Fünfter Teil
Die Rakete hebt senkrecht ab, dann neigt sie sich in eine Flugbahn von 40° zum Horizont. Solange die Triebwerke brennen, wird die erste Stufe durch bewegliche Karbonflügel im Abgasstrahl und aerodynamische Heckleitwerke gelenkt.
Luke hatte sich kaum angeschnallt, da übermannte ihn auch schon der Schlaf. Den Start der Maschine in Newport News bekam er gar nicht mit. Er schlief fest, solange die Maschine in der Luft war, wachte aber stets auf, wenn sie bei einer ihrer zahlreichen Zwischenlandungen in Virginia und North Carolina über die Landepiste rumpelte.
Jedes Mal, wenn er die Augen öffnete, bekam er es vorübergehend mit der Angst zu tun. Er sah dann auf die Uhr und rechnete aus, wie viele Stunden und Minuten ihm noch bis zum Start der Rakete blieben. Wenn die kleine Maschine über das Flugfeld zum Terminal rollte, rutschte er nervös in seinem Sitz hin und her. Ein paar Leute stiegen aus, ein oder zwei andere stiegen zu, und der Flieger hob wieder ab. Es war wie eine Busfahrt.
In Winston-Salem wurde aufgetankt, und die Passagiere stiegen für ein paar Minuten aus. Vom Flughafengebäude rief Luke Redstone Arsenal an und ließ sich Marigold Clark geben, seine Sekretärin.
»Doktor Lucas!«, sagte sie. »Wie geht‘s Ihnen?«
»Danke, gut, aber ich habe nur ein oder zwei Minuten Zeit. Ist der Start immer noch für heute Abend angesetzt?«
»Ja, auf 22.30 Uhr.«
»Ich bin auf dem Weg nach Huntsville – meine Maschine landet um 14.23 Uhr. Ich versuche herauszufinden, warum ich am Montag dort war.«
»Ihr Erinnerungsvermögen ist nicht zurückgekehrt?«
»Nein. Sie wissen auch nicht, weshalb ich in Huntsville war?«
»Ich sagte Ihnen ja schon: Sie haben es mir nicht erzählt.«
»Was hab ich dort getan?«
»Lassen Sie mich einen Moment nachdenken ... Ich habe Sie in einem Wagen der Armee am Flughafen abgeholt und hierher zum Stützpunkt gefahren. Sie sind ins Rechenzentrum gegangen und dann allein zum Südrand des Geländes gefahren.«
»Was befindet sich dort am Südrand?«
»Die Anlagen für Bodentests. Ich denke, Sie sind wohl in die Werkstatt gegangen – dort arbeiten Sie manchmal –, aber genau weiß ich das nicht, weil ich nicht bei Ihnen war.«
»Und danach?«
»Sie haben mich gebeten, Sie nach Hause zu fahren.« Luke spürte eine gewisse Strenge in ihrem Ton. »Ich habe im Auto gewartet. Nach ein paar Minuten kamen Sie wieder heraus, und ich habe Sie zum Flughafen gebracht.«
»Und das war alles?«
»Das ist alles, was ich weiß.«
Luke gab ein frustriertes Brummen von sich. Er hatte fest geglaubt, Marigold könne ihm irgendwie weiterhelfen.
In seiner Verzweiflung verlegte er sich auf eine ganz andere Art von Fragen. »Was habe ich für einen Eindruck gemacht?«
»So weit ganz normal, aber nicht ganz bei der Sache … geistesabwesend, ja, das ist das Wort, das ich gesucht habe. Irgendetwas machte Ihnen Kummer – aber das kommt bei euch Wissenschaftlern ja alle Nase lang vor, da reg ich mich schon gar nicht mehr drüber auf.«
»Hab ich normale Klamotten getragen?«
»Eins von Ihren guten Tweed-Jacketts.«
»Hatte ich sonst etwas bei mir?«
»Nur Ihren kleinen Koffer. Ach ja, und einen Schnellhefter.«
Luke hielt sekundenlang die Luft an. »Einen Schnellhefter?«, fragte er und schluckte.
Eine Stewardess unterbrach ihn. »Bitte gehen Sie wieder an Bord, Sir.«
Er legte eine Hand über die Sprechmuschel und sagte: »Eine Minute noch.« Dann sagte er zu Marigold: »War das ein besonderer Schnellhefter?«
»Armee-Standardware, dünner Karton, gelbbraun, groß genug für Geschäftsbriefe.«
»Wissen Sie, was darin gewesen sein könnte?«
»Irgendwelche Unterlagen, wie‘s aussah.«
Luke versuchte, regelmäßig zu atmen. »Wie viele Blatt Papier? Eins, zehn, hundert?«
»Vielleicht fünfzehn oder zwanzig, meiner Schätzung nach.«
»Haben Sie zufällig gesehen, was drauf stand?«
»Nein, Sir, Sie haben die Seiten nicht rausgenommen.«
»Und hatte ich den Hefter immer noch, als Sie mich zum Flughafen gefahren haben?«
Schweigen am anderen Ende.
Die Stewardess kreuzte erneut auf. »Sir, wenn Sie jetzt nicht an Bord gehen, müssen wir ohne Sie starten.«
»Ich komme, ich komme sofort!« Er fing an, seine Frage an Marigold zu wiederholen. »Hatte ich den Hefter immer noch –«
»Ich hab schon verstanden«, unterbrach sie ihn. »Ich versuche mich zu erinnern.«
Er biss sich auf die Lippe. »Nehmen Sie sich Zeit.«
»Ob Sie ihn mit im Haus hatten, weiß ich nicht.« »Aber am Flughafen?«
»Nein, ich glaube nicht. Wissen Sie, ich seh wieder, wie Sie ins Terminal gegangen sind, und da hatten Sie in einer Hand eine Tasche, und in der anderen ... nichts.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja, jetzt schon. Sie müssen diesen Hefter irgendwo gelassen haben, entweder auf dem Stützpunkt oder bei Ihnen zu Hause.«
Lukes Gedanken überschlugen sich. Der Schnellhefter war der Grund für seinen Flug nach Huntsville, dessen war er sich sicher. Er enthielt das Geheimnis, das er entdeckt hatte und das Anthony ihn so verzweifelt vergessen machen wollte. Vielleicht war es eine Fotokopie des Originals, und er hatte sie irgendwo in Sicherheit gebracht. Aus diesem Grund hatte er Marigold gebeten, niemandem von seinem Besuch zu erzählen.
Wenn ich diesen Hefter finden kann, dann kenne ich auch das Geheimnis, um das es geht, dachte er.
Die Stewardess hatte ihn stehen lassen, und er sah, wie sie über das Rollfeld lief. Die Propeller des Flugzeugs drehten sich bereits.
»Ich glaube, dieser Hefter ist von entscheidender Bedeutung«, sagte er zu Marigold. »Würden Sie sich mal umsehen, ob er irgendwo zu finden ist?«
»Mein Gott, Dr. Lucas, wir sind bei der Armee! Wissen Sie denn nicht, dass hier Millionen von diesen gelbbraunen Dingern rumliegen? Woher soll ich wissen, dass es der ist, den Sie in der Hand hatten?«
»Sehen Sie sich einfach um, vielleicht liegt ja irgendwo einer rum, der da nicht hingehört. Sobald ich in Huntsville bin, suche ich ihn bei mir zu Hause. Wenn ich da nichts finde, komme ich zum Stützpunkt raus.« Luke hängte auf und rannte los, um die Maschine noch zu bekommen.
Der Flugplan wird im Voraus programmiert. Während des Flugs aktivieren an den Computer übermittelte Signale das Lenkungssystem, damit die Rakete auf Kurs bleibt.
Die MATS-Maschine nach Huntsville war voller Generäle. Im Redstone Arsenal wurden nicht nur Weltraumraketen geplant. Es war das Hauptquartier des Army Ordnance Missile Command. Anthony, der sich in solchen Dingen auf dem Laufenden hielt, wusste, dass eine ganze Reihe von Waffen auf dem Stützpunkt entwickelt und getestet wurde – von der baseballgroßen Red Eye für Bodentruppen zur Abwehr feindlicher Kampfflugzeuge bis hin zur riesigen Boden-Boden-Rakete Honest John. Der Stützpunkt war ein beliebter Treffpunkt für hochrangige Lamettaträger.
Anthony trug eine Sonnenbrille, damit niemand die zwei blauen Augen sah, die Billie ihm verpasst hatte. Seine Lippe hatte aufgehört zu bluten, und den abgebrochenen Zahn sah man nur, wenn er sprach. Trotz seiner Verletzungen war er voller Tatkraft: Er war Luke wieder dicht auf den Fersen.
War es nicht am einfachsten, ihn gleich bei erstbester Gelegenheit zu töten? Ja, es war geradezu verführerisch einfach. Was Anthony allerdings Sorgen machte, war die Tatsache, dass er Lukes Pläne nicht genau kannte. Er musste sich entscheiden. Doch als er das Flugzeug bestieg, war er seit achtundvierzig Stunden auf den Beinen und schlief daher sofort ein. Er träumte, er wäre wieder einundzwanzig, die hohen Bäume auf dem Campus von Harvard trügen frische grüne Blätter, und vor ihm öffneten sich wie eine breite Straße die Chancen auf ein Leben in Glanz und Gloria. Er kam erst wieder zu sich, als Pete ihn rüttelte, weil ein Korporal die Flugzeugtür öffnete. Er setzte sich auf und sog die warme Luft von Alabama ein.
Huntsville besaß einen Zivilflughafen, aber dort landeten sie nicht. Der MATS-Flug endete auf der Piste des Stützpunkts Redstone Arsenal. Der Terminal war eine kleine Holzhütte, der Tower eine offene Stahlkonstruktion mit einem einzigen Kontrollraum an der Spitze.
Anthony schritt über das verdorrte Gras des Vorfelds und schüttelte den Kopf, um wieder zu sich zu kommen. Bei sich trug er die kleine Tasche mit seiner Waffe, einem falschen Pass und fünftausend Dollar in bar – seine Notausrüstung, ohne die er nie einen Flug antrat.
Sein Adrenalinspiegel war gestiegen und belebte ihn. In den kommenden Stunden würde er zum ersten Mal seit dem Krieg einen Menschen töten. Sein Magen zog sich bei dem Gedanken daran zusammen. Wo werde ich es tun, dachte er. Ich könnte Luke am Zivilflughafen abpassen, ihm folgen und ihn irgendwo unterwegs niederschießen ... Aber das Risiko ist hoch. Wenn Luke merkt, dass er verfolgt wird, geht er mir vielleicht wieder durch die Lappen – zuzutrauen ist es ihm. Ein leichtes Ziel ist der Mann nicht. Wenn ich nicht höllisch aufpasse, entkommt er mir noch einmal.
Am besten wäre es, wenn ich wüsste, wo Luke hin will. Ich könnte ihm an seinem Ziel auflauern. Anthony wandte sich an Pete: »Ich mache ein paar Erkundigungen auf dem Stützpunkt«, sagte Anthony zu Pete. »Sie fahren zum Flughafen und passen auf. Wenn Luke eintrifft oder etwas Unvorhergesehenes passiert, können Sie mich hier erreichen.«
Am Rande des Rollfelds wartete ein junger Mann in Leutnantsuniform mit einem Schild, auf dem stand: ›Mr. Carroll, Außenministerium‹. Anthony schüttelte ihm die Hand. »Die besten Empfehlungen von Colonel Hickam, Sir«, sagte der Leutnant förmlich. »Wie vom Außenministerium gewünscht, stellen wir Ihnen einen Wagen zur Verfügung.« Er deutete auf einen dunkel olivfarbenen Ford.
»Sehr schön«, sagte Anthony. Vor dem Abflug hatte er auf dem Stützpunkt angerufen und dreist behauptet, er handele auf direkten Befehl von CIA-Direktor Dulles. Für eine wichtige Mission, deren Einzelheiten streng geheim seien, verlange er die Unterstützung der Armee. Der Trick hatte funktioniert: Der Leutnant jedenfalls schien eifrig darauf bedacht, ihm alles recht zu machen.
»Colonel Hickam würde sich freuen, wenn Sie bei Gelegenheit im Hauptquartier vorbeischauen würden.« Der Leutnant reichte Anthony einen Plan des Stützpunkts. Das Gelände war, wie Anthony feststellte, riesengroß und erstreckte sich meilenweit nach Süden bis zum Tennessee River. »Das Hauptquartier ist auf dem Plan markiert«, fuhr der Soldat fort. »Außerdem haben wir bereits eine Nachricht für Sie: Mr. Carl Hobart in Washington erwartet Ihren Rückruf.«
»Ich danke Ihnen, Leutnant. Wo finde ich das Büro von Dr. Claude Lucas?«
»Das dürfte im Rechenzentrum sein.« Der junge Mann zog einen Bleistift hervor und malte ein Kreuzchen auf den Plan. »Aber die Burschen dort sind diese Woche alle in Cape Canaveral.«
»Hat Dr. Lucas eine Sekretärin?«
»Ja – Mrs. Marigold Clark.«
Anthony hielt es für möglich, dass sie Lukes Pläne kannte. »Gut. Leutnant, dies ist mein Kollege Pete Maxell. Er muss am Zivilflughafen eine Maschine abwarten.«
»Ich werde ihn gerne hinfahren, Sir.«
»Das weiß ich zu schätzen. Wenn er mich hier auf dem Stützpunkt erreichen muss, wie stellt er das am besten an?«
Der Leutnant musterte Pete. »Sie können jederzeit eine Nachricht in Colonel Hickams Büro hinterlassen, Sir. Ich werde dann versuchen, sie zu Mr. Carroll durchzustellen.«
»Das genügt«, sagte Anthony entschieden. »An die Arbeit!«
Er setzte sich in den Ford, studierte den Plan und fuhr los. Das hier war eine typische Armeebasis: Pfeilgerade Straßen führten durch wildes Wald- und Buschland, unterbrochen von regelmäßigen, rechteckigen Rasenflächen, die so kurz gehalten waren wie der Haarschnitt eines Wehrpflichtigen. Die Gebäude waren alle aus braunem Backstein und hatten flache Dächer. Die Beschilderung war hervorragend, und Anthony fand das Rechenzentrum auf Anhieb; es war in Form eines T gebaut und nur zwei Stockwerke hoch. Anthony fragte sich, warum man beim Rechnen so viel Platz brauchte, bis er darauf kam, dass riesige Elektronengehirne in dem Gebäude stehen mussten.
Er parkte direkt vor dem Haus und dachte nach. Es ging zunächst um die Beantwortung einer ganz simplen Frage: Wo wird Luke hingehen, wenn er in Huntsville ist? Diese Marigold wusste das vermutlich, doch war sie Luke sicher treu ergeben und Fremden gegenüber vorsichtig, vor allem Fremden mit zwei Veilchen im Gesicht. Andererseits hatte man sie zu einem Zeitpunkt, da die meisten Mitarbeiter nach Cape Canaveral gereist waren, um das große Ereignis mitzuerleben, hier in Huntsville zurückgelassen; daher fühlte sie sich vermutlich ein wenig einsam und gelangweilt.
Anthony betrat das Gebäude. In einer Art Vorzimmer standen drei kleine Schreibtische mit jeweils einer Schreibmaschine. Zwei Schreibtische waren unbesetzt, am dritten saß eine Schwarze von ungefähr fünfzig Jahren; sie trug ein Baumwollkleid mit aufgedruckten Gänseblümchen und eine Brille mit strassbesetztem Gestell.
»Guten Tag«, sagte Anthony.
Die Frau sah auf. Er nahm seine Sonnenbrille ab. Ihre Augen weiteten sich vor Verblüffung über seinen Anblick. »Hallo! Kann ich Ihnen helfen?«
Mit gespieltem Ernst sagte er: »Ma‘m, ich suche nach einer Ehefrau, die mich nicht zusammenschlägt.«
Marigold brach in Gelächter aus.
Anthony zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihren Schreibtisch. »Ich komme aus Colonel Hickams Büro und suche nach einer Marigold Clark«, sagte er. »Wo finde ich sie?«
»Das bin ich.«
»O nein. Die Miss Clark, die ich suche, ist eine erwachsene Frau. Sie sind doch nur ein junges Mädchen.«
»Jetzt hören Sie auf mit dem Quatsch«, sagte sie, aber sie lächelte breit.
»Dr. Lucas ist auf dem Weg hierher – ich nehme an, Sie wissen das.«
»Er hat mich heute Morgen angerufen.«
»Um welche Uhrzeit erwarten Sie ihn?«
»Seine Maschine landet um 14.23 Uhr.«
Gut zu wissen. »Er wird also gegen drei Uhr nachmittags hier sein.«
»Nicht unbedingt.«
Aha. »Warum nicht?«
Sie erzählte ihm, was er wissen wollte. »Doktor Lucas fährt erst nach Hause, bevor er hierher kommt.«
Luke fuhr vom Flughafen direkt nach Hause! Das war perfekt. Anthony konnte sein Glück kaum fassen. Ich kann dort auf ihn warten und ihn erschießen, sobald er zur Tür hereinkommt, dachte er. Es gibt keine Zeugen, und wenn ich mit Schalldämpfer arbeite, hört niemand den Schuss. Die Leiche lasse ich einfach liegen. Wenn ich Glück habe, wird sie, da Elspeth in Florida ist, erst nach Tagen gefunden.
