln Die Passanten bildeten einen Halbkreis um uns herum und vorbeifahrende Autofahrer hielten an, um uns zu bestaunen. Ich hasse Gaffer, aber jetzt waren sie viel eicht ein Vorteil. »Los, renn weg. Das kannst du doch am besten, Rachel«, höhnte Francis.

Ich verstärkte meinen Griff, bis er grunzte. »Da hast du recht Ich bin ein besserer Runner, als du je sein wirst.« Die Leute um uns herum begannen sich zu zerstreuen, als sie erkannten, dass das hier mehr war als Streit unter Liebenden

»Du sol test viel eicht auch besser die Beine in die Hand nehmen«, sagte ich in der Hoffnung, dadurch die al gemeine Verwirrung noch zu steigern.

»Wovon zur Höl e redest du?« Der Gestank seines Schweißes übertraf nun sogar sein Aftershave.

Ich schlängelte mich durch die langsam fahrenden Autos und schleppte Francis über die Straße. Die drei Schatten waren aus dem Gebäude gekommen, um uns zu beobachten In gespannter Wachsamkeit standen sie an der Tur.

»Ich könnte mir gut vorstel en, dass sie dich für meinen Komplizen halten. Ich meine - bitte! Eine große starke Hexe wie du sol nicht in der Lage sein, einem schwachen Mädchen wie mir zu entkommen?« An seinem leisen Stöhnen erkannte ich, dass er verstanden hatte. »Guter Junge. Und jetzt lauf.«

Mit der belebten Straße zwischen mir und den Schatten ließ ich Francis stehen und rannte los. So gut es ging, versuchte ich, in der Menge Schutz zu suchen. Francis lief in die entgegengesetzte Richtung. Wenn ich genügend Vorsprung herausholen konnte, würden sie mir nicht nach Hause folgen. Tiermenschen waren abergläubisch und würden niemals heiligen Boden entweihen. Ich wäre in Sicherheit- bis Denon etwas anderes auf mich ansetzte.

9

»Ich brauche irgendetwas anderes«, grübelte ich und blätterte durch die spröden, vergilbten Seiten, die nach Gardenien und Äther rochen. Ein Verborgenheitszauber wäre ideal, aber dafür benötigte man Farnsamen, und ich hatte weder die Zeit, genügend davon zu sammeln, noch war jetzt die richtige Jahreszeit dafür. Im Findlay Market gab es wahrscheinlich welchen, aber auch dafür fehlte mir die Zeit.

»Werd vernünftig«, ermahnte ich mich, schloss das Buch und drückte meinen schmerzenden Rücken durch. »So was Kompliziertes kannst du sowieso nicht zusammenbrauen.«

Ivy hatte es sich mir gegenüber am Küchentisch bequem gemacht und fül te die Nachsendeaufträge aus, die sie besorgt hatte. Dabei biss sie geräuschvol in ihre letzte Sel eriestange. Das Mittagessen hatte nur aus Gemüse mit Dipp bestanden, da ich für al es andere zu viel zu tun gehabt hatte ihr schien es egal zu sein. Viel eicht würde sie später noch ausgehen und sich einen Snack holen. Morgen würde ich, fal s ich dann noch am Leben war, ein richtiges Essen machen; viel eicht Pizza. Aber heute Abend war die Küche nicht mehr zur Nahrungszubereitung zu gebrauchen.

Ich war dabei, einige Zauber zu präparieren, und hatte ein absolutes Chaos verbreitet. Gehackte Pflanzenteile, Dreck und grün verfärbte Schüsseln auf Kühlgittern bedeckten die Arbeitsplatten; im Spülbecken stapelten sich die schmutzigen Kupferkessel. Das Ganze erinnerte an eine Mischung aus Yodas Werkstatt und Jamie Olivers Küche. Aber nun hatte ich meine Erkennungsamulette, Schlafverstärker und sogar einige neue Tarnzauber, die mich diesmal älter statt jünger machten. Ich konnte eine gewisse Selbstzufriedenheit nicht unterdrücken, da es mir tatsächlich gelungen war, sie selbst herzustel en. Sobald ich einen Zauber gefunden hatte, der mich in das I. S.-Archiv brachte, würden Jenks und ich die Fliege machen.

Der Pixie war an diesem Nachmittag mit einem behäbigen, zotteligen Tiermenschen angekommen, besagtem Freund, der meinen Kram einlagerte. Ich kaufte das modrig riechende Feldbett, das er mitgebracht hatte, und dankte ihm für die wenigen nicht verfluchten Kleidungsstücke, die er hatte finden können: meinen Wintermantel und ein paar pinkfarbene Sweatshirts, die in einer Kiste ganz hinten im Schrank gelegen hatten. Nachdem ich ihn angewiesen hatte, sich erst mal nur auf meine Kleidung, die CDs und den Küchenbedarf zu konzentrieren, schlurfte er davon. Der Hunderter, den ich ihm in die Hand gedrückt hatte, stand wahrscheinlich in direktem Zusammenhang mit seinem Versprechen, zumindest die Klamotten bis zum nächsten Tag fertig zu haben.

Mit einem Seufzer schaute ich von meinem Buch hoch und starrte an Mr. Fish vorbei in den dunklen Garten hinaus.

Dann legte ich meine hohle Hand über die Blase an meinem Nacken und schob das Buch weg, um Platz für das nächste zu schaffen. Denon musste außer sich gewesen sein, um mir die Tiermenschen bei vol em Tageslicht auf den Hals zu hetzen, wo ihre Fähigkeiten deutlich eingeschränkt waren.

Hätte sich das Ganze bei Nacht abgespielt, wäre ich jetzt wahrscheinlich tot - Neumond hin oder her. Diese Geldverschwendung war ein Zeichen dafür, dass Denon wegen Ivys Abschied wohl eine Menge Arger bekommen hatte.

Nachdem ich den Tiermenschen entkommen war, gönnte ich mir ein Taxi nach Hause. Ich rechtfertigte diesen Luxus zwar mit der Möglichkeit weiterer Attentäter im Bus, aber in Wirklichkeit wol te ich vermeiden, dass jemand mitbekam, wie fertig ich war. Als das Taxi ungefähr drei Blocks weit gekommen war, begann ich zu zittern und hörte erst wieder auf, nachdem ich so lange geduscht hatte, bis der Warmwasserboiler leer war. Zum ersten Mal war ich in diesem Spiel die Gejagte gewesen, und es gefiel mir überhaupt nicht. Aber fast genauso erschreckend war der Gedanke, dass ich möglicherweise einen schwarzen Spruch wirken und anwenden musste, um am Leben zu bleiben.

In meinem alten Job hatte ich oft genug Verdächtige einkassiert, die sogenannte »graue« Sprüche wirkten. Das waren Hexen, die einen an sich guten Zauber wie etwa einen Liebeszauber nahmen und so verdrehten, dass er üblen Zwecken diente. Aber auch diejenigen, die ernst zu nehmende schwarze Magie betrieben, gab es da draußen

-und auch sie hatte ich geschnappt: die Spezialisten für schwarzmagische Fal en, die dich einfach verschwinden ließen und für ein paar Dol ar mehr sogar dafür sorgten, dass sich nicht einmal mehr deine engsten Verwandten an dich erinnern konnten. Eben die Inderlander, die Cincinnatis Untergrund beherrschten. Manchmal hatte ich nichts anderes tun können, als die hässliche Realität zu verschleiern, damit die Menschheit nicht erfuhr, wie schwierig es war, Inderlander zu kontrol ieren, in deren Augen sie nichts anderes waren als Freiwild. Aber niemals zuvor war jemand so skrupel os gegen mich vorgegangen. Und ich hatte keine Ahnung, wie ich mich davor schützen und gleichzeitig mein Karma in Ordnung halten sol te.

Die letzten Stunden vor Sonnenuntergang hatte ich im Garten verbracht. Im Dreck zu wühlen und dabei ständig Pixiekinder zwischen den Füßen zu haben ist ein gutes Mittel, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ich erkannte, dass ich tief in Jenks' Schuld stand - und zwar in mehr als einer Hinsicht. Erst als ich mit meinen Materialien für die Zauber und einer sonnenverbrannten Nase ins Haus zurückkehrte, fand ich heraus, was hinter dem fröhlichen Geschrei der Pixies steckte: Sie hatten nicht, wie angenommen, Verstecken gespielt, sondern Splat Bal s abgefangen.

Die kleine Pyramide, die sie neben der Hintertür errichtet hatten, schockierte mich zutiefst. Jede dieser Kugeln stand für einen misslungenen Versuch, mich zu töten. Und ich hatte nichts davon bemerkt, nicht den Hauch einer Ahnung gehabt. Dieser Anblick machte mich so wütend, dass ich meine Angst vergaß. Wenn sie das nächste Mal aufkreuzten, würde ich bereit sein. Das schwor ich mir.

Nach meinem Sturm auf die Küche war meine Tasche nun wieder gut gefül t mit den üblichen Amuletten. Das Stück Rotholz aus der Arbeit hatte mich gerettet. Eigentlich kann jede Holzart Zauber aufnehmen, aber in Rotholz halten sie sich am längsten. Die Amulette, die ich nicht direkt in meine Tasche verfrachtet hatte, hingen an den für Tassen gedachten Haken in dem ansonsten leeren Küchenschrank. Es waren wirklich gute Sprüche, aber ich brauchte noch etwas Stärkeres. Mit einem Seufzer öffnete ich das nächste Buch.

»Verwandlung?«, fragte Ivy, legte dabei die Formulare zur Seite und zog das Keyboard näher zu sich heran. »Bist du so gut?«

Geistesabwesend versuchte ich, mit dem Daumennagel den Dreck von meinen Nägeln zu kratzen. »Notwendigkeit ist die Mutter der Courage.« Ich konzentrierte mich auf den Index - ich brauchte etwas Kleines, das sich vorzugsweise gut verteidigen können sol te.

Ivy wandte sich wieder dem Internet und ihrem Sel erie zu.

Seit Sonnenuntergang behielt ich sie im Auge. Sie verhielt sich wie die ideale Mitbewohnerin und bemühte sich wirklich, ihr Vampirverhalten auf ein Minimum zu reduzieren.

Die neuerliche Wäsche meiner Klamotten hatte wohl auch geholfen. Und sol te sie anfangen irgendwie verführerisch zu werden, würde ich sie bitten zu gehen.

»Hier ist was, eine Katze. Dafür brauche ich eine Unze Rosmarin, eine halbe Tasse Minze, einen Teelöffel vom Extrakt der knol igen Schwalbenwurzel, geerntet nach dem ersten Frost. . Na, das geht dann wohl nicht. Ich habe den Extrakt nicht hier und ich habe auch nicht vor, jetzt in ein Geschäft zu gehen.«

Ivy schien ein Kichern zu unterdrücken und ich blätterte wieder zum Index zurück. Keine Fledermaus. Es gab im Garten keine Esche, und dafür würde ich wahrscheinlich etwas von ihrer inneren Rinde brauchen. Außerdem hatte ich keine Lust, die halbe Nacht lang zu lernen, wie man fliegt und sich dabei auch noch mithilfe von Echolot orientiert. Für Vögel galt das Gleiche, und die meisten der hier aufgelisteten Arten waren sowieso tagaktiv. Ein Fisch war Huf ach nur blöd. Aber viel eicht. .

»Eine Maus!« Ich blätterte zur entsprechenden Seite und prüfte die Zutatenliste: Nichts Exotisches erforderlich, ich hatte sogar fast al es, was ich brauchte, schon hier in der Küche. Ganz unten auf der Seite fand ich eine handschriftliche Bemerkung. Ich kniff die Augen zusammen, um die verblichene, maskuline Schrift zu entziffern: Kann gefahrlos an jedes Nagetier angepasst werden. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Das war zu schaffen.

»Eine Maus?«, fragte Ivy erstaunt. »Du wil st dich in eine Maus verwandeln?«

Ich stand auf, ging zu der stählernen Arbeitsplatte hinüber und stel te das geöffnete Buch auf. »Sicher. Ich habe al es vorrätig, bis auf das Mäusehaar.« Ich warf ihr einen fragenden Blick zu: »Meinst du, ich könnte mir etwas Gewöl e von einer deiner Eulen holen? Ich muss die Milch durch Mäusehaar abseihen.«

Ivy warf ihr langes, schwarzes Haar über die Schulter. Sie wirkte skeptisch. »Na klar. Ich hole dir welches.« Mit einem Kopfschütteln schloss sie die Internetseite, die sie gerade besucht hatte, und stand auf, wobei sie sich so ausgiebig streckte, dass ihre nackte Tail e zu sehen war. Überrascht stel te ich fest, dass sie einen roten Edelstein im Bauchnabel trug. »Ich muss sie sowieso rauslassen.«

»Danke.« Ich konzentrierte mich wieder auf das Rezept, sammelte die Zutaten zusammen und legte sie auf der Arbeitsplatte zurecht. Als Ivy aus dem Glockenturm zurückkehrte, hatte ich schon al es fertig abgemessen. Jetzt musste ich es nur noch anrühren.

»Es ist ganz dein«, sagte Ivy, legte das Gewöl e auf die Ablage und wusch sich danach die Hände.

»Danke.« Ich nahm eine Gabel und zog die verfilzte Masse auseinander, um drei Haare zwischen den winzigen Knochen hervorziehen zu können. Es war ekelhaft, aber ich rief mir ins Gedächtnis, dass die Masse schließlich nicht den ganzen Verdauungskreislauf der Eule durchlaufen hatte, sondern wieder hochgewürgt worden war.

Ich schnappte mir eine Handvol Salz und wandte mich noch einmal an Ivy: »Ich werde jetzt einen Salzkreis ziehen.

Versuch nicht, ihn zu überschreiten, okay?« Sie starrte mich nur an und ich fügte hinzu: »Es ist ein potenziel gefährlicher Zauberspruch. Ich möchte nicht, dass etwas zufäl ig in den Topf gerät. Du kannst in der Küche bleiben, aber meide den Salzkreis.«

Sie sah unsicher aus, nickte aber.

Es gefiel mir, sie mal verunsichert zu sehen, und ich machte den Kreis größer als sonst. Schließlich umschloss er die ganze Arbeitsplatte in der Raummitte mit dem gesamten Zubehör. Ivy schob sich auf eine der seitlichen Arbeitsflächen und sah mir gespannt zu. Sol te ich das hier noch öfter machen, wäre es eine Überlegung wert, die Kaution aufzugeben und einfach eine Rinne in das Linoleum zu schneiden, um das Salz hineinstreuen zu können. Was hat man schließlich von einer Kaution, wenn man durch einen Kitualfehler umkommt?

Mein Herzschlag beschleunigte sich. Es war schon eine Weile her, dass ich einen solchen Kreis gezogen hatte, und es machte mich nervös, dass Ivy mir dabei zusah. »Also gut, dann. .« Ich holte langsam Luft und leerte mein Bewusstsein, während ich die Augen schloss. Ganz langsam erschloss sich mir mein zweites Gesicht.

Ich machte das nicht oft, da diese außerkörperlichen Erfahrungen furchtbar verwirrend waren. Ein Wind, der nicht aus dieser Realität stammte, spielte in meinem Haar. Der Geruch von versengtem Bernstein ließ mich die Nase rümpfen und im nächsten Moment schwanden die Mauern um mich herum, bis sie nur noch silberne Schatten waren.

Ivy, noch vergänglicher als die Kirche, war verschwunden.

Nur die Erde und die Pflanzen blieben erhalten und ihre Umrisse pulsierten im Einklang mit dem rötlichen Glühen, das nun die Luft erfül te. So ungefähr musste es hier gewesen sein, bevor die Menschen diesen Ort entdeckten.

Als ich erkannte, dass die Grabsteine in beiden Welten existierten, weiß und dauerhaft wie der Mond, bekam ich eine Gänsehaut. Ich hielt die Augen weiter geschlossen, während ich mithilfe des zweiten Gesichts nach der nächsten Kraftlinie suchte. »Heilige Scheiße«, murmelte ich überrascht, als ich den rot glühenden Energiestrom entdeckte, der sich durch den Friedhof zog. »Wusstest du, dass zwischen den Gräbern im Garten eine Kraftlinie verläuft?«

»Ja.« Ivys leise Stimme schien aus dem Nichts zu kommen.

Vorsichtig streckte ich meine geistigen Fühler aus und berührte den Strom. Ich erzitterte, als die Kraft in mich eindrang und brutal durch meinen Körper schoss, bis sich die Energie ausgeglichen hatte. Die Universität stand auf einer Kraftlinie, die so mächtig war, dass sie fast überal in Cincinnati angezapft werden konnte. Die meisten Städte wurden auf mindestens einem dieser Energieströme errichtet, Manhattan hatte sogar drei von nicht unbeachtlicher Größe.

Die stärkste Kraftlinie an der Ostküste verlief aber durch eine Farm in der Nähe von Woodstock. Zufal ? Wohl kaum.

Die Kraftlinie in unserem Garten war klein, aber sie war so nah und so selten benutzt worden, dass ich daraus mehr Energie ziehen konnte, als es mir je bei der großen an der Universität gelungen war. Obwohl mich keine reale Brise streifte, fröstelte ich durch den Wind, der aus dem Jenseits herüberwehte.

Die Berührung einer Kraftlinie war immer ein Rausch, wenn auch ein gefährlicher, den ich nicht sonderlich mochte. Die Kraft durchströmte mich wie Wasser und schien sich in mir aufzustauen; ich konnte meine Augen nicht länger geschlossen halten und riss sie auf.

Die surreale, rote Vision des Jenseits schwand augenblicklich und wurde durch meine öde Küche ersetzt.

Ich starrte Ivy an, die noch immer auf der Platte thronte. Nun konnte ich sie mit der Weisheit der Erde begutachten.

Manchmal sieht eine Person dann völ ig anders aus und ich war erleichtert, dass Ivy unverändert war. Ihre Aura war von einem Glitzern durchzogen. Sehr seltsam. Sie war offenbar auf der Suche nach irgendetwas.

»Warum hast du mir nie erzählt, dass wir hier eine Kraftlinie haben?«

Sie sah mich nicht an, sondern schlug nur mit einem Schulterzucken die Beine übereinander und katapultierte ihre Schuhe unter den Tisch.

»Hätte das einen Unterschied gemacht?«

Nein, es machte keinen Unterschied. Ich schloss noch einmal die Augen, um mein bereits nachlassendes zweites Gesicht zu stärken, während ich den Kreis schloss. Durch die berauschende Flut der verborgenen Energie fühlte ich mich unwohl. Mit der Kraft meines Wil ens verschob ich das schmale Band aus Salz von dieser Dimension ins Jenseits und es wurde durch einen identischen Ring der jenseitigen Realität ersetzt. Der Kreis schloss sich mit einem so heftigen Ruck, dass ich zusammenfuhr. »O Mann, viel eicht habe ich doch zu viel Salz genommen.« Ein Großteil der Energie, die ich aus dem Jenseits gezogen hatte, floss nun durch den Kreis. Die wenigen Überreste, die sich noch in meinem Kreislauf befanden, zerrten an meinen Nerven. Sie würden immer stärker werden, bis ich den Kreis aufbrach und mich von der Kraftlinie abkoppelte.

Die Grenze zur jenseitigen Realität wirkte mit leichtem Druck auf mich ein, doch nichts konnte die verschlungenen Schichten der beiden Realitäten durchdringen. Das zweite Gesicht zeigte mir den schimmernden roten Strom, der vom Boden aufstieg und sich über meinem Kopf zu einer Kuppel formte. Unter mir würde sich noch so eine Sphäre bilden. Ich würde mir das später noch mal näher anschauen müssen, um sicherzugehen, dass ich keine Rohre oder Stromleitungen durchtrennt hatte, die den Kreis schwächen könnten, lal s etwas eindringen wol te.

Ivy beobachtete mich, als ich die Augen öffnete. Ich schenkte ihr ein freudloses Lächeln und wandte mich ab.

Langsam schwand das zweite Gesicht, da es durch meine normale Wahrnehmung verdrängt wurde. »Al es gut verschlossen.« Ivys Aura schien sich aufzulösen.

»Versuch nicht, ihn zu überschreiten«, wiederholte ich, »es würde wehtun.«

Sie nickte ernst. »Du bist - hexenhafter.«

Ich lächelte zufrieden. Sol te der Vamp ruhig sehen, dass die Hexe auch beißen konnte. Dann nahm ich die kleinste der kupfernen Mischschalen, die nicht viel größer war als meine Handfläche, und stel te sie auf den brennenden Campingkocher, den Ivy mir besorgt hatte. Für die leichteren Zauber hatte ich den Ofen benutzt, aber die Gasleitung zu aktivieren hätte eine Schwächung des Kreises bedeutet.

»Wasser. .«, murmelte ich, wobei ich den Messzylinder mit Quel wasser fül te und sorgfältig prüfte, ob die Menge stimmte. Die Schale zischte, als ich das Wasser hineingab, und ich nahm sie schnel von der Flamme. »Maus, Maus, Maus«, flüsterte ich vor mich hin, um nicht zu zeigen, wie nervös ich war. Das war der schwierigste Zauber, den ich je al ein versucht hatte. Plötzlich rutschte Ivy von ihrem Sitz und stel te sich hinter mich, wobei sie gerade noch außerhalb des Kreises blieb. Sie kam mir dabei so nah, dass sich meine Nackenhaare aufstel ten. Ich unterbrach die Arbeit und warf ihr einen unmissverständlichen Blick zu, woraufhin sie verlegen grinste und sich an den Tisch zurückzog.

»Ich habe gar nicht gewusst, dass du das Jenseits anzapfst«, sagte sie, als sie sich vor ihrem Monitor niederließ.

Ich sah kurz von dem Rezept auf. »Als Erdhexe mache ich das auch nicht sehr oft. Aber dieser Zauber wird mich physisch verändern und nicht nur die Il usion erschaffen, ich sei eine Maus. Wenn jetzt irgendetwas in die Schale gelangt, das da nicht reingehört, kann es sein, dass ich den Spruch nicht mehr lösen kann oder dass ich mich nur zum Teil verwandele. . oder sonst was.«

Sie gab ein nichtssagendes Geräusch von sich während ich bereits das Mäusehaar in ein Sieb legte, um anschließend die Milch darüberzugießen.

Es gab einen eigenständigen Zweig der Hexenkunst, in dem man Kraftlinien anstel e von Zaubertränken benutzte.

Ich hatte zwei Semester lang das Labor des Professors geputzt, nur um nicht mehr als den Grundkurs belegen zu müssen. Damals erzählte ich al en, es läge daran, dass ich noch keinen Schutzgeist hätte - eine der Sicherheitsan-forderungen -, aber in Wahrheit mochte ich diese Art der Magie ganz einfach nicht. Ich hatte einen guten Freund dadurch verloren, dass er Kraftlinien zu seinem Hauptfach machte und dann in eine üble Clique geriet. Außerdem war da noch der Zusammenhang mit dem Tod meines Vaters.

Und dass die Kraftlinien Tore zum Jenseits darstel ten, fand ich auch nicht gerade ermutigend.

Es wird behauptet, das Jenseits sei einmal ein Paradies gewesen, in dem die Elfen lebten und von dem aus sie immer wieder in unsere Realität gesprungen seien, um Menschenkinder zu rauben. Aber als die Dämonen die Macht übernahmen und al es verwüsteten, waren die Elfen gezwungen, in unserer Realität zu verweilen. Natürlich geschah das al es lange bevor Grimm seine Märchen schrieb.

Das ist der Stoff der wirklich alten, ursprünglichen Geschichten beziehungsweise Geschichtsschreibung. Fast jeder dieser Texte endet mit dem Satz: »Und sie lebten glücklich und zufrieden im Jenseits.« So lautet der korrekte Satz. Grimm hat dann »im Jenseits« durch »bis ans Ende ihrer Tage« ersetzt, wahrscheinlich weil es besser klang. Der weit verbreitete Irrglaube, dass Hexen sich mit Dämonen verbünden, lässt sich wahrscheinlich auf den Gebrauch der Kraftlinien-Magie zurückführen. Ein Irrtum, der viele das Leben gekostet hat.

Ich aber war eine überzeugte Erdhexe und beschäftigte mich einzig und al ein mit Amuletten, Zaubertränken und Talismanen. Gestenreiche Beschwörungen hingegen gehörten zum Bereich der Kraftlinien-Magie. Da diese Hexen ihre Kräfte direkt aus den Energieströmen holten, war es eine rauere Art der Magie und meiner Meinung nach auch eine weniger schöne, da sie nicht so strukturiert und geordnet war wie die Erdmagie. Ihr einziger Vorteil war, dass sie mit dem richtigen Wort unmittelbar heraufbeschworen werden konnte. Doch dafür musste man ein kleines Stück des Jenseits in seinem Chi tragen, was wiederum ein gravierender Nachteil war. Mir war es egal, ob es Möglichkeiten gab, es von den Chakren zu isolieren. Ich war der festen Überzeugung, dass der dämonische Einfluss des Jenseits wie Dreck an der Seele klebte. Ich hatte einfach bei zu vielen Freunden mit ansehen müssen, wie sie ihre Fähigkeit, zwischen den maßgeblichen Seiten der Magie zu unterscheiden, verloren.

Und die Kraftlinienmagie eignete sich nun mal am besten zum Missbrauch. Es war schon schwierig genug, ein Amulett zu seinem Herstel er zurückzuverfolgen, aber herauszufinden, wer dein Auto mit Kraftlinien-Magie verflucht hatte, war ein Ding der Unmöglichkeit. Das bedeutete aber nicht, dass diese Hexen al e böse waren. Ihre Fähigkeiten waren in der Entertainment- und Sicherheitsbranche oder auch bei der Wetterkontrol e sehr gefragt. Aber bei dieser Nähe zum Jenseits und der unglaublichen Macht, die jederzeit verfügbar war, konnte man leicht seine moralischen Grundsätze vergessen.

Mein Karriereknick bei der LS. hatte möglicherweise auch etwas mit meiner Weigerung zu tun, Kraftlinienmagie gegen die bösen Buben einzusetzen. Aber worin bestand der Unterschied, ob ich sie mit einem Amulett oder einer Beschwörung fing? Ich war sehr gut darin geworden, mit Erdmagie gegen Kraftlinienmagie vorzugehen, auch wenn man das meinem Einsatz-Festnahmen-Verhältnis nicht unbedingt ansah.

Die Erinnerung an die Splat Bal -Pyramide neben der Hintertür versetzte mir noch immer einen Stich, und so beeilte ich mich, die Milch über das Mäusehaar in die Schale zu gießen. Als die Mixtur endlich kochte, nahm ich mir einen Holzlöffel und begann, das Gebräu gleichmäßig umzurühren.

Es war zwar nicht ratsam, bei der Zubereitung von Tränken Holzutensilien zu benutzen, aber meine Keramiklöffel waren immer noch verflucht und ein anderes Metal als Kupfer konnte zu einer Katastrophe führen. Holzlöffel hingegen tendierten dazu, den Zauber wie ein Amulett in sich aufzunehmen, was zu peinlichen Fehlern führen konnte. Aber wenn ich ihn hinterher lange genug in Salzwasser einweichte, konnte nichts schief gehen. Die Hände in die Hüften gestemmt, las ich mir noch einmal das Rezept durch und stel te den Timer ein. Der siedende Mix begann nach Moschus zu riechen und ich hoffte, dass das so richtig war.

