Polizeichef Albert Mouray versteht etwas von Razzien. Der große Fang wird am Dienstag, den 26. Oktober 1976, eingeholt. Von fünfhundert Polizisten und Gendarmen zur gleichen Zeit in acht Städten. Um sechs Uhr dreißig morgens sollen vierzig Verdächtige verhaftet werden. Genaue Anweisungen sind rechtzeitig in Marseille, Antibes, Mougins, Toulon, Nimes, Paris, Ajaccio auf Korsika und natürlich auch in Nizza ergangen. Die Beamten haben die Adresse, den Namen und die genaue Beschreibung jedes Verdächtigen. In den meisten Fällen werden diese ohnehin seit einiger Zeit beschattet. Jede Verhaftung ist durch einen Haftbefehl gedeckt.

Die Aktion war aufgezogen wie ein Weltraumstart auf Cap Kennedy, meint jemand. Zur Mittagszeit liegen die Ergebnisse auf dem Schreibtisch von Albert Mouray. Er fragt sich, was er falsch gemacht hat.

Fünf der vierzig sind durchs Netz geschlüpft. Sie sind nicht dort, wo sie um halb sieben morgens eigentlich sein sollten. Unter den Fünfen ist leider auch der dickste Fisch: Dominique Poggi.

Poggi ist am 16. Februar 1926 in Farinole auf Korsika geboren. Er ist lange Jahre die rechte Hand des berühmt-berüchtigten Barthélémy Guerini - genannt >Mémé< - gewesen. Dem Korsen, der jahrzehntelang die französische Unterwelt kontrollierte. Nur einmal muß er sitzen: 1950 in Straßburg wegen Zuhälterei.

Als Guerinis Reich ins Wanken gerät, geht Poggi nach Antibes und eröffnet dort mit seinem Bruder den >Club 62<. Sein Umgang bleibt höchst fragwürdig: 1972 wird der Berufskiller Gavin Coppolani in seiner Diskothek verhaftet.

Coppolani ist einer der gefährlichsten seiner Sorte. Er flieht drei Jahre später aus dem Gefängnis und versucht, denjenigen umzulegen, der ihn verpfiffen hat: Bei der Schießerei wird er verwundet, doch der, der ihn verwundet hat, wird 1976 auf den Stufen von Poggis Nachtklub erschossen liegengelassen.

Der wohlgenährte, gutgekleidete Poggi hat sowohl die Kontakte als auch die Erfahrung zum organisierten Verbrechen. Er könnte ein Unternehmen wie den Bankraub des Jahrhunderts leiten. Er ist der Hauptverdächtige, derjenige, der der Kopf der Gang sein könnte. Aber er ist nicht zu Hause, als ihn die Polizei festnehmen will. Doch es soll noch schlimmer kommen. Siebenundzwanzig der fünfunddreißig Verhafteten müssen am Abend wieder freigelassen werden.

Es war von Anfang an klar, daß einige der Verdächtigen wieder freigelassen werden müssen. Aber siebenundzwanzig von fünfunddreißig - das ist ein Schlag ins Wasser. Typisch ist der Fall des Vertreters für Musikinstrumente aus Beziers. Als die Gendarmen von Plan-du-Var zum erstenmal die Villa in Castagniers aufsuchen, notieren sie die Nummer des metallicgrauen Peugeot 504, der in der Garage steht. Er ist wieder verschwunden, als sie die vier wartenden Männer am Abend auf den Stufen des Hauses treffen. Die Gendarmen überprüfen die Autonummer und stoßen auf den Inhaber des Wagens. Der Mann wird am 26. Oktober um sechs Uhr dreißig in Capestang in Südfrankreich verhaftet. Er hat tatsächlich einen Peugeot 504. Doch der ist nicht grau, sondern weiß. Und er kann nachweisen, daß er am 9. Juli 1976 viele Kilometer entfernt von Castagniers gewesen ist. Der Peugeot in der Villa hatte falsche Nummernschilder, und der erschrockene Vertreter für Musikinstrumente ist das unschuldige Opfer einer Verwechslung.