»Vielen Dank«, sagte Anthony zu Marigold und stand auf. »Es war mir eine Freude.« Bevor sie ihn nach seinem Namen fragen konnte, verließ er das Büro.
Er kehrte zu seinem Wagen zurück und fuhr zum Hauptquartier, einem langen, monolithartigen Bau mit drei Stockwerken, der wie ein Gefängnis aussah. Er fand Colonel Hickams Büro. Der Colonel war nicht anwesend, doch ein Sergeant zeigte ihm ein unbesetztes Büro mit einem Telefon.
Er rief im Q-Gebäude an, ließ sich aber nicht mit Carl Hobart, seinem Chef, verbinden, sondern gleich mit dessen Vorgesetztem George Cooperman.
»Was gibt‘s, George?«, fragte er.
»Hast du heute Nacht auf wen geschossen?«, fragte Cooperman, und seine Raucherstimme klang noch rauer als sonst.
Mit einiger Überwindung schlüpfte Anthony in die Rolle des Draufgängers, die bei Cooperman immer Eindruck machte. »Teufel auch, wer hat dir das denn gepfiffen?«
»Irgendein Colonel aus dem Pentagon hat Tom Ealy in der Direktion angerufen, und Ealy hat‘s Carl Hobart gesteckt, der prompt einen Orgasmus bekam.«
»Beweise gibt‘s keine, ich hab alle Hülsen aufgelesen.«
»Dieser Colonel hat ein etwa neun Millimeter großes Loch in der Mauer gefunden und sich den Rest zusammengereimt. Hast du wen getroffen?«
»Leider nein.«
»Du bist jetzt in Huntsville, stimmt‘s?«
»Ja.«
»Du sollst sofort zurückkommen.«
»Ein Glück, dass ich gar nicht mit dir gesprochen habe.«
»Hör zu, Anthony, du weißt, dass ich dir so viel Leine wie möglich lasse, weil du damit was erreichst. Aber in diesem Fall kann ich nichts mehr für dich tun. Von nun an stehst du allein auf weiter
Flur, mein Freund.«
»Genau mein Stil.«
»Viel Glück.«
Anthony legte auf und starrte eine Weile auf den Apparat. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Die Rolle des verwegenen Einzelkämpfers hatte sich abgenutzt, die Befehlsverweigerung ihre Grenzen. Er musste die Angelegenheit jetzt so schnell wie möglich über die Bühne bringen.
Er rief in Cape Canaveral an und ließ sich mit Elspeth verbinden. »Hast du mit Luke gesprochen?«, fragte er sie.
»Er hat mich heute Morgen um halb sieben angerufen.« Ihre Stimme klang zitterig.
»Von wo?«
»Er wollte mir nichts sagen, weder wo er war noch wo er hin wollte oder was er vorhatte. Er hatte Angst, meine Leitung könne angezapft sein. Aber er hat mir gesagt, dass er dich für seinen Gedächtnisverlust verantwortlich macht.«
»Er ist unterwegs nach Huntsville. Ich bin jetzt auf dem Redstone Arsenal und fahre gleich zu eurem Haus, um dort auf ihn zu warten. Wie komme ich rein?«
Sie antwortete mit einer Gegenfrage. »Versuchst du immer noch, ihn zu schützen?«
»Selbstverständlich.«
»Es passiert ihm also nichts?«
»Ich tu alles, was ich kann.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann sagte Elspeth: »Im Garten hinterm Haus steht ein Topf mit einer Bougainvillea, da drunter liegt ein Schlüssel.«
»Danke.«
»Gib Acht auf Luke, ja?«
»Ich hab dir doch gesagt, ich tue mein Möglichstes!«
»Schrei mich nicht so an!«, sagte Elspeth, und der alte Kampfgeist klang schon wieder durch.
»Ich kümmere mich schon um ihn.« Anthony legte auf.
Er erhob sich. Im selben Augenblick klingelte das Telefon.
Anthony zögerte. Es konnte Hobart sein. Doch Hobart wusste nicht, dass er sich in Colonel Hickams Büro aufhielt. Das wusste nur Pete – oder?
Er nahm den Hörer ab.
Es war Pete. »Dr. Josephson ist hier!«, sagte er.
»Mist!« Anthony hatte fest damit gerechnet, dass sie aus dem Spiel war. »Kommt sie gerade aus dem Flugzeug?«
»Ja, das muss eine schnellere Maschine gewesen sein als die, mit der Lucas kommt. Sie sitzt im Terminal. Scheint auf wen zu warten.«
»Auf ihn natürlich«, sagte Anthony entschieden. »Verfluchtes Weib. Sie will ihn warnen, ihm sagen, dass wir ihm auf den Fersen sind. Sie müssen sie dort wegschaffen, Pete.«
»Wie denn das?«
»Mir egal – Hauptsache, sie verschwindet!«
16.00 Uhr
Die Umlaufbahn der ›Explorer‹ verläuft in einem Winkel von 43° zum Äquator. Von der Erdoberfläche aus betrachtet, wird er zunächst auf Südostkurs gehen und über den Atlantischen Ozean zur Südspitze Afrikas fliegen. Von dort aus geht es in nordöstlicher Richtung über den Indischen Ozean und Indonesien zum Pazifik.
Der Flughafen von Huntsville war klein, aber sehr belebt. Im Terminal – es gab nur einen einzigen – befanden sich das Büro einer Autovermietung, verschiedene Automaten und eine Reihe von Telefonzellen. Als Billie eintraf, erkundigte sie sich nach Lukes Flug und erfuhr, dass er fast eine Stunde Verspätung haben und folglich erst gegen 15.15 Uhr in Huntsville landen würde. Sie hatte also drei Stunden Zeit totzuschlagen.
Sie holte sich einen Schokoriegel und eine Limonade aus den Automaten. Dann setzte sie ihren Attachekoffer ab, der den 45er Colt enthielt, lehnte sich an die Mauer und dachte nach. Wie sollte sie vorgehen? Das Wichtigste war: Luke musste vor Anthony gewarnt werden – und das wollte sie tun, sobald sie ihn erblickte. So vorbereitet, würde er Vorsichtsmaßnahmen ergreifen können. Verstecken konnte er sich allerdings nicht. Sein Ziel war es, herauszufinden, was er am vergangenen Montag hier in Huntsville getan hatte, und das ging nur, wenn er mobil blieb. Die damit verbundenen Risiken musste er in Kauf nehmen.
Kann ich in irgendeiner Weise zu seiner Sicherheit beitragen, fragte sich Billie.
Sie zerbrach sich noch den Kopf darüber, als eine junge Frau in der Uniform der Capital Airlines sie ansprach. »Sind Sie Dr. Josephson?«
»Ja.«
»Ich habe eine telefonische Nachricht für Sie.« Die Frau reichte ihr einen Umschlag.
Billie runzelte die Stirn. Wer wusste, dass sie hier war? »Danke«, murmelte sie und riss das Kuvert auf.
»Keine Ursache. Bitte lassen Sie uns wissen, wenn wir Ihnen noch in anderer Weise behilflich sein können.«
Billie sah auf und lächelte. Sie hatte ganz vergessen gehabt, wie höflich man hier im Süden war. »Mach ich«, sagte sie. »Vielen Dank für Ihr Angebot.«
Die junge Frau entfernte sich, und Billie las die Nachricht: »Bitte Dr. Lucas anrufen, Huntsville JE 6-4231.«
Das war eine Überraschung. Konnte Luke denn schon hier sein? Und wie hatte er erfahren, dass sie kam?
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Sie warf die Limonadenflasche in einen Abfalleimer und suchte sich eine Telefonzelle.
Kaum hatte sie die angegebene Nummer gewählt, wurde auch schon abgehoben. Eine Männerstimme sagte: »Testlabor für Bauelemente.«
Das klang, als wäre Luke bereits auf dem Stützpunkt. Wie war ihm das gelungen? »Dr. Claude Lucas, bitte«, sagte sie.
»Einen Moment bitte.« Kurze Zeit später meldete der Mann sich wieder. »Dr. Lucas ist im Augenblick nicht an seinem Platz. Wer spricht bitte?«
»Dr. Bilhah Josephson. Ich habe eine Nachricht bekommen, ich solle ihn unter dieser Nummer anrufen.«
Der Tonfall des Mannes änderte sich abrupt. »Oh, Dr. Josephson, ich bin sehr froh, dass Sie sich melden! Dr. Lucas legt großen Wert darauf, mit Ihnen zu sprechen.«
»Was tut er hier? Ich dachte, er wäre noch unterwegs.«
»Der Militärische Abschirmdienst hat ihn in Norfolk, Virginia, aus dem Flugzeug geholt und mit einer Sondermaschine weiterbefördert. Er ist schon über eine Stunde hier.«
In ihre Erleichterung, dass Luke in Sicherheit war, mischte sich Verwunderung. »Und was treibt er dort?«
»Ich denke, Sie wissen Bescheid.«
»Naja, ich glaube schon. Wie geht‘s voran?«
»Gut – aber genauere Auskünfte kann ich Ihnen nicht geben, jedenfalls nicht am Telefon. Können Sie nicht zu uns herauskommen?«
»Wo sind Sie denn?«
»Das Labor liegt an der Straße nach Chattanooga, etwa eine Stunde Fahrt von der Stadt aus. Ich könnte Ihnen einen Fahrer schicken, aber schneller geht es, wenn Sie sich ein Taxi nehmen oder ein Auto mieten würden.«
Billie zog einen Notizblock aus ihrer Handtasche. »Sagen Sie mir, wie ich fahren muss.« Dann fielen ihr die guten Manieren des Südens ein, und sie fügte hinzu: »Wenn Sie so freundlich sein wollen.«
13.00 Uhr
Die erste Raketenstufe muss abrupt abgeschaltet und sofort abgestoßen werden, sonst könnte sie durch den graduellen Schubverlust der zweiten stufe in die Quere kommen und die Flugbahn verfälschen. Sobald der Druck in den Treibstoffleitungen abfällt, schließen sich die Ventile. Fünf Sekunden später wird die erste Stufe durch die Zündung der Absprengbolzen mit den Sprungfedern abgetrennt. Die Federn erhöhen die Geschwindigkeit der zweiten Stufe um 80 cm pro Sekunde und gewährleisten eine saubere Trennung.
Anthony kannte den Weg. Vor zwei Jahren, kurz nachdem Luke und Elspeth in ihr neues Haus gezogen waren, hatte er ein Wochenende bei ihnen verbracht. In einer Viertelstunde war er dort. Das Haus lag am Echols Hill, einer Straße mit lauter großen alten Häusern, nur wenige Straßenzüge von der Stadtmitte entfernt. Anthony parkte um die Ecke, damit Luke nicht gleich erkannte, dass er Besuch hatte.
Dann ging er zu Fuß zum Haus zurück. Er hätte sich eigentlich gelassen und zuversichtlich fühlen sollen. Sämtliche Trümpfe waren in seiner Hand: Das Überraschungsmoment, die Zeit, eine Waffe. Und doch war ihm übel vor banger Erwartung. Schon zweimal war er sicher gewesen, Luke erwischt zu haben, und doch war der ihm beide Male wieder entkommen.
Er hatte noch immer keine Ahnung, weshalb Luke nach Huntsville statt nach Cape Canaveral geflogen war. Dieses unerklärliche Vorgehen ließ vermuten, dass es etwas gab, wovon er, Anthony, nichts wusste, irgendeine unerfreuliche Überraschung, mit der er jederzeit konfrontiert werden konnte.
Das Haus war weiß und im Kolonialstil der Jahrhundertwende errichtet, wozu auch die typische, mit Säulen umrahmte Veranda gehörte. Für einen bei der Armee beschäftigten Wissenschaftler war es zu luxuriös, doch Luke hatte nie vorgegeben, dass er allein von seinem Gehalt als Mathematiker lebe. Anthony öffnete das Törchen in der niedrigen Mauer und betrat den Garten. Ein Einbruch ließe sich problemlos bewerkstelligen, erübrigte sich jedoch. Auf der Rückseite des Hauses stand neben der Küchentür ein voluminöser Terrakotta-Topf, in dem eine Bougainvillea wucherte. Darunter lag ein großer Eisenschlüssel.
Anthony schloss die Haustür auf und trat ein.
Von außen wirkte das Haus auf sympathische Weise altmodisch, innen war es ultramodern. Ihre Küche hatte Elspeth mit allen Schikanen ausgestattet. Die große Diele war in hellen Pastellfarben gehalten, im Wohnzimmer stand eine Konsole mit Fernseher und Plattenspieler, und das Esszimmer war mit modernen Stühlen und Sideboards auf schrägen Füßen ausgestattet. Anthony, dem herkömmliche Möbel lieber waren, musste zugeben: Das hatte Stil.
Nun stand er im Wohnzimmer, starrte auf die geschwungene, in rosafarbenem Vinyl gepolsterte Couch und erinnerte sich deutlich an das Wochenende, das er hier verbracht hatte. Binnen einer Stunde war ihm klar gewesen, dass es um die Ehe der beiden nicht zum Besten stand. Elspeth flirtete mit diesem und jenem, was bei ihr immer ein Zeichen von innerer Anspannung war, und die zwanghaft fröhliche Gastfreundschaft, die Luke zur Schau trug, war ganz und gar untypisch für ihn.
Der Anlass war eine Cocktailparty am Samstagabend gewesen, eingeladen waren die jungen Leute vom Stützpunkt. Im Wohnzimmer wimmelte es von schlecht gekleideten Wissenschaftlern, die ununterbrochen über Raketen sprachen. Junge Offiziere diskutierten über ihre Beförderungschancen, und hübsche Frauen schwatzten über die Merkwürdigkeiten des Lebens auf einem Militärstützpunkt. Der Plattenspieler arbeitete einen Stapel Jazz-LPs ab, doch die Musik klang an jenem Abend nicht fröhlich, sondern eher klagend. Luke und Elspeth betranken sich – was bei beiden äußerst selten vorkam. Elspeth flirtete immer heftiger, während Luke zunehmend stiller wurde. Es hatte Anthony in der Seele wehgetan, mit ansehen zu müssen, wie unglücklich diese beiden Menschen, die er mochte und bewunderte, miteinander waren. Das Wochenende hatte ihn regelrecht deprimiert.
Und nun stand das lange Drama ihrer so eng ineinander verwobenen Lebensläufe vor seinem unvermeidlichen Ende. Anthony beschloss, das Haus zu durchsuchen. Was er finden wollte, wusste er nicht, aber er hielt es für möglich, auf den einen oder anderen Hinweis zu stoßen, der ihm verriet, aus welchem Grund Luke herkommen wollte, und ihn vor unvorhersehbaren Gefahren warnte. Er fand in der Küche ein Paar Gummihandschuhe und streifte es sich über. Es war mit einer kriminaltechnischen Untersuchung des Mordes zu rechnen; deshalb wollte er keine Fingerabdrücke hinterlassen.
Zuerst nahm er sich das Arbeitszimmer vor, einen kleinen Raum voller Bücherborde mit wissenschaftlicher Literatur. Er setzte sich an Lukes Schreibtisch, von wo aus der Blick in den Garten fiel, und zog die Schubladen auf.
Zwei Stunden lang durchsuchte Anthony das Haus gründlich vom Dachboden bis zum Keller. Er fand nichts.
Er sah in jeder Tasche jedes Anzugs nach, der in Lukes gut gefülltem Kleiderschrank hing. Er durchsuchte jedes Buch im Arbeitszimmer nach irgendwelchen Papieren, die zwischen den Seiten versteckt sein mochten. Er nahm in dem riesigen Kühlschrank mit den Doppeltüren den Deckel von jeder Plastikdose. Er ging in die Garage und durchstöberte den hübschen schwarzen Chrysler 300C – die schnellste in Serie gebaute Limousine der Welt, wenn man den Zeitungen Glauben schenken wollte – von den stromlinienförmigen Scheinwerfern bis zu den Haifischflossen am Heck.
Einige intime Geheimnisse offenbarten sich ihm: Elspeth färbte sich das Haar, nahm ein Schlafmittel, das es nur auf Rezept gab, und litt an Verstopfung. Luke benutzte ein Antischuppen-Shampoo und hatte den Playboy abonniert.