»Du wil st also als Maus im Archiv herumschnüffeln«, stel te Ivy fest, während sie auf ihrer Tastatur herumhackte.

»Wie wil st du dann die Aktenschränke öffnen?«

»Jenks meinte, er habe schon von al em Wesentlichen Kopien gemacht. Wir brauchen sie uns nur noch anzusehen.«

Ivys Stuhl quietschte, als sie sich zurücklehnte und die Beine übereinanderschlug. Schon die Art, wie sie den Kopf schief legte, schien zu sagen, dass sie uns beiden Winzlin-gen nicht einmal zutraute, ein paar Tasten zu drücken.

»Warum verwandelst du dich nicht einfach wieder in eine Hexe, sobald du drin bist?«

Ich schüttelte den Kopf, während ich das Rezept ein zweites Mal überprüfte. »Transformationen, die durch einen Zaubertrank ausgelöst werden, halten so lange an, bis man gründlich in Salzwasser badet. Wenn ich wol te, könnte ich mich mithilfe eines Amuletts verwandeln, in das Archiv einbrechen und dann das Amulett abnehmen, um als Mensch die Unterlagen zusammenzusuchen. Auf dem Rückweg müsste ich nur das Amulett wieder anlegen, um rauszukommen. Aber das werde ich nicht tun.«

»Warum nicht?«

Sie war plötzlich vol er Fragen und ich sah von den Härchen einer Katzenpfötchenpflanze auf, die ich gerade in den Trank warf. »Hast du noch nie einen Verwandlungszauber benutzt? Ich dachte, ihr Vamps würdet sie ständig anwenden, um euch in Fledermäuse und so Zeugs zu verwandeln.«

Scheinbar verlegen sah Ivy zu Boden. »Einige schon.«

Ganz klar - Ivy hatte sich noch nie transformiert. Ich fragte mich, warum nicht, immerhin hatte sie das Geld dafür.

»Amulette sind bei Transformationen einfach unpraktisch. Ich müsste mir das Amulett an den Körper binden oder es um meinen Hals tragen. Da meine Amulette aber al e größer sind als eine Maus, wäre das wohl schwierig. Und was, wenn ich es verliere, während ich in einer Wand stecke? Einige Hexen sind daran gestorben, dass sie sich mit kleinen Extras zurückverwandelt haben - wie einer Wand oder einem Käfig.« Ich schüttelte mich und rührte das Gebräu einmal im Uhrzeigersinn um. »Außerdem«, fuhr ich leise fort, »werde ich nackt sein, wenn ich mich zurückverwandle.«

»Ha!«, lachte Ivy, »das ist also der wahre Grund. Rachel, du bist schüchtern!«

Was sol te ich darauf antworten? Peinlich berührt schloss ich das Buch und legte es unter die Arbeitsplatte zu dem Rest meiner neuen Bibliothek. Der Timer piepste und ich blies die Flamme aus. Es war nicht mehr viel Flüssigkeit übrig geblieben, sodass sie sicher schnel abkühlen würde.

Ich wischte mir die Hände an meiner Jeans ab und suchte in dem ganzen Durcheinander nach den Lanzetten. Nicht wenige Hexen hatten vor dem Wandel einen leichten Fal von Diabetes vorgetäuscht, um diese kleinen Schätze umsonst zu bekommen. Ich hasste sie, aber es war immer noch besser, als mit einem Messer eine Vene zu öffnen, wie man es in weniger aufgeklärten Zeiten getan hatte. Doch kurz bevor die Nadel meine Haut berührte, zögerte ich plötzlich. Ivy konnte nicht in den Kreis eindringen, aber ich hatte die Ereignisse der letzten Nacht noch zu deutlich vor Augen.

Wenn ich es könnte, würde ich in einem Salzkreis schlafen.

Aber eine längere Verbindung zum Jenseits würde mich in den Wahnsinn treiben, da ich keinen Schutzgeist hatte, der die mentalen Toxine der Kraftlinien aufnehmen konnte.

»Ich - äh - brauche drei Tropfen von meinem Blut, um den Prozess zu beschleunigen.«

»Wirklich?« Keine Spur von der zielgerichteten Konzentration, die das vampirische Jagdverhalten einläutete.

Trotzdem - ich traute ihr nicht.

»Viel eicht sol test du besser rausgehen.«

Sie lachte. »Bei drei Tropfen aus einem Finger passiert gar nichts.«

Ich zögerte immer noch und hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Wie konnte ich sicher sein, dass Ivy ihre Grenzen kannte? Ihre Pupil en zogen sich zusammen und auf ihren bleichen Wangen erschienen rote Flecken. Wenn ich jetzt darauf bestünde, dass sie geht, wäre sie beleidigt.

Außerdem sol te sie nicht sehen, wie sehr sie mich verunsicherte. Der Kreis war absolut sicher; er konnte einen Dämon aufhalten und ein Vampir war nichts dagegen.

Ich atmete tief ein und stach mir in den Finger. In ihren Augen blitzte es schwarz auf, aber danach geschah nichts mehr. Ich entspannte mich ein wenig und zählte die drei Tropfen in das Gebräu. Die braune, milchige Flüssigkeit veränderte sich nicht, aber ich konnte den Unterschied riechen. Mit geschlossenen Augen sog ich den Duft von Gras und Getreide tief in meine Lungen. Vor dem Gebrauch würde ich noch einmal drei Tropfen für jede Dosis brauchen, um sie zu aktivieren.

»Es riecht anders.«

»Was?« Erschrocken sprang ich auf und verfluchte mich gleichzeitig dafür. Ich hatte ganz vergessen, dass sie da war.

»Dein Blut riecht anders«, meinte Ivy. »Es riecht nach Holz.

Würzig. Wie Schmutz, aber lebendiger Schmutz.

Menschliches Blut oder Vampirblut riecht nicht so.«

Ich murmelte etwas Unverbindliches, während ich mit der Tatsache klarzukommen versuchte, dass sie über den halben Raum hinweg und durch eine Jenseitsbarriere hindurch drei Tropfen meines Blutes wahrnehmen konnte. Andererseits war es beruhigend, dass sie noch niemals eine Hexe ausgeblutet hatte.

»Würde das auch mit meinem Blut funktionieren?«, fragte sie interessiert.

Ich schüttelte den Kopf und rührte nervös in dem Gebräu herum. »Nein, es muss von einer Hexe oder einem Hexer sein. Es geht dabei nicht um das Blut, sondern um die darin enthaltenen Enzyme. Sie wirken als Katalysator.«

Sie nickte und schaltete ihren Computer auf Standby, um sich dann zurückzulehnen und mich zu beobachten. Ich verrieb das Blut auf meiner Fingerkuppe, bis es nicht mehr zu sehen war. Wie bei den meisten Rezepten reichte auch hier die Menge für sieben Anwendungen. Was ich heute nicht brauchte, konnte ich in Form eines Trankes aufbewahren.

Natürlich konnte ich auch Amulette daraus machen; die wären sogar ein ganzes Jahr haltbar. Aber ich würde mich für nichts in der Welt mit einem Amulett verwandeln. Ivy verfolgte jede meiner Bewegungen, als ich das Gebräu sorgfältig auf die fingerlangen Phiolen verteilte und diese dann fest verschluss. Fertig. Ich musste nur noch den Kreis aufheben und meine Verbindung zum Jenseits unterbrechen.

Das Erste war einfach, das Zweite ein wenig schwieriger.

Ich lächelte Ivy kurz zu und schob meinen pinkfarbenen Plüschpantoffel in das Salz, sodass eine Lücke entstand. Das Hintergrunddröhnen des Jenseits nahm zu. Ich schnappte nach Luft, als die ganze Energie, die durch den Kreis geflossen war, nun durch meinen Körper strömte.

»Was ist los?« Ivy klang besorgt.

Ich konzentrierte mich auf meine Atmung, um nicht zu hyperventilieren. Mein Körper fühlte sich an wie ein Bal on, der jederzeit platzen konnte. Ohne den Blick vom Boden zu heben, bedeutete ich Ivy, Abstand zu halten. »Kreis gebrochen. Bleib weg. Noch nicht fertig.« Mir war schwindlig und die Realität drohte mir zu entgleiten.

Ich holte noch einmal tief Luft und begann, mich von der Kraftlinie zu lösen. In mir kämpfte die unbewusste Machtgier gegen das Wissen, was diese Macht mich kosten würde. Ich musste mich von der fremden Kraft befreien - sie vom Kopf bis zu den Zehenspitzen aus mir herauspressen, bis sie sich wieder in der Erde befand.

»Geht es dir gut?«

Keuchend sah ich zu Ivy hoch, die mich stützte, damit ich nicht zusammenbrach. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie sich mir genähert hatte. Die Wärme ihrer Finger drang durch mein Shirt. »Ich hab zu viel Salz genommen; die Verbindung war zu stark. Mir - mir geht es gut. Lass mich los.«

Ihre Besorgnis verschwand schlagartig und die abrupte Art, mit der sie mich losließ, zeigte deutlich, wie sehr ich sie gekränkt hatte. Das Salz unter ihren Füßen knirschte laut, als sie sich wieder in ihre Ecke zurückzog und sich setzte. Ich würde mich nicht bei ihr entschuldigen. Schließlich hatte ich nichts falsch gemacht. Ganz wohl fühlte ich mich trotzdem nicht in meiner Haut, als ich die Phiolen bis auf eine zu den Amuletten in den Schrank stel te. Beim Anblick meines Werks kehrte mein Stolz zurück: Ich hatte sie gemacht. Und auch wenn ich sie nicht verkaufen konnte, da die dafür nötigen Versicherungsprämien mehr als ein Jahresgehalt verschlingen würden; ich selbst konnte sie benutzen.

»Brauchst du heute Nacht Hilfe? Mir macht es nichts aus, dir den Rücken freizuhalten.«

»Nein«, platzte es aus mir heraus. Als ich Ivys Stirnrunzeln sah, versuchte ich, die Zurückweisung durch ein Lächeln zu mildern. Ich wäre gerne auf ihr Angebot eingegangen, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, ihr zu vertrauen.

Außerdem machte ich mich nur sehr ungern von anderen abhängig. Mein Dad war gestorben, weil er darauf vertraut hatte, dass ihm jemand den Rücken freihielt. »Arbeite al ein, Rachel«, hatte er mir geraten, als ich an seinem Krankenbett saß und seine zitternde Hand hielt, während sein Blut mit immer weniger Sauerstoff versorgt wurde. »Arbeite immer al ein!«

»Wenn ich nicht einmal ein paar Schatten abschütteln kann, geschieht es mir ganz recht, wenn sie mich festnageln«, fügte ich ausweichend hinzu. Ich packte meine Klappschale, ein Fläschchen Salzwasser und eines von den neuen Tarnamuletten in meine Tasche.

»Wil st du die Sprüche nicht vorher einmal ausprobieren?«, fragte Ivy, als sie erkannte, dass ich mich im Aufbruch befand.

Ich strich mir nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Es wird spät. Sie werden schon funktionieren.«

Sie schien von meiner Einstel ung nicht gerade begeistert zu sein. »Wenn du bis zum Morgen nicht zurück bist, komme ich dich suchen.«

»Na schön.« Wenn ich bis zum Morgen nicht zurück war, war ich tot. Ich schnappte mir meinen langen Wintermantel von einem Stuhl und schlüpfte hinein. Dann lächelte ich Ivy noch einmal unbehaglich zu, bevor ich durch die Hintertür verschwand. Ich wol te auf Nummer sicher gehen und den Bus erst einen Block weiter nehmen, deshalb ging ich über den Friedhof.

Die Frühlingsluft war noch kalt und ich zitterte leicht, als ich die Fliegengittertür hinter mir zuzog. Dabei fiel mein Blick auf die gestapelten Splat Bal s. Das Gefühl der Verwundbarkeit kehrte zurück und ich huschte in den Schatten der Eiche, um meinen Augen Zeit zu geben, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Es war kurz nach Neumond, deshalb würde der Mond erst kurz vor der Morgendämmerung aufgehen. Danke, lieber Gott, für solche kleinen Gefäl igkeiten.

»Hey, Ms. Rachel!« Ich hörte ein leises Summen, und während ich mich umdrehte, dachte ich für einen Moment, es wäre Jenks. Aber es war Jax, Jenks' ältester Sohn. Der halbwüchsige Pixie hatte mir den Nachmittag über Gesel schaft geleistet, wobei ich ihm mehr als einmal fast etwas abgeschnitten hätte, wenn seine Neugier und seine

»Dienstauffassung« ihn gefährlich nah an meine Schere brachten. Er hatte seinen Vater vertreten, während dieser ein Nickerchen machte.

»Hi, Jax. Ist dein Vater wach?«, fragte ich und bot ihm meine Hand zur Landung an.

»Ms. Rachel«, stieß er atemlos hervor, »sie warten auf Sie.«

Mein Herz setzte kurz aus. »Wie viele? Wo?«

»Drei.« Er glühte grünlich vor lauter Aufregung. »Sie sind vorne. Große Typen, also, ungefähr Ihre Größe. Stinken wie Füchse. Ich habe sie entdeckt, als der alte Keasley sie von seinem Bürgersteig verjagt hat. Ich hätte Ihnen das schon früher erzählt, aber sie sind nicht rübergekommen und außerdem haben wir ihnen ihre restlichen Splat Bal s geklaut.

Und Papa hat gesagt, wir sol en Sie nicht damit belästigen, solange sie nicht über die Mauer kommen.«

»Es ist okay, das hast du gut gemacht.« Als ich mich wieder in Bewegung setzte, stieg Jax von meiner Hand auf.

»Ich wol te sowieso durch den Garten gehen und den Bus auf der anderen Seite des Blocks nehmen.« Ich orientierte mich kurz und klopfte dann sanft gegen den Baumstumpf, in dem Jenks hauste. »Jenks«, sagte ich leise und musste über den kaum hörbaren Wutschrei grinsen, der aus dem alten Baum ertönte. »Es gibt Arbeit.«

10

Die hübsche Frau, die mir gegenübersaß, stand auf, um auszusteigen. Doch dann blieb sie unvermittelt neben mir stehen, was mich dazu veranlasste, von Ivys Buch aufzublicken. »Tafel 6.1«, sagte sie, als ich sie fragend ansah,

»da findet man al es, was man wissen muss.« Sie schloss die Augen und ein wohliger Schauer durchlief sie.

Es war mir zwar unangenehm, aber ich blätterte trotzdem zum hinteren Teil des Buches. »Heilige Scheiße«, flüsterte ich, als ich das Verzeichnis verschiedenster Accessoires und Anwendungsvorschläge gefunden hatte. Mein Gesicht rötete sich. Ich war sicherlich nicht prüde, aber da gab es Dinge. .

und dann noch mit einem Vampir? Viel eicht mit einem Hexenmeister. Wenn er wirklich zum Niederknien war. Und natürlich ohne das Blut. Und wirklich nur viel eicht.

Ich zuckte zusammen, als sie sich zu mir herunterbeugte und eine schwarze Visitenkarte zwischen die Seiten des Buches gleiten ließ.

»Fal s du Unterstützung brauchst«, hauchte sie und lächelte verschwörerisch. »Neulinge sind immer der Star und bringen sie dazu, sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Mir macht es nichts aus, in deiner ersten Nacht in deinem Schatten zu stehen. Und ich werde für dich da sein. .

hinterher. Manchmal vergessen sie das.« Für einen Moment sah ich Angst in ihren Augen.

Mir fiel die Kinnlade herunter und ich sah ihr sprachlos hinterher, als sie aufstand und die Treppe hinabstieg.

Als Jenks sich näherte, schlug ich hastig das Buch zu. Er landete auf meinem Ohrring. »Was liest du da, Rachel? Du hast die Nase in dem Buch, seit wir in diesen Bus gestiegen sind.«

»Nichts«, erwiderte ich, noch immer fassungslos. »Diese Frau gerade. . die war doch menschlich, oder?«

»Die auf dich eingeredet hat? Yeah. Dem Geruch nach ist sie ein Vampirlakai. Warum?«

»Nur so.« Ich verstaute das Buch in meiner Tasche. Nie wieder würde ich das Ding in der Öffentlichkeit lesen. Gott sei Dank hatten wir inzwischen meine Haltestel e erreicht.

Ohne Jenks' anhaltende Fragerei zu beachten, schlenderte ich durch die Fressmeile des Einkaufszentrums. Mein Mantel wehte mir um die Knöchel, als ich in das Gedränge der nächtlichen Einkäufer eintauchte. In einem der Waschräume beschwor ich das Amulett, das mich in eine ältere Dame verwandeln sol te. Fal s mich jemand erkannt hatte, würde ihn das von der Spur abbringen. Sicherheitshalber tauchte ich noch einmal in der Menge unter, bevor ich mich auf den Weg zur LS. machte. So konnte ich auch noch ein wenig Zeit totschlagen, meinen Mut zusammennehmen und eine neue Kappe besorgen, nachdem ich Ivys heute verloren hatte. O ja, und Seife kaufen, um eventuel e Geruchsreste von ihr loszuwerden.

Ohne das übliche wehmütige Zögern passierte ich den Laden für Amulette. Die konnte ich jetzt schließlich al e selber machen. Außerdem rechneten eventuel e Verfolger dort bestimmt mit mir. Aber niemand rechnet damit, dass ich ein Paar Stiefel kaufe, dachte ich, während ich vor einem Schaufenster stehen blieb. Die ledernen Vorhänge und das gedämpfte Licht machten deutlich, dass es sich um einen Vampladen handelte, auch wenn das Geschäft einen neutralen Namen führte.

Was sol 's?, dachte ich. Ich lebe mit einem Vamp zusammen. Der Verkäufer konnte nicht schlimmer sein als Ivy und ich würde es ja wohl gerade noch schaffen, etwas zu kaufen, ohne mein Blut zurückzulassen. Jenks' Beschwerden ignorierend, ging ich hinein. Ich musste unwil kürlich an Tafel 6.1 denken, als ich den gut aussehenden Verkäufer bemerkte, der nach einem Blick durch seine modische Bril e seine Kol egen verscheucht hatte, um sich mir selbst widmen zu können. Sein Namensschild gab ihn als »Valentine« aus, und ich genoss seine Aufmerksamkeit in vol en Zügen, als er mir bei der Auswahl der Stiefel half, meine Seidenstrümpfe bewunderte und mit seinen starken und kühlen Fingern über meine Füße strich. Jenks wartete so lange schmol end in einer Topfpflanze.

Gott hilf mir, aber Valentine war wirklich zum Anbeißen.

Gutes Aussehen gehörte wohl zum Jobprofil eines Vamps, zusammen mit den schwarzen Klamotten und den subtilen Flirtkünsten. Und ein bisschen schauen war schließlich erlaubt; deswegen musste ich ja nicht gleich ihrem Club beitreten.

Aber als ich den Laden in meinen neuen, viel zu teuren Stiefeln verließ, wunderte ich mich über meine plötzliche Neugier. Ivy hatte zugegeben, dass sie auf Gerüche ansprang. Viel eicht verströmten aber auch die Vamps Phero-inone, um die Ahnungslosen unterbewusst einzulul en und anzulocken. Dadurch wäre es viel einfacher, ihre Beute zu verführen. Ich hatte die Zeit mit Valentine wirklich genossen und war so entspannt mit ihm umgegangen, als wäre er ein alter Freund. Dabei hatte ich ihm al e Freiheiten, die er sich genommen hatte, verziehen, und das in einem Maße, wie ich es sonst nie tun würde. Ich schüttelte diesen unangenehmen Gedanken ab und konzentrierte mich wieder aufs Shoppen.

Als Nächstes musste ich zu Big Cherry, um Pizzasauce zu kaufen. Die Menschen boykottierten noch immer die Geschäfte, in denen Tomaten verkauft wurden - auch wenn das T4 Angel-Virus schon lange ausgestorben war.

Deswegen konnte man sie nur in speziel en Geschäften bekommen, bei denen es keine Rol e spielte, ob die Hälfte der Weltbevölkerung sich weigerte, sie zu betreten.

Meine zunehmende Nervosität ließ mich an einem Süßwarenladen anhalten. Jeder weiß, dass Schokolade gut gegen Ängste ist, das ist wissenschaftlich belegt. Und für fünf glorreiche Minuten hörte sogar Jenks auf zu quasseln, um das Karamel bonbon zu verdrücken, das ich ihm kaufte.

Der Zwischenstopp im Bath and Body war ein Muss, schließlich konnte ich Ivys Shampoo und Seife nicht länger benutzen. Dieser Gedanke führte mich anschließend in eine Parfümerie. Mit Jenks' widerwil iger Hilfe fand ich einen neuen Duft, der die Spuren von Ivys Geruch überdecken würde. Er erinnerte ein wenig an Lavendel, obwohl Jenks behauptete, ich miefe wie eine explodierte Blumenfabrik. Mir gefiel der Duft auch nicht besonders, aber wenn er mich vor Ivys Instinkten bewahrte, war ich bereit, ihn zu trinken oder sogar darin zu baden.

Zwei Stunden vor Sonnenaufgang war ich wieder unterwegs und steuerte auf das Archiv zu. Meine neuen Stiefel waren so leise, dass es mir fast so vorkam, als schwebte ich über den Bürgersteig. Valentine hatte recht gehabt. Ohne zu zögern bog ich in die menschenleere Straße ein. Mein Tarnzauber wirkte noch - was wohl auch die seltsamen Blicke in dem Schuhgeschäft erklärte -, aber wenn mich niemand sah, umso besser.

Die L.S. wählte ihre Gebäude sorgfältig aus. Fast al e Büros in dieser Straße folgten der menschlichen Zeitplanung und waren somit seit Freitagabend geschlossen. Zwei Straßen weiter rauschte der Verkehr vorbei, aber hier war es ruhig. Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter, als ich in die Gasse zwischen dem Archivgebäude und dem benachbarten Hochhaus, das eine Versicherungsgesel schaft beherbergte, huschte. Mit klopfendem Herzen passierte ich den Notausgang, an dem sie mich beinahe erwischt hätten. Jetzt würde ich nicht einmal versuchen, hier einzusteigen.

»Siehst du irgendwo ein Abflussrohr, Jenks?«

»Ich schau mich mal um«, versprach er und begab sich auf einen kurzen Aufklärungsflug.

Ich folgte ihm langsam und ließ mich bald von einem leisen metal enen Klopfen leiten. Diesmal genoss ich den einsetzenden Adrenalinschub, als ich mich zwischen einen Mül container und eine Palette mit Kartons schob. Ich musste grinsen, als ich Jenks entdeckte, wie er auf einem gekrümmten Fal rohr saß und es mit seinen Absätzen bearbeitete. »Danke, Jenks«, flüsterte ich. Vorsichtig streifte ich meine Tasche ab und stel te sie auf den taufeuchten Beton.

»Kein Problem.« Nachdem er mich erfolgreich zu dem Rohr geführt hatte, machte er es sich nun auf einer Ecke des Mül containers bequem. »Bei der Liebe von Tink«, stöhnte er und hielt sich die Nase zu. »Weißt du, was hier drin ist?«

Offenbar ermutigte ihn mein kurzer Blick, denn er fuhr angeregt fort: »Drei Tage alte Lasagne, fünf verschiedene Joghurtbecher, verbranntes Popcorn. .«, er zögerte kurz,

». .irgendwas Südamerikanisches, eine Mil ion Bonhonpapiere, und irgendjemand hat hier einen unglaublichen Burritoverbrauch.«

»Jenks? Halt die Klappe.« Ein leises Reifengeräusch ließ mich erstarren, aber selbst mit der besten Nachtsicht war ich hier schwer zu entdecken. Und die Gasse stank so widerlich, dass ich mir um Tiermenschen keine Sorgen machen musste.

Trotzdem wartete ich, bis al es wieder ruhig war, bevor ich ein Erkennungsamulett und eine Lanzette aus der Tasche zog. Ich zuckte kurz, als ich mir in den Finger stach und die obligatorischen drei Tropfen Blut auf das Amulett träufelte.

Sie zogen sofort ein und die hölzerne Scheibe begann in einem matten Grün zu leuchten. Unwil kürlich atmete ich auf.

Außer Jenks befand sich kein vernunftbegabtes Wesen im Umkreis von 30 Metern - wenn man Jenks überhaupt dazu rechnen konnte. Auf jeden Fal war es hier sicher genug, um mich in eine Maus zu verwandeln.

»Hier, behalte das im Auge und sag mir Bescheid, wenn es rot wird«, wies ich Jenks an, während ich die Scheibe neben ihm auf den Rand des Mül containers legte.

»Wieso?«

»Tu es einfach.« Ich setzte mich auf einen Karton, schnürte meine neuen Stiefel auf, zog meine Socken aus und stel te einen nackten Fuß auf den Boden. Der Beton war kalt und feucht vom Regen der letzten Nacht und mir entschlüpfte ein angewidertes Stöhnen. Nach einem kurzen Blick ans Ende der Gasse versteckte ich meine Stiefel und den Wintermantel hinter einer Tonne mit geschreddertem Papier.

Ich fühlte mich wie ein Brimstone-Junkie, als ich mich in die Gosse hockte und das Fläschchen mit dem Trank hervorzog.

»Gut gemacht, Rachel«, flüsterte ich, als mir einfiel, dass ich die Reinigungsschale noch nicht vorbereitet hatte.

Ich war zwar davon überzeugt, dass Ivy wusste, was zu tun war, fal s ich als Maus auftauchte, aber sie würde sich ewig über mich lustig machen. Schnel ließ ich das Salzwasser in die Schale laufen und verstaute die leere Flasche.

Dann beförderte ich den Verschluss der Phiole in den Mül container und presste noch einmal drei Tropfen Blut aus meinem schmerzenden Finger. Aber die Beschwerden verschwanden schnel , als das Blut sich mit der Flüssigkeit verband und der angenehme Duft einer Sommerwiese in meine Nase stieg.

Nervös klopfte ich gegen das Glas der Phiole, um die Flüssigkeit noch einmal zu mischen, wischte die Hand an meiner Hose ab und warf Jenks einen unruhigen Blick zu.

Einen Zauber zu machen ist leicht. Daran zu glauben, dass man al es richtig gemacht hat, ist schon schwieriger. Wenn es darauf ankam, war dieser Mut das Einzige, was eine Hexe von einem einfachen Hexer unterschied. Ich bin eine Hexe, sprach ich mir selbst Mut zu, ich habe das richtig gemacht.

Ich werde eine Maus sein und ich werde mich zurückverwandeln, sobald ich mich mit Salzwasser gewaschen habe.