Und die acht Inhaftierten sind letztlich auch kein großer Fang.

Emile Buisson kann ein Alibi für das Wochenende nachweisen, an dem der Bankraub gestiegen ist. Aber vor lauter Aufregung gesteht er den Beamten, daß er seinen Chef um zehntausend Francs betrogen hat. Ein anderer ist Homer Filippi, der Sohn des Boxpromoters Philippe Filippi, dem ehemaligen Manager von Boxweltmeister Marcel Cerdan. Homer ist ein kleiner Rauschgifthändler und hat Kontakt zu einem der vier Männer in der Villa von Castagniers. Aber man kann ihm nichts in Sachen Bankraub nachweisen. Er wird angeklagt, weil er eine Pistole, aber keinen Waffenschein hat.

Huguette Cruchendeau ist eine Marseiller Prostituierte, die sich nur mit Geschäftsfreunden der vier Männer aus der Castagniers-Villa eingelassen hat. Dieser Umstand reicht der Polizei bereits aus, um sie festzuhalten. Henri Michelucci hat sich den Renault 17 geliehen, der in der Villa von Castagniers gesehen wurde. Aber er behauptet, daß sein Bruder Daniel das Auto im Juli gefahren hat, und Daniel ist einer der Fünf, die durch das Netz geschlüpft sind.

Alfred - >Fred<, der Juwelier - Aimar und Adrien Zeppi, der Trottel, der das gestohlene Gold aus der »Societe Generale« verkauft hat, können festgenagelt werden. Sie werden wegen Hehlerei angeklagt.

Albert Mouray zieht die traurige Bilanz, daß er nur zwei der Kanalratten in seinem Riesennetz gefangen hat: Francis Pellegrin und Alain Bournat. Insgesamt also ein verdammt schlechter Tag. Die Kripobeamten nehmen in dieser Nacht Pellegrin und Bournat ins Kreuzverhör. Beide sind nicht übermäßig clever, was schon angedeutet wurde. Und das ist der Vorteil der Polizei. Die sitzt den beiden selbstsicher und in Hemdsärmeln in der Avenue Foch gegenüber und behauptet nach der uralten Verhörtaktik: »Wir wissen bereits alles. Warum wollt ihr kein Geständnis machen, um eine Strafmilderung zu bekommen?«

Dann warten sie eine Weile und sagen beiläufig: »All eure Freunde haben bereits ein Geständnis abgelegt und euch stark belastet. Warum wollt ihr jetzt die Dummen sein?« Unglaublich - aber wahr: Die beiden Männer fallen um. Wir haben bereits am Anfang dieses Buches erklärt, daß die kleinen Ganoven dafür verantwortlich sind, wenn der große Albert Spaggiari überhaupt Schwierigkeiten bekommt. Genau das passiert.

Pellegrin und Bournat legen beide ein volles Geständnis ab und nennen den Kopf des ganzen Unternehmens: Albert Spaggiari.

Der Name ist Hauptkommissar Claude Besson, Mourays Stellvertreter, wohlbekannt.

 

Am 31. Juli 1974 um zehn vor elf hat ein gutgekleideter Mann in der >Banque de Paris et des Pays-Bas< in Nizza ein Schließfach gemietet. Ein Schalterbeamter begleitet ihn in den Tresorraum, wo bereits ein anderer Kunde mit einer Waffe wartet. Sie fesseln den Beamten, der in diesem Augenblick der einzige Zeuge der Tat ist, und brechen eines der Schließfächer auf.

Sie wissen genau, welches sie sich ausgesucht haben: Es trägt die Nummer 199. Es enthält die gesamten Goldreserven dieser Zweigstelle.