Auf dem Tischchen in der Diele lagen einige Briefe – von der Zugehfrau dorthin gelegt, vermutlich. Anthony ging sie kurz durch, doch es war nichts Interessantes dabei: Eine Postwurfsendung mit den Sonderangeboten eines Supermarkts, Newsweek, eine Ansichtskarte von Ron und Monica aus Hawaii, mehrere Fensterumschläge, die vermutlich Geschäftsbriefe enthielten.
Anthonys Durchsuchung blieb ergebnislos. Er wusste immer noch nicht, welches Ass Luke unvermutet aus dem Ärmel schütteln konnte.
Er ging wieder ins Wohnzimmer und suchte sich einen Fleck, von dem aus er sowohl den Vorgarten durch die Jalousien als auch die Diele durch die offen stehende Tür beobachten konnte. Dann setzte er sich auf die rosa Vinylcouch, zog seine Waffe, stellte fest, dass sie geladen war und setzte den Schalldämpfer auf.
Er versuchte, sich Mut zu machen, indem er sich die bevorstehenden Ereignisse vorstellte. Ich werde sehen, wie Luke ankommt, dachte er. Wahrscheinlich in einem Taxi, das er sich am Flughafen genommen hat. Ich werde beobachten, wie er durch den Vorgarten geht, seinen Schlüssel herauszieht und die Haustür aufschließt. Er wird die Diele betreten, die Haustür schließen und dann in die Küche gehen. Im Vorbeigehen wird er einen Blick ins Wohnzimmer werfen und mich auf der Couch sehen. Er wird stehen bleiben, überrascht die Augenbrauen hochziehen, und den Mund aufmachen, um ein paar Worte zu sagen. In seinem Kopf formen sich
Sätze wie: »Anthony? Was machst du denn ...?« Doch er wird diese Worte nie aussprechen. Sein Blick wird auf den Revolver fallen, den ich im Schoß halte und mit dem ich auf ihn ziele, und im Bruchteil einer Sekunde wird er wissen, was ihm bevorsteht.
Und dann werde ich ihn erschießen.
15.00 Uhr
Ein System aus Pressluftdüsen am hinteren Teil der Instrumenteneinheit wird im Weltraum den Neigungswinkel der Raketenspitze kontrollieren.
Billie hatte sich verfahren.
Das war ihr nun schon seit einer halben Stunde klar. Wenige Minuten vor ein Uhr hatte sie den Flughafen in einem gemieteten Ford verlassen, war ins Zentrum von Huntsville gefahren und von dort aus auf die Schnellstraße 59 nach Chattanooga. Sie hatte sich gefragt, aus welchem Grund das Testlabor für Bauelemente eine ganze Stunde entfernt vom Stützpunkt lag, und war zu dem Schluss gekommen, dass dafür wohl Sicherheitsgründe ausschlaggebend waren: Vielleicht bestand die Gefahr, dass die Teile bei den Tests explodierten. Allzu viele Gedanken hatte sie sich allerdings nicht darüber gemacht.
Ihre Wegbeschreibung lautete, sie solle nach genau 56,3 Kilometern hinter Huntsville rechts in eine Landstraße einbiegen. Sie hatte den Tageskilometerzähler auf der Hauptstraße auf null gestellt, doch als die Zahlen sich auf 56,3 drehten, war weit und breit keine Abzweigung nach rechts zu sehen. Sie machte sich deswegen keine großen Gedanken und bog bei nächster Gelegenheit, etwa drei Kilometer weiter, rechts ab.
Die Wegbeschreibung, die so präzise gewirkt hatte, als sie sie aufschrieb, passte nicht so recht zu der Strecke, die sie fuhr, und allmählich wuchs ihre Besorgnis. Dennoch hielt sie sich zunächst weiter an den Plan und interpretierte ihn nach den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten. Der Mann, mit dem sie telefoniert hatte, war offenbar nicht halb so zuverlässig, wie er geklungen hatte. Es wäre besser gewesen, sie hätte mit Luke selber sprechen können.
Die Landschaft wandelte sich; sie wurde urwüchsiger, die Farmhäuser wirkten baufällig, die Zäune heruntergekommen, und die Straßen wiesen Schlaglöcher auf. Die Kluft zwischen dem, was Billie zu sehen erwartete, und dem, was sie tatsächlich sah, wuchs und wuchs, bis sie schließlich entmutigt die Hände hob und sich eingestand, dass sie in der Wildnis gelandet war. Sie ärgerte sich furchtbar – über sich selber ebenso wie über den Idioten, der ihr diese Wegbeschreibung gegeben hatte.
Sie wendete und versuchte zurückzufahren, befand sich aber schon bald wieder auf Straßen, die sie noch nie gesehen hatte, und fragte sich, ob sie vielleicht im Kreis herumfuhr. Am Rande eines Feldes, auf dem ein Schwarzer in Latzhose und Strohhut den harten Boden mit einem Handpflug umgrub, hielt Billie an und erkundigte sich. »Ich suche das Testlabor für Bauelemente vom Redstone Arsenal«, sagte sie.
Der Mann sah sie überrascht an. »Vom Stützpunkt? Da müssen Sie zurück nach Huntsville fahren und quer durch die Stadt auf die andere Seite.«
»Aber sie haben hier draußen so eine Art Werksgebäude.«
»Hab nie eins gesehen.«
Das brachte sie auch nicht weiter. Am besten rief sie im Labor an und fragte noch einmal nach dem Weg. »Kann ich Ihr Telefon benutzen?«
»Hab kein Telefon.«
Sie wollte ihn schon nach der nächsten öffentlichen Telefonzelle fragen, als ihr der ängstliche Ausdruck in seinen Augen auffiel. Sie erkannte, dass sie ihn in eine prekäre Lage brachte: Er allein auf einem Feld mit einer weißen Frau, die nicht wusste, was sie wollte. Billie bedankte sich rasch bei ihm und fuhr weiter.
Nach drei Kilometern stieß sie auf eine baufällige Futtermittelhandlung mit einer Telefonzelle davor. Sie hielt an, stieg aus und sah auf den Zettel mit der Nachricht von Luke, auf dem auch die Telefonnummer stand. Sie steckte einen Dime in den Schlitz und wählte.
Am anderen Ende wurde sofort abgehoben. Ein junger Mann sagte: »Hallo?«
»Kann ich Dr. Claude Lucas sprechen?«, fragte sie.
»Da haben Sie die verkehrte Nummer, Schätzchen.«
Mache ich denn heute alles falsch, fragte sie sich verzweifelt. »Ist dort nicht Huntsville JE 6-4231?«
Pause. »Ja, genau das steht hier drauf.«
Billie sah noch einmal nach der angegebenen Nummer auf Lukes Nachricht. Sie hatte keinen Fehler gemacht. »Ich versuche, das Testlabor für Bauelemente zu erreichen.«
»Das mag ja sein, aber gelandet sind Sie hier in einer Telefonzelle auf dem Flughafen Huntsville.«
»In einer Telefonzelle?«
»Ja, Madam.«
Billie ging auf, dass sie reingelegt worden war.
Die Stimme am anderen Ende fuhr fort: »Ich will gerade meine Mutter anrufen und ihr sagen, dass sie mich abholen kann, und wie ich den Hörer abnehme, fragen Sie nach einem Knaben namens Claude.«
»So ein Mist!«, sagte Billie. Sie knallte den Hörer auf die Gabel, voller Zorn auf sich selber, weil sie so leichtgläubig in die Falle gegangen war.
Luke war bestimmt nicht in Norfolk aus dem Flugzeug geholt und mit einer Armeemaschine nach Huntsville geflogen worden, und er war auch nicht in diesem Testlabor, wo immer das sein mochte. Die ganze Geschichte war erstunken und erlogen, allein zu dem Zweck, sie, Billie, aus dem Wege zu schaffen – und das hatte bestens geklappt. Sie sah auf die Uhr. Luke musste inzwischen gelandet sein. Anthony hatte ihn abgepasst, und was sie selbst betraf, so hätte sie ebenso gut in Washington bleiben können!
In stiller Verzweiflung fragte sie sich, ob Luke überhaupt noch am Leben war.
Aber wenn er noch lebte, konnte sie ihn vielleicht immer noch warnen. Um eine Nachricht auf dem Flughafen zu hinterlassen, war es zu spät, aber es musste doch irgendjemanden geben, den sie anrufen konnte. Sie zermarterte sich das Hirn. Dann fiel ihr ein: Luke hat doch eine Sekretärin auf dem Stützpunkt – wie hieß sie gleich? Wie eine Blume ...
Marigold.
Billie rief auf dem Redstone Arsenal an und ließ sich mit der Sekretärin von Dr. Lucas verbinden.
Eine Frau, die den lang gezogenen Dialekt von Alabama sprach, meldete sich: »Rechenlabor, guten Tag, Sie wünschen?«
»Ist dort Marigold?«
»Ja.«
»Hier ist Dr. Josephson, eine Freundin von Dr. Lucas.«
»Ja?« Marigold klang misstrauisch.
Billie wollte, dass die Frau ihr vertraute. »Wir haben schon einmal miteinander gesprochen, glaube ich. Ich heiße Billie.«
»Oh, ja, ich erinnere mich. Wie geht es Ihnen?«
»Ich bin in Sorge. Ich habe eine Nachricht für Luke. Es ist sehr dringend. Ist er bei Ihnen?«
»Nein, Ma‘m. Er ist nach Hause gefahren.«
»Was will er dort?«
»Er sucht einen Hefter.«
»Einen Hefter?« Billie erkannte die Bedeutung der Aussage sofort. »Vielleicht einen Hefter, den er Montag hier gelassen hat?«
»Davon weiß ich nichts«, sagte Marigold.
Natürlich – Luke hatte Marigold angewiesen, seinen Besuch am Montag geheim zu halten. Aber darauf kam es jetzt nicht an. »Wenn Sie Luke sehen oder wenn er Sie anruft, können Sie ihm dann bitte etwas von mir ausrichten?«
»Selbstverständlich.«
»Sagen Sie ihm, Anthony ist hier.«
»Das ist alles?«
»Er weiß dann Bescheid. Marigold... Vielleicht sollte ich lieber den Mund halten, denn Sie könnten meinen, ich sei übergeschnappt, aber ich muss es Ihnen einfach sagen: Ich glaube, Luke ist in Gefahr.«
»Durch diesen Anthony?«
»Ja. Glauben Sie mir?«
»Es sind schon seltsamere Dinge vorgekommen. Hat das alles was damit zu tun, dass er sein Gedächtnis verloren hat?«
»Ja. Wenn Sie ihm ausrichten, was ich gesagt habe, könnte es ihm das Leben retten. Ich meine das ernst.«
»Ich sehe zu, was ich tun kann, Frau Doktor.«
»Ich danke Ihnen.« Billie hängte ein.
Gab‘s vielleicht noch jemanden, mit dem Luke sich in Verbindung setzen könnte? Elspeth fiel ihr ein.
Billie rief die Vermittlung an und ließ sich mit Cape Canaveral verbinden.
15.45 Uhr
Nach der Abstoßung der ausgebrannten ersten Stufe führt die Flugbahn der Rakete durch den luftleeren Raum, auf Kurs gehalten von einem Raumlage- und -kontrollsystem, das dafür sorgt, dass sie immer exakt parallel zur Erdkrümmung fliegt.
In Cape Canaveral herrschte schlechte Stimmung. Das Pentagon hatte einen Sicherheitsalarm ausgelöst. Wer am Morgen zur Arbeit erschien und darauf brannte, die letzten Tests und Kontrollen vor dem so wichtigen Raketenstart vorzunehmen, musste zunächst einmal in einer langen Schlange vor dem Tor warten. Einige hatten drei Stunden in der heißen Sonne Floridas herumgestanden. Manchen war das Benzin ausgegangen, bei anderen hatte das Kühlwasser gekocht, oder die Air-Condition war ausgefallen. Motoren waren ausgegangen und nicht wieder angesprungen. Jedes Auto war durchsucht worden – Kühlerhauben wurden geöffnet, Golftaschen aus Kofferräumen gehoben, Ersatzreifen aus ihrer Verankerung genommen. Die Gemüter gerieten in Rage, als auch alle Brieftaschen aufgeklappt, alle Lunchpakete ausgewickelt und der Inhalt jeder Handtasche auf einen aufgebockten Tisch gekippt wurde, sodass Colonel Hides Militärpolizisten die Lippenstifte, Liebesbriefe, Tampons und Alka-Seltzer-Schachteln aller weiblichen Angestellten begrapschen konnten.
Und das war noch längst nicht alles. Kaum in ihren Laboratorien und Büros und Werkstätten angekommen, wurden die Mitarbeiter
erneut gestört. Sicherheitstrupps durchwühlten ihre Schubladen und ihre Aktenablagen, durchsuchten die Vakuum- und Oszillatorenschränke und entfernten die Prüfplaketten von ihren Werkzeugen und Geräten. »Menschenskinder, wie sollen wir da eine Rakete an den Start bringen?«, beschwerten sie sich, doch die Männer vom Militärischen Abschirmdienst bissen nur die Zähne zusammen und machten weiter. Trotz der Störungen war der Start noch immer für
Uhr anberaumt.
Elspeth war froh über den Aufruhr, bemerkte doch in dem allgemeinen Tohuwabohu niemand ihre hochgradige Aufregung und Nervosität, die sich sogar negativ auf ihre Arbeit auswirkten. Sie machte Fehler bei der Terminplanung und wurde mit den jeweils neuesten Versionen nicht rechtzeitig fertig, doch Willy Fredrickson war zu abgelenkt, um ihr deswegen Vorwürfe zu machen. Sie wusste nicht, wo Luke war, und hatte obendrein das unangenehme Gefühl, Anthony nicht mehr trauen zu können.
Als am Nachmittag, ein paar Minuten vor 16 Uhr, das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte, fürchtete sie, ihr Herz würde versagen.
Sie riss den Hörer von der Gabel. »Ja?«
»Hier ist Billie.«
»Billie?« Die Überraschung hätte größer nicht sein können. »Wo bist du?«
»In Huntsville. Ich versuche, Luke zu erreichen.«
»Was macht er denn in Huntsville?«
»Er sucht eine Akte, die er am Montag hier gelassen hat.«
Elspeths Mund blieb offen. »Er war am Montag in Huntsville? Davon hab ich ja gar nichts gewusst.«
»Niemand wusste davon außer Marigold. Elspeth, hast du eine Ahnung, was eigentlich los ist?«
Sie lachte bitter. »Bisher dachte ich das, aber so allmählich verstehe ich gar nichts mehr.«
»Ich glaube, Luke ist in Lebensgefahr.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Anthony hat gestern Nacht auf ihn geschossen.«
Elspeth wurde eiskalt. »O mein Gott!«
»Genaueres kann ich dir jetzt nicht sagen, es ist zu kompliziert. Wenn Luke dich anruft, Elspeth, sagst du ihm dann, dass Anthony in Huntsville ist?«
Elspeth hatte sich noch immer nicht von ihrem Schock erholt. »Äh. ja, natürlich.«
»Das könnte ihm das Leben retten.«
»Ich verstehe. Billie ... Du, noch was.«
»Ja?«
»Kümmere dich um Luke, ja?«
Pause. »Wie meinst du das?«, fragte Billie dann. »Du klingst, als lägst du im Sterben.«
Elspeth gab keine Antwort. Sekunden später brach sie die Verbindung ab.
Ein Schluchzen stieg ihr in die Kehle. Es kostete sie große Überwindung, nicht die Beherrschung zu verlieren. Tränen helfen niemandem, hielt sie sich vor und beruhigte sich langsam.
Dann wählte sie die Nummer ihres Hauses in Huntsville.
16.00 Uhr
Der erdfernste Punkt, den ›Explorer‹ auf seiner elliptischen Umlaufbahn erreicht, liegt bei 2.900 km, der Erdnächste bei 280 km. Die Umlaufgeschwindigkeit des Satelliten beträgt knapp 29.000 km pro Stunde.
Anthony hörte ein Auto. Er blickte aus dem Vorderfenster von Lukes Haus und sah ein Taxi am Straßenrand halten. Er tastete nach dem Sicherheitsverschluss seines Revolvers. Sein Mund war plötzlich trocken.
In diesem Augenblick klingelte das Telefon.
Es stand auf einem der beiden dreieckigen Beistelltische neben der Couch. Entsetzt starrte Anthony den Apparat an. Es klingelte zum zweiten Mal. Anthony war wie gelähmt vor Unentschlossenheit. Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah Luke aus dem Taxi steigen. Der Anruf konnte bedeutungslos sein, vielleicht hatte sich bloß jemand verwählt. Es war aber auch möglich, dass man ihm eine entscheidende Information mitteilen wollte.
Panische Angst stieg in ihm auf. Er konnte nicht telefonieren und gleichzeitig jemanden erschießen.