»Versprichst du mir, dass du Ivy nichts davon erzählst, wenn das hier schiefläuft?«, fragte ich Jenks. Er grinste spitzbübisch und zog seine Mütze tiefer in die Stirn. »Was kriege ich dafür?«

»Ich werde deinen Baumstumpf nicht mit Ameisengift einsprühen.«

Er seufzte. »Tu es einfach. Ich wäre gerne zu Hause, bevor die Sonne aufgeht. Pixies schlafen nachts, fal s du das noch nicht wusstest.«

Ich war zu nervös, um mir eine schlagfertige Antwort auszudenken. Das hier war meine erste Transformation. Ich liatte zwar den Kurs besucht, aber mein Stipendium hatte nicht ausgereicht, um einen professionel en Transformationszauber zu bezahlen. Und die Haftpflichtversicherung erlaubte es Studenten nicht, selbst gemachte Tränke auszuprobieren. Typisch.

Meine Finger umklammerten die Phiole und mein Puls raste. Das würde gleich schrecklich wehtun.

Schnel schloss ich meine Augen und stürzte das Zeug hinunter. Es war bitter und ich schluckte es, ohne Luft zu holen, wobei ich versuchte, nicht an die drei Mäusehaare zu denken. Igitt!

Dann setzten die Magenkrämpfe ein und ich krümmte mich vor Schmerzen. Ich keuchte, als ich das Gleichgewicht verlor. Der kalte Beton kam auf mich zu und ich streckte eine Hand aus, um den Sturz abzufangen. Sie war schwarz und pelzig. Es funktioniert!, dachte ich, gleichzeitig begeistert und verstört. Es war gar nicht so schlimm.

Dann durchdrang ein stechender Schmerz meine Wirbelsäule. Wie eine blaue Flamme zog er sich von meinem Schädel bis zum Steißbein. Ich schrie und geriet in Panik, als ein heiseres Quietschen mir fast das Trommelfel zerriss. In meinen Adern pulsierte flüssiges Feuer.

Ich glaubte ersticken zu müssen und wand mich vor Schmerzen. Plötzlich wurde mir schwarz vor Augen. Außer mir vor Angst schlug ich um mich, als ein Furcht einflößendes Kratzen ertönte. »Nein!« Die Schmerzen steigerten sich ins Unendliche, bis nichts mehr von mir übrig zu sein schien und sie mich einfach verschluckten.

11

»Rachel? Wach auf, Rachel! Ist al es in Ordnung?«

Eine warme, unbekannte Stimme zog mich aus der Bewusstlosigkeit. Ich streckte mich und merkte, dass sich meine Muskulatur verändert hatte. Als ich die Augen auf-riss, bestand die Welt nur aus Grautönen. Jenks stand direkt vor mir, die Hände in die Hüften gestemmt. Er schien riesengroß zu sein. »Scheiße!«, fluchte ich, gab aber nur ein raues Quieken von mir. Ich war eine Maus. Ich war eine verdammte Maus!

Doch dann erinnerte ich mich an die Schmerzen der Verwandlung und mir wurde schlecht vor Angst; schließlich stand mir bei der Rückverwandlung noch mal dasselbe bevor. Es war kein Wunder, dass die Transformation eine aussterbende Kunst war. Es tat höl isch weh.

Als ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte, schlängelte ich mich unter den Klamotten hervor. Mein Herz schlug schnel er als gewöhnlich und dieses verdammte Lavendelparfüm an meinen Sachen erstickte mich fast. Ich zog die Nase kraus und versuchte nicht zu würgen, als ich erkannte, dass ich den Alkohol riechen konnte, an den der Blumenduft gebunden war. Darunter konnte ich einen äschernen, weihrauch-ähnlichen Duft erkennen, den ich mit Ivy in Verbindung brachte. Ich fragte mich, ob die Nase eines Vampirs genauso sensibel war wie die einer Maus.

Da ich auf vier Füßen noch etwas unsicher war, hockte ich mich erst mal hin und betrachtete die Welt durch meine neuen Augen. Die schmale Gasse hatte die Größe einer Lagerhal e und der dunkle Himmel wirkte Furcht einflößend.

Al es war grau oder weiß - ich war farbenblind. Der Verkehr auf der weit entfernten Straße war brül end laut und der Gestank einfach unerträglich. Jenks hatte recht gehabt. Hier stand wirklich einer auf Burritos.

Jetzt, wo ich ihr so ausgeliefert war, schien die Nacht kälter zu sein. Ich kehrte zu meiner Kleidung zurück und versuchte, meinen Schmuck zu verstecken. Beim nächsten Mal würde ich al es zu Hause lassen außer dem Knöchelhalfter und dem Messer. Schließlich wandte ich mich Jenks zu. Wow, Baby!

Jenks war die Höl e mit Flügeln. Seine Flugfähigkeit brachte breite, durchtrainierte Schultern mit sich, die zusammen mit seinem flachen Bauch eine Wahnsinnsfigur ergaben. Das blonde Haar fiel ihm lässig in die Stirn und verlieh ihm eine unbekümmert-freche Ausstrahlung. Und dazu diese Flügel, die von einem funkelnden Netz aus Glitzerstaub überzogen waren. Aus dieser Perspektive konnte ich endlich verstehen, warum er mehr Kinder hatte als drei Paar Kaninchen zusammen.

Und seine Kleidung. . sogar in Schwarz-Weiß war sie atemberaubend. Saum und Kragen seines Hemdes waren mit Ranken bestickt, die an Fingerhut und Farn erinnerten, und in das schwarze, also eigentlich rote, Halstuch waren Unmengen winziger Glitzersteine eingenäht.

»Hey, Zuckerschnecke«, sagte er fröhlich. Seine Stimme klang überraschend tief und vol in meinen Nagetierohren.

»Es hat funktioniert. Wo hast du den Spruch für einen Nerz gefunden?«

»Nerz?« Statt meiner Frage ertönte ein Quieken. Ich riss mich von seinem Anblick los und betrachtete meine Hände.

Die Daumen waren klein, aber meine Finger waren so wendig, dass das kaum eine Rol e spielte. An ihren Spitzen befanden sich winzige, aber scharfe Kral en. Mit einer Tatze ertastete ich eine kurze, dreieckige Schnauze, und als ich mich umsah, blickte ich auf einen langen, weichen und eleganten Schwanz. Mein ganzer Körper war unglaublich geschmeidig - ich war noch nie so schlank gewesen. Ich hob eine Tatze und begutachtete meine hel en Pfoten mit den kleinen weißen Bal en. Es war schwer, meine jetzige Größe einzuschätzen, aber ich war um einiges größer als eine Maus; es war mehr die Statur eines Eichhörnchens.

Ein Nerz? Ich setzte mich auf und fuhr mir mit den Vordertatzen durch das dunkle Fel . Wie cool war das denn?

Ich öffnete den Mund, um mit der Zunge die Zähne zu berühren. Fiese, scharfe Zähne. Wegen Katzen brauchte ich mir keine Sorgen zu machen, die waren kaum größer als ich.

Ivys Eulen waren bessere Jäger, als ich gedacht hatte.

Schlagartig vergaß ich meine Zähne und beobachtete den weiten Himmel. Eulen. Die waren immer noch ein Grund zur Sorge. Und al es andere, das größer war als ich. Wie konnte ein Nerz wohl in dieser Stadt überleben?

»Du siehst gut aus, Rachel.«

Mein Blick schnel te zu ihm hinüber. Du auch, kleiner Mann! Nur so aus Spaß fragte ich mich, ob es einen Spruch gab, mit dem man Menschen auf die Größe eines Pixies schrumpfen konnte. Wenn man von Jenks auf den Rest schließen konnte, wäre es sicher reizvol , einen Urlaub als Pixie zu machen und durch Cincinnatis bessere Gärten zu ziehen. Mach mich zu Däumelinchen und ich bin ein glückliches Mädchen.

»Ich seh' dich dann auf dem Dach, okay?« Er grinste, als er meinen entrückten Blick bemerkte. Ich nickte und sah ihm hinterher, als er in der Höhe verschwand. Vielleicht könnte ich einen Spruch finden, um Pixies größer zu machen. Mein wehmütiges Seufzen war nicht mehr als ein merkwürdiges Fiepen und ich beeilte mich, zu dem Fal rohr hinüberzuge-langen. Ich umging die Pfütze, die der Regen der letzen Nacht hinterlassen hatte, und kletterte hinein. Meine Tasthaare berührten das Rohr, während ich mich an den unkomplizierten Aufstieg machte. Meine Kral en waren so scharf, dass ich sogar auf dem glatten Metal Halt fand. Sie waren eine genauso potenziel gefährliche Waffe wie meine Zähne.

Keuchend erreichte ich das flache Dach. Geschmeidig schlüpfte ich aus dem Rohr und lief in den dunklen Schatten eines Luftschachts, wo ich von Jenks erwartet wurde.

Günstigerweise war auch mein Gehör schärfer geworden, sonst hätte ich seine leisen Rufe gar nicht wahrgenommen.

»Hier rüber, Rachel. Jemand hat das Gitter des Luftschachts aufgebogen.«

Mein seidiger Schwanz zuckte vor Aufregung, als ich die Lüftungsanlage erreichte. An einer Ecke des Gitters fehlten die Schrauben und zudem war es verbogen. Jenks hielt es für mich auf, sodass ich mich ziemlich problemlos hindurchquetschen konnte. Einmal drin, hockte ich mich ein wenig hin, damit sich meine Augen an die größere Dunkelheit gewöhnen konnten. Jenks war mir inzwischen gefolgt und sah sich um. Nach kurzer Zeit konnte ich ein weiteres Drahtgitter erkennen, in dem sich ein Riss befand, den der Pixie geschickt zu einem dreieckigen Loch erweiterte. Offenbar hatten wir die inoffiziel e Hintertür des I.

S.-Archivs gefunden. Vol er Zuversicht suchten Jenks und ich uns einen Weg durch die Luftschächte des Gebäudes. Jenks plapperte die ganze Zeit, doch seine Ausführungen darüber, wie leicht man sich hier verirren und dann eines qualvol en Hungertodes sterben konnte, waren nicht sonderlich hilfreich. Schnel wurde uns klar, dass dieser Irrgarten von Schächten regelmäßig benutzt wurde: In den steileren Abschnitten gab es eine dünne Halteleine und es hing ein alter, aber immer noch starker Tiergeruch in der Luft. Es gab nur eine Richtung, in die wir gehen konnten - nach unten -, und nachdem wir ein paarmal falsch abgebogen waren, fanden wir schließlich den bekannten, großen Raum des Aktenarchivs.

Wir spähten durch den Schlitz eines Luftschachts, der direkt über den Computerterminals lag. In dem sanften Lichtschein, der von den Kopierern ausging, zeigte sich keine Bewegung. Auf dem hässlichen roten Teppich standen Plastikstühle und Tische ohne erkennbare Ordnung herum, die Aktenschränke waren in die Wand eingelassen. Dort befanden sich nur die aktiven Akten, ein mickriger Anteil des ganzen Drecks, den die I. S. über die Inderlander und die Menschen, lebende wie tote, gesammelt hatte. Ein Großteil der Informationen wurde elektronisch gespeichert, aber wann immer eine Akte bearbeitet wurde, bewahrte man in den Schränken einen Ausdruck auf; zehn Jahre lang, wenn es um einen Menschen ging, fünfzig bei einem Vampir.

»Bereit, Jenks?«, fragte ich und vergaß dabei, dass ich ja nur Fiepen konnte. Von dem Tisch bei der Tür drang der Geruch von altem Kaffee und Zucker zu mir herüber und mein Magen begann zu knurren. Ich legte mich hin und streckte meine Tatze durch das Gitter, um an den Entriegelungshebel zu gelangen. Bei dem Versuch, ihn umzulegen, schrammte ich mir den El bogen auf. Ganz plötzlich öffnete sich das Gitter und baumelte laut quietschend hin und her. Ich wartete geduckt im Schatten, bis sich mein Puls wieder beruhigt hatte, dann steckte ich meine Nase durch die Öffnung.

Doch als ich anschließend das bereitliegende Seil aus dem Schacht werfen wol te, hielt Jenks mich zurück. »Warte«, flüsterte er. »Lass mich erst die Kameras außer Gefecht setzen.« Er zögerte kurz, wobei seine Flügel immer dunkler wurden. »Du, äh, wirst doch niemandem was davon erzählen, oder? Das ist nämlich so ein speziel es Pixie-Ding, weißt du.

Dadurch können wir, sagen wir mal, unauffäl ig herumkommen.« Er warf mir einen verlegenen Blick zu und ich beruhigte ihn mit einem Kopfschütteln.

»Danke.« Schon ließ er sich fal en und war einen Moment später bereits zurück. Betont lässig setzte er sich auf den Rand des Lochs und baumelte mit den Füßen.

»Al es klar, ich habe sie in eine Fünfzehnminutenschleife gelegt. Komm mit runter, ich werde dir zeigen, was sich Francis angeschaut hat.«

Ich drückte das Seil aus dem Schacht und begann mit dem Abstieg, der mir durch meine Kral en sehr erleichtert wurde.

»Er hat netterweise von al em eine Kopie zu viel gemacht«, sagte Jenks und deutete auf den Papierkorb neben dem Kopierer. Er grinste, als ich die Tonne umschmiss und das Papier durchwühlte. »Ich habe den Kopierer von innen manipuliert. Und er konnte sich einfach nicht erklären, warum er plötzlich al es doppelt bekam. Der Praktikant, der dabei war, hat ihn für einen Vol idioten gehalten.«

Ich schaute hoch und brannte darauf zu sagen: »Francis ist ein Vol idiot.«

»Ich wusste, dass du den Angriff auch al eine überstehen würdest«, sagte Jenks, während er damit begann, die Zettel in einer langen Reihe auf dem Boden auszubreiten. »Aber es war echt übel für mich, hier zu sitzen und zu hören, wie du abhauen musst, ohne dass ich etwas tun konnte. Verlang das nicht noch mal von mir, klar?«

Er war plötzlich sehr ernst. Ich wusste nicht, was ich sagen sol te, also nickte ich. Jenks war eine größere Hilfe, als ich mir je hätte vorstel en können, und ich hatte ihm noch nicht einmal die entsprechende Anerkennung gezol t. Verlegen versuchte ich, die verstreuten Papiere in eine Reihenfolge zu bringen. Es war nicht viel Interessantes dabei, und je mehr ich las, desto mutloser wurde ich.

»Diesem Dokument zufolge«, sagte Jenks, der auf der ersten Seite gelandet war, »ist Trent das letzte lebende Mitglied seiner Familie. Seine Eltern starben beide unter Umständen, die ganz klar etwas mit Magie zu tun hatten.

Beinahe das gesamte Hauspersonal stand unter Verdacht.

Aber nach drei Jahren haben das FIB und die I. S. schließlich aufgegeben und beschlossen, offiziel wegzuschauen.«

Ich überflog die Erklärung des I. S.-Ermittlers. Meine Tasthaare zuckten, als ich seinen Namen las: Leon Bairn.

Derselbe Leon Bairn, der als Schmutzfleck auf dem Gehweg endete. Interessant.

»Seine Eltern verweigerten die Aussage über Verwandtschaftsbeziehungen zu Menschen oder Inderlandern«, sagte Jenks. »Genau wie Trent. Und von ihren Leichen ist nicht genug übrig geblieben, um eine Autopsie zu machen. Genau wie seine Eltern beschäftigt Trent sowohl Inderlander als auch Menschen. Al es außer Pixies und Fairies.«

Das war nicht überraschend. Warum sol te er einen Prozess wegen Diskriminierung riskieren?

»Ich weiß, was du denkst«, sagte Jenks. »Aber er legt sich auf nichts fest. Seine persönlichen Assistenten sind immer Hexer. Sein Kindermädchen war ein Mensch von hervorragendem Ruf. Und in Princeton lebte er mit einer Bande von Tiermenschen zusammen.« Jenks kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Dennoch gehörte er keiner Verbindung an. Das wirst du zwar nicht in den Akten finden, aber man munkelt, dass er weder ein Tiermensch, noch ein Vamp, noch sonst was ist.« Ich zuckte mit den Achseln und er fuhr fort: »Trents Geruch ist seltsam. Ich habe mit einer Pixie gesprochen, die einen Hauch von ihm mitbekam, als sie der Backup von einem Runner war, der in Trents Stal ungen gearbeitet hat. Sie sagt, sein Geruch sei schon irgendwie menschlich, aber irgendwas Undefinierbares an ihm sagt: Inderlander.«

Ich dachte an den Zauber, mit dem ich heute Nacht mein Aussehen verändert hatte. Im Versuch, Jenks danach zu fragen, öffnete ich den Mund, klappte ihn dann aber wieder zu. Ich konnte ja nur quieken. Jenks grinste wissend und zog einen abgebrochenen Bleistift aus seiner Tasche. »Du musst es buchstabieren«, sagte er, während er das Alphabet auf einen der Zettel kritzelte.

Ich fletschte die Zähne, was ihn nur zum Lachen brachte.

Aber ich hatte kaum eine andere Wahl. Ich huschte über die Seite, als wäre sie ein Ouija-Brett, und buchstabierte:

»Amulett?«

Jenks zuckte mit den Achseln. »Viel eicht. Aber ein Pixie kann durch so etwas hindurchriechen. Genauso wie ich bei dir die Hexe unter dem Nerzgestank erkennen kann. Aber wenn er eine Tarnung benutzt, erklärt das die Hexer-Sekretärinnen. Je mehr Magie man benutzt, desto stärker riecht man.« Ich sah ihn fragend an. »Al e Hexen riechen ähnlich, aber diejenigen, die viel mit Magie hantieren, riechen stärker, irgendwie überirdischer. Du zum Beispiel stinkst nach frischem Zauber. Du hast dir heute Abend Energie aus dem Jenseits geholt, stimmt's?«

Verblüfft setzte ich mich auf mein Hinterteil. Er konnte das an meinem Geruch erkennen?

»Trent benutzt viel eicht eine andere Hexe, um seine Zauber für ihn zu aktivieren«, überlegte Jenks weiter. »Dann könnte er seinen Geruch mit einem Amulett überdecken. Das Gleiche gilt für einen Tiermenschen oder einen Vamp.«

Einer plötzlichen Eingebung folgend buchstabierte ich:

»Ivys Geruch?«

Jenks erhob sich in die Luft, noch bevor ich fertig war. Die Frage schien ihm unangenehm zu sein. »Ahm, also«, stammelte er, »Ivy stinkt. Entweder ist sie eine Gelegen-heitstrinkerin, die vor einer Woche damit aufgehört hat, oder ein massiver Blutsauger, der vor einem Jahr ausgestiegen ist.

Ich weiß es nicht. Sie liegt wohl irgendwo dazwischen -

wahrscheinlich.«

Ich runzelte, soweit das bei einem Nerz möglich ist, die Stirn. Sie hatte behauptet, es seien drei Jahre. Sie musste sehr, sehr heftig drauf gewesen sein. Na super.

Ich warf einen Blick auf die Wanduhr: Die Zeit lief uns davon. Ungeduldig wandte ich mich wieder Trents magerer Akte zu. Der I. S. zufolge lebte und arbeitete er auf einem großen Anwesen außerhalb der Stadt. Er züchtete dort Rennpferde, aber das meiste Geld verdiente er mit der Landwirtschaft: Orangen- und Pecannuss-Haine im Süden, Erdbeerplantagen an der Küste, Weizen im Mittleren Westen.

Ihm gehörte sogar eine Insel vor der Ostküste, auf der Tee angebaut wurde. Das al es wusste ich bereits, es gehörte zum Standardrepertoire der Zeitungen.

Trent wuchs als Einzelkind auf. Er verlor seine Mutter, als rr zehn war, und seinen Vater während seines ersten Semesters auf dem Col ege. Seine Eltern hatten noch zwei weitere Kinder, die aber schon als Kleinkinder starben. Der zuständige Arzt weigerte sich, die Akten ohne einen Gerichtsbeschluss herauszugeben, und kurz nach der ersten Anfrage brannte sein Büro ab. Tragischerweise hatte er an diesem Abend länger gearbeitet und schaffte es nicht mehr, das brennende Gebäude zu verlassen. Die Kalamacks gehen auf Nummer sicher, dachte ich trocken.

Ich stand auf und fletschte frustriert die Zähne. Hiervon konnte ich nichts gebrauchen. Ich hatte das Gefühl, dass die FIB-Akten, wenn ich sie wie durch ein Wunder hätte beschaffen können, noch nutzloser gewesen wären. Da hatte sich jemand sehr viel Mühe gemacht sicherzustel en, dass so wenig wie möglich über die Kalamacks bekannt wurde.

»Sorry«, sagte Jenks. »Ich weiß, dass du dir viel von den Akten erhofft hast.«

Ich zuckte mit den Schultern und begann damit, die Papiere wieder in den Mül eimer zu schleppen. Ich würde nicht in der Lage sein, den Korb wieder aufzurichten, aber wenigstens würde es so aussehen, als sei er einfach nur umgefal en und nicht systematisch durchsucht worden.

»Wil st du Francis bei der Befragung zum Tod der Sekretärin begleiten? Sie ist für Montagmittag angesetzt.«

Mittag also, dachte ich ironisch. Was für eine angenehme Zeit - nicht zu früh für die meisten Inderlander und vol kommen normal für Menschen. Viel eicht sol te ich mich wirklich an Francis' Fersen heften und ihm ein wenig unter die Arme greifen. Meine Nagetierlippen verzogen sich zu einem hinterhältigen Grinsen. Francis würde das bestimmt nichts ausmachen. Und es war viel eicht meine einzige Chance, etwas über Trent auszugraben. Ihn als Brimstone-Dealer festzunageln würde reichen, um mich endlich aus meinem Vertrag rauszukaufen.

Jenks flog auf den Rand des Papierkorbes und schlug krampfhaft mit den Flügeln, um das Gleichgewicht zu halten.

»Nimmst du mich mit? Dann kann ich mir Trents Geruch vornehmen. Ich wette, ich finde heraus, was er ist.«

Meine Schnurhaare zitterten angestrengt, während ich darüber nachdachte. Es wäre nicht schlecht, ein zweites Paar Augen dabei zu haben. Ich könnte bei Francis mitfahren, wenn auch nicht als Nerz. Er würde wahrscheinlich wie ein Mädchen kreischen und Dinge nach mir werfen, wenn er mich auf seinem Rücksitz fände. »Reden später«, buchstabierte ich. »Erst nach Hause.«

Jenks grinste durchtrieben. »Bevor wir gehen. . wil st du deine Akte sehen?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte meine Akte schon viel zu oft gesehen. »Nein«, schrieb ich, »ich wil sie zerfetzen.«

12

»Ich muss mir unbedingt ein Auto besorgen«, flüsterte ich und sprang die Bustreppe hinunter. Im letzten Moment zog ich den Mantel aus der sich schließenden Tür und hielt die Luft an, als der Dieselmotor aufheulte und sich der Bus entfernte. »Und zwar schnel «, fügte ich hinzu und zog die Tasche näher an meinen Körper.

Ich hatte schon seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen, das getrocknete Salz auf meinem Körper juckte wie wahnsinnig und ich schien mich keine fünf Minuten bewegen zu können, ohne irgendwie an die Blase in meinem Nacken zu kommen. Jenks hingegen war mies gelaunt, weil sein Karamel rausch langsam nachließ. Um es kurz zu sagen - wir gaben ein ausgezeichnetes Paar ab.

Die ersten Anzeichen der Morgendämmerung erhel ten den Himmel im Osten und ließen sein hel es Blau fast transparent erscheinen. Die Vögel fül ten mit ihrem Gesang die Stil e, die über den Straßen lag. Um diese Zeit war es noch kühl, und ich war froh, einen Mantel anzuhaben. Bis Sonnenaufgang würde vermutlich noch eine Stunde vergehen. Vier Uhr morgens im Juli war die goldene Stunde, in der brave Vampire sich schon zur Ruhe begeben und schlaue Menschen noch nicht die Nase aus der Tür gestreckt hatten, um sich die Morgenzeitung zu holen.

»Ich bin so was von reif fürs Bett«, flüsterte ich.

»Guten Abend, Ms. Morgan«, erklang eine dunkle Stimme.

Ich drehte mich blitzschnel um und ließ mich in die Hocke fal en. Von meinem Ohrring erklang ein kurzes, sarkastisches Gelächter.

»Es ist der Nachbar«, sagte Jenks schließlich trocken. »Du meine Güte, Rachel. Wenigstens das sol test du mir zutrauen.«

Mit klopfendem Herzen stand ich langsam auf. Ich fühlte mich so alt, wie ich laut meines Tarnzaubers sein sol te.

Warum war er nicht im Bett?

»Wohl eher >Guten Morgen<«, erwiderte ich und ging auf Keasleys Tor zu. Er saß unbeweglich in seinem Schaukelstuhl, das Gesicht im Schatten.

»Kleiner Einkaufsbummel?« Er wackelte mit dem Fuß, um zu zeigen, dass er meine neuen Stiefel bemerkt hatte.

Müde lehnte ich mich auf das Gartentor, das mit einer Kette gesichert war. »Möchten Sie Schokolade?« Er signalisierte mir, reinzukommen.

Jenks summte sorgenvol . »Ein Splat Bal reicht weiter als mein Geruchssinn, Rachel.«

»Er ist ein einsamer, alter Mann«, flüsterte ich, während ich das Tor öffnete. »Er möchte einfach ein bisschen Schokolade.

Außerdem sehe ich aus wie eine alte Vettel. Jeder, der uns beobachtet, wird mich für sein Date halten.« Ich ließ das Tor leise hinter mir zufal en und sah, wie Keasley sein Lächeln hinter einem Gähnen zu verstecken versuchte. Jenks entfuhr ein dramatischer Seufzer.

Ich stel te meine Tasche auf die Veranda und setzte mich auf die oberste Stufe. Dabei zog ich eine Papiertasche aus meinem Mantel und reichte sie Keasley.

»Ah. .« Sein Blick viel auf das Firmenlogo von Horse And Rider. »Für manche Dinge lohnt es sich, sein Leben zu riskieren.« Wie ich es erwartet hatte, nahm er sich ein Stück Bitterschokolade. In der Ferne bel te ein Hund. Kauend blickte er über mich hinweg auf die verlassene Straße.

»Du warst im Einkaufszentrum.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Und auch an einigen anderen Orten.«

Jenks' Flügel vibrierten in meinem Nacken. »Rachel. .«

»Entspann dich, Jenks«, erwiderte ich genervt.

Der alte Mann aber erhob sich mühsam. »Nein, er hat schon recht. Es ist spät.«

Keasleys unverständliche Anspielungen und Jenks'

Instinkte begannen mich zu verunsichern. Als der Hund erneut bel te, sprang ich auf. Der Splat Bal -Haufen vor meiner Tür fiel mir wieder ein. Viel eicht hätte ich doch über den Friedhof reingehen sol en, Tarnung hin oder her.

Keasley ging mit angestrengten Bewegungen zu seiner Tür.

»Pass auf dich auf, Ms. Morgan. Wenn sie einmal gemerkt haben, dass du ihnen entwischen kannst, werden sie ihre Taktik ändern.« Er öffnete die Tür, ging hinein und schloss geräuschlos die Fliegengittertür hinter sich. »Vielen Dank für die Schokolade.«

»Gern geschehen«, flüsterte ich, als ich mich abwandte. Ich wusste, dass er mich hören konnte.

»Unheimlicher alter Mann«, sagte Jenks und brachte meinen Ohrring zum Schwingen, als ich über die Straße ging und auf das Motorrad zusteuerte, das vor der Kirche geparkt war. Das frühe Licht spiegelte sich auf dem Chrom. Offenbar hatte Ivy ihr Bike abgeholt.

