VIERTES KAPITEL

Donnerstag nachmittag kam Mrs. Briggs mit einer Ausgabe der wöchentlich erscheinenden Hinchley News in Micks Wohnung. Ihr Bild war auf Seite drei abgedruckt. Es zeigte sie gestikulierend vor ihrem Hauseingang. Der Artikel von Nigel Parsons berichtete über den bevorstehenden Abriß der Häuser in der Canal Street und der Verzweiflung der Bewohner, denen gekündigt worden war.

Micks Mutter sagte: »Es ist ein gutes Foto von Ihnen, Mrs. Briggs.« Mick schaute es sich an. Die Frau sah furchtbar darauf aus. Sie hatte den Mund weit aufgerissen, und die Haare standen ihr vom Kopf ab.

»Ich bin hier, weil ich Ihren Aufruf unterschreiben möchte«, sagte Mrs. Briggs.

Micks Mutter holte die Liste aus einer Schrankschublade und reichte Mrs. Briggs den Kugelschreiber. Mrs. Briggs schrieb ihren Flamen in die letzte Spalte. »Ich sehe, daß schon eine ganze Menge unterschrieben haben«, sagte sie.

»Was steht in dem Zeitungsartikel?« fragte Mrs. Williams.

»Sie haben nichts über den Lieferwagen geschrieben, der andauernd aufs Studiogelände fährt. Aber wie ich dem Reporter schon erzählte, habe ich eine genaue Liste über die Tage und Zeiten, wann der Wagen kam. Ich hab’ sie mitgebracht. Sie können Sie zu Ihrer Liste legen.«

Mick schaute von der Zeitung auf. »Ich weiß nicht, was das mit der Sache zu tun haben soll«, sagte er.

»Nana, Mickey«, sagte seine Mutter, »sei nicht so vorlaut.« Sie nahm die Liste mit den Unterschriften und Mrs. Brigg’s Notizen entgegen. »Vielen Dank, meine Liebe«, sagte sie.

Mick steckte die Nase wieder in die Zeitung. Während seine Mutter und Mrs. Briggs noch ein wenig klatschten, las er einen Bericht über die Maskenbande. Sie hatte am vergangenen Sonnabend ein Postamt überfallen und über tausend Pfund erbeutet. Sie waren wieder nach der üblichen Methode vorgegangen: Drei oder vier Männer hatten das Postamt als Kunden betreten, hatten gewartet, bis sich eine Möglichkeit ergab, hinter die Schalter zu springen, und die Kassen ausgeraubt.

Sie waren wie immer ausgesprochen schlau vorgegangen. Nicht einen Fingerabdruck hatten sie hinterlassen, für den Transport hatten so ein gestohlenes Auto verwendet, und auch sonst fand die Polizei nicht eine verwertbare Spur. Neben dem Bericht war ein Foto abgebildet von einem ziemlich ratlos dreinschauenden Polizeiinspektor Peters.

Mick lachte.

Dann dachte er daran, daß Polizeiarbeit gar nicht so einfach war. Er selbst hatte bei Mr. Wheeler auch nichts erreicht. Die Spuren, die er in seinem Haus gefunden hatte, waren unbedeutend. Das Stück Papier, das er vom Garagenboden aufgehoben hatte, war eine ganz gewöhnliche Bankquittung gewesen, wie man sie ausfüllte, wenn man eine Summe auf sein Konto einzahlte. Allerdings hing der Durchschlag noch daran, und ein Stempel der Bank befand sich auch nicht darauf. Das hatte Izzie ihm erklärt. Der kleine Pinsel war nur ein Pinsel gewesen. Mick hatte es danach aufgegeben, weiterhin Detektiv zu spielen, jedenfalls für so lange, bis er sich einen neuen Plan ausgedacht hatte.

Mrs. Briggs sagte gerade: »Ich muß jetzt gehen.«

»Gib Mrs. Briggs die Zeitung zurück, Mick«, sagte Mom.