Der Apparat klingelte zum dritten Mal. Völlig außer sich, nahm Anthony ab. »Ja?«
»Elspeth hier.«
»Was? Was?«
Ihre Stimme klang gedämpft und angestrengt. »Er sucht nach einem Hefter, den er am Montag in Huntsville gebunkert hat.«
Anthony ging ein Licht auf: Luke hatte einen weiteren Satz Fotokopien von den Blaupausen gemacht, neben dem, mit dem er nach Washington geflogen war. So, wie man es ihm bei der Agentenausbildung im Krieg beigebracht hatte. Bei der heimlichen Zwischenlandung in Huntsville hatte er diese Kopien versteckt. Anthony verfluchte sich, dass er nicht früher auf diesen Gedanken gekommen war. »Weiß sonst noch wer davon?«, fragte er.
»Marigold, seine Sekretärin. Und Billie Josephson – sie hat es mir erzählt. Vielleicht wissen auch noch andere Bescheid.«
Luke bezahlte gerade den Taxichauffeur. Anthony lief die Zeit davon.
»Ich muss diese Akte haben«, sagte er zu Elspeth.
»Genau das hab ich mir gedacht.«
»Hier ist sie nicht, ich hab das Haus gerade von oben bis unten durchsucht.«
»Dann muss sie auf dem Stützpunkt sein.«
»Ich muss Luke folgen, wenn er sie sucht.«
Luke kam auf die Haustür zu.
»Ich hab keine Zeit mehr«, sagte Anthony und knallte den Hörer auf die Gabel.
Er rannte durch die Diele in die Küche und hörte das kratzende Geräusch, das Lukes Schlüssel im Schlüsselloch verursachte. Er verließ das Haus durch die Hintertür und zog sie leise zu. Außen steckte der Schlüssel noch. Lautlos drehte Anthony ihn um, bückte sich und schob ihn wieder unter den Blumentopf.
Auf allen vieren robbte er über die Terrasse, wobei er sich dicht am Haus und unterhalb der Fenster hielt. So kam er um die Ecke und erreichte die Vorderseite des Hauses. Von dort bis zur Straße gab es keine Deckung mehr. Er musste es auf gut Glück versuchen.
Anthony stellte sich vor, wie Luke jetzt die Tasche absetzte und seinen Mantel aufhängte. Dass er dabei aus dem Fenster sah, war eher unwahrscheinlich. Jetzt oder nie, dachte Anthony.
Er biss die Zähne zusammen und ging los.
Mit schnellen Schritten gelangte er zum Gartentor und widerstand dabei der Versuchung, einen Blick zurückzuwerfen. Jeden Moment rechnete er damit, Luke brüllen zu hören: »He da! Halt! Halt oder ich schieße!«
Nichts geschah.
Anthony erreichte die Straße und entfernte sich.
16.30 Uhr
Der Satellit ist mit zwei winzigen Radiosendern ausgestattet. Sie werden mit Quecksilberbatterien betrieben, die nicht grösser sind als gewöhnliche Taschenlampenbatterien. Auf jedem Sender können gleichzeitig vier Kanäle zur Datenübertragung genutzt werden.
Oben auf der Fernsehtruhe im Wohnzimmer stand neben einer Bambuslampe ein dazu passender Bambus-Bilderrahmen mit einer Farbfotografie, auf der eine blendend schöne Rothaarige in einem elfenbeinfarbenen Hochzeitskleid aus Seide zu sehen war. Daneben stand, im grauen Cut mit gelber Weste, Luke.
Er sah sich Elspeth genau an. Die Frau hätte ein Filmstar sein können – groß, elegant, kurvenreich, wie sie war. Der Mann, der sie heiratete, durfte sich glücklich schätzen.
Das Haus gefiel ihm weniger gut. Beim ersten Anblick, von außen noch, war ihm warm ums Herz geworden: Die schattige Veranda, an deren Säulen sich Glyzinien emporrankten, gefiel ihm. Im Inneren jedoch dominierten harte Kanten, blitzblank polierte Oberflächen und grelle Farben. Alles war zu sauber, zu geschleckt. Mit einem Schlag wusste er, dass er am liebsten in einem Haus wohnte, in dem sich die Regalbretter vor Büchern bogen und der Hund schlafend in der Diele lag; wo auf dem Klavier Ringe von heißen Kaffeetassen zu sehen waren und auf der Zufahrt ein umgekipptes Dreirad lag, das erst weggeräumt werden musste, bevor man das Auto in die Garage fahren konnte.
In diesem Haus gab es weder Kinder noch Haustiere. Es gab keine Unordnung und keinen Schmutz. Es sah aus wie ein Anzeigenhaus in einer Frauenzeitschrift oder die Kulisse einer Familienserie. Die Menschen, die sich in diesen Räumen aufhielten, waren, so schien es ihm, nur Schauspieler.
Er fing an zu suchen. Ein gelbbrauner Schnellhefter der Armee musste doch unschwer zu finden sein – es sei denn, er hätte den Inhalt herausgenommen und den Hefter weggeworfen. Luke saß am Schreibtisch im Arbeitszimmer – seinem Arbeitszimmer – und durchsuchte die Schubladen. Er fand nichts von Belang.
Er ging in den ersten Stock.
Eine Weile betrachtete er das große Doppelbett mit den gelbblauen Bezügen. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass er viele, viele Nächte in diesem Bett verbracht hatte – gemeinsam mit dem atemberaubenden Geschöpf auf dem Hochzeitsbild.
Er öffnete den Kleiderschrank. Beim Anblick der Stange voller marineblauer und grauer Anzüge und Tweedjacketts, der dezent gestreiften oder im Tattersallcheck karierten Hemden, der sorgfältig übereinander gestapelten Pullover und der polierten Schuhe in ihren Fächern durchfuhr ihn ein freudiger Schock. Seit über vierundzwanzig Stunden trug er nun schon diesen gestohlenen Anzug. Gern hätte er sich ein paar Minuten zum Duschen und Umziehen genehmigt, doch er widerstand der Versuchung. Er hatte einfach keine Zeit.
Er durchsuchte das Haus gründlich. Mit jedem Blick erfuhr er mehr über sich und seine Frau. Sie mochten Glenn Miller und Frank Sinatra, sie lasen Hemingway und Scott Fitzgerald, sie tranken Dewar‘s Scotch, aßen All-Bran-Frühstücksflocken und putzten sich die Zähne mit Colgate. Dass Elspeth viel Geld für teure Unterwäsche ausgab, entdeckte er, als er ihren Wäscheschrank durchsuchte. Er selber musste ein großer Freund von Eiskrem sein, denn der
Gefrierschrank war voll davon, und so schmal, wie Elspeths Taille war, gab es wohl kaum ein Nahrungsmittel, von dem sie jemals größere Mengen vertilgte.
Schließlich gab er seine Suche auf.
In einer Küchenschublade lagen die Schlüssel für den Chrysler in der Garage. Er wollte zum Stützpunkt fahren und dort weitersuchen.
Bevor er ging, nahm er die Post in der Diele auf und ging sie durch. Alles sah ganz und gar geschäftsmäßig aus, wie Rechnungen oder dergleichen. In seiner Verzweiflung, irgendeinen Hinweis zu finden, riss er die Umschläge auf und warf einen kurzen Blick auf jeden Brief.
Einer kam von einer Ärztin in Atlanta.
Sehr geehrte Mrs. Lucas!
Nach Ihrer jährlichen Generaluntersuchung liegen mir nun die Ergebnisse der Blutsenkung vor, und ich kann Ihnen mitteilen, dass alles in Ordnung ist.
Dennoch.
Luke hörte auf zu lesen. Irgendetwas sagte ihm, dass es nicht seine Art war, anderer Leute Post zu lesen. Andererseits ging es hier um seine Ehefrau, und das Wort ›dennoch‹ klang ominös. Vielleicht gab es ein gesundheitliches Problem, von dem er Kenntnis haben sollte.
Er las den nächsten Absatz.
Dennoch: Sie haben Untergewicht, Sie leiden an Schlafstörungen, und als Sie bei mir in der Praxis waren, hatten Sie offenkundig vorher geweint, wiewohl Sie mir sagten, es sei alles in Ordnung. Das alles sind Symptome für eine Depression.
Luke runzelte die Stirn. Das klang besorgniserregend. Warum war Elspeth deprimiert? Bin ich so ein schlechter Ehemann, dachte er.
Depressionen werden durch Hormonumstellungen ausgelöst, durch ungelöste seelische Probleme wie zum Beispiel Eheschwierigkeiten oder Kindheitstraumata, wie etwa den frühen Verlust eines Elternteils. Eine psychotherapeutische Behandlung, gegebenenfalls auch in Verbindung mit einer medikamentösen Therapie (Antidepressiva), ist angeraten.
Das klingt ja immer schlimmer, dachte Luke. Ist Elspeth psychisch krank?
In Ihrem Fall habe ich keine Zweifel, dass der depressive Zustand eine Spätfolge der Tubusligatur ist, die Sie 1954 vornehmen ließen.
Luke wusste nicht, was eine Tubusligatur war. Er ging in sein Arbeitszimmer, knipste die Schreibtischlampe an, nahm Das Medizinische Handbuch für die ganze Familie aus dem Regal und schlug das Wort nach. Die Erklärung warf ihn fast um. Eine Tubusligatur war die am weitesten verbreitete Sterilisierungsmethode für Frauen, die keine Kinder haben wollten.
Luke ließ sich in seinen Stuhl fallen, legte das Lexikon vor sich auf die Schreibtischplatte und studierte die Einzelheiten, die den Ablauf der entsprechenden Operation erklärten. Er hatte Frauen darüber sprechen hören, dass sie sich die Eileiter hätten durchtrennen lassen – jetzt wusste er, was damit gemeint war.
Sein Gespräch mit Elspeth vom Morgen fiel ihm wieder ein. Er hatte gefragt, warum sie keine Kinder haben könnten, und sie hatte geantwortet: »Das wissen wir nicht. Du warst voriges Jahr bei einem Spezialisten, aber der meinte, es sei alles in Ordnung. Und ich war jetzt vor ein paar Wochen bei einer Ärztin in Atlanta. Sie hat mehrere Tests gemacht. Derzeit warten wir auf die Ergebnisse.«
Lauter Lügen. Sie wusste ganz genau, warum sie keine Kinder bekommen konnten – sie hatte sich sterilisieren lassen.
Ja, bei einer Ärztin in Atlanta war sie gewesen, allerdings bloß zu einer Routineuntersuchung – und nicht, um ihre Fruchtbarkeit überprüfen zu lassen.
Luke fühlte sich elend. Das war ein furchtbares Täuschungsmanöver. Warum hat Elspeth mich belogen, fragte er sich und warf einen Blick auf den nächsten Absatz des Briefes.
Dieser Eingriff kann in jedem Alter Depressionen auslösen, wird er jedoch, wie in Ihrem Fall, sechs Wochen vor der Hochzeit vorgenommen …
Luke saß da mit offenem Mund. Da stimmte etwas hinten und vorn nicht. Elspeths Unaufrichtigkeit hatte schon kurz vor der Hochzeit angefangen!
Wie hatte sie das organisiert? Luke konnte sich nicht daran erinnern, natürlich, aber er konnte es erraten. Wahrscheinlich hatte sie ihm gesagt, sie müsse einen kleinen Eingriff vornehmen lassen, eine ›Frauensache‹ eben, und er hatte sich damit zufrieden gegeben.
Er las den Absatz bis zum Ende.
Dieser Eingriff kann in jedem Alter Depressionen auslösen, wird er jedoch, wie in Ihrem Fall, sechs Wochen vor der Hochzeit vorgenommen, sind sie nahezu unvermeidlich. Sie hätten danach in regelmäßigen Abständen Ihren behandelnden Arzt aufsuchen sollen.
Lukes Zorn legte sich, als ihm klar wurde, wie sehr Elspeth gelitten haben musste. Noch einmal las er:
Sie haben Untergewicht, Sie leiden an Schlafstörungen, und als Sie bei mir in der Praxis waren, hatten Sie offenkundig vorher geweint, wiewohl Sie mir sagten, es sei alles in Ordnung.
Sie musste durch die Hölle gegangen sein, eine Hölle, die sie sich selbst geschaffen hatte!
Dass Luke Mitleid mit ihr empfand, änderte nichts an der Erkenntnis, dass ihre Ehe auf einer Lüge basierte. Er dachte an das Haus, das er eben erst durchsucht hatte, und gestand sich ein, dass es ihm nicht wie ein Heim vorkam. In dem kleinen Arbeitszimmer fühlte er sich zwar durchaus wohl, und beim Anblick seines Kleiderschranks hatte er sogar so etwas wie ein Wiedererkennen gespürt, aber alles andere unter diesem Dach war das Abbild einer ihm fremden Ehe. Ihm kam es nicht darauf an, ob sie die modernste Kücheneinrichtung hatten oder das schickste Mobiliar. Alte Teppiche und Familienerbstücke wären ihm lieber gewesen. Am meisten aber wünschte er sich Kinder – und Kinder versagte sie ihm. Vier Jahre lang hatte sie ihn nach Strich und Faden belogen.
Der Schock lähmte ihn. Er saß an seinem Schreibtisch und starrte durchs Fenster, während sich allmählich die Abenddämmerung über die Hickorybäume im Garten senkte. Wie hatte er zulassen können, dass sein Leben in eine solche Sackgasse geriet? Er rief sich noch einmal ins Gedächtnis zurück, was er in den vergangenen sechsunddreißig Stunden durch Elspeth, Billie, Anthony und Bern über sich erfahren hatte, und versuchte, daraus schlau zu werden. Habe ich mich allmählich verirrt, wie ein Kind, das sich immer weiter von zu Hause entfernt, fragte er sich. Oder gibt es irgendwo einen Wendepunkt, einen Moment, in dem ich eine falsche Entscheidung getroffen, eine Weggabelung, an der ich die falsche Richtung eingeschlagen habe? Bin ich einfach nur schwach und aus Mangel an klaren Zielvorstellungen ins Unglück geraten? Oder habe ich ein gravierendes charakterliches Defizit?
Ich muss ein miserabler Menschenkenner sein. Mit Anthony, der versucht hat, mich umzubringen, war ich bis vor kurzem befreundet. Mit Bern, einem zuverlässigen Freund, habe ich gebrochen. Mit Billie habe ich mich verkracht und Elspeth geheiratet, und doch hat Billie alles stehen und liegen lassen, um mir zu helfen, während Elspeth mich von Anfang an hintergangen hat.
Ein großer Nachtfalter stieß gegen die Fensterscheibe. Das Geräusch schreckte Luke aus seiner Grübelei. Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte entsetzt fest, dass es schon nach sieben war.
Die mysteriöse Akte war der Schlüssel zu dem Rätsel, das sein Leben belastete. Bei ihr musste er anfangen. Da sie sich nicht hier im Haus befand, musste sie irgendwo auf dem Stützpunkt sein. Ich drehe jetzt die Lichter aus, sagte er sich, schließe das Haus ab, hole den schwarzen Wagen aus der Garage und fahre raus zum Redstone Arsenal.
Die Zeit drängte. Der Raketenstart war für halb elf angesetzt. Ihm blieben nur noch drei Stunden, um herauszufinden, ob es tatsächlich ein Komplott gab mit dem Ziel, den Start zu sabotieren.
Aber Luke blieb an seinem Schreibtisch sitzen und starrte mit leerem Blick durch das Fenster in den dunkelnden Garten hinaus.
19.30. Uhr
Einer der Sender ist stark, aber kurzlebig – er wird nur zwei Wochen lang funktionieren. Das schwächere Signal des anderen Senders wird zwei Monate lang zu empfangen sein.
In Lukes Haus brannte kein Licht, als Billie daran vorbei fuhr. Was hatte das zu bedeuten? Es gab drei Möglichkeiten. Erstens: Es war niemand da. Zweitens: Anthony saß im Dunkeln und wartete auf Luke, um ihn zu erschießen. Drittens: Luke lag in seinem Blut da und war tot. Die Ungewissheit machte Billie fast verrückt vor Angst.
Sie hatte alles total verpatzt, tödlich verpatzt vielleicht. Noch vor ein paar Stunden war sie an Ort und Stelle gewesen, um Luke rechtzeitig zu warnen und zu retten – und dann hatte sie sich durch einen simplen Trick fortlocken lassen. Erst nach Stunden hatte sie wieder nach Huntsville zurückgefunden und dort Lukes Haus ausfindig gemacht. Ob er wenigstens eine ihrer Warnungen erhalten hatte, wusste sie nicht. Billie ärgerte sich maßlos über ihre Inkompetenz und war wie besessen von der Angst, ihr Versagen könne Luke das Leben gekostet haben.