»Viel eicht darf ich es ja mal benutzen«, grübelte ich laut.

Im Vorbeigehen betrachtete ich es bewundernd: Es war eine schwarze, glänzende Nightwing, ausgestattet mit Goldapplikationen und feinstem Leder. Fantastisch! Neidisch strich ich mit meiner Hand über den Sitz und hinterließ eine Spur in dem Tau, der sich während der Nacht angesammelt hatte.

»Rachel, runter!«

Ich ließ mich fal en und landete mit den Handinnenflächen auf dem Bürgersteig. Etwas fegte über meinen Kopf hinweg; wäre ich stehen geblieben, hätte es mich getroffen.

Adrenalin schoss durch meinen Körper und mein Herz schlug so heftig, dass es wehtat. Ich rol te zur Seite und brachte das Motorrad zwischen mich und das Dickicht auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Dann hielt ich den Atem an, aber in den Büschen regte sich nichts. Schließlich zog ich meine Tasche heran und wühlte hektisch darin herum.

»Bleib unten«, zischte Jenks. Seine Flügel glühten violett vor Anspannung.

Der Stich der Lanzette ging mir durch und durch, aber ich schaffte es, den Schlafzauber in nur viereinhalb Sekunden zu aktivieren - ein neuer Rekord. Nicht, dass mir das etwas helfen würde, solange wer auch immer es war in den Büschen versteckt blieb. Viel eicht konnte ich den Zauber nach ihm werfen. Fal s die I. S. sich diese Angriffe zur Gewohnheit machen sol te, wäre ein Splat-Gewehr eine gute Investition. Obwohl ich mehr der »Tritt ihnen gegenüber und schlag sie in die Fresse«-Typ war. Sich wie ein Heckenschütze in den Büschen zu verstecken war schäbig, aber wenn du in Rom bist. .

Ich packte das Amulett an der Kordel, damit es sich nicht auf mich auswirken konnte, und wartete.

»Steck's weg«, meinte Jenks und entspannte sich, als wir plötzlich von einem Schwarm hin und her flitzender Pixiekinder umgeben waren. Sie wirbelten über uns hinweg und sprachen dabei so schnel und hoch, dass ich kein Wort verstehen konnte. »Sie sind weg«, fügte er hinzu. »Es tut mir leid. Ich wusste, dass sie da sind, aber -«

»Du wusstest, dass sie da sind?«, schrie ich. Mit schmerzendem Nacken schaute ich zu ihm hoch. Der Hund begann wieder zu bel en und ich senkte die Stimme, als ich fortfuhr: »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«

Er grinste. »Ich musste sie aus der Reserve locken.«

Stocksauer rappelte ich mich auf. »Na tol . Vielen Dank auch. Viel eicht lässt du es mich beim nächsten Mal wissen, wenn ich den Köder spielen sol .« Ich schüttelte meinen langen Mantel aus und stel te angeekelt fest, dass ich die Schokolade zerquetscht hatte.

»Aber Rachel«, quengelte er, »wenn ich es dir vorher gesagt hätte, hättest du nicht überzeugend reagiert und die Fairies hätten einfach abgewartet, bis meine Wachsamkeit nachlässt.«

Damit hatte er mich eiskalt erwischt. »Fairies?« Denon musste vol kommen außer sich sein. Fairies waren unglaublich teuer. Aber viel eicht hatten sie ihm wegen des Froschzwischenfal s einen Rabatt gegeben.

»Sie sind weg. Ich würde aber an deiner Stel e nicht al zu lange hier draußen bleiben. Ich habe gehört, dass die Tiermenschen es noch einmal versuchen wol en.«

Er nahm sein rotes Halstuch ab und reichte es seinem Sohn. »Jax, du und deine Schwestern können ihr Katapult haben.«

»Danke, Papa!« Der kleine Pixie konnte sich kaum halten vor Freude. Er band sich das rote Tuch um die Hüfte und flitzte mit sechs anderen aus der Gruppe über die Straße.

»Seid vorsichtig«, rief ihnen Jenks nach, »es könnte vermint sein.«

Jetzt also auch noch Fairies, dachte ich, als ich über die ruhige Straße blickte. Scheiße.

Jenks' restliche Kinder drängten sich um ihn und redeten al e gleichzeitig auf ihn ein, während sie versuchten, ihn wegzuziehen.

»Ivy hat Besuch«, meinte er noch, während er langsam in die Höhe stieg. »Ich hab ihn gecheckt, er ist o.k. Hast du was dagegen, wenn ich für heute Schluss mache?«

»Mach ruhig.« Ich betrachtete noch einmal das Motorrad; es war also gar nicht Ivys. »Und, äh, danke.«

Sie stiegen auf wie ein Schwärm Glühwürmchen. Knapp hinter ihnen flogen Jax und seine Schwestern, die sich mit einem Katapult abmühten, das ebenso klein war wie sie. Mit surrenden Flügeln und viel Geschrei verschwanden sie hinter der Kirche und ließen mich in der trostlosen Ruhe der morgendlichen Straße zurück.

Ich drehte mich um und schleppte mich die steinernen Stufen hinauf. Bevor ich hineinging, schaute ich noch einmal über die Straße und sah, wie vor dem einzigen erleuchteten Fenster ein Vorhang wieder in Position fiel. Die Show ist vorbei. Geh schlafen, Keasley. Ich zog die schwere Tür auf, schlich hinein und schob den geölten Riegel an seinen Platz.

Schlagartig fühlte ich mich besser, obwohl ich wusste, dass die Attentäter der L.S.; wohl kaum die Vordertür benutzen würden. Fairies? Denon muss fuchsteufelswild sein.

Mit einem erschöpften Seufzer lehnte ich mich gegen das dicke Fachwerkholz und versuchte, nicht an den nächsten Morgen zu denken. Ich wol te einfach nur noch duschen und dann ins Bett. Als ich langsam durch den leeren Altarraum in die Küche schlich, hörte ich aus dem Wohnzimmer sanfte Jazzklänge, die sich mit Ivys lauter und wütender Stimme vermischten.

»Verdammt noch mal, Kist. Wenn du nicht sofort deinen Arsch aus dem Sessel erhebst, werde ich dich auf die Sonne katapultieren.«

»Ach, komm runter, Tamwood. Ich werde gar nichts machen.« Ich kannte die Stimme nicht. Sie war männlich und tief, aber mit einem weinerlichen Unterton. Sie klang so, als ob der Unbekannte so ziemlich jedem möglichen Laster frönen würde. Um Zeit zu gewinnen, reinigte ich erst mal meine benutzten Amulette in dem Topf mit Salzwasser, der neben dem Kühlschrank stand. Sie waren immer noch brauchbar, aber ich war nicht so dumm, aktive Amulette einfach so rumliegen zu lassen.

Die Musik verstummte abrupt. »Raus«, sagte Ivy bedrohlich sanft, »sofort.«

»Ivy?«, rief ich laut, da mich die Neugier gepackt hatte.

Immerhin hatte Jenks gesagt, der Besucher sei okay. Ich ließ meine Tasche auf der Arbeitsplatte liegen und ging ins Wohnzimmer. Meine Erschöpfung verwandelte sich in Wut.

Wir hatten nie darüber gesprochen, aber ich hatte angenommen, dass wir möglichst in Deckung bleiben wol ten, bis mein Kopfgeld vom Tisch wäre.

»Oh, oh«, spottete der unbekannte Kist, »sie ist zurück.«

»Benimm dich«, drohte ihm Ivy, als ich den Raum betrat.

»Oder ich zieh dir das Fel über die Ohren.«

»Ist das ein Versprechen?«

Ich schaffte es drei Schritte weit in den Raum, bevor ich abrupt innehielt.

Meine Wut wurde von meinem Überlebensinstinkt vertrieben. Ein in Leder gekleideter Vamp lümmelte in Ivys Sessel und fühlte sich offenbar ganz wie zu Hause. Er hatte die Füße in den makel osen Stiefeln auf den Kaffeetisch gelegt, doch Ivy schob sie gerade angewidert weg. Sie bewegte sich schnel er, als ich es jemals zuvor gesehen hatte.

Zwei Schritte von ihm entfernt blieb sie stehen, das Becken aggressiv vorgeschoben und die Arme vor der Brust verschränkt. Das Ticken der Kaminuhr schien lauter als sonst.

Kist konnte kein toter Vampir sein, denn er befand sich auf geweihtem Boden und es war kurz vor Sonnenaufgang. Aber verdammt noch mal - er war nah dran. Mit übertriebener Langsamkeit ließ er seine Füße auf den Boden sinken und warf mir einen gleichgültigen Blick zu, der mich bis ins Mark traf und wie eine nasse Decke an mir zu kleben schien. Und ja, er war schön. Gefährlich schön. Mir schoss Tafel 6.1 durch den Kopf und ich musste schlucken. Sein Dreitagebart verlieh ihm einen wilden Touch. Als er sich aufrichtete, warf er mit einer anmutigen Kopfbewegung sein blondes Haar zurück.

Wahrscheinlich arbeitete er an dieser Bewegung schon seit Jahren. Seine Lederjacke war offen und gab den Blick auf ein schwarzes Baumwol shirt frei, das sich an seinen muskulösen Oberkörper schmiegte. Zwei funkelnde Stecker zierten das eine Ohr, an dem anderen waren nur ein Ohrring und eine lang verheilte Wunde zu sehen. Das war die einzige sichtbare Narbe an seinem Körper. Ich fragte mich plötzlich, ob ich weitere ertasten könnte, wenn ich mit meinen Fingern über seinen Hals strich.

Mit klopfendem Herzen zwang ich meinen Blick in eine andere Richtung und schwor mir, ihn nicht mehr anzusehen.

Selbst Ivy konnte mir nicht so eine Angst einflößen. Er war ein reines Instinktwesen, das nur seinen Launen folgte.

»Ahh«, flüsterte Kist, »sie ist süß. Du hättest mir sagen sol en, dass sie so ein Engel ist.« Er holte tief Luft, als ob er den Geruch der Nacht an seinem Gaumen spüren wol te.

»Und sie riecht nach dir, Ivy Schatz.« Er senkte die Stimme, als er hinzufügte: »Ist das nicht entzückend?«

Zitternd zog ich meinen Mantel enger um mich und wich bis zur Türschwel e zurück.

»Rachel, das ist Kisten. Er wil gerade gehen. Nicht wahr, Kist?«

Er verstand das ganz richtig als eine rhetorische Frage und mir stockte der Atem, als er mit animalischer Geschmeidigkeit aus dem Sessel aufstand. Anschließend streckte er sich genüsslich, wodurch jeder einzelne seiner umwerfenden Muskeln zur Geltung kam. Ich konnte meine Augen nicht von ihm losreißen. Als er sich schließlich wieder entspannte, trafen sich unsere Blicke. Seine Augen waren braun. Er erkannte, dass ich ihn beobachtet hatte, und verzog die Lippen zu einem sanften Lächeln. Seine Zähne waren genauso scharf wie Ivys. Also war er kein Ghoul, sondern ein vol wertiger lebender Vampir. Ich beendete hastig den Blickkontakt, obwohl ich wusste, dass lebende Vamps nur die Wil igen verführen konnten. »Du stehst auf Vampire, kleine Hexe?«

Seine Stimme war wie ein Windhauch über dem Wasser und so fesselnd, dass mir die Knie weich wurden. »Du darfst mich nicht anrühren.« Ich war nicht in der Lage, seinem Blick auszuweichen. »Ich habe keine Papiere unterschrieben.«

»Nein?«, flüsterte er. Sein arroganter Blick wurde spöttisch, als er mit lautlosen Schritten auf mich zukam. Mit klopfendem Herzen starrte ich auf den Boden und griff hinter mich, um mich am Türrahmen festzuhalten. Er war stärker als ich. . und schnel er. Aber ein Knie in den Weichteilen würde ihn genauso ausschalten wie jeden anderen Mann.

»Die Justiz wird das nicht kümmern«, hauchte er, als er mich erreicht hatte, »du bist schließlich schon tot.«

Meine Augen weiteten sich, als er seinen Arm nach mir ausstreckte. Sein Geruch überkam mich, der moderige Hauch schwarzer Erde, und ich ging einen Schritt auf ihn zu. Sanft fuhr er mit seiner Hand über mein Kinn. Die Berührung brachte mich so aus dem Konzept, dass ich stolperte, woraufhin er mich am El bogen packte und an seine Brust zog. Sehnsucht nach al den verheißungsvol en Versprechen, die er mir zu machen schien, zog durch mein Blut. Ich lehnte mich an ihn und wartete. Schließlich öffneten sich seine Lippen und er flüsterte mir Worte zu, die ich nicht verstand.

Schöne, dunkle Worte.

»Kist!«, schrie Ivy und wir zuckten beide zusammen. In seinen Augen blitzte Wut auf, verschwand dann jedoch wieder. In Sekundenschnel e kehrte meine Wil enskraft zurück. Ich versuchte, mich loszureißen, doch er hielt mich fest. Es roch nach Blut. »Lass mich los«, forderte ich und wurde beinahe panisch, als er nicht reagierte. »Lass los!«

Er zog seine Hand zurück und wandte sich Ivy zu, ohne mich weiter zu beachten. Zitternd fiel ich gegen den Türrahmen, war aber nicht in der Lage, zu gehen. Erst musste ich wissen, dass er fort war.

Kist stand vol kommen ruhig vor der wütenden Ivy.

»Ivy, Liebes«, schmeichelte er, »warum quälst du dich so?

Sie ist von deinem Geruch überzogen, aber ihr Blut riecht noch immer rein. Wie kannst du da widerstehen? Sie wil es doch. Sie schreit geradezu danach. Beim ersten Mal wird sie viel eicht ein bisschen rumzicken, aber am Ende wird sie dir dafür danken.«

Scheinbar verschämt biss er sich sanft auf die Lippe. Blut floss und wurde von einer aufreizend langsamen Zunge aufgefangen. Mir wurde bewusst, wie laut ich atmete, und ich hielt die Luft an.

Ivy rastete nun völ ig aus. Ihre Augen wurden zu schwarzen Löchern und die Spannung im Raum steigerte sich dramatisch. Selbst die Gril en im Garten zirpten schnel er. Langsam und vorsichtig lehnte sich Kist zu Ivy hinüber. »Wenn du sie nicht einführen wil st, dann gib sie mir.« Seine Vorfreude war nicht zu überhören. »Ich werde sie dir auch bestimmt zurückgeben.« Seine Lippen öffneten sich und entblößten seine funkelnden Fangzähne. »Großes Pfadfinderehrenwort.«

Ivy rang nach Luft. In ihrem Gesicht verbanden sich Lust und Hass zu einer surrealen Mischung. Mit der Faszination des Grauens beobachtete ich, wie sie gegen ihren Hunger ankämpfte, bis er langsam verebbte und nur noch Hass übrig blieb. »Verschwinde«, sagte sie heiser.

Kist atmete tief ein, und als er ausatmete, löste sich die Anspannung. Jetzt konnte auch ich wieder atmen, während mein Blick zwischen den beiden hin- und herflog. Es war vorbei. Ivy hatte gewonnen. Ich war - in Sicherheit?

»Das ist einfach nur dumm, Tamwood.« Betont lässig rückte Kist seine Lederjacke zurecht. »Eine Verschwendung der Dunkelheit, für etwas, das gar nicht existiert.«

Mit abrupten Schritten ging Ivy zur Hintertür und mir lief der Schweiß den Rücken hinunter, als mich der Windhauch ihrer Bewegung streifte. Die kalte Morgenluft strömte zu uns herein und vertrieb die Dunkelheit, mit der sich der Kaum gefül t zu haben schien. »Sie gehört mir«, sagte Ivy, als ob ich gar nicht dawäre. »Sie steht unter meinem Schutz. Was ich mit ihr tue oder nicht tue, ist al ein meine Sache. Sag Piscary, wenn ich noch einmal einen von seinen Schattcn auch nur in der Nähe meiner Kirche erwische, dann gehe ich davon aus, dass er Anspruch erhebt auf etwas, das mir gehört. Frag ihn, ob er einen Krieg mit mir wil , Kist. Frag ihn das.«

Kist ging zwischen uns beiden hindurch und drehte sich auf der Türschwel e noch einmal um. »Du kannst deine Lust auf sie nicht ewig verbergen.« Ivy presste die Lippen zusammen. »Und sobald sie das mitkriegt, wird sie vor dir weglaufen, und dann ist sie Freiwild.« Von einer Sekunde auf die andere sackte er in sich zusammen und sein Gesicht wurde jungenhaft. »Komm zurück«, bat er sie vol sinnlicher Unschuld. »Ich sol dir ausrichten, dass du deinen alten Platz zurückhaben kannst, wenn du uns nur ein bisschen entgegenkommst. Sie ist doch nur eine Hexe. Du weißt noch nicht mal, ob sie -«

»Raus!« Ivy deutete in Richtung der aufgehenden Sonne.

Kist trat durch die Tür. »Ein Angebot abzulehnen, schafft bittere Feinde.«

»Ein Angebot, das in Wirklichkeit keines ist, beschämt denjenigen, der es macht.«

Schulterzuckend zog er eine Ledermütze aus seiner Gesäßtasche und setzte sie auf. Dann sah er mich an und sein Blick wurde hungrig. »Auf Wiedersehen, Liebes«, flüsterte er, und ich schauderte, als ob er mit seiner Hand meine Wange berührt hätte. Ich war mir nicht sicher, ob aus Abscheu oder Verlangen. Dann war er fort.

Ivy knal te die Tür hinter ihm zu, bewegte sich mit unverändert beklemmender Anmut durch das Wohnzimmer und ließ sich in einen Sessel fal en. Wut verdunkelte ihr Gesicht. Heilige Scheiße. Ich lebe mit einem Vampir zusammen. Abstinent oder nicht, sie war ein Vamp. Was hatte Kist gesagt? Dass Ivy ihre Zeit vergeudete und dass ich abhauen würde, sobald ich ihren Hunger erkannte? Dass ich ihr gehörte? Scheiße.

Ich bewegte mich langsam rückwärts aus dem Raum, erstarrte jedoch zu Eis, als Ivy aufblickte. Die Wut in ihrem Gesicht verwandelte sich in Besorgnis, als sie sah, wie verängstigt ich war.

Mir schnürte sich die Kehle zu und ich wandte mich ab, um in den Flur zu gehen.

»Rachel, warte!« Ihre Stimme klang flehend. »Das mit Kist tut mir leid. Ich habe ihn nicht eingeladen, er ist einfach so aufgetaucht.«

Ich ging weiter. Wenn sie mich jetzt berührte, würde ich vor Anspannung explodieren. War das der Grund, warum Ivy mit mir zusammen ausgestiegen war? Sie konnte mich nicht legal jagen, aber wie Kist schon sagte, in meinem Fal wäre es der Justiz egal.

»Rachel. .«

Als ich mich umdrehte, stand sie direkt hinter mir, wich aber überirdisch schnel drei Schritte zurück, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. Ihre Hände waren in einer beschwichtigenden Geste erhoben und sie sah ernsthaft besorgt aus. Mein Herz schlug inzwischen so heftig, dass ich Kopfschmerzen bekam. »Was wil st du?« Fast wünschte ich mir, sie würde lügen und mir sagen, das sei al es ein Missverständnis gewesen. Draußen waren die Geräusche von Kists Bike zu hören. Ich starrte sie an, während sich das Motorengeräusch langsam entfernte.

»Nichts.« Ihre braunen Augen blickten ernst. »Hör nicht auf Kist. Er spielt nur mit dir. Er flirtet mit al em, was er nicht haben kann.«

»Genau!«, schrie ich, um das Zittern zu unterdrücken. »Ich gehöre ja dir. Das hast du doch gesagt, dass ich dir gehöre.

Ich gehöre niemandem, Ivy! Bleib zur Höl e weg von mir!«

»Das hast du gehört?«

»Natürlich habe ich das gehört!« Die Wut besiegte meine Angst und ich machte einen Schritt auf sie zu. »Ist das dein wahres Ich?« Ich deutete in Richtung Wohnzimmer. »Bist du wie dieses - dieses Tier? Bist du das? Jagst du mich, Ivy? Geht es dir nur darum, deinen Magen mit meinem Blut zu fül en?

Schmeckt es viel eicht besser, wenn man sie betrügt? Tut es das?«

»Nein!«, schrie sie vol er Verzweiflung. »Rachel, ich -«

»Du hast mich angelogen! Er hat mich gefügig gemacht.

Du hast gesagt, ein lebender Vampir kann das nur, wenn man es zulässt. Und das habe ich zur Höl e nicht getan!«

Sie sagte nichts, sondern stand einfach bewegungslos im Türrahmen. Ich konnte ihren schweren Atem hören und nahm einen süß-sauren Geruch von Asche und Rotholz wahr: Die gefährliche Mischung unserer Körpergerüche. Ihre angespannte Reglosigkeit traf mich wie ein Schock. Mit trockenem Mund trat ich zurück, als mir bewusst wurde, dass ich gerade einen Vampir anschrie. Der Adrenalinrausch war vorbei, jetzt war mir schlecht und ich fror.

»Du hast mich angelogen«, flüsterte ich und zog mich in die Küche zurück. Sie hatte mich angelogen. Dad hatte recht gehabt: Traue niemandem. Ich würde meine Sachen packen und gehen.

Ivys Schritte hinter mir waren übermäßig laut. Offenbar trat sie bewusst fester auf, um sich bemerkbar zu machen.

Aber ich war zu wütend, um darauf zu reagieren.

»Was tust du da?«, fragte sie, als ich einen Schrank öffnete und eine Handvol Amulette herausnahm, um sie in meine Tasche zu packen.

»Ich gehe.«

»Das kannst du nicht! Du hast Kist doch gehört, sie warten auf dich!«

»Ich lasse mich lieber von Feinden umbringen, die ich kenne, als von jemandem kaltmachen, während ich ahnungslos in meinem Bett liege.« Das war wohl das Dümmste, was ich jemals gesagt hatte. Und es ergab noch nicht mal einen Sinn.

Ich blieb ruckartig stehen, als sie vor mir auftauchte und die Schranktür schloss. »Geh mir aus dem Weg«, drohte ich leise und hoffte dabei, dass sie nicht merkte, wie zittrig meine Stimme klang.

Inzwischen wirkte sie ernsthaft bestürzt. Sie sah wieder absolut menschlich aus, und genau das ängstigte mich zu Tode. Immer wenn ich glaubte, sie zu verstehen, machte sie so etwas.

Mit meinen Amuletten und der Lanzette außer Reichweite war ich hilflos. Sie konnte mich durch den Raum schleudern und mir am Ofen den Kopf zu Brei schlagen. Sie konnte mir die Beine brechen, damit ich nicht weglaufen konnte. Sie konnte mich auch einfach an einen Stuhl fesseln und mich beißen. Aber sie stand einfach nur da. Ihr perfektes, blasses Gesicht war schmerzerfül t. »Ich kann es erklären«, bat sie leise.

Ich versuchte, das Zittern in den Griff zu kriegen, und sah sie an. »Was wil st du von mir?«, flüsterte ich.

»Ich habe dich nicht angelogen«, erklärte sie, ohne auf meine Frage einzugehen. »Kist ist Piscarys auserwählter Nachkomme. Die meiste Zeit ist Kist einfach Kist, aber Piscary kann -« Sie zögerte. Ich starrte sie an, jederzeit bereit, die Flucht zu ergreifen. Aber wenn ich mich bewegte, würde sie sich auch bewegen. »Piscary ist älter als Dreck.

Und er ist mächtig genug, Kist dazu zu benutzen, an Orte zu kommen, zu denen er selbst keinen Zugang mehr hat.«

»Er ist also ein Dienstbote«, stieß ich hervor, »ein elender Lakai für einen toten Vamp. Macht am Tag seine Einkäufe und besorgt Papa Piscary seine menschlichen Snacks für zwischendurch.«

Ivy zuckte zusammen, nahm aber eine etwas entspanntere Haltung ein; sie stand jedoch immer noch zwischen mir und meinen Amuletten. »Es ist eine große Ehre, wenn man von einem Vampir wie Piscary als Nachfolger erwählt wird. Und es ist nicht vol kommen einseitig. Aufgrund seiner Stel ung hat Kist mehr Macht, als ein lebender Vamp haben sol te.

Deswegen konnte er dich gefügig machen. Aber, Rachel«, fügte sie hastig hinzu, als ich ein hilfloses Gerausch von mir gab, »ich hätte dich ihm niemals überlassen.« Und darüber sol ich mich jetzt freuen? Dass du mich nicht mit jemandem teilen wil st? Mein Puls hatte sich normalisiert und ich ließ mich auf einen Stuhl sinken, da ich mir nicht sicher war, ob meine Beine mich noch lange tragen würden. Ich fragte mich, wie viel von meiner Schwäche ich der ausgestandenen Aufregung zu verdanken hatte und wie viel sich auf Ivys beruhigende Pheromone zurückführen ließ, mit denen sie die Luft vol pumpte. Scheiße, scheiße, scheiße! Das war al es zu viel für mich, besonders wenn Piscary involviert war.

Piscary galt als der älteste Vampir von Cincinnati. Er machte keinen Ärger und hatte seine wenigen Leute gut im Griff. Dabei nutzte er das System für seine Zwecke, kümmerte sich genauestens um den Papierkram und stel te sicher, dass jeder Fang, den seine Leute machten, auch legal war. Aber er war weitaus mehr als der einfache Restaurantbesitzer, der er zu sein vorgab. Die I. S. praktizierte bezüglich des Meistervampirs eine Politik des Stil schweigens. Er war einer der bereits erwähnten Puppenspieler hinter den Kulissen.

Und solange er seine Steuern bezahlte und seine Alkohol izenz erneuerte, gab es nichts, was man gegen ihn tun konnte - oder jemanden, der es wol te. Aber wenn ein Vampir so harmlos wirkte, bedeutete das nur, dass er schlauer war als die meisten.

Ivy stand noch immer vor mir und hatte die Arme verschränkt, als müsste sie sich selbst beruhigen. O Gott.

Was machte ich hier eigentlich?

»Was bedeutet dir Piscary?«, fragte ich unsicher.

»Nichts.« Ich machte ein verächtliches Geräusch. »Wirklich.

Er ist ein Freund der Familie.«

»Onkel Piscary, was?«

»Tatsächlich bist du näher dran, als du denkst. Piscary hat im 18. Jahrhundert die Vampirblutlinie meiner Mutter gegründet.«

»Und hat euch seitdem schön langsam ausgesaugt.«

»So ist das nicht.« Sie klang verletzt. »Piscary hat mich nie angerührt. Er war immer wie ein zweiter Vater für mich.«

»Viel eicht lässt er das Blut reifen wie einen guten Wein?«

In einer ungewöhnlichen Zurschaustel ung von Sorge fuhr sich Ivy durchs Haar. »So ist es nicht, ehrlich.«

»Großartig.« Ich sank in mich zusammen und stützte die El bogen auf den Tisch. Nun musste ich mir auch noch um auserwählte Nachkommen Gedanken machen, die durch die Kraft ihres Meisters in meine Kirche eindringen konnten.