Mick stand auf und fragte; »Kann ich diese Seite behalten, Mrs. Briggs? Ich möchte den Artikel mit der Maskenbande ausschneiden.«

»Meinetwegen«, erwiderte Mrs. Briggs. Mick riß die Seite heraus und reichte die restliche Zeitung Mrs. Briggs. Der Bericht über die Maskenbande enthielt eine Aufstellung über alle Überfälle der letzten Wochen, die man ihr zuschrieb. Mick hatte sich entschlossen, alles zu sammeln, was in den Zeitungen über die Maskenbande geschrieben wurde. Wenn man sie später schnappte, konnte er ihre Fotos hinzufügen.

Izzie tauchte auf, als Mrs. Briggs sich verabschiedete. Von der Küche her rief Micks Mom: »Willst du noch weg, Mick? Izzie ist hier.«

Mick ließ die Zeitungsseite auf dem Boden liegen und ging mit Izzie hinab auf die Straße. Es war ein milder Sommerabend, und es würde noch einige Stunden hell sein. Als die beiden die Straße hinabgingen, sagte Mick: »Was willst du später mal werden, wenn du die Schule hinter dir hast?«

»Filmregisseur, nehme ich an«, antwortete Izzie. »Und du?« »Ich werde ein Räuber«, sagte Mick.

Izzie lachte. »Du bist verrückt!«

»Was ist daran verrückt? Ich werde es so machen wie die Maskenbande - zu gerissen für die Polizei.«

»Mein Vater sagt immer, daß es leichtere Methoden gibt, zu Geld zu kommen, als es zu stehlen«, meinte Izzie.

Sie hatten die Kanalbrücke erreicht. »Laß uns noch mal reingehen«, sagte Izzie.

Mick hatte keine bessere Idee, und so stimmte er zu.

Sie kletterten wieder den Zaun hinab auf die Uferbank und gingen zum Kanalrohr. Izzie fragte: »Hast du dein Fahrrad wirklich gestohlen?«

»Ja«, sagte Mick. »Es stand auf einem Hinterhof und war total verrostet. Ich hab’ es angemalt, mir neue Räder vom Schrottplatz besorgt und einen neuen Lenker gekauft.«

»Das ist nicht wirklich gestohlen, oder?«

»Keine Ahnung.«

Diesmal war keine Planke da, über die sie mit trockenen Schuhen zum Abflußrohr gelangen konnten. Sie fanden zwei Autoreifen und eine zerschlissene gepolsterte Sitzfläche von einem Lehnstuhl zwischen dem Abfall im Kanalbett und warfen die Sachen so in den Schlamm, daß sie das Abflußrohr mit ein paar Sprüngen erreichen konnten.

Das Rohr schien diesmal kürzer zu sein. Mick war überrascht, als Izzie schon nach kurzer Zeit anhielt und mit der kleinen Taschenlampe in den Schacht leuchtete. Sie wandten die gleiche Methode wie beim erstenmal an und standen eine Minute später wieder im Lagerraum.

»Wir sollten uns diesmal die anderen Studios ansehen«, sagte Izzie. Er ging durch den Korridor voraus und öffnete die Tür zum Studio C, aus dem der Mann gekommen war, der sie beinahe in Studio B überrascht hatte. »Halt deine Ohren offen, ob du den Motor des Lieferwagens hörst«, sagte Izzie.

Als er das Licht angeknipst hatte, sah Mick, daß dieses Studio für einen Marinefilm eingerichtet war.

In einer Ecke sah er die Nachbildung einer Kommandobrücke eines Schlachtschiffes mit Meßgeräten, Uhren, Sprachrohren und allen möglichen sonstigen Apparaturen. Mick entdeckte einen Feldstecher und setzte ihn an die Augen. Der Feldstecher hatte keine Gläser.

An die Wand waren einige Szenerien gemalt. Eine zeigte ein Stück bewegtes Meer, eine andere die Pappwand einer Kajüte und eine dritte aufgemalte Schießscharten.

»Sieh dir das an!« sagte Izzie. »Eine Filmkamera!«

Mick ging zu ihm hinüber.

»Ob sie noch funktioniert?« fragte er.

Izzie hantierte eine Weile daran herum. »Es ist ein altes Modell«, sagte er schließlich. »Wahrscheinlich haben sie sie deshalb hier zum Verrosten zurückgelassen.«

Mick ließ Izzie mit der Kamera allein und ging zu einer Leiter hinüber, die fast bis zum Dach des Studios hinaufreichte.