Sie fuhr um die nächste Kurve, hielt an, atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. Ich muss wissen, was in diesem Haus vor sich geht, dachte sie. Und wenn Anthony dort wartet? Ich könnte mich anschleichen und darauf spekulieren, ihn zu überraschen ... Nein, das ist zu gefährlich. Einen Mann zu erschrecken, der eine Schusswaffe in der Hand hält, ist noch nie besonders klug gewesen... Ich kann natürlich auch ganz offen zur Haustür gehen und klingeln. Wird er mich kaltblütig erschießen, bloß weil ich ihm schon wieder in die Quere komme? Zuzutrauen wär‘s ihm. Aber ich darf mein Leben nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Ich habe ein Kind, das seine Mutter braucht.
Auf dem Beifahrersitz neben ihr lag der Diplomatenkoffer. Sie machte ihn auf und nahm den 45er Colt heraus. Der schwere, dunkle Stahl in ihrer Hand war ihr unangenehm. Die Männer, mit denen sie im Krieg zusammengearbeitet hatte, waren alle begeisterte Waffenträger gewesen. Die Faust um einen Pistolengriff zu schließen, einen Revolverlauf herumzuwirbeln oder den Schaft einer Flinte zwischen Hals und Schulter zu drücken bereitete einem Mann offenbar sinnliches Vergnügen. Billie empfand nichts dergleichen. Für sie waren Waffen brutal und grausam, zu nichts anderem geschaffen als dazu, Fleisch und Knochen lebender, atmender Menschen zu zerreißen und zu zermalmen. Waffen jagten ihr Schauer über die Haut.
Die Pistole im Schoß, wendete sie den Wagen und fuhr zu Lukes Haus zurück.
Mit quietschenden Bremsen stoppte sie, stieß die Tür auf, packte ihren Colt und war mit einem Satz aus dem Auto. Bevor irgendwer im Haus hätte reagieren können, sprang sie über die niedrige Mauer und rannte über den Rasen.
Von drinnen war kein Laut zu hören.
Billie rannte seitwärts am Haus entlang zur Rückseite, duckte sich an der Tür vorbei und spähte durch ein Fenster ins Innere. Im schwachen Licht einer entfernten Straßenlaterne sah sie, dass es sich um ein einfaches Flügelfenster mit einem einzigen Riegel handelte. Das Zimmer dahinter wirkte leer. Sie drehte die Waffe in der Hand und schlug mit dem Griff das Fenster ein, ständig darauf gefasst, den Schuss zu hören, der ihr Leben beenden würde. Nichts geschah. Sie langte durch die zerbrochene Scheibe, entriegelte das Fenster und schob es auf. Mit der Waffe in der Rechten kletterte sie hinein und drückte sich flach gegen eine Wand. Schemenhaft erkannte sie die Umrisse eines Schreibtischs und mehrerer Bücherregale. Sie befand sich in einem kleinen Büro. Instinktiv spürte sie, dass sich außer ihr niemand im Haus befand, doch die Angst davor, im Dunkeln plötzlich über Lukes Leiche zu stolpern, war noch immer riesengroß.
Langsam bewegte sie sich durchs Zimmer und fand die Tür. Ihre Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt und sahen in eine leere Diele. Vorsichtig betrat sie sie, die Waffe schussbereit in der Hand, schlich in der Düsternis durchs ganze Haus und fürchtete bei jedem Schritt, Lukes Leiche zu entdecken.
Aber in keinem der Zimmer stieß sie auf einen Menschen.
Am Ende ihrer Suche stand sie im größten Schlafzimmer, starrte auf das Doppelbett, in dem Luke sonst mit Elspeth schlief, und fragte sich, was tun. Um ein Haar wären ihr die Tränen gekommen, so erleichtert war sie, dass sie nirgendwo den toten Luke gefunden hatte. Doch wo war er? Hatte er seine Pläne geändert und war gar nicht hier gewesen? Hatte man ihn etwa doch umgebracht und seine Leiche verschwinden lassen? War Anthonys Anschlag aus irgendeinem Grund fehlgeschlagen? Oder hatte Luke rechtzeitig eine ihrer Warnungen bekommen?
Sie kannte nur einen Menschen, der ihr möglicherweise Auskunft geben konnte: Marigold.
Billie ging wieder in Lukes Arbeitszimmer und schaltete das Licht an. Ein medizinisches Lexikon lag auf dem Schreibtisch, aufgeschlagen auf einer Seite, auf der Methoden zur Sterilisierung von Frauen erklärt wurden. Billie runzelte verwundert die Stirn, dachte aber nicht weiter darüber nach, sondern rief die Auskunft an und fragte nach der Telefonnummer von Marigold Clark. Als sie schon fürchtete, Lukes Sekretärin besitze vielleicht gar kein Telefon, nannte man ihr eine Nummer in Huntsville.
Ein Mann meldete sich – Marigolds Ehemann, vermutete Billie. »Sie ist zur Chorprobe«, sagte er. »Mrs. Lucas ist in Florida unten. Bis sie wieder da ist, dirigiert Marigold den Chor.«
Billie erinnerte sich daran, dass Elspeth Dirigentin des Studentinnenchors von Radcliffe gewesen war und später ein Orchester für schwarze Jugendliche geleitet hatte. In ähnlicher Weise schien sie auch hier in Huntsville engagiert zu sein, und Marigold war offenbar ihre Stellvertreterin. »Ich muss ganz dringend mit Marigold sprechen«, sagte Billie. »Glauben Sie, ich könnte sie eine Minute bei der Chorprobe stören?«
»Begeistert wird sie nicht sein. Aber probieren Sie‘s in der Calvary Gospel Church, Mill Street.«
»Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen.«
Billie ging zu ihrem Wagen. Sie suchte die Mill Street auf dem Stadtplan der Autovermietung und fuhr hin. Die Kirche war ein feiner Backsteinbau in einer armen Gegend. Als Billie die Wagentür öffnete, konnte sie schon den Chor hören, und als sie die Kirche betrat, schlug die Musik wie eine Meereswoge über ihr zusammen. Die Sänger hatten sich am gegenüber liegenden Ende aufgestellt. Es waren nur an die dreißig Männer und Frauen, aber sie klangen wie hundert:
»Eveiybody ’s gonna have a wonderful time up there – oh! Glory, hallelujah!«
Beim Singen klatschten sie in die Hände und schwangen im Rhythmus mit. Ein Klavierspieler klimperte den dazu passenden Barrelhouse-Blues, und eine große Frau, die mit dem Rücken zu Billie stand, dirigierte den Chor mit kraftvollen Bewegungen.
Die Kirchenbänke bestanden aus säuberlich aufgereihten Klappstühlen aus Holz. Billie setzte sich in den Hintergrund, wohl wissend, dass ihr Gesicht hier weit und breit das einzige weiße war. All ihren Ängsten zum Trotz ging ihr die Musik zu Herzen. Für sie als gebürtige Texanerin verkörperten die mitreißenden Harmonien die Seele des Südens.
So ungeduldig sie darauf wartete, Marigold ihre Fragen stellen zu können, so klar war ihr auch, dass sie mehr erreichen würde, wenn sie respektvoll das Ende des Liedes abwartete.
Der Schlussakkord klang ziemlich hoch, und kaum war er verklungen, sah sich die Dirigentin um. »Ihr seid in eurer Konzentration gestört worden«, sagte sie, an den Chor gewandt. »Ich frag mich, von wem. Wir machen eine kurze Pause.«
Billie ging zu ihr. »Ich bitte um Entschuldigung für die Störung«, sagte sie. »Sind Sie Marigold Clark?«
»Ja«, sagte die Frau argwöhnisch. Sie war um die fünfzig und trug eine strassbesetzte Brille. »Aber Sie sind mir unbekannt.«
»Wir haben heute schon miteinander telefoniert. Ich bin Billie Josephson.«
»Oh! Hi, Doktor Josephson.«
Sie entfernten sich ein paar Schritte von den anderen, und Billie fragte: »Haben Sie was von Luke gehört?«
»Nein, seit heute Morgen nichts mehr. Ich erwartete ihn am Nachmittag auf dem Stützpunkt, aber er kam nicht. Wie geht es ihm? Es ist ihm doch nichts zugestoßen?«
»Ich weiß es nicht. Ich bin bei ihm zu Hause gewesen, aber da war niemand. Ich werde die Befürchtung nicht los, dass man ihn umgebracht hat.«
Marigold schüttelte verblüfft den Kopf. »Ich arbeite jetzt schon zwanzig Jahre bei der Armee, aber so was hab ich noch nie erlebt.«
»Wenn er noch am Leben ist, befindet er sich in höchster Gefahr«, sagte Billie und sah Marigold fest in die Augen. »Glauben Sie mir?«
Marigold zögerte eine Weile. »Ja, Madam, das tu ich«, sagte sie schließlich.
»Also müssen Sie mir helfen«, sagte Billie.
21.30 Uhr
Das Funksignal des stärkeren Senders kann von Amateurfunkern in aller Welt empfangen werden, das schwächere Signal des zweiten dagegen nur von Funkstationen mit besonderer Ausstattung.
Anthony saß auf dem Stützpunkt Redstone Arsenal in seinem Armee-Ford, spähte in die Dunkelheit und behielt aufmerksam die Tür zum Rechenlabor im Auge. Er hatte den Wagen in ungefähr zweihundert Meter Entfernung auf dem Parkplatz vor dem Hauptgebäude abgestellt.
Im Labor suchte Luke nach der ominösen Akte. Weil er schon selbst dort gesucht hatte, wusste Anthony, dass Luke nichts finden würde – genauso, wie er gewusst hatte, dass Lukes Suche bei sich zu Hause vergeblich sein würde. Was er jedoch inzwischen nicht mehr vorhersagen konnte, waren Lukes nächste Schritte – er konnte nur noch abwarten, bis Luke sich auf den Weg machte, und dann versuchen, ihm auf den Fersen zu bleiben.
Immerhin, die Zeit arbeitete gegen Luke. Mit jeder Minute, die verging, verringerte sich die Gefahr, die von ihm ausging. In einer Stunde sollte die Rakete starten. War es wirklich möglich, dass Luke innerhalb einer Stunde noch alles ruinierte? Anthony wusste nur eines: In den vergangenen zwei Tagen hatte sein alter Freund ein ums andere Mal bewiesen, dass man ihn nicht unterschätzen durfte.
Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, da öffnete sich die Labortür, und gelbes Licht durchflutete die dunkle Nacht. Eine Gestalt tauchte auf und ging auf den schwarzen Chrysler am Straßenrand zu. Luke kam, wie erwartet, mit leeren Händen aus dem Labor. Er stieg in seinen Wagen und fuhr davon.
Anthonys Herzschlag beschleunigte sich. Er startete den Motor, schaltete die Scheinwerfer ein und nahm die Verfolgung auf.
Die Straße führte schnurgerade nach Süden. Nach etwa anderthalb Kilometern bremste Luke vor einem lang gestreckten Flachbau ab und schwenkte auf den dazu gehörigen Parkplatz ein. Anthony fuhr vorbei, beschleunigte und verschwand in der Nacht. Nach vierhundert Metern, an einer Stelle, an der er von Lukes Position aus nicht mehr zu sehen war, wendete er. Als er zurückkam, stand der Chrysler noch da, Luke selbst aber war fort.
Anthony fuhr auf den Parkplatz und stellte den Motor ab.
Luke war sich sicher gewesen, dass er die gesuchte Akte im Rechenlabor finden würde, und deshalb hatte er auch so lange dort gebraucht. Er hatte erst jeden Ordner in seinem eigenen Büro geprüft und dann auch im Hauptbüro, wo die Sekretärinnen saßen. Gefunden hatte er nichts.
Aber es gab noch eine Möglichkeit. Nach Marigolds Aussage war er am Montag auch im Konstruktionsgebäude gewesen. Dazu musste es einen Grund gegeben haben. Es ist meine letzte Hoffnung, dachte er. Finde ich den Ordner dort auch nicht, dann bin ich mit meinem Latein am Ende – und die Zeit ist abgelaufen. Dann startet die Rakete in Cape Canaveral – oder sie startet eben nicht, lahm gelegt durch Sabotage ...
Im Konstruktionsgebäude herrschte eine ganz andere Atmosphäre als im Rechenlabor, wo wegen der riesigen, hoch empfindlichen Elektronengehirne, die Schubkräfte, Geschwindigkeiten und Flugbahnen berechneten, kein Stäubchen zu sehen war. Verglichen damit, ging es bei den Ingenieuren geradezu schlampig zu, und es roch überall nach Schmieröl und Gummi.
Luke eilte durch einen Korridor. Die Wände waren bis auf Taillenhöhe dunkelgrün, darüber hellgrün gestrichen. An den meisten Türen waren Namensschilder, und alle Namen waren mit einem ›Dr.‹ versehen, was die Vermutung nahe legte, dass es sich um die Büros der Wissenschaftler handelte. Ein Schild mit der Aufschrift ›Dr. Claude Lucas‹ sah er zu seiner Enttäuschung nirgends. Wahrscheinlich habe ich hier kein zweites Büro, sondern allenfalls irgendwo einen Schreibtisch, dachte er.
Am Ende des Flurs gelangte er in einen großen, offenen Raum mit einem halben Dutzend Stahltischen. Am anderen Ende führte eine offen stehende Tür in ein Laboratorium mit Arbeitsflächen aus Granit über grünen Metallschubladen. Hinter den Granitplatten befand sich eine große, zweiflügelige Tür, die sich, wie es aussah, zu einer Laderampe auf der Außenseite des Gebäudes öffnete.
Unmittelbar links von Luke war die Wand gesäumt mit einer Reihe Schließfächer, die alle mit Namenstafeln gekennzeichnet waren. Und auf einem Fach stand tatsächlich der Name Dr. Claude Lucas.
Er zog seinen Schlüsselbund hervor und wählte einen Schlüssel, der so aussah, als könne er passen. Er passte tatsächlich, und Luke öffnete die Tür. Auf einem hohen Regalbrett lag ein Schutzhelm, darunter hingen an einem Haken mehrere blaue Overalls, und auf dem Boden stand ein Paar schwarzer Gummistiefel.
Und dort, neben den Stiefeln, steckte eine gelbbraune Mappe aus Armeebeständen.
In der Mappe lag ein großer brauner Umschlag, der bereits aufgeschlitzt war. Als Luke die darin enthaltenen Unterlagen herausnahm, sah er sofort, dass es sich um Fotokopien von Blaupausen für Raketenbauteile handelte.
Sein Herz hämmerte in der Brust. Rasch ging er zu einem der Stahltische und breitete die Papiere unter einer Lampe aus. Er brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass die Zeichnungen den Selbstzerstörungsmechanismus der Jupiter C-Rakete darstellten.
Ein furchtbarer Schrecken durchfuhr ihn.
Der Selbstzerstörungsmechanismus, mit dem jede Rakete ausgestattet war, ermöglichte es, den Flugkörper, sollte er vom Kurs abkommen und Menschenleben am Boden gefährden, während des Fluges zu sprengen. An der Hauptstufe der Jupiter war über die gesamte Länge der Rakete eine Zündschnur gespannt. Am oberen Ende befand sich eine Zündkapsel, aus der zwei Drähte herausragten. Wenn man zwischen den Drähten eine elektrische Spannung erzeugte, würde die Kapsel, wie Luke der Konstruktionszeichnung entnahm, die Zündschnur in Brand setzen und diese den Tank aufreißen. Der auslaufende Treibstoff würde sich entzünden und die Rakete zerstören.
Ausgelöst wurde die Sprengung durch ein kodiertes Funksignal. Die Blaupausen zeigten zwei identische Stecker, einen für den Sender am Boden, den anderen für den Empfänger im Satelliten. Der eine verwandelte das Funksignal in einen komplizierten Code, der andere empfing das Signal und setzte, wenn der Code stimmte, die beiden Drähte unter Spannung. Ein Diagramm auf einem anderen Blatt – keine Reinzeichnung, sondern eine hastig hingeworfene Skizze – zeigte genau, wie die Stecker geschaltet waren, sodass jeder, dem dieses Diagramm zur Verfügung stand, das Signal nachahmen konnte.
Luke erkannte es sofort: Der Plan war genial. Die Saboteure brauchten weder Sprengstoff noch Zeitzünder. Ohne auch nur in die Nähe der Rakete kommen zu müssen, bedienten sie sich einfach der eingebauten Technik. Hatten sie erst einmal den Code, brauchten sie nicht einmal das Gelände von Cape Canaveral zu betreten. Das Funksignal konnte von einem Sender übertragen werden, der meilenweit von der Abschussrampe entfernt war.
Luke besah sich den Umschlag genauer. Er war adressiert an einen Mr. Theo Packman im Motel Vanguard. Und dieser Mr. Packman befand sich in eben diesem Moment vielleicht schon mit einem Funkgerät irgendwo im Gebiet von Cocoa Beach und wartete darauf, die Rakete ein paar Sekunden nach dem Start in die Luft zu jagen.