Warum hatte sie mir das nicht früher gesagt? Ich hatte keine Lust, dieses verdammte Spiel mitzuspielen, wenn sich die Regeln ständig änderten.

»Was wil st du von mir?«, fragte ich erneut, obwohl ich mich vor der Antwort fürchtete; viel eicht musste ich doch noch gehen, wenn ich sie gehört hatte.

»Nichts.«

»Lügnerin.« Als ich vom Tisch aufsah, war sie verschwunden.

Vol kommen erschöpft starrte ich auf die leere Arbeitsplatte und die kahlen Wände. Ich hasste es, wenn sie das tat. Mr. Fish auf dem Fensterbrett wand sich in seinem Glas. Kr mochte es auch nicht.

Widerwil ig legte ich die Amulette zurück. Meine Gedanken kreisten um den Angriff der Fairies vor meiner Haustür, die Splat Bal s der Tiermenschen, die auf meiner Veranda aufgestapelt waren, und vor al em um Kists Drohung, dass die Vamps nur darauf warteten, dass ich Ivys Schutz verl eß. Ich saß in der Fal e - und Ivy wusste das.

13

Ich klopfte gegen das Beifahrerfenster von Francis' Wagen, um Jenks auf mich aufmerksam zu machen. »Wie spät ist es?«, flüsterte ich leise, da auf diesem Parkdeck sogar ein Wispern laut hal te. Die Kameras nahmen mich auf, aber die Bänder wurden nur gesichtet, wenn jemand einen Einbruch meldete.

Jenks flog von der Sonnenblende und betätigte den elek-trischen Fensterheber. »Viertel nach elf«, sagte er, als sich die Scheibe senkte. »Meinst du, sie haben das Interview mit Kalamack verschoben?«

Ich schüttelte den Kopf und warf einen Blick über die Au-todächer hinweg zu den Fahrstuhltüren. »Nein, aber wenn ich seinetwegen zu spät komme, werde ich sauer.« Ich zupfte am Saum meines Rocks. Zu meiner großen Erleichterung war Jenks' Freund gestern mit meinen Klamotten und dem Schmuck gekommen. Meine gesamte Kleidung befand sich nun sorgfältig gestapelt und aufgehängt in meinem Wandschrank. Es tat gut, sie da zu sehen. Der Tiermensch hatte die Sachen sogar gewaschen und al es ordentlich zusammengelegt. Ich überlegte bereits, wie viel er wohl dafür verlangen würde, jede Woche meine Wäsche zu machen.

Etwas zum Anziehen zu finden, das sowohl konservativ als auch provozierend war, hatte sich als schwieriger erwiesen als gedacht. Ich hatte mich schließlich für einen kurzen roten Rock, eine farblose Strumpfhose und eine weiße Bluse entschieden, deren Knöpfe ich je nach Bedarf öffnen und schließen konnte. Die Creolen waren zu klein, um Jenks als Sitz zu dienen, worüber sich der Pixie eine halbe Stunde lang lauthals beschwert hatte. Mit meinem hochgesteckten Haar und den schicken modischen Stöckelschuhen sah ich aus wie eine kesse Studentin. Der Tarnzauber unterstützte diesen Eindruck: Ich war wieder eine großnasige Brünette, nur dass ich diesmal stark nach Lavendel roch. Francis würde wissen, wer ich war, aber das lag auch in meiner Absicht.

Nervös kratzte ich mir den Dreck unter den Nägeln weg und machte mir im Geist eine Notiz, sie neu zu lackieren. Der alte Lack war verschwunden, als ich mich in den Nerz verwandelt hatte. »Sehe ich so gut aus?«, fragte ich Jenks und zupfte an meinem Kragen herum.

»Yeah, ausgezeichnet.«

»Du hast noch nicht mal hingeschaut«, beschwerte ich mich. Die Klingel des Fahrstuhls läutete. »Viel eicht ist er das.

Ist der Zaubertrank bereit?«

»Ich brauche den Verschluss nur noch anzustupsen, schon ist er vol davon.« Jenks ließ das Fenster hochfahren und flitzte in sein Versteck. Ich hatte eine Phiole Gute-Nacht-Trank zwischen der Decke des Innenraums und der Sonnenblende eingeklemmt. Francis sol te al erdings denken, dass es sich um etwas wesentlich Schlimmeres handelte. Es sol te ihm als Anreiz dienen, mir seinen Platz bei der Unterredung mit Kalamack zu überlassen. Einen ausgewachsenen Mann zu entführen, Schlappschwanz oder nicht, war eine schwierige Angelegenheit. Es war kaum möglich, ihn k. o. zu schlagen und dann in den Kofferraum zu verfrachten. Und ihn einfach irgendwo bewusstlos liegen zu lassen wo er entdeckt werden könnte, war viel zu riskant.

Jenks und ich waren deshalb bereits seit einer Stunde auf dem Parkdeck und hatten ein paar kleine, aber effektive Änderungen an Francis' Sportwagen vorgenommen. Der Pixie hatte in kürzester Zeit die Alarmanlage überbrückt und die Schlösser an der Fahrertür und an den Fenstern geknackt.

Und während ich nun vor dem Wagen auf Francis wartete, lag meine Tasche bereits unter dem Beifahrersitz. Francis hatte sich ein wirkliches Prachtauto gegönnt: ein rotes Kabrio mit Ledersitzen. Der Wagen verfügte über eine individuel regulierbare Klimaanlage und abtönbare Scheiben - das wusste ich, weil ich sie ausprobiert hatte. Es gab sogar ein eingebautes Mobiltelefon, dessen Batterien sich nun in meiner Tasche befanden. Auf dem Nummernschild stand

»Pleite«. Das abartige Teil hatte so viel Elektronik an Bord, dass ihm nur noch die Startfreigabe fehlte, um sich in die Lüfte zu erheben. Und es roch immer noch nach Neuwagen.

Bestechung, dachte ich in einem Anflug von Neid, oder Schweigegeld?

Das Licht über dem Fahrstuhl erlosch, und in der Hoffnung, dass es Francis war, duckte ich mich hinter einen Pfeiler. Ich wol te auf keinen Fal zu spät kommen. Wie üblich beschleunigte sich mein Puls und ein Lächeln huschte über mein Gesicht, als ich Francis' schnel e Schritte erkannte. Ich hörte, wie er mit den Schlüsseln klimperte und ein erstauntes

»Häh« von sich gab, als das Auto beim Abschalten der Alarmanlage nicht mit dem gewohnten Signalton reagierte.

Meine Fingerspitzen prickelten vor Erwartung; das würde ein Spaß werden.

Die Fahrertür öffnete sich mit einem Quietschen und ich sprang hinter dem Pfeiler hervor zur Beifahrertür.

Gleichzeitig mit Francis rutschte ich in den Sitz und schlug die Tür zu.

»Was zur Höl e«, rief Francis, der erst jetzt bemerkte, dass er Gesel schaft bekommen hatte. Er blinzelte verwirrt und strich sich mit einer schnel en Handbewegung das dünne Haar aus der Stirn.

»Rachel«, bemerkte er schließlich, mit völ ig unangebrachter Selbstsicherheit, »du bist so was von tot.«

Er versuchte die Tür zu erreichen, doch ich hielt ihn davon ab, indem ich mir sein Handgelenk schnappte und zu Jenks hochdeutete. Der Pixie grinste und seine Flügel glühten vor Vorfreude, als er auf die Phiole klopfte. Francis erbleichte.

»Erwischt«, flüsterte ich, ließ ihn los und verriegelte die Türen von innen. »Du bist festgenommen.«

»W-Was sol das hier werden?«, stotterte er.

Ich lächelte. »Ich übernehme deine Unterredung mit Kalamack. Du hast dich soeben freiwil ig gemeldet, mein Chauffeur zu sein.«

Er richtete sich auf und zeigte erstaunlicherweise ein wenig Rückgrat. »Du kannst dich mal wandeln«, stieß er hervor, wobei er Jenks und den Zaubertrank nicht aus den Augen ließ. »Als ob du mit schwarzer Magie rumspielen und irgendwas Tödliches brauen würdest. Ich werde dich jetzt endlich festnehmen.«

Jenks machte ein angeekeltes Geräusch und begann, die Phiole zu kippen. »Noch nicht, Jenks«, rief ich, warf mich über den Sitz und landete fast auf Francis' Schoß. Schnel schob ich meinen rechten Arm gegen seinen dünnen Hals und griff gleichzeitig nach der Kopfstütze, um ihn in dieser Position festzuhalten. Er umklammerte krampfhaft meinen Arm, konnte in dem engen Raum aber wenig ausrichten. Sein kratziges Polyester Jackett scheuerte gegen meinen Arm und sein Angstschweiß roch noch widerlicher als mein Lavendelparfum. »Idiot«, zischte ich in Francis' Ohr, »weißt du überhaupt, was da über deinen Eiern baumelt? Es könnte irreversibel sein. . wil st du das Risiko wirklich eingehen?«

Er schüttelte seinen knal roten Kopf. Trotz des Schaltknüppels, der sich in meine Hüfte bohrte, schob ich mich noch näher an ihn heran. »Du würdest nichts Tödliches wirken«, quiekte er trotzig.

»Komm schon, Rachel«, drängte Jenks von der Sonnenblende aus, »lass mich ihn verfluchen. Ich kann dir beibringen, wie man mit Gangschaltung fährt.«

Francis' Finger gruben sich tiefer in meinen Arm, doch ich nutzte den Schmerz lediglich dazu, ihn noch fester in den Sitz zu drücken.

»Wanze!«, schrie Francis. »Du bist ein. .« Seine Worte erstickten, als ich den Druck auf seine Kehle weiter verstärkte.

»Wanze?«, kreischte Jenks aufgebracht zurück, »du stinkender Schweißsack. Ich produziere Fürze, die besser riechen als du. Hältst dich wohl für was Besseres? Du glaubst wohl, du scheißt Eistüten, was? Nenn du mich noch einmal eine Wanze. . Rachel, lass mich ihn fertigmachen!«

»Nein«, sagte ich, auch wenn meine Abneigung gegen Francis gerade in Hass umschlug. »Ich bin mir sicher, dass Francis und ich zu einer Einigung kommen werden. Al es, was ich wil , ist eine Fahrt zu Trents Anwesen und diese Unterredung mit ihm. Francis wird keinen Ärger bekommen. Er ist doch ein Opfer, nicht wahr?« Ich lächelte Jenks grimmig an, war mir aber nicht sicher, ob ich ihn nach so einer Beleidigung wirklich noch davon abhalten konnte, Francis eine Dosis zu verabreichen. »Und du wirst ihm hinterher keine verpassen, hörst du, Jenks? Man bringt den Esel nicht um, nachdem er das Feld gepflügt hat; viel eicht braucht man ihn noch im nächsten Frühjahr.« Ich lehnte mich zu Francis hinüber und hauchte in sein Ohr: »Oder, Schätzchen?«

Er nickte, so gut er konnte, und ich lockerte meinen Griff, bevor ich ihn schließlich ganz losließ. Sein Blick blieb auf Jenks fixiert.

»Wenn du meinen Partner angreifst, fäl t die Phiole. Wenn du zu schnel fährst, fäl t die Phiole. Wenn du irgendwie versuchst, Aufmerksamkeit zu erregen -«

»Zerschlage ich das Ding auf deinem Kopf«, unterbrach mich Jenks, seine sonst so unbeschwerte Stimme scharf.

»Wenn du mich noch einmal nervst, werde ich dir einen Spruch verpassen, klar?« Er lachte und klang dabei wie ein bösartiges Windspiel. »Kapiert, Francine?«

Francis schielte vor Angst. Er setzte sich in Position, wobei er zunächst den Kragen seines einfachen weißen Hemds richtete und die Ärmel seines Jacketts hochzog, bevor er nach dem Lenkrad griff. Ich dankte Gott dafür, dass Francis sein Hawai hemd anlässlich des Gesprächs mit Trent Kalamack zu Hause gelassen hatte.

Mit verkniffenem Gesicht steckte er den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Wagen. Musik plärrte aus den Lautsprechern und ich zuckte zusammen. Die verdrossene Art, in der Francis das Lenkrad herumriss und mit der Gangschaltung hantierte, machte deutlich, dass er noch nicht aufgegeben hatte, sondern lediglich mitspielte, bis er einen Ausweg fand. Mir war das egal. Ich musste ihn nur aus der Stadt rauskriegen. Sobald wir in Sicherheit waren, würde Francis ein kleines Schläfchen machen.

»Damit wirst du nicht durchkommen.« Seine Drohung klang wie ein Zitat aus einem schlechten Film, aber er hielt brav seinen Parkausweis vor die automatische Schranke. Wir fuhren in den Sonnenschein hinaus und reihten uns in den späten Morgenverkehr ein. Untermalt wurde das Ganze von Don Henleys Boys Of Summer, das aus den Boxen dröhnte.

Wenn ich nicht so angespannt gewesen wäre, hätte ich es sogar genossen.

»Wil st du nicht noch ein wenig mehr Parfüm auflegen, Rachel?« Ein höhnisches Grinsen verzog sein schmales Gesicht. »Oder trägst du es, um den Gestank deiner Hauswanze zu überdecken?«

»Stopf ihm das Maul!«, schrie Jenks, »sonst mach ich es.«

Mir wurde das Ganze langsam zu blöd. »Wenn du wil st, kannst du ihn anpixen, Jenks«, erwiderte ich, während ich die Musik leiser machte. »Pass nur auf, dass er nichts von dem Trank abbekommt.«

Jenks grinste und verpasste Francis eine Ladung Pixiestaub, die sich über ihn verteilte, ohne dass er sie sehen konnte. Ich hingegen sah den Staub deutlich, da er von der einfal enden Sonne reflektiert wurde. Prompt kratzte sich Francis hinter dem Ohr.

»Wie lange, bis es richtig wirkt?«, fragte ich Jenks.

»Ungefähr zwanzig Minuten.«

Jenks hatte gut geschätzt. Als wir die Hochhäuser hinter uns gelassen, die Vororte passiert und ländliche Gefilde erreicht hatten, hatte auch Francis eins und eins zusammengezählt. Er konnte nicht mehr stil sitzen. Seine Bemerkungen wurden immer ätzender und sein Kratzen immer intensiver, bis ich das Klebeband aus der Tasche holte und drohte, ihm damit den Mund zuzukleben. Seine Haut war inzwischen mit roten Blasen bedeckt, die eine klare Flüssigkeit absonderten. Es sah aus wie ein schwerer Fal von Giftsumach. Als wir in die tiefste Provinz kamen, kratzte er sich so stark, dass er kaum noch den Wagen auf der Straße halten konnte. Ich hatte ihm aufmerksam zugesehen: Es schien gar nicht so schwer zu sein, mit einer Gangschaltung klarzukommen.

»Du Wanze«, fauchte Francis schließlich. »Das hast du doch am Samstag schon mal mit mir gemacht, oder?«

»Jetzt werde ich ihn verfluchen«, sagte Jenks; seine schril e Stimme bereitete mir Kopfschmerzen.

Genervt wandte ich mich an Francis: »Okay, Schätzchen, fahr rechts ran.«

Er blinzelte. »Was?«

Idiot, dachte ich. »Was glaubst du, wie lange ich Jenks davon abhalten kann, dir eine zu verpassen, wenn du ihn die ganze Zeit beleidigst? Also, fahr rüber.« Francis' Blick glitt nervös zwischen der Straße und mir hin und her. Wir waren während der letzen fünf Meilen keinem anderen Wagen mehr begegnet. »Ich sagte, fahr rechts ran, brül te ich und er schlitterte in einer Kieswolke auf den unbefestigten Randstreifen. Kurzerhand stel te ich den Motor ab und riss den Schlüssel aus der Zündung. Wir kamen so abrupt zum Stehen, dass mein Kopf gegen die Windschutzscheibe schlug. »Raus.« Ich entriegelte die Türen.

»Was, hier?« Francis war ein echtes Stadtkind. Er dachte wohl, ich würde ihn zu Fuß nach Hause schicken. Die Idee war verführerisch, aber ich konnte nicht riskieren, dass ihn jemand mitnahm oder dass er ein Telefon fand. Erstaunlich bereitwil ig stieg er aus. Mir wurde klar, warum, als er sich wieder zu kratzen begann.

Ich öffnete den Kofferraum und Francis' Gesicht erstarrte.

»Auf keinen Fal «, sagte er und hob abwehrend seine dünnen Ärmchen. »Ich steig da nicht rein.«

Ich befühlte seelenruhig die neue Beule auf meiner Stirn.

»Du steigst da jetzt rein oder ich werde dir zeigen, wie ich

>Nerz< buchstabiere, und danach ein Paar Ohrenschützer aus dir machen.« Man konnte förmlich sehen, wie er darüber nachdachte und sich seine Fluchtchancen ausrechnete. Ich wünschte mir fast, er würde es versuchen. Es wäre so ein gutes Gefühl, ihn noch einmal zu schlagen. Immerhin waren seit dem letzten Mal fast zwei Tage vergangen. Irgendwie würde ich ihn schon in den Kofferraum kriegen.

»Lauf doch«, sagte Jenks, während er mit der Phiole über seinem Kopf kreiste. »Na los! Trau dich, Stinksack.«

Francis erkannte, dass er verloren hatte, und sackte in sich zusammen. »Das würde dir gefal en, oder, du Wanze?«, fragte er mit einem schmierigen Grinsen, quetschte sich aber dann in den engen Kofferraum. Er wehrte sich nicht einmal, als ich seine Hände mit dem Klebeband vor seinem Körper fesselte. Wir wussten beide, dass er sich mit genügend Zeit von den Fesseln befreien konnte. Doch sein überheblicher Gesichtsausdruck schwand, als Jenks mit der Phiole auf meiner ausgestreckten Hand landete.

»Du hast gesagt, du machst es nicht!«, stammelte er. »Du hast gesagt, es verwandelt mich in einen Nerz!«

»Ich habe gelogen. Beide Male.«

Francis warf mir einen mörderischen Blick zu. »Das vergesse ich dir nie«, zischte er. Irgendwie wirkten seine Segelschuhe und die Schlaghose jetzt noch lächerlicher als sonst. ».letzt werde ich dich persönlich zur Strecke bringen.«

»Na, das wil ich doch hoffen.« Lächelnd schüttete ich ihm den Inhalt der Phiole über den Kopf. »Schlaf gut.«

Er öffnete seinen Mund, um noch etwas zu sagen, aber sobald ihn die duftende Flüssigkeit berührte, erschlafften seine Gesichtszüge. Fasziniert beobachtete ich, wie er einschlief, umgeben von dem Duft nach Lorbeer und Flieder.

Schließlich schlug ich den Kofferraum zu und hakte die Sache damit ab.

Dann setzte ich mich unbehaglich hinter das Lenkrad und stel te mir den Sitz und die Spiegel richtig ein. Ich hatte bis jetzt noch nie einen Wagen mit Gangschaltung gefahren, aber wenn Francis das konnte, dann konnte ich das verdammt noch mal auch.

»Leg zuerst den Gang ein«, sagte Jenks, der sich auf den Innenspiegel gesetzt hatte und mir durch Gesten zu vermitteln versuchte, was zu tun war. »Dann gib mehr Gas, als du glaubst, dass du brauchst, und lass die Kupplung kommen.«

Behutsam legte ich den Schaltknüppel um und ließ den Wagen an.

»Na?«, frotzelte Jenks, »wir warten. .«

Ich drückte auf das Gaspedal und ließ die Kupplung kommen. Der Wagen machte einen Satz nach hinten und knal te gegen einen Baum. Erschrocken hob ich die Füße von den Pedalen und der Motor erstarb. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich Jenks an, der sich kaputtlachte. »Das war der Rückwärtsgang, Hexe«, kicherte er und flitzte aus dem Fenster.

Im Rückspiegel konnte ich beobachten, wie er um das Heck des Autos flog und den Schaden begutachtete. »Wie schlimm ist es?«, fragte ich ihn, als er zurückkam.

»Es ist okay«, verkündete er zu meiner Erleichterung. »In ein paar Monaten wird keiner mehr sehen, wo er getroffen wurde. Aber der Wagen ist Schrott. Du hast eine Rückleuchte zertrümmert.«

»Oh«, meinte ich nur, als ich realisierte, dass er zunächst den Baum und nicht das Auto gemeint hatte. Mit zitternden Händen legte ich diesmal den richtigen Gang ein, kontrol ierte anschließend noch einmal die Stel ung des Schaltknüppels und ließ den Wagen erneut an. Dann holte ich noch einmal tief Luft und wir machten uns schlingernd auf den Weg.

14

Es stel te sich heraus, dass Jenks ein ganz passabler Lehrer war. Er rief mir vol er Enthusiasmus Ratschläge durch das Fenster zu, während ich das Anfahren übte, bis ich schließlich den Dreh raushatte. Mein frisch erworbenes Selbstvertrauen löste sich al erdings in Luft auf, als ich in Kalamacks Einfahrt abbog und am Pförtnerhaus die Geschwindigkeit verringerte.

Es war ein flaches, Furcht einflößendes Gebäude, in etwa so groß wie ein kleines Gefängnis. Geschmackvol e Pflanzenarrangements und niedrige Mäuerchen verbargen ein Sicherheitssystem, das es unmöglich machte, sich unbemerkt auf dem Gelände zu bewegen.

»Und wie wol test du daran vorbeikommen?«, fragte Jenks, als er in sein Versteck hinter der Sonnenblende flitzte.

»Kein Problem«, erwiderte ich, obwohl sich meine Gedanken überschlugen. Immer wieder tauchte der betäubte Francis im Kofferraum vor mir auf. Ich brachte den Wagen vor der weißen Schranke zum Stehen und schenkte der Wache ein strahlendes Lächeln. Das Amulett, das der Pförtner bei sich trug, leuchtete stetig in einem angenehmen Grün. El war ein Zauberspruch-Kontrol instrument, wenn auch ein wesentlich bil igeres als die Holzrahmenbril en, mit denen man Amulette eindeutig identifizieren konnte. Ich hatte sorgfältig darauf geachtet, die Magieintensität meines Tarnzaubers unter dem Level eines üblichen Kosmetikzaubers zu halten. Solange sein Amulett grün blieb, würde er davon ausgehen, dass ich einen normalen Make-up-Zauber benutzte, keine Tarnung.

»Ich bin Francine«, sagte ich spontan und legte ein mädchenhaftes Quietschen in meine Stimme. Dabei lächelte ich so hirnlos, als ob ich mir die ganze Nacht lang Brimstone reingepfiffen hätte. »Ich habe einen Termin mit Mr. Kalamack!?« Der Dummchenrol e entsprechend, spielte ich mit einer losen Haarsträhne. Ich war zwar heute eine Brünette, aber das würde wohl trotzdem ziehen. »Bin ich zu spät?«, fragte ich und versuchte, meinen Finger aus dem Knoten zu befreien, in den sich die Strähne verwandelt hatte. »Ich dachte nicht, dass ich so lange brauchen würde. Er wohnt ja wirklich weit draußen.«

Der Pförtner blieb ungerührt. Entweder hatte ich meine Ausstrahlung verloren oder ich hätte doch noch einen weiteren Knopf an meiner Bluse aufmachen sol en. Oder viel eicht stand er auf Männer? Er warf einen Blick auf sein Klemmbrett, dann auf mich.

»Ich bin von der LS.«, verkündete ich halb schmol end, halb genervt, »wol en Sie meinen Ausweis sehen?« Ich wühlte in meiner Tasche nach der nicht existierenden Dienstmarke.

»Ihr Name steht nicht auf der Liste, Madam«, erwiderte er gleichgültig.

Mit einem entrüsteten Seufzer sank ich zurück in den Sitz.

»Hat der Typ aus dem Sekretariat mich wieder als Francis angemeldet? Dieser Mistkerl!« Ich schlug mit der Hand auf das Lenkrad. »Er macht das ständig, seit ich ihm einmal ein Date verweigert habe. Ich meine, wirklich, er hatte noch nicht mal einen Wagen! Er wol te mit mir mit dem Bus ins Kino fahren. Also echt«, quengelte ich, »sehe ich so aus, als würde ich Bus fahren?«

»Einen Moment bitte, Madam.« Er nahm den Telefonhörer ab und sprach hinein. Ich schickte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel und versuchte, mein dämliches Grinsen aufrechtzuerhalten, während ich wartete. Der Pförtner nickte einmal, offenbar unbewusst, wirkte aber immer noch so unbeweglich wie ein Felsbrocken, als er sich mir wieder zuwandte.

»Die Einfahrt hoch«, wies er mich an, »bis zum dritten Gebäude auf der rechten Seite. Sie können auf dem Besucherparkplatz direkt vor der Eingangstreppe parken.«

»Vielen Dank«, flötete ich fröhlich und fuhr ruckartig an, sobald sich die weiße Schranke hob. Im Rückspiegel beobachtete ich den Pförtner, wie er in sein Häuschen zurückging. »Das war kinderleicht«, murmelte ich.

»Rauszukommen wird schwieriger sein«, erwiderte Jenks trocken.

Die Einfahrt zog sich ungefähr drei Meilen durch einen verwunschenen Wald. Ich wurde zunehmend bedrückt, während ich zwischen den stummen Wächtern hindurchfuhr.

Trotz des überwältigenden Eindrucks von hohem Alter bekam ich das Gefühl, dass hier al es sorgfältig geplant worden war, bis hin zu den Überraschungen wie einem Wasserfal , der plötzlich hinter einer Kurve auftauchte.

Irgendwie enttäuscht fuhr ich weiter, bis der künstliche Wald von ausgedehntem Weideland abgelöst wurde. Eine zweite, wesentlich stärker befahrene Straße mündete in meinen Weg. Offenbar war ich durch eine Art Hintereingang gekommen. Ich folgte dem Verkehr und nahm schließlich eine Abzweigung, die mit »Besucherparkplatz«

gekennzeichnet war. Als ich um eine Kurve bog, tauchte endlich das Kalamack-Anwesen vor mir auf.

Das Gebäude war eine Festung, erbaut in einem architektonischen Mix aus modernem Bürogebäude und traditionel er Eleganz, mit Glastüren und Putten auf den Regenrinnen. Der graue Stein wurde durch die alten Bäume und prachtvol en Blumenrabatten optisch aufgehel t. An das dreistöckige Haupthaus schlossen sich einige niedrigere Gebäude an. Ich stel te den Wagen auf einem der Parkplätze ab, wobei mir nicht entging, dass die schnittige Karosse neben mir Francis' Schlitten wie ein Spielzeug aus einer Cornflakespackung aussehen ließ.

Ich warf Francis' Schlüsselbund in meine Tasche und beobachtete den Gärtner, der die Büsche rund um den Parkplatz beschnitt. »Wil st du immer noch, dass wir uns aufteilen?« Mit einem tiefen Atemzug schaute ich in den Rückspiegel und löste vorsichtig den Knoten, den ich in mein Haar gemacht hatte. »Ich habe kein gutes Gefühl dabei, nach der Geschichte am Pförtnerhaus.«

Jenks flitzte auf den Schaltknüppel und nahm seine übliche Peter-Pan-Pose ein. »Deine Besprechung dauert die regulären vierzig Minuten? Ich brauche nur zwanzig. Fal s ich nicht da bin, wenn du fertig bist, warte ungefähr eine Meile hinter dem Pförtnerhaus auf mich. Ich werde dich schon einholen.«

»Al es klar.« Ich beobachtete noch immer den Gärtner: Er trug Schuhe anstel e von Stiefeln. Und sie waren sauber.