Die beiden Männer verstauen die fünfundsiebzig Kilogramm Gold, die damals mehr als eine Million Francs wert sind, in zwei Stahlkoffern und verschwinden.

Während der Untersuchung dieses Überfalls stößt Claude Besson auch auf Albert Spaggiari, aber er kann ihm nichts nachweisen.

So scheint es diesmal Besson völlig plausibel, daß Spaggiari der Kopf der >Kanalratten< ist. Er greift zum Telefonhörer. Es ist Mittwoch, der 27. Oktober 1976 um elf Uhr früh. Eine blonde Frau, so um die Vierzig, betritt das Fotogeschäft »La Vallière< auf der Route de Marseille Nummer 56 in Nizza. Sie fragt nach Monsieur Spaggiari. Der Geschäftsführer, André Devésa, antwortet: »Er ist nicht da. Kann ich Ihnen helfen?«

»Das ist doch sein Laden, oder?«

»Er ist der Besitzer, aber er hat ihn seit sechs Monaten an mich untervermietet.«

»Er wohnt doch aber noch in der Wohnung über dem Laden?«

»Nein, er ist umgezogen.«

»Wissen Sie, wo ich ihn erreichen kann?«

»Im Moment? Nein, aber er kommt regelmäßig hier vorbei. Ich erwarte ihn heute nachmittag. Wollen Sie ihm eine Nachricht hinterlassen?«

»Nein, es ist persönlich. Ist seine Frau noch immer Krankenschwester?«

»Ja, aber auch sie ist nicht da.«

»Vielen Dank für ihre Bemühungen.«

»Nichts zu danken.« Devésa ahnt nicht, wer diese Frau ist. Er sieht sie nicht in den blauen Renault einsteigen, der gegenüber dem Fotoladen steht, und in dem drei Polizisten sitzen.

Albert und Audi betreten das Geschäft kurz vor zwölf Uhr. Devésa erzählt von der Besucherin, und Albert meint: »Keine Ahnung, wer das gewesen sein kann.« Er greift zum Geschäftstelefon und bestellt Hühnerfutter für seine Farm. Dann geht er mit seiner Frau gegenüber in das Lokal >Roi du Yan<, das berühmt ist für seine »Spaghetti à la Maison<. Beim Café setzt sich Jean Yves Goutron zu ihnen, einer der Kriegskameraden von Albert in Vietnam. Er hat als Erinnerung an den Indochinakrieg ein zerschoßenes Bein zurückbehalten und hinkt deswegen. Spaggiari erzählt ihm von seinem Trip nach Südostasien. Als Albert gerade von dem bunten Markttreiben in Hongkong schwärmt, unterbricht ihn der Ober: »Monsieur Spaggiari, draußen wartet eine Dame auf sie.« Albert zieht die Augenbrauen hoch und legt die Zigarre in den Aschenbecher: »Vielleicht ist das die geheimnisvolle Frau von heute morgen. Entschuldigt mich einen Augenblick.«

Er geht hinaus und auf die Frau zu. Da nehmen ihn plötzlich zwei Kripobeamte in die Mitte und führen ihn zu ihrem Wagen. Alles geschieht blitzschnell. Einer seiner Freunde sieht es und schreit: »Audi, jemand hat Bert entführt!«

Eine völlig erschrockene Audi ruft die Polizei an und berichtet über die Entführung. Da jedoch muß sie erfahren, daß ihr Mann nicht entführt, sondern verhaftet worden ist. Und die Polizei sei ihr außerdem sehr dankbar, wenn sie auch auf dem Kommissariat erscheine, um einige Fragen zu beantworten.

 

Das Verhör von Albert Spaggiari beginnt am 27. Oktober um halb drei.

Dies ist der erstaunlichste Teil der Geschichte vom Jahrhundertbankraub, und er bildet das verblüffendste Rätsel, das diesen Fall umgibt.