Wenn er die Unterlagen erhalten hatte, hieß das. Der Umschlag war mit der Maschine geschrieben, aber anscheinend das Original. Die Kopien waren ebenso offensichtlich Kopien von Kopien. Und Luke war sich in diesem Moment sicher, obwohl ihm nicht klar war, woher er es wusste, dass er die Vorlagen an den Adressaten weitergeschickt hatte. Die übliche Vorgehensweise in der Gegenspionage .
Luke warf einen Blick auf die elektrische Uhr an der Wand. 22.15 Uhr. Noch konnte er Cape Canaveral anrufen und den Start verschieben lassen. Er griff nach dem Telefonhörer auf dem Schreibtisch.
Eine Stimme sagte: »Leg wieder auf, Luke.«
Mit dem Hörer in der Hand drehte sich Luke langsam um. Anthony stand in der Tür. Er trug seinen Kamelhaarmantel, beide Augen waren blauschwarz verfärbt, die Lippe geschwollen. In der Hand hielt er einen Revolver mit aufgesetztem Schalldämpfer, der auf Luke zeigte.
Langsam und widerwillig legte Luke den Hörer auf. »Du warst in dem Wagen hinter mir«, sagte er.
»Ich dachte, in der Eile merkst du es wahrscheinlich nicht.«
Luke starrte den Mann an, den er so falsch beurteilt hatte. Gab es irgendein Zeichen, das er übersehen hatte, irgendeine Eigenschaft, die ihm hätte sagen müssen, dass er es mit einem Verräter zu tun hatte? Anthonys Gesicht war von sympathischer Hässlichkeit, die auf beträchtliche Charakterstärke schließen ließ, nicht aber auf Doppelzüngigkeit. »Wie lange arbeitest du schon für Moskau?«, fragte
Luke. »Seit dem Krieg?«
»Schon länger. Seit Harvard.«
»Warum?«
Anthonys Lippen verzogen sich zu einem seltsamen Lächeln. »Für eine bessere Welt.«
Vor langer Zeit, das wusste Luke, hatten viele kluge und vernünftige Leute an das Sowjetsystem geglaubt, doch hatte die Lebenswirklichkeit unter Stalin diese Weltanschauung in ihren Grundfesten erschüttert.
»Du glaubst immer noch daran?«, fragte Luke skeptisch.
»In gewisser Weise, ja. Es bleibt, trotz allem, was passiert ist, immer noch unsere beste Hoffnung.«
Vielleicht hatte er sogar Recht. Luke konnte das nicht beurteilen. Aber darum ging es eigentlich auch gar nicht. Was er nicht begreifen konnte, war der persönliche Verrat. »Wir waren zwanzig Jahre lang befreundet«, sagte er. »Aber gestern Abend hast du auf mich geschossen.«
»Ja.«
»Und du bist wirklich bereit, deinen ältesten Freund umzubringen? Für eine Sache, von der du nur noch halbwegs überzeugt bist?«
»Ja, und du wärst das auch. Im Krieg haben wir beide immer wieder Menschenleben aufs Spiel gesetzt, unser eigenes wie das anderer. Weil es richtig war.«
»Belogen haben wir uns, glaube ich, nicht. Und schon gar nicht aufeinander geschossen.«
»Wir hätten es getan, wenn‘s nötig gewesen wäre.«
»Das glaube ich nicht.«
»Hör zu. Angenommen, ich ließe dich jetzt am Leben – würdest du versuchen, mich an der Flucht zu hindern?«
Trotz seiner Todesangst sagte Luke, wütend wie er war, die Wahrheit: »Ja, verdammt!«
»Obwohl du weißt, dass ich auf dem elektrischen Stuhl ende, wenn man mich erwischt?«
»Ja … ich glaube schon.«
»Also bist du ebenfalls bereit, deinen Freund zu töten.«
Kann man mich wirklich mit Anthony auf eine Stufe setzen, fragte sich Luke betroffen. »Ich würde dich vor Gericht bringen. Das ist kein Mord.«
»Tot ist tot, oder?«
Luke nickte langsam. »Ja, da hast du wohl Recht.«
Anthony hob die Waffe und zielte mit ruhiger Hand auf Lukes Herz.
Luke ließ sich hinter den Stahltisch fallen.
Die schallgedämpfte Pistole hustete. Mit einem metallischen Scheppern durchschlug die Kugel die Tischplatte. Das Mobiliar war billig und der Stahl, aus dem es hergestellt war, nur dünn. Aber es hatte genügt, um den Schuss abzufälschen.
Luke rollte sich unter den Tisch. Er nahm an, dass Anthony durchs Zimmer stürmen würde, um einen zweiten Schuss auf ihn abzugeben. Er schob seinen Rücken direkt unter die Tischplatte, packte mit beiden Händen die Beine am vorderen Ende und richtete sich auf. Der Tisch hob sich vom Boden und kippte langsam nach vorn. Von der wahnwitzigen Hoffnung beseelt, Anthony über den Haufen rennen zu können, stürmte Luke los, ohne zu sehen, wohin. Dann krachte der Tisch zu Boden.
Doch Anthony lag nicht unter ihm.
Luke stolperte über den Tisch, der mit den Beinen nach oben vor ihm lag, taumelte, fiel auf Hände und Knie und stieß sich den Kopf an einem der Stahlbeine. Vor Schmerzen ganz benommen, rollte er sich zur Seite und setzte sich auf. Als er aufblickte, sah er sich Anthony gegenüber, der breitbeinig im Durchgang zum Labor stand und beidhändig mit der Pistole auf ihn zielte. Er war dem unbeholfenem Angriff ausgewichen und in den Rücken seines Gegners gelangt. Luke saß buchstäblich in der Falle und wusste, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte. In einer Sekunde war alles vorbei.
»Anthony!«, brüllte eine Stimme. »Halt!«
Es war Billie.
Anthony stand wie fest gefroren, die Waffe noch immer auf Luke gerichtet. Luke drehte langsam den Kopf. Billie stand in der Tür, ihr Pullover ein roter Farbklecks vor dem militärischen Grün der Wand. Ihre roten Lippen waren entschlossen zusammengepresst. Mit ruhiger Hand hielt sie eine automatische Pistole, deren Mündung auf Anthony gerichtet war. Hinter ihr stand, sichtlich erschrocken und verängstigt, eine schwarze Frau mittleren Alters.
»Lass die Waffe fallen!«, schrie Billie.
Luke schloss nicht aus, dass Anthony ihn jetzt doch noch erschießen würde. Wenn er ein in der Wolle gefärbter, überzeugter Kommunist war, opferte er möglicherweise bereitwillig sein eigenes Leben. Sinn machte es allerdings keinen, denn Billie hätte in diesem Fall die Blaupausen behalten, und die waren sehr beredt.
Langsam ließ Anthony die Arme sinken, behielt die Waffe jedoch in der Hand.
»Lass sie fallen, oder ich schieße!«
Anthony zeigte wieder sein verzerrtes Lächeln. »Nein, das tust du nicht«, sagte er. »Dazu bist du nicht kaltblütig genug.« Den Lauf der Waffe noch immer auf den Boden gerichtet, begann er, sich rückwärts der offen stehenden Tür ins Labor zu nähern. Dort befand sich, wie Luke sich erinnerte, eine weitere Tür, die offenbar ins Freie führte.
»Bleib stehen!«, schrie Billie.
»Du glaubst doch nicht, dass eine Rakete mehr wert ist als ein Menschenleben, auch wenn dieser Mensch ein Verräter ist.«, sagte Anthony, ohne seine Absetzbewegung zu unterbrechen. Er war nur noch zwei Schritte von der Tür entfernt.
»Stell mich nicht auf die Probe!«, brüllte Billie.
Luke starrte sie an. Er hatte keine Ahnung, ob sie schießen würde oder nicht.
Anthony drehte sich um und huschte durch die offene Tür ins Labor.
Billie schoss nicht.
Anthony sprang über eine Laborbank und warf sich gegen eine Doppeltür, die sofort aufsprang. Dann verschwand er in der Dunkelheit der Nacht.
Luke rappelte sich auf. Billie kam mit weit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Er warf einen Blick auf die Uhr an der Wand: 22.29 Uhr. Ihm blieb noch eine Minute, Cape Canaveral zu warnen.
Er wandte sich von Billie ab und griff nach dem Telefon.
22.29 Uhr
Die wissenschaftlichen Instrumente an Bord des Satelliten sind so konstruiert, dass sie den beim Start entstehenden Druck von einem Vielfachen der Erdanziehungskraft schadlos überstehen.
Als im Blockhaus abgenommen wurde, sagte Luke: »Hier Luke, geben Sie mir den Startleiter.«
»Der ist gerade –«
»Ich weiß, was er gerade tut! Holen Sie ihn her, aber dalli!«
Es gab eine Pause. Im Hintergrund hörte Luke den Countdown: »Zwanzig, neunzehn, achtzehn.«
Eine andere Stimme meldete sich, angespannt und ungeduldig: »Hier Willy – was ist denn los, zum Teufel?«
»Jemand hat den Selbstzerstörungs-Code.«
»Scheiße! Wer?«
»Wahrscheinlich ein Spion. Die Bande wird die Rakete in die Luft jagen. Sie müssen sofort den Start abbrechen.«
Die Stimme im Hintergrund zählte: »Elf, zehn -«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Willy.
»Ich habe Schaltpläne der kodierten Stecker gefunden und einen Umschlag, der an einen Mann namens Theo Packman adressiert ist.«
»Das ist kein Beweis. Auf einer so dürftigen Basis kann ich den Start nicht absagen.«
Luke seufzte, von plötzlichem Fatalismus übermannt. »Herrgott, was soll ich sonst noch sagen? Ich hab Ihnen erzählt, was ich weiß. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.«
»Fünf, vier –«
»Verdammter Mist!« Willys Stimme hob sich. »Countdown abbrechen!«
Luke sank in seinem Stuhl zusammen. Er hatte es geschafft. Als er aufblickte, sah er die ängstlichen Gesichter von Billie und Marigold vor sich. »Der Start ist abgebrochen«, sagte er.
Billie zog den Saum ihres Pullovers hoch und stopfte die Pistole in den Bund ihrer Skihose.
»So was«, sagte Marigold, nach Worten ringend. »Also, ich muss schon sagen ...«
Aus dem Telefonhörer drang das Gebrumm ärgerlicher Fragen aus dem Blockhaus an Lukes Ohr. Dann meldete sich eine neue Stimme. »Luke? Hier Colonel Hide. Was geht da vor, zum Teufel?«
»Ich weiß jetzt, warum ich am Montag so Hals über Kopf nach Washington geflogen bin. Kennen Sie einen gewissen Theo Pack- man?«
»Äh. ja, ich glaube, das ist ein freier Journalist mit einem Faible für Raketen. Schreibt für ein paar europäische Zeitungen.«
»Ich habe einen an ihn adressierten Umschlag gefunden, der Kopien von Blaupausen für das Selbstzerstörungssystem enthält, einschließlich einer Skizze mit der Schaltung der kodierten Stecker.«
»Jesus! Mit diesen Informationen kann man die Rakete während des Fluges sprengen!«
»Genau. Und ich vermute, er hat sie trotz allem erhalten. Deshalb hab ich Willy überredet, den Start abzubrechen.«
»Gott sei Dank!«
»Hören Sie, Sie müssen sofort diesen Packman aufspüren. Das Kuvert war ans Vanguard-Motel adressiert. Kann sein, dass Sie ihn dort finden.« »Verstanden.«
»Packman hat einen Verbindungsmann in der CIA, einen Doppelagenten namens Anthony Carroll. Das ist der Mann, der mich in Washington abgefangen hat, bevor ich mich mit meinen Informationen ans Pentagon wenden konnte.«
»Ein Verräter in der CIA?«, fragte Hide ungläubig.
»Ja, ich bin mir ganz sicher.«
»Ich rufe gleich die Agency an und informiere sie.«
»Gut.« Luke legte auf. Er hatte getan, was er konnte.
Billie sagte: »Und nun?«
»Ich glaube, ich fliege nach Cape Canaveral. Der Start wird jetzt wohl morgen Abend um die gleiche Zeit stattfinden. Ich wäre gern dabei.«
»Ich auch.«
Luke grinste. »Das hast du dir auch verdient. Du hast die Rakete gerettet.« Er stand auf und umarmte sie.
»Dein Leben, du Blödmann! Die Rakete kann mir gestohlen bleiben. Ich hab dir dein Leben gerettet.« Sie küsste ihn.
Marigold hüstelte. »Von Huntsville nach Cape Canaveral fliegt heute keine Maschine mehr«, sagte sie in geschäftsmäßigem Ton.
Luke und Billie lösten sich voneinander. Es fiel ihnen sichtlich schwer.
»Die nächste Möglichkeit ist ein MATS-Flug morgen Früh um
Uhr«, fuhr Marigold fort. »Sie könnten aber auch noch einen Zug der Southern Railway erwischen. Er geht von Cincinnati nach Jacksonville und hält gegen ein Uhr nachts in Chattanooga. Mit Ihrem hübschen neuen Automobil schaffen Sie‘s nach Chattanooga in zwei Stunden.«
Billie sagte: »Mit dem Zug? Warum nicht?«
Luke nickte. »Okay.« Sein Blick fiel auf den umgestürzten Tisch, dessen Beine in die Luft ragten. »Irgendwer wird der Militärpolizei die Einschusslöcher erklären müssen.«
Marigold sagte: »Darum kümmere ich mich morgen Früh. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie hier herumsitzen und Fragen beantworten wollen.«
Sie gingen zusammen hinaus. Lukes Auto und Billies Mietwagen standen auf dem Parkplatz. Anthonys Gefährt war verschwunden.
Billie umarmte Marigold. »Vielen, vielen Dank«, sagte sie. »Sie waren einfach wunderbar.«
Verlegen flüchtete sich Marigold wieder in praktische Erwägungen. »Soll ich bei Hertz den Mietwagen für Sie abgeben?«
»Das wäre schön, ja. Vielen Dank.«
»Also fort mit Ihnen! Überlassen Sie alles mir.«
Billie und Luke stiegen in den Chrysler und fuhren los.
Sie waren bereits auf dem Highway, als Billie sagte: »Eine Frage haben wir noch nicht geklärt.«
»Ich weiß«, erwiderte Luke. »Wer hat die Blaupausen an Theo Packman adressiert?«
»Es muss jemand in Cape Canaveral sein, einer von den Experten.«
»Genau.«
»Hast du irgendeine Ahnung, wer es sein könnte?«
Luke zuckte zusammen. »Ja.«
»Warum hast du Hide nichts davon erzählt?«
»Weil ich keinerlei Beweis für meinen Verdacht habe, nicht einmal eine logische Begründung. Er beruht allein auf Intuition – und trotzdem bin ich mir ganz sicher.«
»Wer ist es?«
»Ich glaube, es ist Elspeth«, antwortete Luke schweren Herzens.
23.00 Uhr
Das Telemetrie-Chiffriergerät benutzt Ringkerne mit Hysterese-Schleifen zur Erzeugung einer Reihe von Eingangsparametern von Satelliten-Instrumenten.
Elspeth konnte es nicht fassen. Sekunden vor der Zündung war der Start verschoben worden! Der Erfolg war so nahe gewesen, der größte Triumph ihres Lebens in Reichweite – und am Ende war ihr dann doch wieder alles entglitten.
Sie war nicht im Blockhaus – der Aufenthalt dort war den unmittelbaren Entscheidungsträgern vorbehalten –, sondern stand auf dem flachen Dach des Verwaltungsgebäudes, gemeinsam mit einer Gruppe von Sekretärinnen und Büroangestellten, welche die vom Flutlicht angestrahlte Abschussrampe durch Ferngläser beobachteten. Die Nacht in Florida war warm, die Meeresluft feucht. Mit jeder weiteren Minute, die verging, ohne dass die Rakete abgehoben hätte, wuchsen die Befürchtungen, und nun ging ein kollektives Stöhnen durch die Menge, als Techniker in Overalls aus den Bunkern ausschwärmten und sich an die komplizierte Aufgabe machten, alle Systeme still zu legen. Die letzte Bestätigung kam, als der mobile Wartungsturm langsam auf seinen Schienen vorwärts glitt und die weiße Rakete in seine stählernen Arme schloss.
Elspeth war zutiefst enttäuscht. Was, zum Teufel, war denn nun wieder schiefgelaufen?
Ohne ein Wort zu verlieren, ließ sie die anderen stehen und machte sich auf den Weg zum Hangar R. Der Schritt ihrer langen Beine verriet Entschlossenheit. Kaum war sie wieder in ihrem Büro, klingelte das Telefon. Sie riss den Hörer von der Gabel. »Ja?«
»Was ist los?« Es war Anthonys Stimme.