Welcher Gärtner hatte schon saubere Schuhe? »Sei einfach vorsichtig«, bat ich und nickte dem kleinen Mann höflich zu.

»Irgendwas hier riecht komisch.«

Jenks kicherte. »Wenn ich es nicht mehr schaffe, einen Gärtner auszutricksen, werde ich besser Bäcker!«

»Gut, dann wünsch mir Glück.« Ich öffnete ihm das Fenster einen Spalt weit und stieg aus. Selbstbewusst stöckelte ich um Francis' Wagen herum, um mir den Schaden noch einmal anzuschauen. Wie Jenks gesagt hatte, war eins der Rücklichter zerbrochen und eine üble Beule verunstaltete das Heck. Schuldbewusst wandte ich mich ab, holte noch einmal tief Luft und ging dann zielstrebig auf die Doppeltüren zu.

Als ich mich näherte, kam ein Mann aus einer Nische hervor. Erschrocken blieb ich stehen. Er war so groß, dass man ihn mit einem Blick nicht ganz erfassen konnte, und so dünn, dass er mich an einen europäischen Flüchtling aus der Nach-Wandel-Zeit erinnerte. Steif, korrekt und arrogant. Der Mann hatte sogar eine Hakennase, und ein ständiges Stirnrunzeln schien in seinem faltigen Gesicht festzementiert zu sein. Sein pechschwarzes Haar war nur an den Schläfen von Grau durchzogen. Die unauffäl igen grauen Hosen und das weiße Hemd saßen tadel os. Unwil kürlich richtete ich den Kragen meiner Bluse. »Ms. Francine Percy?« Sein Lächeln war hohl und seine Stimme hatte einen leicht sarkastischen Ton.

»Ja, guten Tag«, antwortete ich und gab dem Mann absichtlich einen schlaffen Händedruck. Seine Abneigung war ihm deutlich anzusehen. »Ich habe für heute Mittag eine Verabredung mit Mr. Kalamack.«

»Ich bin Jonathan, Mr. Kalamacks Publicityberater.«

Abgesehen von seiner überkorrekten Aussprache hatte der Mann keinen Akzent. »Wenn Sie mir bitte folgen wol en? Mr.

Kalamack wird Sie in seinem privaten Büro empfangen.«

Er musste blinzeln, seine Augen tränten plötzlich; wahrscheinlich von meinem Parfüm. Viel eicht hatte ich es damit etwas übertrieben, aber ich wol te nun mal auf keinen Fal Ivys Instinkte wecken.

Jonathan öffnete die Tür und ließ mir den Vortritt.

Überrascht stel te ich fest, dass das Gebäude innen wesentlich hel er wirkte als außen. Ich hatte eine Privatresidenz erwartet, aber das hier war etwas völ ig anderes: Der Eingangsbereich sah aus wie das Hauptquartier eines beliebigen Großkonzerns, im üblichen Glas- und Marmordesign. Weiße Säulen stützten die weit entfernte Decke, und vor den beiden Treppenaufgängen, die in den zweiten und dritten Stock führten, prunkte ein eindrucksvol er Mahagonitisch, der im einfal enden Licht schimmerte. Entweder gab es hier raffinierte Oberlichter, oder Trent gab ein Vermögen für Tageslichtglühbirnen aus.

Ein weicher, grün gesprenkelter Teppich verschluckte jedes Echo. Gedämpfte Unterhaltungen und ein steter Menschenstrom zeigten, dass hier intensiv gearbeitet wurde.

»Hier entlang, Ms. Percy«, sagte mein Begleiter ruhig. Ich löste meinen Blick von den mannshohen eingetopften Zitrusbäumen und folgte Jonathan an dem Empfangstisch vorbei und durch einige Korridore. Je weiter wir kamen, desto niedriger wurden die Decken und desto gedämpfter war das Licht. Auch die Farben und Stoffe waren hier wärmer und wohnlicher. Kaum wahrnehmbar erfül te der beruhigende Klang von plätscherndem Wasser die Räumlichkeiten. Seitdem wir den Eingangsbereich verlassen hatten, war uns niemand mehr begegnet, und ich fühlte ein leichtes Unbehagen.

Wir hatten den öffentlichen Bereich verlassen und befanden uns nun in den Privaträumen. Was das wohl zu bedeuten hatte? Ich wurde endgültig nervös, als Jonathan stehen blieb und einen Finger an sein Ohr legte.

»Entschuldigen Sie mich«, murmelte er und trat ein paar Schritte zur Seite. Als er die Hand ans Ohr hob, bemerkte ich ein Mikrofon an seiner Armbanduhr. Beunruhigt versuchte ich zu verstehen, was er in das Mikro murmelte, und er drehte sich um, damit ich nicht von seinen Lippen lesen konnte.

»Ja, Sa'han«, flüsterte er respektvol .

Ich hielt den Atem an, um kein Wort zu verpassen.

»Bei mir«, sagte er. »Man hat mir gesagt, Sie seien interessiert, und so habe ich mir erlaubt, sie zur hinteren Veranda zu bringen.« Jonathan bewegte sich unruhig von einem Fuß auf den anderen, dann warf er mir von der Seite einen ungläubigen Blick zu. »Sie?«

Ich war mir nicht sicher, ob ich das als Kompliment oder Beleidigung verstehen sol te, also tat ich beschäftigt, indem ich meine Seidenstrümpfe zurechtzog und eine weitere Strähne aus meinem Haarknoten löste. Dabei fragte ich mich, ob sie eventuel den Kofferraum untersucht hatten. Mein Puls beschleunigte sich, als mir klar wurde, wie schnel das al es über mir zusammenbrechen konnte.

Seine Augen weiteten sich. »Sa'han«, sagt er alarmiert,

»bitte verzeihen Sie. Der Pförtner sagte -« Er brach ab und ich konnte beobachten, wie er sich versteifte, wohl aufgrund einer Zurechtweisung. »Ja, Sa'han«, sagte er und neigte den Kopf in einer unbewussten Geste der Unterwürfigkeit. »Das vordere Büro.«

Als er sich zu mir umdrehte, schien sich der große Mann wieder zu sammeln. Ich warf ihm ein strahlendes Lächeln zu, doch er starrte mich mit seinen blauen Augen so ausdruckslos an, als sei ich ein ungezogener Welpe auf einem neuen Teppich. »Wenn Sie bitte in diese Richtung zurückgehen möchten?«, bat er tonlos.

Während ich Jonathans unauffäl igen Anweisungen folgte und so zum Eingangsbereich zurückkehrte, fühlte ich mich mehr als Gefangene denn als Gast. Er blieb die ganze Zeit direkt hinter mir. Das Ganze gefiel mir überhaupt nicht. Dass ich mich neben ihm winzig fühlte und meine Schritte das einzige Geräusch in den Gängen waren, verbesserte die Situation auch nicht gerade. Langsam wichen die weichen Farben und Wandverkleidungen wieder den Bürowänden und der al gemeinen Geschäftigkeit.

Noch immer drei Schritte hinter mir dirigierte mich Jonathan in einen kleinen Korridor, der direkt von der Lobby abzweigte und in dem sich zahlreiche Büros mit Milchglastüren befanden. Die meisten waren offen, sodass man die arbeitenden Angestel ten sehen konnte. Jonathan führte mich jedoch zu einem Büro am Ende des Flurs. Es schien fast so, als zögere er, bevor er die schwere Holztür öffnete. »Warten Sie bitte hier«, sagte er mit dem Hauch einer Drohung in seiner sonst so geschäftsmäßigen Stimme.

»Mr. Kalamack wird gleich zu Ihnen kommen. Fal s Sie etwas benötigen, finden Sie mich am Schreibtisch der Sekretärin.«

Er zeigte auf einen auffäl ig leeren Tisch, der in einer zurückgesetzten Nische stand. Ich dachte an Ms. Yolin Bates und wie sie vor drei Tagen kalt und starr bei der I. S.

eingeliefert worden war. Mein Lächeln wurde immer angestrengter. »Vielen Dank, Jon«, flötete ich. »Sie waren ganz reizend.«

»Mein Name ist Jonathan.« Energisch schloss er die Tür hinter mir, ich hörte jedoch kein Schloss einrasten.

Ich drehte mich um und ließ den Blick durch das Büro schweifen. Es wirkte al es ganz normal - eben das Büro eines stinkreichen Oberbosses. In der Wand neben seinem Schreibtisch war ein Pult mit elektronischem Equipment eingebaut, an dem sich so viele Schalter und Knöpfe befanden, dass ein Tonstudio daneben ärmlich wirkte. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein großes Fenster, durch das die Sonne auf den weichen Teppich schien. Ich wusste, dass weder das Fenster noch das Sonnenlicht echt sein konnten, dafür befand ich mich zu tief im Gebäude. Es schrie geradezu nach einer genaueren Untersuchung.

Ich stel te meine Tasche auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch und näherte mich dem »Fenster«. Die Hände in die Hüften gestützt, betrachtete ich eine Aufnahme von Fohlen, die sich um Fal obst stritten. Kritisch hob ich die Augenbrauen; die Il usion war nicht stimmig. Es war Mittag, und die Sonne stand noch nicht tief genug, um so lange Schatten zu werfen.

Diesen Fehler entdeckt zu haben verschaffte mir ein Gefühl von Befriedigung, und ich richtete meine Aufmerksamkeit auf das freistehende Aquarium, das sich an der Rückwand hinter dem Schreibtisch befand. Seesterne, Neon Demoisel es, Zitronenflossen-Doktorfische und sogar Seepferdchen lebten in friedlicher Koexistenz und schienen nicht zu ahnen, dass sich der Ozean fünfhundert Meilen weiter östlich befand. Automatisch musste ich an Mr. Fish denken, der wahrscheinlich zufrieden in seiner Glaskugel herumschwamm. Ich runzelte die Stirn; nicht aus Neid, sondern weil ich mich über die Launenhaftigkeit des Glücks ärgerte.

Auf Trents Schreibtisch stand das übliche Zeug herum, bis hin zu einem kleinen Springbrunnen, in dem das Wasser über einen schwarzen Stein plätscherte. Sein Bildschirmschoner bestand aus einer beweglichen Zahlenreihe: zwanzig, fünf, eins. Eine ziemlich rätselhafte Botschaft. In einer Ecke des Raums hing eine unübersehbare Kamera unter der Decke, deren rotes Lämpchen auf mich gerichtet war. Ich wurde also beobachtet.

Meine Gedanken kehrten zu Jonathans Gespräch mit dem mysteriösen Sa'han zurück. Offensichtlich war meine Tarnung als Francine aufgeflogen. Aber wenn sie mich hätten festnehmen wol en, wäre das schon geschehen. Anscheinend hatte ich etwas, das Mr. Kalamack wol te. Mein Schweigen?

Das sol te ich wohl besser herausfinden.

Grinsend winkte ich in die Kamera und ließ mich hinter Trents Schreibtisch nieder. Ich stel te mir den Aufruhr vor, den ich verursachte, während ich damit begann, herumzustöbern.

Der Terminkalender kam zuerst dran, da er schon so einladend auf dem Tisch lag. Der Eintrag zu dem Gespräch mit Francis war durchgestrichen und ein Fragezeichen daneben geschrieben worden. Ich zuckte kurz zusammen und blätterte zurück bis zu dem Tag, an dem Trents Sekretärin mit dem Brimstone gefasst worden war. Dort stand nichts Außergewöhnliches. Die Anmerkung

»Huntingtons nach Urlich« fiel mir ins Auge. Schmuggelte er Menschen aus dem Land? Das wäre ja nicht gerade spektakulär.

In der obersten Schublade fand ich nichts Ungewöhnliches: Bleistifte, Kugelschreiber, Notizblöcke und ein grauer Prüfstein. Ich fragte mich, was ihn wohl ausreichend beunruhigte, um so etwas griffbereit zu haben.

Die seitlichen Schubladen enthielten farbig gekennzeichnete Akten über seine geschäftlichen Interessen außerhalb des Anwesens. Während ich darauf wartete, dass mich jemand aufhielt, blätterte ich darin herum und erfuhr, dass seine Pecannuss-Plantage durch späten Frost beeinträchtigt worden war, die Erdbeerzucht an der Küste diesen Verlust aber ausglich. Überrascht, dass immer noch niemand hereingekommen war, knal te ich die Schublade zu. Viel eicht wol ten sie herausfinden, wonach ich suchte. Das hätte ich al erdings auch gern gewusst.

Trent hatte offenbar ein Faible für Ahornzucker und Vor-Wandel-Whiskey, wie ich aus dem Vorrat schloss, den ich in der untersten Schublade fand. Ich war kurz davor, die fast vierzig Jahre alte Flasche anzubrechen und das Zeug zu probieren, ließ es aber bleiben, da das meine Beobachter wohl schnel er hervorlocken würde als al es andere.

In der nächsten Schublade fand ich sorgsam geordnete CDs. Bingo!, dachte ich, während ich die Lade weiter aufzog.

»Alzheimer«, flüsterte ich, und ging das handgeschriebene Register durch: »Mukoviszidose, Krebs, Krebs. .«

Insgesamt trugen acht CDs die Aufschrift »Krebs«.

Depressionen, Diabetes. . ich suchte weiter, bis ich Huntington gefunden hatte. Mit einem Blick auf den Kalender schloss ich die Schublade. Ahhhh. .

Ich lehnte mich in Trents komfortablem Chefsessel zurück und zog den Terminkalender auf meinen Schoß. Beginnend mit Januar blätterte ich ihn langsam durch. Ungefähr jeden fünften Tag ging eine Lieferung raus. Mein Atem beschleunigte sich, als ich ein Muster erkannte. Huntington wurde jeden Monat am gleichen Tag verschickt. Ich blätterte hin und her. Al e Lieferungen wurden monatlich zu festen Terminen verschickt, im Abstand von nur wenigen Tagen.

Aufgeregt betrachtete ich die Schublade mit den CDs. Ich war mir sicher, dass ich irgendwas auf der Spur war.

Schließlich schob ich eine der CDs in den Computer und spielte ungeduldig mit der Maus herum. Verdammt, passwortgeschützt.

Plötzlich hörte ich das leise Geräusch eines Riegels. Schnel sprang ich auf und drückte die Auswurftaste des CD-Laufwerks.

»Guten Tag, Ms. Morgan.«

Es war Trent Kalamack. Ich versuchte, nicht rot zu werden, während ich mir die kleine Disc in die Hosentasche steckte.

»Pardon?«, erwiderte ich und stürzte mich wieder in die Rol e des Dummchens. Sie wussten, wer ich war. (iroße Überraschung.

Trent schloss den untersten Knopf seines grauen Lei-nenjacketts und zog dann die Tür hinter sich zu. Ein entwaffnendes Lächeln zeigte sich in seinem glatt rasierten Gesicht und ließ ihn jünger erscheinen, als er war.

Sein Haar war so hel blond, wie man es sonst nur bei Kindern sah. Passend dazu war er angenehm gebräunt, so als ob er sich gerne mal eine Auszeit am Pool gönnte. Für den Reichtum, der ihm nachgesagt wurde, sah er viel zu umgänglich aus. Geld und gutes Aussehen - das war nicht fair!

»Oder bevorzugen Sie »Francine Percy<?«, fragte Trent und begutachtete mich über das Drahtgestel seiner Bril e hinweg.

In einem verzweifelten Versuch, nonchalant zu wirken, schob ich mir eine Locke hinters Ohr. »Eigentlich - nicht.« Ich musste wohl noch irgendein As im Ärmel haben, sonst hätte er sich nicht persönlich mit mir abgegeben.

Scheinbar nachdenklich bewegte sich Trent um den Schreibtisch und zwang mich so, mich auf die andere Seite zurückzuziehen. Als er sich setzte, hielt er seine dunkelblaue Krawatte ordentlich in Position. Dann blickte er hoch und stel te mit charmanter Überraschung fest, dass ich noch immer stand.

»Bitte setzen Sie sich doch.« Sein kurzes Lächeln entblößte kleine, ebenmäßige Zähne. Er richtete eine Fernbedienung auf die Kamera. Als das rote Licht erlosch, legte er sie wieder weg.

Ich stand noch immer, da ich seiner gelassenen Bil igung der Situation nicht traute. Die Alarmglocken in meinem Kopf schril ten und mein Magen verkrampfte sich. Das Fortune-Magazin hatte ihn im letzten Jahr als einen der begehrenswertesten Junggesel en vorgestel t. Das Titelbild hatte Trent gezeigt, wie er lässig an einer Tür lehnte, auf der in goldenen Buchstaben der Name seiner Firma stand. Sein anziehendes Lächeln war vol er Selbstvertrauen gewesen, gleichzeitig aber auch irgendwie geheimnisvol .

Manche Frauen standen auf so ein Lächeln. Mich machte es eher vorsichtig. Und genau so ein Lächeln schenkte er mir nun, als er vor mir saß, das Kinn in die Hand gestützt.

Ich sah, wie sich das kurz geschnittene Haar an seinen Schläfen bewegte und dachte, dass diese sorgfältig gestylt en Haare unglaublich weich sein mussten, wenn selbst der leichte Luftzug des Ventilators sie anheben konnte.

Trent presste kurz seine Lippen zusammen, als er merkte, dass ich auf seine Haare konzentriert war. Dann lächelte er wieder. »Ich muss mich für den Irrtum an der Pforte und das Malheur mit Jon entschuldigen. Ich hatte Sie frühestens in einer Woche erwartet.«

Mir wurden die Knie weich, also setzte ich mich. Er hatte mich erwartet? »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte ich kühn, erleichtert, dass meine Stimme nicht schwankte.

Der Mann griff in al er Ruhe nach einem Bleistift, aber als Ich meine Füße bewegte, blickte er mir direkt in die Augen.

Für einen Moment kam es mir fast so vor, als sei er noch angespannter als ich. Peinlich genau radierte er das Fragezeichen hinter Francis' Namen aus und schrieb meinen hin. Als er den Bleistift zur Seite legte, fuhr er sich mit einer Hand über den Kopf, um sein Haar wieder in Form zu bringen.

»Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, Ms. Morgan«, begann. er; seine Stimme war wirklich angenehm. »Ich halte es für kosteneffektiver, Führungskräfte anderer Firmen abzuwerben, als neue Leute aufzubauen. Und wenn ich auch niemals behaupten würde, mit der I. S. konkurrieren zu können, so habe ich doch festgestel t, dass ihre Trainingsmethoden und die dort geförderten Fähigkeiten sich mit den Bedürfnissen meines Konzerns decken. Ehrlich gesagt wäre es mir lieber gewesen, wenn Sie, bevor ich Sie eingestel t hätte, Ihren Scharfsinn unter Beweis gestel t hätten, indem Sie die I. S.-Morddrohung überleben. Aber viel eicht ist es auch ausreichend, dass Sie es fast bis auf meine Terrasse geschafft haben.«

Ich schlug die Beine übereinander und hob ironisch eine Augenbraue. »Bieten Sie mir gerade einen Job an, Mr. Kalamack? Viel eicht als Ihre neue Sekretärin, um Ihre Briefe zu tippen und Ihnen Kaffee zu bringen?«

»Himmel, nein.« Er ignorierte meinen Sarkasmus. »Für einen Bürojob riechen Sie viel zu stark nach Magie, auch wenn Sie versuchen, das mit - hmmm - Parfüm zu überdecken.«

Ich lief rot an, wich seinem fragenden Blick aber nicht aus.

»Nein«, fuhr Trent sachlich fort, »Sie sind viel zu interessant für den Job einer Sekretärin, selbst für den meiner Sekretärin. Sie haben nicht nur bei der I. S. aufgehört, Sie verspotten sie auch noch, indem Sie in al er Öffentlichkeit einkaufen gehen und dann in ihr Archiv einbrechen, um Ihre Akte zu vernichten. Und schließlich setzen Sie einen Runner außer Gefecht und sperren ihn in seinem eigenen Wagen ein.« Sein Lachen klang beherrscht und kultiviert. »Das gefäl t mir. Aber noch besser ist Ihr ständiges Streben, sich zu verbessern, Ihren Horizont zu erweitern und sich neue Fähigkeiten anzueignen. Die Bereitschaft, auch das scheinbar Unmögliche auszuprobieren, ist eine Eigenschaft, die ich meinen Angestel ten beizubringen versuche. Obwohl der Versuch, dieses gewisse Buch in einem Bus zu lesen, sicherlich eine. . Fehleinschätzung war.« In einem Anflug von schwarzem Humor fügte er hinzu: »Es sei denn, Ihr Interesse an Vampiren ist tiefer gehend, Ms. Morgan?«

Langsam begann ich mich zu fragen, ob meine Amulette ausreichten, um hier wieder rauszukommen. Wie hatte Trent das al es herausgefunden, wenn es noch nicht einmal der I. S.

gelang, mich richtig zu überwachen? Als mir klar wurde, wie tief ich im Pixiestaub steckte, zwang ich mich, ruhig zu bleiben. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht, hier einfach so reinzuspazieren? Die Sekretärin des Mannes war tot. Er dealte mit Brimstone, und es spielte keine Rol e, wie spendabel er bei Benefizveranstaltungen war, oder ob er mit dem Mann der Bürgermeisterin Golf spielte. Er war zu clever, um sich damit zufriedenzugeben, ein Drittel der Geschäftswelt von Cincinnati zu beherrschen. Seine verborgenen Interessen waren eng mit der Unterwelt verwoben, und ich war mir sehr sicher, dass er daran auch nichts ändern wol te.

Trent lehnte sich konzentriert vor und ich wusste, dass es nun vorbei war mit dem Geplauder. »Sagen Sie mir, Ms.

Morgan - was wol en Sie von mir?«, fragte er schließlich sanft.

Ich blieb stumm.

Er deutete auf den Schreibtisch. »Was haben Sie hier gesucht?«

»Kaugummi?«, fragte ich lediglich, woraufhin er seufzte.

»Um weitere Zeitverschwendung zu vermeiden, halte ich es für angebracht, dass wir ehrlich zueinander sind.« Er nahm seine Lesebril e ab und legte sie beiseite. »Zumindest soweit es nötig ist. Sagen Sie mir, warum Sie Ihr Leben riskiert haben, um mich zu sehen. Sie haben mein Wort, dass die Aufzeichnungen über Ihren heutigen Besuch, sagen wir mal, verloren gehen werden. Ich wil nur wissen, wo ich stehe. Was habe ich getan, um so viel Aufmerksamkeit von Ihnen zu bekommen?«

»Ich kann gehen?«, hakte ich nach, woraufhin er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und bestätigend nickte. Seine Augen hatten einen Grünton, wie ich ihn nie zuvor gesehen hatte; es war keine Spur von Blau darin.

»Jeder Mensch wil irgendetwas, Ms. Morgan.« Seine Worte waren präzise und fließend zugleich. »Was wol en Sie?«

Sein Versprechen, mich gehen zu lassen, ließ meinen Puls noch weiter ansteigen. Ich folgte seinem Blick auf meine Hände und den Dreck unter meinen Fingernägeln. »Sie«, sagte ich. »Ich wil Beweise, dass Sie Ihre Sekretärin umgebracht haben und dass Sie mit Brimstone dealen.«

»Oh«, sagte er mit einem schmerzlichen Seufzen. »Sie wol en sich Ihre Freiheit erkaufen. Das hätte ich mir eigentlich denken können. Ms. Morgan, Sie sind eine komplexere Persönlichkeit, als ich dachte.« Er nickte nachdenklich. »Mich der I. S. auszuliefern würde Ihnen sicherlich Ihre Unabhängigkeit einbringen. Aber Sie müssen verstehen, dass ich das nicht zulassen kann.« Er verwandelte sich wieder in den abgebrühten Geschäftsmann, als er fortfuhr: »Ich bin in der Position, Ihnen etwas anbieten zu können, das gleichwertig ist mit Freiheit, viel eicht sogar besser. Ich kann dafür sorgen, dass Ihr Vertrag mit der I. S.

abbezahlt wird. Ein Darlehen, wenn Sie so wol en. Sie können es während Ihrer Tätigkeit für mich abarbeiten. Ich kann Sie in einem anständigen Betrieb unterbringen, viel eicht sogar mit Ihrer eigenen kleinen Belegschaft.«

Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Er wol te mich kaufen. Ohne meine zunehmende Wut zu bemerken, öffnete Trent eine Akte aus seinem Posteingang. Dann holte er eine holzumrandete Bril e aus einer seiner Innentaschen und setzte sie auf seine schmale Nase. Ich schnitt eine Grimasse, als er hinter meine Tarnung blickte. Mit einem undefinierbaren Geräusch wandte er sich schließlich der Akte zu.

»Fahren Sie gerne ans Meer?«, fragte er beiläufig, während ich noch mit der Frage beschäftigt war, warum er vorgab, eine Lesebril e zu brauchen. »Ich spiele mit dem Gedanken, meine Macadamia-Plantagen in der Südsee zu erweitern. Sie könnten sogar die Farben für das Hauptgebäude aussuchen.«

»Ach, wandeln Sie sich, Trent.« Scheinbar überrascht sah er mich erneut über den Bril enrand hinweg an. Dadurch sah er irgendwie charmant aus. Ich zwang mich dazu, diesen Gedanken zu verdrängen. »Wenn ich nach einer fremden Pfeife tanzen wol te, wäre ich bei der I. S. geblieben. Sie bauen auf diesen Inseln Brimstone an. Ganz abgesehen davon wäre ich so nah am Meer keine Hexe mehr, ich wäre nicht stärker als ein Mensch. Ich würde da nicht mal mehr einen Liebeszauber zustande bringen.«

»Sonne«, sagte er lockend, als er seine Bril e weglegte.

»Warmer Sand, flexible Arbeitszeiten.« Er schloss die Akte und legte eine Hand darauf. »Sie können Ihre neue Freundin mitnehmen. Ivy, richtig? Ein Tamwood-Vampir, kein schlechter Fang.« Er lächelte trocken.

Inzwischen kochte ich vor Wut. Er hielt mich für käuflich.

Und das Schlimmste war, dass ich tatsächlich in Versuchung war, darauf einzugehen, was mich nur noch wütender machte.