»Was meinst du? Wofür kann die sein?« fragte er Izzie.

»Um dort oben die Scheinwerfer einzurichten«, antwortete Izzie.

Mick begann, die Leiter hinaufzusteigen. Es ging ziemlich hoch hinauf. Kurz vor ihrem Ende erreichte er eine Art Plattform. Von dort aus konnte Mick das ganze Studio C überblicken. Von hier oben sah es wie ein Gemälde aus. Izzie wirkte dort unten wie ein Zwerg. Mick konnte im Lichtschein, der von der Decke reflektiert wurde, auch in die anderen Studios hineinsehen, die an das Studio C grenzten.

»Das sieht toll aus!« rief er. »Komm rauf!«

Izzie ließ die Kamera stehen und stieg ebenfalls die Leiter hinauf. Er legte sich neben Mick auf die Plattform und blickte hinab.

Beide sahen, wie die Tür des Studios langsam aufschwang.


Ein Mann trat ein. Alles, was die beiden aus ihrer Position von ihm sehen konnten, war ein kahler Fleck auf seinem Kopf. Sie hielten den Atem an.

Der Mann sagte: »Wer von euch Blödmännern hat das Licht hier brennen lassen?«

Zwei weitere Männer traten durch die Tür.

Einer von ihnen trug einen kleinen Koffer. Er stellte ihn ab und sagte: »Muß ich wohl gewesen sein.«

Der Mann mit der Halbglatze schien sich damit zufriedenzugeben. Er stieß einen grunzenden Laut aus und streifte seinen Mantel ab. Mick und Izzie begannen wieder zu atmen.

Die drei Männer zogen ihre Sachen aus, dann wuschen sie ihre Gesichter in einem Waschbecken, das sich gleich neben der Leiter an der Wand befand. Danach zogen sie sich wieder an und öffneten den kleinen Koffer. Er war bis obenhin voll mit Geldscheinen.

Izzie flüsterte Mick zu: »Das müssen Schauspieler sein. Sie werden Außenaufnahmen gedreht haben und sind jetzt hierher zurückgekehrt, um sich umzuziehen.«

Der Mann mit der Halbglatze sagte:

»Dazu haben wir jetzt keine Zeit. Wir werden es später zählen. Das sind alles verschiedene Scheine und Münzen.« Er klappte den Koffer wieder zu.

Die Männer verließen das Studio.

Mick und Izzie blieben, wo sie waren, und lauschten. Plötzlich wurde die Tür wieder geöffnet. Der Mann mit der Halbglatze war zurückgekehrt und knipste das Licht aus.

Diesmal warteten die Jungen, bis sie hörten, wie ein Auto angelassen wurde und davonfuhr. Erst dann schaltete Izzie seine kleine Taschenlampe an und kletterte vorsichtig die Leiter hinab.

Mick sagte: »Das wird allmählich gefährlich. Sie hätten bloß mal hochzusehen brauchen, um uns zu entdecken.«

Im Schein der Taschenlampe kehrten sie in den Lagerraum zurück und krochen dann hintereinander durch das Kanalrohr. Ihr Pfad aus Sperrmüll war noch begehbar, noch nicht im Schlamm versunken, und sie erreichten die Uferbank mit trockenen Füßen.

Als sie zur Brücke gingen, sagte Izzie:

»Ich verstehe das alles nicht.«

»Was?«

»Was sie dort zu suchen hatten. Ich meine, wenn sie einen Film gedreht haben, wo waren dann der Regisseur, die Kameraleute, die Garderobiere, die Maskenbildner und all die anderen? Außerdem ist das Filmstudio angeblich geschlossen.«

»Vielleicht haben sie die Erlaubnis, es zu benutzen«, vermutete Mick.

»Das muß es sein«, räumte Izzie nachdenklich ein.

Es wurde nun dunkel. Izzie kettete sein Rad los und fuhr nach Hause.

Mick ging hinauf in die Wohnung.

Seine Mutter saß vor dem Fernseher. »Es wird Zeit, daß du lernst, deine Sachen selbst wegzuräumen«, sagte sie. »Heb das Stück Zeitung dort auf.«

Mick bückte sich nach der herausgerissenen Seite der Hinchley News, die noch immer dort lag, wo er sie zurückgelassen hatte. Er ging hinüber zum Schrank und legte sie in die Schublade, auf Mrs. Briggs blöde Zeittabelle.