»Sie haben den Start abgebrochen. Ich weiß nicht, warum – weißt du‘s?«
»Luke hat die Papiere gefunden. Er muss bei euch angerufen haben.«
»Konntest du ihn nicht dran hindern?«
»Ich hatte ihn schon im Visier – buchstäblich! –, doch da tauchte plötzlich Billie auf. Sie war bewaffnet.«
Bei der Vorstellung, wie Anthony Luke mit der Pistole bedrohte, spürte Elspeth Übelkeit im Magen. Dass ihm ausgerechnet Billie in die Quere gekommen war, machte alles nur noch schlimmer. »Ist Luke unverletzt?«
»Ja – und ich bin‘s auch. Aber Theos Name steht auf den Papieren. Luke hat den Umschlag aufbewahrt.«
»Oh, so ein Mist!«
»Du musst Theo finden, bevor man ihn festnimmt. Sie sind ihm inzwischen sicher schon auf den Fersen.«
»Lass mich nachdenken ... Er ist am Strand ... zehn Minuten von hier, wenn ich mich beeile. Ich kenne sein Auto, ein Hudson Hornet ...«
»Dann nichts wie los!«
»Yep!« Elspeth knallte den Hörer auf die Gabel, hetzte hinaus, rannte quer über den Parkplatz und sprang in ihr Auto.
Der weiße Bel Air war ein Kabriolett, doch wegen der MoskitoPlage am Cape ließ Elspeth das Verdeck stets oben und die Fenster geschlossen. Sie fuhr schnell zum Tor und wurde durchgewinkt – die strenge Sicherheitsüberprüfung betraf nur die Hereinkommenden. Elspeth bog nach Süden ab.
Eine ausgebaute Straße zum Strand gab es nicht, nur eine Anzahl schmaler, ungeteerter Pisten, die vom Highway durch die Dünen führten. Elspeth entschloss sich gleich für die erste Abfahrt und wollte dann unmittelbar am Strand weiterfahren. Auf diese Weise konnte sie Theos Auto nicht übersehen. Angestrengt spähte sie ins Buschwerk am Straßenrand und versuchte, im Scheinwerferlicht die Piste zu erkennen. Obwohl sie es eilig hatte, musste sie langsam fahren, um die Abzweigung nicht zu verpassen.
Plötzlich tauchte seitwärts von ihr ein Wagen auf, gefolgt von einem zweiten und einem dritten. Elspeth trat auf die Bremse und blinkte nach links. Vom Strand her kam eine nicht enden wollende Autokolonne: Die Schaulustigen hatten inzwischen erkannt, dass der Start verschoben worden war – auch sie hatten Ferngläser und gesehen, wie der Wartungsturm wieder in seine alte Stellung glitt. Und nun wollten sie, alle auf einmal, nach Hause.
Elspeth musste warten. Der schmale Weg zum Strand ließ keinen Gegenverkehr zu. Hinter ihr hielt ein anderer Autofahrer und hupte ungeduldig. Elspeth stöhnte vor Erbitterung. Sie kam hier einfach nicht durch. Kurz entschlossen stellte sie den Blinker ab und trat das Gaspedal durch.
Bei der nächsten Abzweigung bot sich das gleiche Bild: Eine endlose Fahrzeugschlange kroch aus einem Weg, der für Gegenverkehr zu schmal war. »Zur Hölle mit euch!«, fluchte sie lauthals vor sich hin. Trotz der laufenden Klimaanlage war ihr der Schweiß ausgebrochen. Der Zugang zum Strand war hoffnungslos blockiert. Sie musste sich etwas anderes einfallen lassen. War es sinnvoll, am Straßenrand abzuwarten, bis Theos Auto vorbeikam? Das war reine Glücksache. Wohin würde sich Theo wenden, wenn er den Strand hinter sich gelassen hatte? Am besten passte sie ihn an seinem Motel ab.
Sie raste durch die Nacht. Ob Colonel Hide und die Militärpolizei am Vanguard schon auf Theo warteten? Möglicherweise hatten sie zuerst die örtliche Polizei oder das FBI benachrichtigt. Um
Theo festzunehmen, brauchten sie einen Haftbefehl, so viel war Elspeth klar, obwohl die Gesetzeshüter meist Mittel und Wege fanden, solche Unannehmlichkeiten zu umgehen. Auf jeden Fall würde es ein paar Minuten dauern, bis der Fahndungstrupp abmarschbereit war. Wenn ich mich beeile, dachte Elspeth, kann ich den Cops noch zuvorkommen.
Das Vanguard lag in einem kleinen Einkaufszentrum an der Schnellstraße, zwischen einer Tankstelle und einem Laden für Köder und Angelausrüstung. Direkt vor dem Motel befand sich ein großer Parkplatz. Weit und breit waren weder Polizisten noch Armeeangehörige zu sehen. Aber auch Theos Auto fehlte. Elspeth suchte sich einen Platz in der Nähe des Eingangs und stellte den Motor ab. Von hier aus entging ihr niemand, der das Motel betrat oder verließ.
Lange brauchte sie nicht zu warten. Schon nach zwei Minuten traf der gelbbraune Hudson Hornet ein. Theo hielt am anderen Ende des Parkplatzes unweit der Straße und stieg aus. Er war ein kleiner Mann mit schütterem Haar in Chinos und Freizeithemd.
Elspeth stieg aus ihrem Wagen.
Sie öffnete schon den Mund, um Theo quer über den Parkplatz hinweg etwas zuzurufen, als zwei Einsatzfahrzeuge der Polizei auftauchten.
Elspeth stand wie festgenagelt.
Es waren die Streifenwagen des Bezirkssheriffs von Cocoa County. Sie fuhren schnell, aber ohne Blaulicht und Sirene. Zwei Zivilfahrzeuge folgten und hielten quer zur Einfahrt, sodass niemand den Parkplatz verlassen konnte.
Theo nahm sie zunächst gar nicht wahr. Er kam quer über den Platz auf Elspeth und die Motelrezeption zu.
Schlagartig wusste Elspeth, was sie zu tun hatte – vorausgesetzt, ihre Nerven spielten mit. Bleib jetzt bloß ruhig, ermahnte sie sich, holte tief Luft und ging Theo entgegen.
Als er näher kam, erkannte er sie und sagte laut: »Was ist denn passiert, verdammt und zugenäht? Haben sie den Start abgebrochen?«
Elspeth sagte mit gesenkter Stimme: »Gib mir deine Autoschlüssel.« Sie streckte die Hand aus.
»Wozu?«
»Dreh dich um.«
Er warf einen Blick über seine Schulter und sah die Polizeiautos. »Scheiße! Wen suchen die hier?«, fragte er mit bebender Stimme.
»Dich. Bleib ganz ruhig. Und gib mir die Schlüssel.«
Er ließ sie in ihre ausgestreckte Hand fallen.
»Geh weiter«, befahl sie. »Mein Kofferraum ist nicht abgeschlossen. Steig rein.«
»In den Kofferraum?«
»Ja!« Elspeth ließ ihn stehen und ging weiter.
Sie erkannte Colonel Hide und andere halbwegs vertraute Gesichter aus Cape Canaveral. Hinzu kamen vier Beamte der örtlichen Polizei und zwei große, gut gekleidete junge Männer, bei denen es sich möglicherweise um FBI-Agenten handelte. Sie hatten sich um Hide versammelt, und im Augenblick kümmerte sich keiner um Elspeth, die inzwischen schon hören konnte, was Hide anordnete: »Zwei Männer überprüfen die Zulassungsnummern der Fahrzeuge hier auf dem Parkplatz. Alle anderen gehen mit mir rein.«
Elspeth erreichte Theos Wagen und schloss den Kofferraum auf. Der Lederkoffer, der den Sender enthielt, war sehr schwer. Sie wusste nicht, ob sie ihn überhaupt tragen konnte. Sie hob ihn an und zerrte ihn über die Kante des Kofferraums. Mit einem dumpfen Schlag landete er auf dem Boden. Rasch klappte Elspeth den Kofferraumdeckel wieder zu.
Sie warf einen Blick in die Runde. Hide erteilte seinen Leuten immer noch Anweisungen. Sie sah, wie sich am gegenüber liegenden Ende des Parkplatzes der Kofferraumdeckel ihres eigenen Wagens, wie von Geisterhand bewegt, langsam schloss. Theo hatte es also geschafft. Damit war die Hälfte des Problems schon bewältigt.
Elspeth biss die Zähne zusammen, nahm den Koffer am Griff und hob ihn an. Er war schwer wie eine Kiste voll Blei. Nach ein paar Metern wurden ihre Finger taub von dem Gewicht, und sie musste den Koffer absetzen. Mit der linken Hand schaffte sie weitere zehn Meter, dann waren die Schmerzen stärker als ihr Wille, und sie musste ihn erneut absetzen.
Hinter ihr marschierten Colonel Hide und seine Leute über den Parkplatz auf den Moteleingang zu. Elspeth betete darum, dass Hide ihr nicht ins Gesicht sehen würde, auch wenn es in der Dunkelheit wenig wahrscheinlich war, dass er sie erkannte. Im Notfall hätte sie sich natürlich auch irgendeine Geschichte einfallen lassen können, um ihre Anwesenheit zu erklären – aber was war, wenn er einen Blick in ihren Koffer werfen wollte?
Sie griff nun wieder mit der Rechten nach dem Koffer. Diesmal konnte sie ihn nicht einmal mehr anheben. Sie gab ihre Bemühungen auf und begann ihn stattdessen über den Beton zu schleifen, wobei sie hoffte, dass das Geräusch nicht die Aufmerksamkeit der Cops auf sie lenken würde.
Endlich erreichte sie ihren Wagen. Sie öffnete gerade den Kofferraum, als ein uniformierter Polizist auf sie zukam. Er lächelte freundlich und fragte höflich: »Kann ich Ihnen behilflich sein, Ma‘m?«
Theos Gesicht, kreideweiß und von Angst verzerrt, starrte sie aus dem Kofferraum an.
»Ich hab‘s schon«, antwortete sie dem Cop aus dem Mundwinkel. Mit beiden Händen hievte sie den Koffer hoch und ließ ihn ins Auto gleiten. Ein unterdrückter Schmerzenslaut entfuhr Theo, als eine Ecke ihn traf. Mit einer raschen Bewegung schlug Elspeth den Kofferraumdeckel zu und lehnte sich dagegen. Ihre Arme fühlten sich an, als wollten sie jeden Moment abfallen.
Sie sah den Polizisten an. Hatte er Theo bemerkt? Der Mann grinste sie bloß verwirrt an.
»Mein Daddy hat mir beigebracht, meine Koffer immer so zu packen, dass ich sie selber tragen kann«, sagte Elspeth.
»Starkes Mädchen«, sagte der Cop mit leisem Vorwurf in der Stimme.
»Trotzdem vielen Dank.«
Die anderen Männer gingen vorbei und steuerten zielstrebig auf das Motelbüro zu. Elspeth wandte sich ab, um jeden Blickkontakt mit Hide zu vermeiden. Der Polizist zögerte. »Sie reisen ab?«, fragte er.
»Ja.«
»Ganz allein?«
»Richtig.«
Er bückte sich, sah durchs Wagenfenster, musterte Vorder- und Rücksitze. Dann richtete er sich wieder auf, sagte »Gute Fahrt!«, und entfernte sich.
Elspeth stieg ein und ließ den Motor an.
Zwei weitere uniformierte Polizisten waren auf dem Parkplatz geblieben und kontrollierten die Kennzeichen. Bei einem von ihnen hielt Elspeth an. »Lassen Sie mich wegfahren, oder muss ich die ganze Nacht hier bleiben?«, fragte sie, um ein freundliches Lächeln bemüht.
Der Cop prüfte ihre Zulassungsnummer. »Sind Sie allein?«
»Ja.«
Durchs Fenster inspizierte er die Rücksitze. Elspeth hielt die Luft an. »Okay«, sagte er endlich. »Sie können fahren.«
Er setzte sich in einen der beiden Wagen, welche die Einfahrt blockierten, und fuhr ihn zur Seite.
Elspeth steuerte durch die entstehende Lücke, bog auf die Schnellstraße ein und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
Die Erleichterung machte sie unvermittelt ganz schwach. Ihre
Arme zitterten, und sie musste das Tempo drosseln. »Allmächtiger Gott«, keuchte sie. »Das war vielleicht knapp!«
24.00 Uhr
Vier Peitschenantennen, die aus dem Satellitenzylinder ragen, senden Funksignale an Empfangsstationen rund um den Globus. Explorer wird auf einer Frequenz von 108 MHz senden.
Anthony musste Alabama so schnell wie möglich hinter sich lassen. Die Musik spielte jetzt in Florida. In den nächsten vierundzwanzig Stunden würde sich in Cape Canaveral entscheiden, ob er zwanzig Jahre lang für die Katz gearbeitet hatte oder nicht, und da musste er vor Ort sein.
Der Flughafen von Huntsville war noch nicht geschlossen, und am Rande der Rollbahn strahlten Lichter. Das bedeutete, dass in der Nacht noch mindestens eine Maschine ankam oder abflog. Er stellte den Armee-Ford am Straßenrand vor dem Terminal hinter einer Limousine und zwei Taxis ab. Keine Menschenseele war zu sehen. Er machte sich nicht die Mühe, den Wagen abzuschließen, sondern eilte sofort in die Abflughalle.
Dort war alles still, aber nicht menschenleer. Ein Mädchen saß hinter einem Flugschalter und schrieb etwas in ein Buch, und zwei schwarze Frauen in Overalls wischten den Boden. Drei Männer standen wartend herum, einer in einer Chauffeursuniform, die beiden anderen in den zerknitterten Klamotten und den Schirmmützen der Taxifahrer. Pete saß auf einer Bank.
Anthony musste ihn jetzt loswerden, zu Petes eigenem Besten.
Zwei Zeuginnen hatten die Szene im Konstruktionsgebäude auf dem Stützpunkt miterlebt, Billie und Marigold. Eine der beiden würde bei nächster Gelegenheit Meldung machen. Die Armee würde sich bei der CIA beschweren, und George Cooperman hatte bereits unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er Anthony nicht länger decken konnte. Den Schein, er sei in legaler CIA-Mission unterwegs, konnte Anthony nicht mehr wahren. Das Spiel war aus, und so schickte er Pete besser nach Hause, bevor der auch noch mit hineingezogen wurde.
Eigentlich hätte Pete nach zwölfstündiger Warterei auf dem Flughafen zu Tode gelangweilt sein müssen, doch als Anthony eintraf, machte er einen aufgeregten und angespannten Eindruck. »Endlich!«, rief er und sprang auf.
»Fliegt hier noch irgendwas ab heute Nacht?«, fragte Anthony übergangslos.
»Nichts. Eine Landung ist noch fällig, von Washington her, aber vor Sieben in der Frühe geht nichts mehr ab.«
»Verflucht. Ich muss sofort nach Florida.«
»Um halb sechs geht ein MATS-Flug von Redstone zum Luftwaffenstützpunkt Patrick bei Cape Canaveral.«
»Das muss reichen.«
Petes Verlegenheit war fast mit Händen zu greifen. Er schien die Worte gewaltsam herauszupressen, als er sagte: »Sie können nicht nach Florida fliegen.«
Deshalb also diese Anspannung. »Und wieso nicht?«, erwiderte Anthony kühl.
»Ich hab mit Washington telefoniert. Carl Hobart war selbst am Apparat. Wir müssen zurück – und zwar ›ohne Widerrede‹, um ihn zu zitieren.«
Anthony hätte vor Wut an die Decke gehen können, gab sich aber bloß frustriert. »Diese Arschlöcher«, bemerkte er. »Man kann doch einen Einsatz im Außendienst nicht von der Zentrale aus führen!«
Aber Pete kaufte ihm das nicht mehr ab. »Mr. Hobart sagt, wir müssen einsehen, dass die Operation abgeblasen ist. Von jetzt an kümmert sich die Armee um die Angelegenheit.«
»Das können wir nicht zulassen. Die Armee hat von Sicherheitsfragen keine Ahnung.«
»Ich weiß, aber ich glaube, es bleibt uns keine andere Wahl, Sir.«
Anthony versuchte, ruhig durchzuatmen. Früher oder später musste es ja so weit kommen. Dass er ein Doppelagent war, glaubte man bei der CIA noch nicht, aber man wusste, dass er aus dem Ruder gelaufen war und wollte ihn stillschweigend aus dem Verkehr ziehen.
Allerdings hatte sich Anthony über die Jahre mit großer Sorgfalt eine loyale Truppe aufgebaut, und dieses Kapital konnte noch nicht ganz aufgezehrt sein. »Wir tun Folgendes«, sagte er zu Pete. »Sie fliegen zurück nach Washington. Sagen Sie denen dort, ich hätte den Befehl verweigert. Damit sind Sie aus dem Schneider – und die Verantwortung liegt allein bei mir.« Er hatte sich schon halb abgewandt, als sei Petes Zustimmung für ihn eine Selbstverständlichkeit.