»Seien Sie realistisch«, fuhr er fort, während er mit hypno-tischer Geschicklichkeit mit dem Bleistift spielte. »Sie sind einfal sreich, viel eicht sogar wirklich begabt. Aber niemand entkommt der I. S. auf Dauer. Zumindest nicht ohne Hilfe.«

»Ich habe einen besseren Vorschlag«, sagte ich mit erzwungener Ruhe; ich konnte ja sowieso nicht gehen, bevor IT mich entließ. »Ich werde Sie mitten in der Stadt an einen Pranger stel en. Ich werde beweisen, dass Sie am Tod Ihrer Sekretärin beteiligt waren und dass Sie mit Brimstone dealen. Ich habe meinen Job aufgegeben, Mr. Kalamack, nicht meine Moral.«

Sein Gesicht blieb weiterhin entspannt, aber die schnel e Bewegung, mit der er den Stift zurück in seinen Becher beförderte, verriet seine Wut. »Seien Sie versichert, dass ich mein Wort halten werde. Ich halte immer mein Wort, egal ob Versprechen oder Drohung.« Seine Stimme schien sich auf dem Boden auszubreiten wie eine klebrige Flüssigkeit, und ich kämpfte gegen den idiotischen Drang an, meine Füße anzuheben. »Das ist für einen Geschäftsmann unerlässlich, sonst bleibt er nicht lange im Geschäft.«

Ich schluckte und fragte mich, was zur Höl e er war. Er hatte die Anmut, die Stimme, die Schnel igkeit und die Selbstsicherheit eines Vampirs. Und so sehr ich diesen Mann auch verabscheute, ich konnte mich seiner Anziehungskraft nicht ganz entziehen, die mehr auf seiner persönlichen Stärke beruhte als auf erotischen Spielchen. Aber er war kein lebender Vampir. Obwohl er an der Oberfläche warm und umgänglich war, verfügte er doch über eine charakterliche Tiefe, die den Vampiren fehlte. Er hielt sein Umfeld auf Distanz und ließ niemanden nah genug an sich heran, um ihn wirklich zu verführen. Nein, er war kein Vampir, aber viel eicht. . ein menschlicher Nachkomme?

Trent blinzelte irritiert. Er sah, dass mich etwas beschäftigte, und konnte nicht einordnen, was es war. »Ja, Ms. Morgan?«, murmelte er und wirkte zum ersten Mal leicht beunruhigt.

»Ihre Haare stehen schon wieder ab.« Obwohl mir das Herz bis zum Hals schlug, konnte ich es mir nicht verkneifen, ihn ein bisschen zu ärgern. Das schien ihn sprachlos zu machen.

Ich sprang auf, als sich die Tür öffnete und Jonathan hereinkam. Er wirkte wie ein Beschützer, der von seinem eigenen Schützling aufs Kreuz gelegt worden ist. In seiner Hand entdeckte ich eine große Glaskugel, in der Jenks saß.

Verängstigt stand ich da und umklammerte meine Tasche.

Trent erhob sich und fuhr sich glättend mit der Hand durchs Haar. »Vielen Dank, Jon. Wärst du so freundlich, Ms.

Morgan und ihren Gefährten nach draußen zu begleiten?«

Jenks war so sauer, dass seine Flügel schwarz leuchteten.

Seine Worte waren durch das Glas nicht zu verstehen, aber seine Gesten waren unmissverständlich.

»Meine CD, Ms. Morgan?«

Ich drehte mich um und schnappte nach Luft, als ich bemerkte, dass Trent seinen Schreibtisch verlassen hatte und nun direkt hinter mir stand. »Ihre was?«, stammelte ich.

Er hatte die Hand fordernd ausgestreckt. Sie war weich und man sah deutlich, dass er noch nie mit den Händen gearbeitet hatte. Trotzdem war sie kräftig. Ein schlichter Goldring zierte seinen Ringfinger. Mit einem Mal fiel mir auf, dass er nur ein paar Zentimeter größer war als ich. »Meine CD?«, wiederholte er, und ich schluckte.

Verkrampft zog ich sie mit zwei Fingern aus meiner Tasche und gab sie ihm. In diesem Moment passierte etwas mit ihm.

Es war so flüchtig wie ein Schatten und so unauffäl ig wie eine Schneeflocke unter Tausenden, aber es war da. Plötzlich wusste ich, dass es nicht der Brimstone war, der Trent beunruhigte. Es war irgendetwas auf dieser Disc.

Ich erinnerte mich an die nahtlos aneinandergereihten CDs und es kostete mich meine ganze Selbstbeherrschung, weiter in seine Augen zu sehen und nicht auf die verdächtige Schublade. Gott, hilf mir. Dieser Mann dealte nicht nur mit Brimstone, sondern auch mit Biodrogen. Der Mann war ein verdammter Biodrogenboss. Mein Herz hämmerte und mein Mund wurde trocken. Brimstone-Dealing bedeutete eine Haftstrafe. Aber für den Handel mit Biodrogen wurde man gepfählt, verbrannt und danach in al e Himmelsrichtungen verstreut. Und er wol te, dass ich für ihn arbeitete.

»Sie haben ein unerwartetes Planungsvermögen bewiesen, Ms. Morgan«, unterbrach Trent meine rasenden Gedanken.

»Vampirische Auftragskil er werden Sie nicht angreifen, solange Sie unter dem Schutz einer Tamwood stehen. Als Schutz vor den Fairies haben Sie einen Pixie-Clan engagiert, und Sie leben in einer Kirche, um sich die Tiermenschen vom Leib zu halten. Das ist so genial in seiner Einfachheit. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie Ihre Meinung ändern und doch für mich arbeiten wol en. Sie könnten hier Zufriedenheit finden -

und Anerkennung. Das ist etwas, womit die I. S. sehr nachlässig war.«

Ich versuchte unbeteiligt auszusehen und konzentrierte mich darauf, meine Stimme ruhig zu halten. Ich hatte gar nichts geplant. Das war al es Ivy gewesen, und ich war mir über ihre Motive nicht im Klaren. »Bei al em Respekt, Mr.

Kalamack, wandeln Sie sich.«

Jonathan erstarrte, aber Trent nickte bloß und ging zu seinem Schreibtisch zurück.

Eine schwere Hand landete auf meiner Schulter. Instinktiv griff ich zu und ging in die Hocke, um den Angreifer über meine Schulter zu Boden zu schleudern. Jonathan pral te mit einem überraschten Grunzen auf. Bevor ich mir der Bewegung bewusst war, kniete ich schon in seinem Genick.

Erschrocken stand ich auf und wich zurück. Trent blickte ungerührt von der Schublade auf, in die er die CD gelegt hatte.

Jonathans schwerer Aufpral hatte drei weitere Wachen alarmiert, die nun in den Raum stürzten. Zwei umzingelten mich, einer postierte sich vor Trent.

»Lasst sie gehen. Es war Jons Fehler.« Er seufzte mit einem Anflug von Enttäuschung. »Sie ist nicht so schwach, wie sie zu sein vorgibt, Jon.«

Der große Mann hatte sich inzwischen geschmeidig erhoben und glättete sich Hemd und Haare. Dann warf er mir einen hasserfül ten Blick zu. Ich hatte ihn nicht nur vor seinem Chef bloßgestel t, er wurde sogar in meiner Anwesenheit dafür getadelt. Wütend hob er Jenks vom Boden auf und zeigte auf die Tür.

Ich ging ungehindert hinaus, aber jetzt machte ich mir mehr Sorgen über das, was ich ausgeschlagen hatte, als darüber, dass ich die I. S. verlassen hatte.

15

Ich zerrte an dem Teig und ließ meinen Frust über diesen fabelhaften Nachmittag an der hilflosen Hefemischung aus.

Papierrascheln vom Tisch, an dem Ivy saß, lenkte meine Aufmerksamkeit auf sie. Mit gesenktem Kopf studierte sie konzentriert eine Landkarte. Nur ein Idiot hätte nicht gemerkt, dass sich ihre Reaktionen seit Sonnenuntergang weiter verbessert hatten. Sie bewegte sich wieder mit dieser nerven zerfetzenden Anmut, wirkte heute jedoch eher zornig als amourös. Trotzdem beobachtete ich jede ihrer Bewegungen.

Ivy hat einen richtigen Auftrag, dachte ich verbittert, als ich an der Arbeitsplatte stand und Pizza machte. Ivy hatte ein Leben. Ivy versuchte nicht, zu beweisen, dass der angesehenste und beliebteste Bürger der Stadt ein Biodrogenboss war und spielte nebenbei auch noch Chefkoch.

Kaum drei Tage selbstständig, und schon hatte sie den Auftrag bekommen, einen vermissten Menschen aufzuspüren. Ich fand es zwar merkwürdig, dass ein Mensch bei einem Vampir Hilfe suchte, aber Ivy hatte eben ihren ganz eigenen Charme, beziehungsweise ihre ganz eigenen, Furcht einflößenden Fähigkeiten. Sie war schon die ganze Nacht mit dem Stadtplan beschäftigt, wobei sie die al täglichen Aufenthaltsorte des Mannes mit bunten Textmarkern markiert und die wahrscheinlichsten Routen zwischen Arbeitsplatz, Heim und Sonstigem eingezeichnet hatte.

»Ich bin keine Expertin«, sagte sie nun, »aber bist du dir sicher, dass man das so macht?«

»Wil st du das Abendessen machen?«, keifte ich und sah mir meine Kochkünste genauer an: Der Teig war eher oval als rund und an einigen Stel en so dünn, dass er fast durch-riss.

Beschämt drückte ich daran herum, um die dünnen Stel en auszubessern, und zog ihn anschließend auseinander, damit er auf den Backstein passte. Während ich die Ränder formte, beobachtete ich sie heimlich. Beim ersten sinnlichen Blick würde ich aus der Tür rasen und mich hinter Jenks'

Baumstumpf verstecken. Das Glas mit der Soße gab beim Öffnen ein lautes Knacken von sich. Schnel sah ich zu Ivy rüber, konnte aber keine Veränderung feststel en. Also schüttete ich fast die gesamte Soße auf die Pizza und verschluss das Glas.

Womit sol te ich sie belegen? Es wäre ein Wunder, wenn Ivy meinen üblichen Belag akzeptierte. Ich beschloss, es gar nicht erst mit den Cashewkernen zu versuchen, sondern holte die eher al täglichen Zutaten hervor. »Paprika«, murmelte ich, »und Pilze.« Ich schaute wieder zu Ivy rüber.

Sie sah aus wie ein verführerisches kleines Mädchen. »Der restliche Frühstücksspeck.«

Der Textmarker quietschte, als sie eine violette Linie vom Campus zu der gefährlicheren Amüsiermeile der Hol ows zog, wo sich die Nachtclubs und Bars den Fluss entlang zogen. »So«, meinte sie gedehnt. »Sagst du mir jetzt, was dich nervt, oder muss ich eine Pizza bestel en, nachdem die hier angebrannt ist?«

Ich legte die Paprika ins Spülbecken und lehnte mich gegen die Arbeitsplatte. »Trent handelt mit Biodrogen.« Als ich es aussprach, wurde mir wieder bewusst, wie ungeheuerlich das war.

»Wenn er wüsste, dass ich deswegen hinter ihm her bin, würde er mich schnel er umbringen als die I. S.«

»Aber er hat keine Ahnung davon.« Ivy zog eine weitere Linie. »Er weiß nur, dass du ihn verdächtigst, mit Brimstone zu dealen und seine Sekretärin umgebracht zu haben. Wenn er ernsthaft besorgt wäre, hätte er dir wohl kaum einen Job angeboten.«

»Job?« Ich drehte ihr den Rücken zu, um die Paprika zu waschen. »Der wäre in der Südsee, wahrscheinlich sol ich da den Brimstoneanbau leiten. Er wil mich nur aus dem Weg haben - das ist al es.«

»Okay, was hältst du davon?«, meinte Ivy und verschluss ihren Textmarker, indem sie ihn auf den Tisch schlug.

Erschrocken drehte ich mich um und spritzte dabei das Wasser durch die ganze Küche. »Er hält dich für eine Bedrohung«, fuhr sie fort und wischte demonstrativ die Wassertropfen ab, die sie getroffen hatten.

Ich grinste verlegen und hoffte, dass sie nicht bemerkte, wie nervös sie mich noch immer machte. »So habe ich das noch gar nicht gesehen.«

Ivy kehrte zu ihrer Karte zurück und runzelte verärgert die Stirn, als sie die Flecken bemerkte, die das Wasser auf ihren makel osen Markierungen hinterlassen hatte. »Gib mir ein wenig Zeit, um mich umzuhören«, sagte sie geistesabwesend. »Wenn wir an seine Finanzunterlagen und an ein paar seiner Käufer herankommen, könnte man daraus ein paar Beweise stricken. Obwohl ich immer noch glaube, dass es nur um Brimstone geht.«

Ich riss den Kühlschrank auf, um den Parmesan und den Mozzarel a herauszunehmen. Wenn Trent nicht mit Biodrogen dealte, war ich eine Pixieprinzessin. Mit einem lauten Klappern warf Ivy einen ihrer Marker in den Becher neben ihrem Computer. Da ich mit dem Rücken zu ihr stand, fuhr ich bei dem unerwarteten Geräusch zusammen.

»Nur weil er eine Schublade vol er CDs hat, die mit den Namen der Krankheiten beschriftet sind, die mit Biodrogen behandelt wurden, heißt das noch lange nicht, dass er ein Drogenbaron ist«, sagte Ivy und warf einen weiteren Marker in den Becher. »Viel eicht sind es auch nur Kundenlisten. Der Mann ist ein großer Wohltäter. Circa ein halbes Dutzend Krankenhäuser draußen auf dem Land wird nur durch seine Spenden aufrechterhalten.«

»Möglich«, erwiderte ich, war aber immer noch nicht überzeugt. Ich wusste von Trents großzügigen Beiträgen zum Al gemeinwohl. Letzten Herbst hatte er sich bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten von Kindern für mehr Geld ersteigern lassen, als ich bei der LS. in einem Jahr verdient hatte. Meiner Meinung nach war das al es aber nur eine Fassade für die Publicity. Der Mann war einfach nur Dreck.

»Mal ganz nebenbei«, Ivy lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und warf einen weiteren Marker, ein Beispiel übersinnlicher Hand-Augen-Koordination, »warum sol te er überhaupt mit Biodrogen handeln? Der Mann ist über al e Maßen reich, er braucht kein Geld mehr. Die Menschen werden von drei Dingen angetrieben, Rachel: Liebe. .«, ein roter Marker flog in den Becher, »Rache. .«, ein schwarzer folgte, »und Macht.«

Diesmal warf sie einen grünen hinterher. »Und Trent hat genügend Geld, um sich al e drei zu kaufen.«

»Du hast einen Punkt vergessen«, widersprach ich tol kühn, »Familie.«

Ivy holte die Stifte wieder aus dem Becher, kippelte mit ihrem Stuhl und begann wieder mit den Stiften zu werfen.

»Gehört Familie nicht zum Punkt Liebe?«

Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Nicht wenn sie tot sind. Ich dachte an meinen Dad. In diesem Fal gehört sie zur Rache.

Schweigen senkte sich über die Küche, während ich eine dünne Schicht Parmesan auf die Soße streute. Nur das Geräusch von Ivys Markern, die in der Tasse landeten, durchbrach die Stil e. Jeder einzelne erreichte mit einem lauten Scheppern sein Ziel. Es ging mir ziemlich auf die Nerven. Plötzlich brach das Geräusch ab, und ich sah alarmiert von der Pizza auf. Ivys Gesicht war auf einmal von Traurigkeit überschattet, doch ich konnte die Farbe ihrer Augen nicht erkennen. Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich blieb wie angewurzelt stehen, während ich auf eine Reaktion von ihr wartete.

»Warum pfählst du mich nicht einfach, Rachel?«, fragte lvy schließlich erschöpft und strich sich das Haar aus dem Gesicht, sodass ich ihre zornigen braunen Augen sehen konnte. »Ich werde dich nicht anfal en. Ich habe dir doch gesagt - das am Freitag war ein Unfal .«

Anstatt zu antworten, durchwühlte ich die Schublade nach einem Dosenöffner für die Pilze. »Ein verdammt beängstigender Unfal «, murmelte ich, als ich die Pilze abgoss.

»Das habe ich gehört.« Ivy zögerte. Wieder landete ein Marker geräuschvol in dem Becher. »Du, äh, hast das Buch doch gelesen, oder?«

»Das meiste davon«, gab ich zu und wurde unsicher.

Warum, mache ich irgendetwas falsch?«

»Du treibst mich zur Weißglut, das machst du«, erwiderte sie frustriert. »Hör auf, mich zu beobachten, ich bin kein Tier.

Ich mag ein Vampir sein, aber ich habe immer noch eine Seele.«

Ich biss mir auf die Zunge, um mir eine Antwort zu verkneifen. Mit einem vernehmlichen Klappern erreichte der letzte Stift sein Ziel. Dann zog Ivy wieder ihre Karten zu sich heran und verfiel in ein brütendes Schweigen. Als scheinbaren Vertrauensbeweis drehte ich ihr den Rücken zu.

Aber es gab noch kein Vertrauen. Ich legte die Paprika auf das Schneidebrett, riss eine Schublade auf und suchte geräuschvol nach einem Messer. Es war viel zu groß, um damit Paprika zu schneiden, aber ich fühlte mich verletzlich und brauchte jetzt ein Messer dieser Größenordnung.

»Ahm. .« Ivy zögerte. »Du belegst die Pizza doch nicht mit Paprika, oder?«

Seufzend legte ich das Messer weg. Wahrscheinlich würde nichts außer Käse auf dieser Pizza landen. Wortlos legte ich die Paprika zurück in den Kühlschrank. »Was ist eine Pizza schon ohne Paprika?«, murmelte ich.

»Essbar«, schoss sie zurück. Ich zog eine Grimasse. Das sol te sie gar nicht hören können.

Ich betrachtete die Kochinsel mit den darauf versammelten Leckereien. »Sind Pilze in Ordnung?«

»Was ist eine Pizza schon ohne Pilze?«

Ich legte die schleimigen braunen Stücke auf den Parmesan.

»Du hast mir gar nicht erzählt, was du mit Francis gemacht hast.«

»Ich hab ihn im offenen Kofferraum zurückgelassen.

Irgendjemand wird ihm schon eine Ladung Salzwasser verpassen. Sein Wagen ist al erdings Schrott, glaube ich. Er beschleunigt nicht mehr, egal, welchen Gang man einlegt oder wie stark man aufs Gas tritt.«

Ivy lachte und meine Haut begann zu kribbeln. Fast schon herausfordernd stand sie auf und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte. Die Anspannung kehrte zurück und steigerte sich noch, als sie sich betont langsam neben mir auf die Platte setzte. »Also«, begann sie, während sie den Beutel mit den Peperoni öffnete und sich provokativ ein Stück in den Mund schob. »Wofür hältst du ihn?«

Sie aß. Großartig.

»Francis? Der ist ein Idiot.«

»Nein, ich meine Trent.«

Ich streckte die Hand nach den Peperoni aus, und sie gab mir den Beutel. »Ich weiß es nicht, aber er ist auf keinen Fal ein Vamp. Er dachte, ich trage das Parfüm, um meinen Hexengeruch zu überdecken - nicht, äh, deinen.« Die Nähe zu ihr brachte mich aus dem Konzept und ich arrangierte die Peperoni wie Spielkarten auf der Pizza. »Und seine Zähne sind auch nicht scharf genug«, fügte ich hinzu und stel te den Beutel in den Kühlschrank, weit weg von Ivy.

»Sie könnten überkront sein.« Ivy starrte in Richtung Kühlschrank mit den darin verborgenen Peperoni. »Es wäre dann schwieriger, als praktizierender Vampir zu leben, aber es ist schon gemacht worden.«

Ich musste wieder an Tafel 6.1 mit den al zu hilfreichen Diagrammen denken, und mich durchzog ein Frösteln.

Hastig griff ich nach einer Tomate, um davon abzulenken. Ivy nickte zustimmend, als ich kurz zögerte. »Nein«, sagte ich vol er Überzeugung, »er hat nicht dieses völ ige Unverständnis für den Wohlfühlbereich anderer, das jeder lebende Vampir hatte, dem ich bislang begegnet bin. Außer dir natürlich.«

Nachdem ich es gesagt hatte, wünschte ich mir, ich könnte es zurücknehmen. Ivy schien in sich zusammenzufal en, und ich stel te mir die Frage, ob sie viel eicht deshalb al e auf Distanz hielt, weil sie abstinent war. Es musste frustrierend sein, sich bei jedem Schritt und jeder Bewegung fragen zu müssen, ob sie nun vom Kopf oder vom Hunger bestimmt wurden. Da war es kein Wunder, dass Ivy dazu neigte, aus der Haut zu fahren. Sie bekämpfte einen jahrtausendealten Instinkt und hatte niemanden, der sie dabei unterstützte.

Zögerlich fragte ich: »Gibt es eine Möglichkeit festzustel en, ob Trent ein menschlicher Nachkomme ist?«

»Ein menschlicher Nachkomme?«, wiederholte sie erstaunt. »Keine schlechte Idee.«

Ich schnitt die Tomate in kleine Würfel. »Irgendwie passt es: Er hat die innere Stärke, Anmut und betörende Ausstrahlung eines Vampirs, aber nicht diese unangenehme Distanzlosigkeit. Und ich würde mein Leben darauf verwetten, dass er weder eine Hexe noch ein Hexer ist, und zwar nicht nur, weil er kein bisschen nach Rotholz riecht. Es ist auch die Art, wie er sich bewegt, das Licht, das aus der Tiefe seiner Augen strahlt. .« Ich verstummte, als ich mich an seine unergründlichen grünen Augen erinnerte.

Ivy rutschte von der Arbeitsplatte und klaute sich eine Peperoni von der Pizza. Vorsichtig schob ich das Essen auf die andere Seite der Spüle, damit sie nicht mehr drankam.

Aber sie folgte einfach der Bewegung und nahm sich noch eine Peperoni. Ein leises Summen kündigte Jenks' Ankunft an, der durch das Fenster geflogen kam. In seinen Armen hielt er einen Pilz, der fast so groß war wie er selbst und wesentlich schmutziger. Ich blickte zu Ivy hinüber: Sie zuckte nur mit den Schultern.

»Hey, Jenks«, sagte Ivy und zog sich auf ihren Stuhl in der Ecke zurück. Offensichtlich hatten wir den »Ich kann in deiner Nähe sein und dich trotzdem nicht beißen«-Test mit Erfolg hinter uns gebracht. »Was denkst du, ist Trent ein Tiermensch?«

Jenks ließ den Pilz fal en. Sein kleines Gesicht verzerrte sich vor Wut und er schlug wie rasend mit den Flügeln. »Woher sol ich das wissen?«, giftete er. »Ich bin ja nicht nah genug rangekommen. Ich bin gefangen worden. Okay? Jenks wurde gefangen. Bist du nun zufrieden?« Er flog zum Fenster, ließ sich neben Mr. Fish nieder und starrte in die Dunkelheit.

Ivy schüttelte angewidert den Kopf. »Na, dann haben sie dich eben geschnappt. Verdammt große Sache. Sie haben auch Rachel erkannt, und heult sie hier viel eicht so rum?

Nein.«

Tatsächlich hatte ich meinen Tobsuchtsanfal schon auf dem Nachhauseweg hinter mich gebracht. Viel eicht war das auch die Erklärung für die merkwürdigen Geräusche, die Francis' Wagen von sich gab, als ich ihn auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums abstel te.

Jenks schnel te zu Ivy hinüber und kam nur wenige Zentimeter vor ihrer Nase zum Stehen. Seine Flügel leuchteten jetzt feuerrot vor Wut. »Lass du dich doch mal von einem Gärtner fangen und in eine Glaskugel sperren.

Mal sehen, ob dir das nicht eine ganz neue Perspektive verschafft, meine kleine Miss Sonnenschein.«

Meine schlechte Laune verflog, als ich den zehn Zentimeter großen Pixie beobachtete, wie er es mit einem Vampir aufnahm. »Komm wieder runter, Jenks«, sagte ich fröhlich, »ich denke nicht, dass er wirklich ein Gärtner war.«

»Tatsächlich?«, erwiderte er sarkastisch und flog zu mir herüber. »Das denkst du also?«

Hinter seinem Rücken tat Ivy so, als wol te sie ihn zwischen ihren Fingern zerquetschen, und rol te genervt mit den Augen, bevor sie sich wieder auf den Stadtplan konzentrierte. Die einsetzende Stil e war weder angenehm noch unangenehm. Jenks flitzte zu seinem Pilz runter und brachte ihn mir, inklusive Schmutz. Er hatte sich umgezogen und trug ein weites, legeres Outfit. Die wehende Seide hatte die Farbe von nassem Moos und der Schnitt ließ ihn wie einen Wüstenscheich aussehen. Sein blondes Haar war nach hinten gekämmt und ich glaubte, Seife zu riechen. Ich hatte noch nie einen Pixie dabei beobachten können, wie er die Seele baumeln ließ. Irgendwie war es liebenswert.

»Hier.« Verlegen schob er den Pilz in meine Richtung. »Ich habe ihn im Garten gefunden und dachte, viel eicht kannst du ihn brauchen. Du weißt schon, für die Pizza.«

»Danke, Jenks.« Ich begann, den Schmutz abzubürsten.

»Also«, setzte er erneut an und trat unruhig drei Schritte zurück. »Es tut mir leid, Rachel. Immerhin sol te ich dir Rückendeckung geben und nicht gefangen werden.«

Wie peinlich, dachte ich. Da entschuldigte sich jemand, der nicht größer war als eine Libel e, dafür, dass er mich nicht ausreichend beschützt hatte. »Ist schon gut, wir haben es beide vermasselt«, erwiderte ich widerwil ig. Natürlich musste bei so einer Szene auch noch Ivy anwesend sein.

Ohne auf ihr vielsagendes Schnauben einzugehen, wusch ich den Pilz ab und schnitt ihn in Stücke. Für Jenks schien die Sache erledigt zu sein, denn er begann, Ivys Kopf zu umkreisen, bis sie nach ihm schlug.

Daraufhin kehrte er zu mir zurück. »Ich werde herausfinden, wonach Kalamack riecht, und wenn es mich umbringt. Jetzt geht es um meine Ehre!«

Nun, dachte ich, warum nicht? Ich atmete tief ein. »Ich gehe morgen Nacht noch mal hin«, sagte ich, meine Todesdrohung im Hinterkopf. Irgendwann würde ich einen Fehler machen, und im Gegensatz zu Ivy konnte ich nicht einfach von den Toten zurückkehren. »Wil st du mitkommen, Jenks? Nicht als Backup, sondern als Partner.«

Jenks erhob sich in die Luft. »Darauf kannst du die Höschen deiner Mutter verwetten.«

»Rachel!«, rief Ivy, »Was glaubst, was du da tust?«

Ich öffnete den Beutel mit dem Mozzarel a und verteilte den Käse auf der Pizza. »Ich mache Jenks zum gleichberechtigten Partner. Hast du ein Problem damit? Bei seinen ständigen Überstunden hat er wohl nichts Geringeres verdient.«

»Ich meine deine Idee, noch einmal zu Kalamack zu gehen.«

Jenks schwebte an meiner Seite, um seinen Standpunkt zu unterstreichen. »Halt die Klappe, Tamwood. Sie braucht eine von diesen CDs, um zu beweisen, dass Kalamack mit Biodrogen dealt.«

»Ich habe keine andere Wahl«, bekräftigte ich und drückte so heftig auf den Käse, dass er über den Rand quol .