»Dieser Unsinn mit dem Lieferwagen, um den Mrs. Briggs soviel Wind macht, hat wirklich nichts mit unserer Eingabe zu tun, oder?« fragte er seine Mom.

»Mein, aber du solltest trotzdem nicht so abfällig darüber reden.«

»Warum nicht, wenn es wahr ist?«

»Weil es unhöflich ist. Man kann die Gefühle von Menschen verletzen, wenn man die Wahrheit zu laut sagt, weißt du?«

»Oh«, machte Mick. Seine Mutter hatte also nur so getan, als ob sie mit Mrs. Briggs einer Meinung wäre.

Er holte die Zeittabelle aus der Schublade, schaute sie sich eine Weile an und legte sie zurück.

Er schloß die Schublade und wandte sich ab.

Dann stutzte er. Irgendwas an der komischen Zeittabelle hatte bei ihm etwas ausgelöst.

Er zog die Schublade wieder auf und sah sich die Liste noch einmal an. Es gab zwei Spalten. In die eine waren die Tage, in die andere die Zeiten eingetragen. Irgend etwas an den Daten kam ihm bekannt vor. Dann wußte er, was es war. Er holte die Zeitungsseite hervor und sah sie sich an.

»Verdammt!« entfuhr es ihm.

»Du sollst nicht fluchen«, sagte seine Mom. Aber er hörte sie gar nicht. Er hielt die Zeitung und Mrs. Briggs Liste nebeneinander.

»Die Zahlen sind dieselben«, flüsterte er.

»Wovon redest du?« fragte seine Mom.

»Nichts«, erwiderte er hastig.

»Wenn du über ›nichts‹ reden willst, dann tu es bitte in der Küche und stör mich nicht beim Fernsehen.«

Mick trug die Zeitung und die Liste in die Küche, setzte sich an den Tisch und studierte die Zahlen genauer.

Er hatte recht gehabt. An jedem Tag, an dem die Maskenbande einen Überfall gemacht hatte, war Mrs. Briggs der Lieferwagen auf dem Studiogelände aufgefallen.

Nun wußte er, was die Männer im Filmstudio zu suchen hatten!

Das Kellerman’s Filmstudio war das Versteck der Maskenbande!

»Quatsch«, sagte Izzie leise.

»Ich kann es beweisen!« erwiderte Mick.

Sie standen am folgenden Tag nebeneinander in der Aula der Schule. Sie hatten das Lied Wir pflügen die Felder und säen in ihrem Liederbuch aufgeschlagen, waren aber mit den Gedanken ganz woanders.

»Paß auf«, sagte Mick, »die Daten der Überfälle der Maskenbande sind genau gleich mit den Tagen und Zeiten, die Mrs. Briggs notiert hat.«

»Das beweist noch gar nichts«, sagte Izzie ein wenig lauter.

Die Adleraugen von Mr. Solomon richteten sich auf die beiden.

»Alle guten Dinge um uns herum sind uns vom Himmel gesandt«, sagte Mick so laut er konnte. Mr. Solomons Blick wandte sich von ihnen ab.

Mick fuhr fort: »Die Bande schminkt sich im Studio, macht den Überfall und kehrt mit der Beute in ihr Versteck zurück«, sagte er. »Die Polizei vermutet doch, daß die Bande echte Schminke benutzt und all das Zeug, oder?«

Jetzt schaute Izzie nicht mehr so spöttisch. Sie beugten den Kopf zum abschließenden Gebet und beeilten sich danach, die Aula zu verlassen.

Izzie sagte: »Ich denke, wir sollten zur Polizei gehen.«

»Du bist nicht ganz dicht!«

»Warum?«

»Nimm an, es stimmt alles nicht. Wir werden verdammten Ärger kriegen, weil wir ins Studio eingestiegen sind.«

Izzie dachte eine Minute lang nach. »Wir müssen Beweise finden«, sagte er.

»Und wie?«

»Weiß ich nicht. Aber es muß einen Weg geben.«

In ihrer Klasse setzten sie sich in ihre Bank und holten ihre Bücher heraus.