»Okay«, sagte Pete. »Mit der Antwort habe ich gerechnet. Niemand kann von mir erwarten, dass ich Sie kidnappe.«
»So ist es«, sagte Anthony beiläufig und verbarg seine Erleichterung darüber, dass Pete es nicht auf einen Konflikt ankommen ließ.
»Aber da ist noch etwas Anderes«, fuhr Pete fort.
Anthony drehte sich wieder zu ihm um und ließ sich seine Empörung anmerken. »Was kommt jetzt noch?«
Pete errötete, und das Muttermal in seinem Gesicht verfärbte sich violett. »Man hat mich beauftragt, Ihre Waffe zu konfiszieren.«
Anthony spürte, dass sich die Schlinge um seinen Hals zuzog. Nein, seine Waffe würde er nicht abgeben, das kam überhaupt nicht infrage. Mit gezwungenem Lächeln sagte er: »Dann sagen Sie den Herrschaften, ich hätte das abgelehnt.« »Es tut mir leid, Sir. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr. Aber Mr. Hobarts Anweisungen waren sehr präzise. Wenn Sie mir die Waffe nicht freiwillig aushändigen, muss ich die hiesige Polizei informieren.«
In diesem Moment erkannte Anthony, dass er Pete töten musste.
Einen Augenblick lang drohte ihn der Kummer zu überwältigen. In welche Abgründe des Verrats war er geraten! Dass dies die logische Konsequenz jenes hehren Ziels sein sollte, dem er vor zwanzig Jahren sein Leben verschrieben hatte, war für ihn kaum fassbar. Doch dann überkam ihn tödliche Ruhe. Im Krieg hatte er gelernt, wie hart manche Entscheidungen sein konnten. Der Kriegsschauplatz war inzwischen ein anderer, doch die Prioritäten hatten sich nicht geändert. Nur noch der Sieg zählte, der Sieg um jeden Preis.
»Dann ist wohl alles vorbei«, sagte er mit einem Seufzer, der nicht gespielt war. »Ich halte die Entscheidung zwar nach wie vor für hirnverbrannt. Aber ich habe alles getan, was ich tun konnte.«
Pete versuchte gar nicht erst, seine Erleichterung zu verbergen. »Danke«, sagte er. »Ich bin froh, dass Sie‘s mit Fassung tragen.«
»Keine Angst, ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Ich weiß genau, dass Sie auf direkten Befehl von Hobart handeln.«
Pete setzte eine entschlossene Miene auf. »Sie werden mir jetzt also Ihre Handfeuerwaffe aushändigen?«
»Selbstverständlich.« Die Pistole steckte in Anthonys Manteltasche, doch er sagte: »Sie liegt im Kofferraum.« Er wollte, dass Pete ihn zum Auto begleitete, tat aber so, als sei genau das Gegenteil der Fall. »Warten Sie, ich hol sie.«
Wie erwartet, fürchtete Pete, Anthony wolle ihm entwischen. »Ich gehe mit«, sagte er hastig.
Anthony tat, als zögere er und gäbe dann nach. »Wie Sie wollen.« Er ging zur Tür, und Pete folgte ihm. Das Auto stand dreißig Meter weiter am Straßenrand. Kein Mensch war zu sehen.
Anthony öffnete den Kofferraum mit dem Daumen und hob den Deckel. »Bitte sehr«, sagte er.
Pete beugte sich vor und sah hinein.
Anthony zog die Waffe mit dem aufgesetzten Schalldämpfer aus der Innentasche seines Mantels. Der wahnwitzige Gedanke durchzuckte ihn, sich das Ding in den Mund zu stecken, abzudrücken und damit dem Albtraum ein für alle Mal ein Ende zu setzen.
Die kurze Verzögerung war ein folgenschwerer Fehler.
»Ich seh keine Pistole«, sagte Pete und drehte sich um.
Er reagierte sofort. Bevor Anthony den Revolver mit dem unhandlichen Schalldämpfer in Anschlag bringen konnte, trat Pete einen Schritt zur Seite und holte aus. Ein ungezielter Fausthieb traf Anthony an der Schläfe, dass er ins Taumeln geriet. Der Schlag mit der anderen Faust traf den Unterkiefer, worauf Anthony rückwärts stolperte und stürzte. Doch als er auf dem Boden lag, hob er die Waffe. Pete sah, was passieren würde. Todesangst verzerrte sein Gesicht, und er hob die Hände, als könnten sie ihn vor der Kugel schützen. Anthony drückte in rascher Folge dreimal hintereinander ab.
Alle drei Kugeln fanden ihr Ziel in Petes Brust, und aus drei Löchern in seinem grauen Mohair-Anzug schoss Blut. Mit einem dumpfen Schlag fiel Pete auf die Straße.
Anthony rappelte sich auf und steckte die Waffe ein. Er sah die Straße auf und ab. Niemand kam zum Flughafen, und niemand war aus dem Gebäude gekommen. Er beugte sich über Petes Leiche.
Pete sah ihn an. Er war nicht tot.
Anthony schluckte die aufsteigende Übelkeit hinunter, hob den blutenden Körper auf, kippte ihn in den offen stehenden Kofferraum und zog erneut die Waffe. Pete krümmte sich vor Schmerzen und starrte ihn aus entsetzten Augen an. Schüsse in die Brust mussten nicht unbedingt tödlich sein: Wenn Pete bald in ein Krankenhaus kam und behandelt wurde, konnte er vielleicht überleben. Anthony zielte auf Petes Kopf. Pete versuchte etwas zu sagen, doch aus seinem Mund kam nur Blut. Anthony drückte ab.
Petes Muskeln entspannten sich. Die Augen fielen zu.
Anthony schlug den Kofferraumdeckel zu und brach darüber zusammen. Zum zweiten Mal an diesem Tag war er niedergeschlagen worden. Sein Kopf dröhnte, und ihn schwindelte. Schlimmer aber als der körperliche Schaden war das Wissen um das, was er getan hatte.
Eine Stimme fragte: »Alles in Ordnung, Kumpel?«
Anthony richtete sich auf, stopfte die Waffe wieder in seinen Mantel und drehte sich um. Ein Taxi hatte hinter ihm angehalten, und der Fahrer kam mit besorgter Miene näher. Es war ein Schwarzer mit grau meliertem Haar.
Hat der Mann was gesehen? Anthony wusste nicht, ob er noch die Kraft aufbringen würde, einen Zeugen zu töten.
Der Taxifahrer sagte: »Ganz schön schwer, was Sie da in Ihren Kofferraum geladen haben.«
»Einen Teppich«, erwiderte Anthony schwer atmend.
Der Mann sah ihm mit der unverhohlenen Neugierde des Provinzlers ins Gesicht. »Hat Ihnen wer ein blaues Auge verpasst? Oder sogar zwei?«
»Ein kleiner Unfall.«
»Kommen Sie mit rein, trinken Sie ‚ne Tasse Kaffee oder so was.«
»Nein, danke. Ich brauche nichts.«
»Wie Sie wollen.« Der Taximann schlenderte langsam ins Flughafengebäude.
Anthony stieg in seinen Wagen und fuhr davon.
Die wichtigste Aufgabe der Sender besteht darin, Signale zu senden, die es den Bodenstationen ermöglichen, den Weg des Satelliten zu verfolgen – und damit zu beweisen, dass er sich auf der richtigen Umlaufbahn befindet.
Langsam fuhr der Zug im Bahnhof von Chattanooga an. In dem engen Schlafwagenabteil zog Luke sein Jackett aus und hängte es auf, dann setzte er sich auf die Kante des unteren Betts und band seine Schnürsenkel auf. Billie saß im Schneidersitz auf dem Bett und sah ihm zu. Die Lichter des Bahnhofs flackerten vorbei und blieben im Dunkel zurück. Der Zug nahm Fahrt auf, rollte in die südliche Nacht. Sein Ziel war Jacksonville, Florida.
Luke löste seine Krawatte. Billie sagte: »Wenn das ein Striptease sein soll, dann fehlt noch das gewisse Etwas.«
Luke grinste reumütig. Es war die Unentschlossenheit, die ihn so langsam machte. Sie waren gezwungen gewesen, ein gemeinsames Abteil zu nehmen; es hatte kein anderes mehr gegeben. Und er sehnte sich danach, Billie in die Arme zu schließen. Alles, was er in den vergangenen Tagen über sich selbst und sein Leben in Erfahrung gebracht hatte, sagte ihm, dass Billie die Frau seines Lebens war, die Frau, mit der er zusammenleben wollte und sollte. Trotz alledem zögerte er.
»Was denkst du?«, fragte sie.
»Dass mir das alles zu schnell geht.« »Siebzehn Jahre sind gar nichts?«
»Für mich sind es nur zwei Tage, denn an mehr kann ich mich nicht erinnern.«
»Mir kommt es vor wie eine Ewigkeit.«
»Ich bin noch mit Elspeth verheiratet.«
Billie nickte ernst. »Aber sie hat dich jahrelang belogen.«
»Also soll ich mir nichts, dir nichts, aus ihrem Bett in deins springen?«
Billie wirkte gekränkt. »Du sollst tun, was du willst.«
Er versuchte es ihr zu erklären. »Ich hab das Gefühl, ich suche eine bequeme Ausrede, und das gefällt mir nicht.« Und als sie darauf nicht antwortete, fügte er hinzu: »Du glaubst das nicht, oder?«
»Nein«, sagte sie. »Ich will heute Nacht mit dir schlafen. Ich kann mich nämlich noch verdammt gut daran erinnern, wie‘s war, und das will ich wiederhaben, am liebsten sofort.« Sie sah aus dem Fenster. Der Zug raste durch eine kleine Ortschaft – zehn Sekunden lang flogen Lichter vorbei, dann versanken sie wieder in der Dunkelheit. »Aber ich kenne dich«, fuhr sie fort. »Du hast noch nie nur für den Augenblick leben können, nicht einmal in unserer Studentenzeit. Du brauchst immer Zeit, um alles gründlich zu überdenken und dich langsam davon zu überzeugen, dass du auch ja das Richtige tust.«
»Ist das denn so schlecht?«
Sie lächelte. »Nein. Und ich bin froh, dass du so bist. Es macht dich so grundsolide und verlässlich. Wärest du anders, ich glaube, dann hätt ich dich nicht.« Ihre Stimme verlor sich.
»Was wolltest du sagen?«
Sie sah ihm in die Augen. »Dann hätte ich dich nicht so sehr geliebt, nicht so lange Zeit.« Sie überspielte ihre Verlegenheit mit einer Flapsigkeit: »Auf jeden Fall täte dir eine Dusche gut.«
Das war zweifellos richtig. Er trug noch immer dieselben Kleider, die er vor sechsunddreißig Stunden gestohlen hatte. »Jedes Mal, wenn ich daran dachte, mich umzuziehen, kam was Dringendes dazwischen«, sagte er. »Ich hab frische Sachen in meiner Tasche.«
»Egal. Vielleicht solltest du in dein Bettchen raufsteigen und mir Platz machen. Ich will mir die Schuhe ausziehen.«
Folgsam kletterte Luke die kurze Leiter hinauf, legte sich aufs obere Bett und drehte sich auf die Seite, den Ellbogen aufs Kissen, den Kopf in die Hand gestützt. »Wenn du dein Gedächtnis verlierst, dann ist das, als finge das Leben noch mal von vorne an«, sagte er. »Als würdest du neu geboren. Jede frühere Entscheidung kann revidiert werden.«
Billie streifte ihre Schuhe ab und stand auf. »Mir ginge das auf den Wecker«, sagte sie. Mit einer fließenden Bewegung schlüpfte sie aus ihren schwarzen Skihosen und stand plötzlich nur noch in Pullover und weißem Höschen da. Sie fing Lukes Blick auf, grinste und sagte: »Schon gut, du darfst zugucken.« Sie griff hinter sich unter den Pullover und öffnete den Verschluss ihres Büstenhalters. Dann zog sie den linken Arm aus dem Ärmel, fasste mit der Rechten unter den Pullover, um den Träger von der Schulter zu streifen, schob den linken Arm wieder durch den Ärmel und zog den BH mit der Bravur eines Zauberkünstlers aus dem rechten Ärmel.
»Bravo«, sagte Luke.
Sie betrachtete ihn nachdenklich. »Dann legen wir uns also jetzt schlafen?«
»Ich glaube schon.«
»Okay.« Sie stellte sich auf die Kante der unteren Koje, reckte sich zu ihm hinauf und hielt ihm das Gesicht zum Kuss entgegen. Luke beugte sich vor und berührte ihre Lippen mit den seinen. Sie schloss die Augen. Er spürte ihre Zungenspitze kurz über seine Lippen zucken, dann zog sich Billie zurück, und ihr Gesicht verschwand.
Er legte sich auf den Rücken und dachte daran, dass sie keinen Meter weit unter ihm lag, dachte an ihre schönen nackten Beine
und ihre runden Brüste unter dem weichen Angorapullover. Gleich darauf war er eingeschlafen.
Er hatte einen sehr erotischen Traum: Er war Zettel im ›Sommernachtstraum‹, hatte Eselsohren, und sein haariges Gesicht wurde von Titanias Feen – nackten Mädchen mit schlanken Beinen und runden Brüsten – über und über mit Küssen bedeckt. Titania persönlich, die Feenkönigin, knöpfte ihm die Hose auf – und die Räder des Zuges trommelten dazu einen hartnäckigen Rhythmus .
Langsam wachte er auf, nicht willens, das Land der Feen zu verlassen und in die Welt der Eisenbahnen und Raketen zurückzukehren. Sein Hemd stand offen und seine Hose war fort. Neben ihm lag Billie und küsste ihn. »Bist du endlich wach?«, murmelte sie in sein Ohr – ein ganz normales Ohr, kein Eselsohr. Billie kicherte. »Ich will das nicht an einen Kerl verschwenden, der dabei pennt.«
Luke berührte sie und ließ seine Hand ihre Flanke entlang nach unten gleiten. Den Pullover hatte sie noch an, doch das Höschen war fort. »Ich bin wach«, sagte er heiser.
Sie hob sich auf Hände und Knie, sodass sie über ihm war, wie schwebend in dem engen Raum unterhalb der Abteildecke. Sie suchte seinen Blick und senkte ihren Körper langsam auf ihn herab. Er stöhnte auf vor Lust, als er in sie hinein glitt. Der Zug schaukelte hin und her, und die Schienen sangen zu einem erotischen Takt.
Luke schob die Hand unter ihren Pullover, um ihre Brüste zu umfassen. Die Haut war weich und warm.
»Du hast ihnen gefehlt«, flüsterte Billie ihm ins Ohr.
Es kam Luke vor, als lebe er noch immer halb im Traum. Der Zug schaukelte, Billie küsste sein Gesicht, und hinter den Fenstern zog, Meile um Meile, Amerika vorbei. Er schlang seine Arme um ihren Rücken und hielt sie ganz fest, als müsse er sich davon überzeugen, dass sie aus Fleisch und Blut war und nicht aus Spinnfäden aus dem Märchenland. Gerade wollte er sich wünschen, es möge bis in alle Ewigkeit so weitergehen, da verlangte sein Körper sein Recht, und er klammerte sich an Billie fest, während Wogen reinen Entzückens über ihn hereinbrachen.
Als es vorbei war, sagte sie: »Lieg still. Halt mich fest.« Er rührte sich nicht. Sie vergrub ihr Gesicht an seinem Hals, heiß streifte ihr Atem seine Haut. Während er flach dalag, noch immer mit ihr vereint, schien Billie ein innerer Krampf zu befallen. Sie zuckte, wieder und immer wieder, bis sie schließlich tief aufseufzte und entspannte.
Sie lagen minutenlang still da, doch Luke war nicht müde und Billie offenbar auch nicht, denn sie sagte: »Ich hab eine Idee. Wir sollten uns waschen.«
Er lachte. »Ja, das ist überfällig. Jedenfalls bei mir.«
Billie rollte von ihm hinunter und stieg die Leiter hinab. Luke folgte ihr. In der Abteilecke war ein winziges Waschbecken angebracht. In dem Schränkchen darüber fand Billie ein kleines Handtuch und ein Stück Seife. Sie ließ das Becken mit heißem Wasser volllaufen. »Erst wasch ich dich, dann wäschst du mich«, sagte sie. Sie tränkte das Handtuch mit Wasser, rieb Seife hinein und begann.
Es war herrlich intim und erotisch. Luke schloss die Augen. Billie seifte seinen Bauch ein, dann kniete sie nieder, um seine Beine zu waschen. »Du hast was ausgelassen«, sagte er.
»Keine Sorge, das beste Stück heb ich mir bis zuletzt auf.«
Als sie fertig war, tat er das Gleiche mit ihr und fand das noch erregender. Dann legten sie sich wieder hin, diesmal auf das untere Bett.
»So«, sagte Billie, »kannst du dich noch daran erinnern, was oraler Sex ist?«
»Nein«, sagte Luke. »Aber ich glaube, ich kann‘s mir vorstellen.«