Ivy lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Ich weiß, dass du ihn unbedingt dran kriegen wil st, aber denk darüber nach, Rachel. Trent kann dich für al es Mögliche vor Gericht bringen: von Hausfriedensbruch über Vorspiegelung der falschen Tatsache, du seiest eine I. S.-Angestel te, bis hin zu Beleidigung seiner Pferde. Wenn er dich erwischt, bist du erledigt.«

»Wenn ich Trent ohne einen stichhaltigen Beweis anklage, wird er sich mithilfe irgendwelcher Formalitäten aus der Sache rauswinden.« Ich konnte sie nicht ansehen. »Es muss schnel gehen und idiotensicher sein, etwas, worin sich die Presse richtig schön verbeißen kann.« Mit unsicheren Bewegungen sammelte ich den verschütteten Käse auf und legte ihn zurück auf die Pizza. »Ich muss eine von diesen CDs haben, und genau darum werde ich mich morgen kümmern.«

Ivy gab ein zweifelndes Geräusch von sich und meinte:

»Ich kann nicht glauben, dass du das einfach so durchziehen wil st, ohne einen Plan, ohne Vorbereitungen, ohne al es. Du hast es schon einmal spontan versucht, und wurdest geschnappt.«

Mein Gesicht brannte. »Bloß weil ich nicht jeden Gang zum Klo im Voraus plane, heißt das nicht, dass ich kein guter Runner bin.«

»Das habe ich nie gesagt. Ich meine ja nur, dass ein Plan helfen könnte, peinliche Fehler zu vermeiden. Wie etwa die heutige Panne.«

»Fehler! Pass mal auf, Ivy. Ich bin ein verdammt guter Runner!«

Langsam verlor sie die Geduld. »Du hattest in den letzten sechs Monaten keinen einzigen vernünftigen Fang.«

»Das war nicht meine Schuld, sondern Denons! Das hat er selbst zugegeben. Wenn du mich für so unfähig hältst, warum hast du mich dann angebettelt, dich mit mir kommen zu lassen?«

»Das habe ich nicht getan.« Sie kniff die Augen zusammen und auf ihren Wangen erschienen hektische rote Flecken.

Um weiteren Streit zu vermeiden, schob ich die Pizza in den Ofen. Die heiße Luft brannte auf meinen Wangen und ein paar Haarsträhnen flogen mir in die Augen. »Hast du wohl«, murmelte ich. Ich wusste, dass sie mich hören konnte, und fuhr deshalb lauter fort: »Ich weiß genau, was ich tun werde.«

»Wirklich?« Sie stand direkt neben mir. Jenks hockte auf dem Fensterbrett, direkt neben Mr. Fish. Sein Gesicht war bleich. »Also dann sag mir, wie lautet dein perfekter Plan?«

Inzwischen hatte ich Übung darin, meine Angst vor ihr zu verbergen. Ich ging wortlos an ihr vorbei und begann, mit dem großen Messer das Mehl von der Arbeitsplatte zu kratzen. Doch dann stel ten sich meine Nackenhaare auf, und ich drehte mich um. Sie war mir nicht gefolgt, sondern hatte lediglich ihre Arme vor der Brust verschränkt. In ihren Augen tanzten dunkle Schatten. Mein Puls raste. Ich hätte nicht mit ihr streiten sol en.

Jenks flitzte zwischen uns. »Wie gehen wir rein, Rachel?«, fragte er hastig, während er auf der Arbeitsfläche landete.

Jetzt, wo er sie im Auge behielt, fühlte ich mich sicherer und wandte ihr wieder den Rücken zu. »Ich werde als Nerz reingehen.« Ivy schnaubte nur. Ich strich das lose Mehl in meine Hand und brachte es zum Mül eimer. »Selbst wenn ich entdeckt werde, können sie mich so nicht erkennen. Das wird ein Kinderspiel.« Trents Bericht über meine Aktivitäten fiel mir wieder ein, und ich wurde nachdenklich.

»In das Büro eines Abgeordneten einzubrechen ist kein Kinderspiel«, widersprach Ivy verbissen, »sondern ein Kapitalverbrechen.«

»Mit Jenks' Hilfe brauche ich zwei Minuten in seinem Büro, insgesamt sind wir viel eicht zehn Minuten im Gebäude.«

»Und für deine Beerdigung im Kel er des I. S.-Gebäudes brauchen sie nur eine Stunde. Ihr seid wahnsinnig. Ihr seid al e beide vol kommen wahnsinnig. Das ist eine verdammte Festung mitten im Wald! Und das ist kein Plan - das ist eine Idee. Pläne fixiert man schriftlich!«

Ihre Stimme wurde verächtlich und meine Schultern verkrampften sich. »Wenn ich mich auf Pläne verlassen würde, dann wäre ich schon längst tot«, sagte ich. »Ich brauche keinen Plan. Du lernst, so viel du kannst, und dann machst du es einfach. Pläne helfen kein Stück bei bösen Überraschungen!«

Ivy starrte mich an. Ich schluckte. Die Schwärze in ihren Augen breitete sich aus und mein Magen zog sich zusammen.

»Ich kenne da einen angenehmeren Weg, wenn du Selbstmord begehen wil st«, hauchte sie.

Jenks landete auf meinem Ohrring, was mich von Ivy ablenkte. »Das ist das Cleverste, was sie diese Woche gemacht hat. Also verpiss dich, Tamwood!«

Ivy warf ihm einen wütenden Blick zu, und ich wich schnel einen Schritt zurück, solange sie abgelenkt war. »Du bist genauso bescheuert wie sie, Pixie.« Sie entblößte ihre Zähne.

Vampirzähne waren wie Waffen. Man zeigte sie erst, wenn man sie auch benutzen wol te.

»Lass sie ihren Job machen!«, schrie Jenks sie an.

Ivy erstarrte. Ich spürte einen kalten Luftzug im Nacken, als Jenks seine Flügel für einen Blitzstart positionierte.

»Genug!«, schrie ich, bevor er abheben konnte. Ich wol te ihn genau da haben, wo er saß. »Ivy, wenn du eine bessere Idee hast, dann sag sie mir. Ansonsten halt die Klappe.«

Jenks und ich starrten Ivy an, kurzzeitig verblendet genug, um zu glauben, dass wir gemeinsam etwas gegen sie ausrichten könnten. Ihre Augen waren jetzt vol kommen schwarz. In ihrem starren Blick lag ein Versprechen, das sie bisher nur angedeutet hatte. Ein Kribbeln in meinem Bauch wirbelte aufwärts und schnürte mir die Kehle zusammen, und ich konnte nicht sagen, ob es Angst oder Vorfreude war.

Atemlos fixierte sie meine Augen. Schau nicht auf meinen Hals, dachte ich panisch, o Gott. Schau nicht auf meinen Hals.

»Verdammte Scheiße«, flüsterte Jenks.

Auf einmal begann sie zu zittern und stützte sich Halt suchend auf das Spülbecken. Ich war wie ausgelaugt, und ich hätte schwören können, dass Jenks erleichtert aufseufzte.

Langsam realisierte ich, dass diese Konfrontation wirklich übel hätte enden können.

»Fein«, sagte Ivy schließlich ausdruckslos. »Geht und lasst euch umbringen. Al e beide.« Sie raffte sich auf und schlich mit schwerfäl igen Bewegungen aus der Küche. Viel zu bald hörte man den Klang der zufal enden Eingangstür. Dann war al es ruhig.

Irgendjemand wird heute Nacht verletzt werden, dachte ich.

Jenks verließ meinen Ohrring und landete auf der Fensterbank.

»Was ist los mit ihr?«, fragte er streitlustig in die plötzliche Stil e hinein. »Man könnte fast meinen, dass sie sich Sorgen um uns macht.«

16

Das entfernte Geräusch von zersplitterndem Glas und der Geruch von Räucherstäbchen weckten mich aus einem tiefen Schlaf. Ruckartig öffnete ich die Augen.

Ivy lehnte über mir, das Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt.

»Nein!« Ich schrie und schlug in wilder Panik um mich.

Meine Faust landete in ihrem Magen. Ivy ging zu Boden und rang nach Luft, was mir Zeit gab, mich aufzurappeln und auf mein Bett zu kauern. Mein Blick schnel te vom Fenster, durch das man die ersten Anzeichen des Morgens erkennen konnte, zur Tür. Automatisch begann mein Herz zu rasen und der altbekannte Adrenalinstoß ließ mich frösteln. Ivy befand sich genau zwischen mir und dem einzigen Fluchtweg.

»Warte«, keuchte sie und versuchte, mich festzuhalten.

»Hinterhältiger Blutsauger«, zischte ich.

Mein Atem stockte, als Jenks, nein, es war Jax, vom Fenstersims geflitzt kam und vor mir in der Luft schwebte.

»Ms. Rachel«, rief er verwirrt, »wir werden angegriffen.

Fairies!«, berichtete er mit sich überschlagender Stimme.

Fairies, dachte ich in einem Anflug panischer Angst. Mit meinen Amuletten konnte ich keine Fairies bekämpfen, sie waren viel zu schnel . Bestenfal s könnte ich versuchen, eine zu zerquetschen. Mein Gott. In meinem ganzen Leben hatte ich nie jemanden getötet. Noch nicht einmal aus Versehen.

Verdammt - ich war ein Runner. Sinn und Zweck der Übung war, sie lebend zu fangen, nicht tot. Aber Fairies. .

Ich sah wieder zu Ivy, und als mir endlich klar wurde, was sie in meinem Zimmer machte, wurde ich rot. So würdevol wie möglich stieg ich aus dem Bett.

»Tut mir leid«, flüsterte ich und wol te ihr aufhelfen. Sie neigte den Kopf, um durch ihre langen Haare hindurchsehen zu können; sie war stocksauer. Eine weiße Hand schnel te vor und riss mich runter. Ich schrie, als ich auf den Boden aufschlug, und ich geriet sofort wieder in Panik, als Ivy ihre Hand auf meinen Mund presste. »Halt die Klappe«, keuchte sie. Ich konnte ihren Atem an meiner Wange spüren. »Wil st du uns umbringen? Sie sind schon hier.«

Undeutlich flüsterte ich zwischen ihren Fingern hindurch:

»Sie werden nicht reinkommen. Das hier ist eine Kirche.«

»Fairies erkennen heiligen Boden nicht an. Er ist ihnen völ ig egal.«

Sie sind schon drin. Als sie meine Angst sah, nahm Ivy ihre Hand von meinem Mund. Der Lüftungsschlitz fiel mir ein, und ich schloss ihn vorsichtig. Das quietschende Geräusch ließ mich zusammenzucken. Jax landete auf meinem Knie.

»Sie sind in unseren Garten eingefal en.« Sein mörderischer Blick stand in verstörendem Kontrast zu seinem kindlichen Gesicht. »Dafür werden sie bezahlen. Und ich sitze hier fest, weil ich für euch Idioten den Babysitter spielen muss.«

Angewidert kehrte er auf das Fensterbrett zurück.

Aus der Küche kam ein lauter Knal . Als ich aufzustehen versuchte, drückte mich Ivy wieder runter. »Bleib hier«, sagte sie leise. »Jenks wird sich darum kümmern.«

»Aber -«Ich verkniff mir meinen Protest, als Ivy sich umdrehte. Im trüben Morgenlicht wirkten ihre Augen tiefschwarz. Was konnte Jenks schon gegen Fairy-Attentäter ausrichten? Er hatte eine Ausbildung zum Backup, nicht im Gueril akampf. »Hey, es tut mir leid«, flüsterte ich. »Dass ich dich geschlagen habe, meine ich.«

Ivy bewegte sich nicht. Ihre Augen spiegelten die widersprüchlichsten Gefühle wider. »Wenn ich dich wol te, kleine Hexe, könntest du mich nicht aufhalten.«

Ich musste schlucken. Das klang wie ein Versprechen.

»Irgendetwas ist passiert«, sagte sie und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die geschlossene Tür. »Ich hatte das erst in drei Tagen erwartet.«

Ein Gefühl der Übelkeit überkam mich. Die LS. hatte ihre Taktik geändert. Das hatte ich mir wohl selbst zuzuschreiben.

»Francis ist passiert. Das war mein Fehler. Die I. S. weiß jetzt, dass ich an ihren Wachhunden vorbeikomme.«

Ich presste die Fingerspitzen an meine Schläfen. Keasley hatte mich gewarnt.

Ein weiterer Knal ertönte. Ivy und ich starrten die Tür an.

Ich konnte mein Herz klopfen hören. Ivy auch? Einen endlosen Moment später klopfte es leise an die Tür. Mein Körper spannte sich an, und auch Ivy sammelte sich.

»Papa?«, fragte Jax behutsam. Aus dem Flur kam ein wimmerndes Geräusch. Jax schnel te zur Tür: »Papa!«

Ich schlich geduckt zur Tür, machte das Licht an und blinzelte in den grel en Strahl. Dann sah ich auf die Uhr, die Ivy mir geliehen hatte. Es war erst halb sechs; ich hatte nur eine Stunde geschlafen.

Ivy erhob sich mit beängstigender Schnel igkeit. Sie öffnete die Tür und schritt hinaus, wobei der Saum ihres Morgenmantels über den Boden glitt. Ich zuckte schuldbewusst zusammen, als sie den Raum verließ. Ich hatte sie nicht verletzen wol en. Nein, das war gelogen. Ich hatte es gewol t.

Aber ich hatte gedacht, sie wol te mich zu ihrem Vorfrühstückssnack machen.

Jenks flog taumelnd in den Raum und knal te fast gegen das Fenster, als er zur Landung ansetzte.

»Jenks?« Meine Entschuldigung bei Ivy konnte warten.

»Bist du in Ordnung?«

»Naja«, kam seine schleppende Antwort. »Zumindest müssen wir uns für eine Weile keine Sorgen mehr um Fairies machen.« Überrascht bemerkte ich die Waffe in seiner Hand.

Sie hatte einen hölzernen Griff und war ungefähr so groß wie einer dieser Zahnstocher, auf die man Oliven aufspießt. Jenks setzte sich schwerfäl ig und quetschte dabei versehentlich seine unteren Flügel.

Jax zog seinen Vater auf die Füße. »Papa?« Er klang besorgt. Jenks sah schrecklich aus. Einer seiner oberen Flügel war zerfetzt und er blutete aus mehreren Wunden, eine davon direkt unter seinem Auge. Das andere Auge war komplett zugeschwol en. Er stützte sich schwer auf Jax, der sich al e Mühe gab, seinen Vater aufrechtzuhalten.

»Hier«, sagte ich und schob Jenks behutsam auf meine Handfläche. »Ab in die Küche mit dir, da ist das Licht besser.

Viel eicht können wir deinen Flügel stabilisieren.«

»Da ist kein Licht«, murmelte er erschöpft. »Hab's zerbrochen.« Er blinzelte und versuchte, mich anzusehen.

»Sorry.«

Besorgt bedeckte ich ihn mit der anderen Hand und ignorierte seinen schwachen Protest. »Jax, geh und hol deine Mutter.« Er schnappte sich das Schwert seines Vaters und schoss aus einer Öffnung unter der Decke. »Ivy?« Ich bahnte mir einen Weg durch die dunkle Hal e. »Was weißt du über Pixies?«

»Offensichtlich nicht genug«, sagte sie direkt hinter mir, und ich sprang aufgescheucht zur Seite.

Als ich die Küche betrat, drückte ich mit dem El bogen auf den Lichtschalter. Nichts. Die Lampen waren kaputt.

»Warte«, sagte Ivy, »der Boden ist vol er Glasscherben.«

»Woher weißt du das?«, fragte ich skeptisch, zögerte aber, da ich mir nicht die nackten Füße verletzen wol te. Ivy schob sich dicht an mir vorbei, und mir lief ein Schauer über den Rücken. Sie wurde wieder vampirisch. Ich hörte das Knirschen von Glas, bevor die Leuchtröhre über dem Ofen aufflackerte und die Küche in kaltes, fluoreszierendes Licht tauchte.

Das dünne Glas der zerschmetterten Birnen war überal auf dem Boden verstreut und ein stechender Geruch hing in der Luft. Verblüfft stel te ich fest, dass es Fairystaub war. Als ich ihn einatmete, begann meine Nase zu jucken, und ich setzte Jenks schnel auf der Tischplatte ab, bevor ich niesen musste und ihn eventuel fal en ließ.

Dann hielt ich die Luft an und ging zum Fenster, um es weiter zu öffnen. Mr. Fish lag hilflos in der Spüle, da sein Glas zerschmettert worden war. Behutsam holte ich ihn zwischen den dicken Scherben hervor, fül te einen Plastikbecher mit Wasser und setzte ihn hinein. Mr. Fish schlingerte ein wenig hin und her, erzitterte, und sank dann auf den Boden. Seine Kiemen bewegten sich langsam. Er war in Ordnung.

»Jenks?« Ich drehte mich zu ihm um und sah, dass er schon wieder aufgestanden war. »Was ist passiert?«

»Wir haben sie fertiggemacht«, wisperte er und geriet ins Taumeln.

Ivy holte inzwischen den Besen aus der Vorratskammer und begann, das Glas auf einen Haufen zu kehren.

»Sie dachten, ich wüsste nicht, wo sie stecken.« Ich suchte nach Verbandszeug und erschrak, als ich einen abgetrennten Fairyflügel fand. Er ähnelte mehr dem Flügel eines Nachtfalters als dem einer Libel e. Ein paar Schuppen blieben an meinen Fingern hängen und färbten sie grün-violett.

Sorgfältig legte ich den Flügel beiseite; für einige komplizierte Zauber brauchte man Fairystaub.

Jesus, dachte ich, und mir drehte sich der Magen um.

Jemand war gestorben und ich plante, ein Körperteil von ihm für einen Spruch zu benutzen.

»Die kleine Jacey hat sie zuerst gesehen«, krächzte Jenks,

»hinter den Menschengräbern. Rosa Flügel erstrahlten im Licht des Mondes, während die Erde sich um sein silbernes Netz drehte. Sie erreichten die Mauer. Unsere Linien standen geschlossen. Wir verteidigten unser Land. Gesagt, getan.«

Völ ig verwirrt blickte ich zu Ivy hinüber. Sie hatte aufgehört zu kehren und beobachtete Jenks beunruhigt. Es war unheimlich: Jenks fluchte nicht, er wurde poetisch. Und er war noch nicht fertig.

»Der Erste wurde niedergestreckt am Fuße der Eiche, getötet vom Stahl in seinem Blute. Der Zweite fiel auf geheiligtem Boden, befleckt von den Schreien seiner Torheit.

Der Dritte starb in Staub und Salz, als stil e Warnung an seinen Meister.«

Jenks schaute hoch, sah mich aber nicht. »Dieser Grund ist unser. Besiegelt durch den gebrochenen Flügel, das vergiftete Blut und unsere unbestatteten Toten.«

Ivy und ich starrten uns in dem unwirklichen Licht an.

»Was zur Höl e?«, wisperte sie. Jenks' Augen wurden klar. Er wandte sich in unsere Richtung, salutierte, und brach dann wie in Zeitlupe zusammen.

»Jenks!« Wir rannten zu ihm hinüber, Ivy erreichte ihn zuerst. Sie legte ihn in ihre Hand und drehte sich mit einem panischen Blick zu mir um. »Was sol ich tun?«

»Woher sol ich das denn wissen? Atmet er?«

Man hörte den Klang singender Windspiele und Jenks'

Frau fegte in den Raum, mindestens ein Dutzend Pixie-kinder im Schlepptau. »Euer Wohnzimmer ist in Ordnung«, sagte sie brüsk, als sie so abrupt zum Stehen kam, dass ihr nebelfarbener Seidenumhang sich um sie bauschte. »Keine Amulette. Bringt ihn hier rüber. Jhem, geh und mach das Licht vor Ms. Ivy an, und dann hilf Jinni, meinen Verbandskasten zu holen. Jax, du übernimmst den Rest dieser Bande. Durchsucht die Kirche, beginnend mit dem Glockenturm. Untersucht jede winzigste Spalte; die Wände, die Rohre, die Strom- und die Telefonleitungen. Nehmt euch vor den Eulen in Acht und durchsucht auch das Priesterversteck. Wenn ihr meint, auch nur den leisesten Hauch von Magie oder Fairy zu riechen - schreit! Al es klar?

Dann los.«

Die Pixiekinder verteilten sich in al e Richtungen und auch Ivy folgte gehorsam dem Befehl der kleinen Frau und lief ins Wohnzimmer. Ich hätte es amüsant gefunden, wenn da nicht der regungslose Jenks auf ihrer Hand gewesen wäre. So schnel ich konnte, humpelte ich hinter ihnen her.

»Nein, Liebes«, sagte die kleine Frau, als Ivy Jenks auf ein Kissen legen wol te. »Leg ihn bitte auf den Tisch, ich brauche einen harten Untergrund für die Schnitte.«

Schnitte? Ich nahm Ivys Magazine vom Tisch und legte sie auf den Boden, um Platz zu schaffen. Dann setzte ich mich auf den nächsten Stuhl und neigte den Lampenschirm. Ich fühlte mich benommen und fror in meinem Flanel pyjama.

Was war, wenn Jenks wirklich schwer verletzt war? Dass er tatsächlich zwei Fairies getötet hatte, schockierte mich. Er hat sie getötet. Na klar, ich hatte auch schon Leute ins Krankenhaus gebracht, aber jemanden töten? Ich erinnerte mich an meine Angst, als ich neben einem zu al em bereiten Vampir in der Dunkelheit gekauert und mich mit genau dieser Frage beschäftigt hatte. Ivy legte Jenks so vorsichtig ab, als sei er aus Seidenpapier, und wandte sich zur Tür. Sie ging gebeugt und wirkte ernsthaft beunruhigt. Irgendwie schien sie hier fehl am Platz zu sein. »Ich werde draußen al es überprüfen.«

Mrs. Jenks lächelte und ihr sanftes, jugendliches Gesicht strahlte eine zeitlose Wärme aus. »Nein, Liebes, wir sind in Sicherheit. Wir haben mindestens noch einen Tag Zeit, bevor die I. S. einen anderen Fairy Clan findet, der es mit uns aufnehmen wil . Und Pixies würden für kein Geld dieser Welt in den Garten anderer Pixies einfal en. Das beweist, welch ungehobelte Barbaren die Fairies sind. Aber geh ruhig schauen, wenn du wil st. Selbst unser Jüngstes könnte heute Morgen schon wieder zwischen den Blumen tanzen.«

Ivy öffnete den Mund, als ob sie protestieren wol te, erkannte aber, dass die Pixiefrau es ernst gemeint hatte. Stil verschwand sie durch die Hintertür.

»Hat Jenks noch etwas gesagt, bevor er ohnmächtig wurde?« Mrs. Jenks arrangierte seine Flügel so, dass sie in einem merkwürdigen Winkel vom Körper abstanden. Er sah aus wie ein aufgespießter Käfer in einem Ausstel ungskasten.

Ich fühlte mich plötzlich unglaublich schlecht.

»Nicht wirklich.« Ich wunderte mich über ihre Gelassenheit; ich war der Verzweiflung nahe. »Er schien nur irgendein Gedicht zu rezitieren.« Ich zog meinen Pyjamakragen höher und kauerte mich zusammen. »Wird er wieder gesund werden?«

Sie sank neben ihm auf die Knie. Als sie vorsichtig das geschwol ene Auge ihres Mannes berührte, war ihr die Erleichterung deutlich anzusehen.

»Er wird wieder. Wenn er flucht oder Gedichte aufsagt, geht's ihm gut. Wenn du mir jetzt gesagt hättest, dass er gesungen hätte, wäre ich ernsthaft besorgt gewesen.« Ihre Finger berührten ihn langsam und zärtlich, und ihre Augen blickten in die Ferne.

»An dem Tag, als er singend nach Hause kam, hätten wir ihn beinahe verloren.«

Sie sammelte sich wieder und öffnete mit einem freudlosen Lächeln die Tasche, die ihre Kinder gebracht hatten.

Mich überkamen Schuldgefühle. »Es tut mir so leid, Mrs.

Jenks. Ohne mich wäre das al es nicht passiert. Wenn Jenks jetzt aus seinem Vertrag aussteigen wil , kann ich das gut verstehen.«

»Aus seinem Vertrag aussteigen?« Mrs. Jenks fixierte mich mit einer beängstigenden Intensität. »Du lieber Himmel, Kind. Doch nicht wegen einer solchen Lappalie.«

»Aber er sol te nicht gegen sie kämpfen müssen!«, protestierte ich, »sie hätten ihn töten können.«

»Es waren nur drei.« Sie breitete ein weißes Laken neben Jenks aus und legte darauf Verbände, Heilsalbe und etwas, das wie eine künstliche Flügelmembran aussah. »Sie wussten, in welcher Gefahr sie sich befanden. Sie haben die Warnsignale ignoriert. Ihr Tod war gerechtfertigt.« Als sie lächelte, wurde mir klar, warum der Pixie seinen Wunsch dazu benutzt hatte, sie an sich zu binden. Sogar mit einem Messer in der Hand sah sie aus wie ein Engel.

»Aber sie waren nicht hinter euch her«, beharrte ich, »sie wol ten mich!«

Sie schüttelte den Kopf, und ihr feines Haar tanzte um ihr Gesicht.

»Das spielt keine Rol e«, erwiderte sie, »sie hätten den Garten sowieso besetzt. Aber letztendlich haben sie es wegen des Geldes getan.« Aus ihrem Mund klang es wie ein Schimpfwort. »Und die LS. musste sicher eine Menge davon bieten, damit sie sich trauten, es mit meinem Jenks aufzunehmen.« Sie seufzte und schnitt Teile aus der dünnen Membran, die sie den Löchern in Jenks' Flügel anpasste.

Diese Arbeit schien sie nicht mehr aufzuregen als Socken zu stopfen.

»Mach dir keine Gedanken. Sie dachten, dass sie uns aus dem Gleichgewicht bringen könnten, weil wir uns gerade erst niedergelassen hatten.« Sie warf mir einen selbstzufriedenen Blick zu. »Da haben sie wohl falsch gedacht.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sol te. Der Hass zwischen den Pixies und den Fairies ging wesentlich weiter, als ich gedacht hatte. Sie vertraten die Ansicht, dass niemand Land besitzen könne. Deshalb vermieden sie jegliches förmliche Eigentumsrecht und verfuhren einfach nach dem Grundsatz:

»Wer die Macht hat, hat das Recht.« Und da sie mit niemandem sonst in Konkurrenz standen, drückte die Justiz bei ihren Angelegenheiten beide Augen zu und erlaubte ihnen, ihre Streitigkeiten unter sich auszumachen; offenbar sogar bis zum gegenseitigen Mord. Ich fragte mich, was denjenigen zugestoßen war, die das Hoheitsrecht über den Garten innegehabt hatten, bevor Ivy die Kirche gemietet hatte.

»Jenks mag dich«, sagte die kleine Frau, während sie die Flügelmembran aufrol te und wegpackte. »Er nennt dich Freundin. Und aus Respekt ihm gegenüber sehe auch ich dich als solche.«

»Danke«, stammelte ich.

»Dennoch traue ich dir nicht.« Sie war genauso direkt wie ihr Ehemann und beinahe ebenso taktvol . »Ist es wahr, dass du ihn zu deinem Partner gemacht hast? Hast du das wirklich ernst gemeint, oder war das nur ein grausamer Scherz?«