Eine Razzia, an der fünfhundert Polizisten beteiligt sind, bei der in acht Städten fünfunddreißig Verhaftungen durchgeführt werden, kann nicht geheim bleiben. Am Dienstagabend gibt es in allen Bars und Restaurants von Nizza nur ein Thema: diese Polizeiaktion. Am Mittwochmorgen fährt >Nice Matin< die Story groß auf der Titelseite. Die Öffentlichkeit weiß nicht, daß die Aktion nicht erfolgreich war. Was Nizza betrifft, so hat die Polizei angeblich die >Kanalratten< gefaßt.

Spaggiari muß also von der Razzia gewußt haben. Die Freunde, Verwandten, Frauen und Freundinnen der Verhafteten sind spätestens um sieben Uhr morgens informiert. Aber einen Albert Spaggiari rührt das nicht - er tut, als ob ihn das alles nichts anginge.

Er hätte das Land verlassen können, er hätte fliehen können. Wenn ihm das zu schnell gegangen wäre, hätte er bei einem Freund oder in einem Hotel oder in der Unterwelt Unterschlupf finden können.

Statt dessen fährt er nach Nizza, geht in seinen Laden und führt seine Frau in das Restaurant, wo er Stammgast ist. Leichter kann er es der Polizei nicht machen. Genausogut kann er sich persönlich auf dem Kommissariat in der Avenue Foch Nummer 1 melden.

Es ist möglich, daß er nicht genau weiß, wer alles verhaftet worden ist. Vielleicht weiß er aber auch, daß die beiden Hohlköpfe Pellegrin und Bournat festgenommen sind. Dann muß er in jedem Fall mit dem Schlimmsten rechnen. Aber er denkt nicht einmal daran, sich ein Alibi zu verschaffen. Es sieht ganz so aus, als ob er verhaftet werden will. Es kann aber auch sein, daß er sich aus irgendwelchen Gründen für unverwundbar, für unangreifbar hält. Er wird im Nonstop-Verfahren siebenunddreißig Stunden lang verhört. Und alles, was er sagt, ist: »Nein!«

 

Die Kripoleute wechseln sich beim Verhör ab. Sie machen Pausen, trinken Kaffee, essen Sandwiches und schlafen zwischendurch. Albert muß die ganze Zeit wachbleiben. Ruhig, beinahe phlegmatisch beantwortet er ihre Fragen. Er überhört ihre häufigen Zusagen einer geringeren Bestrafung, wenn er geständig ist. Er lächelt über ihre Drohungen.

»Er ist kalt wie ein Eisblock«, schimpft Claude Besson. Der sonst kaum zu beeindruckende Mann beginnt, sich über Spaggiari Gedanken zu machen.

Sie zeigen ihm das Dossier von der CIA mit seinem Geständnis. »Die habe ich angelogen«, sagt er ruhig. Zwanzig Polizisten durchsuchten in Anwesenheit von Audi die Farm in Bézaudun. Sie finden nichts in dem Landhaus. Nichts, außer einer Schachtel Don Miguel-Zigarren und einer Kiste Wein der Marke Margnat-Village.

Draußen finden sie unter dem Hühnerstall ein Waffenversteck: Gewehre, Munition für mehrere tausend Schuß und eine Menge Dynamit. Sie untersuchen Quadratzentimeter für Quadratzentimeter mit einem Metalldetektor. Aber alles, was sie finden, ist ganz gewöhnliches Eisen - kein Gold.

Es ist nicht das, was sie suchen. Aber es reicht, um Albert wegen illegalen Waffenbesitzes anzuklagen. Dann, am Freitagmorgen gegen vier Uhr, hat einer der Beamten die brillante Idee, Audi mitanzuklagen.

Da bricht Albert sein Schweigen.

Er macht mit den Beamten einen Deal, damit Audi aus der Sache rausgehalten wird: Laßt sie in Frieden, und ich werde alles sagen.

Nicht in dem Geschäft enthalten sind: Die Namen der Komplizen und die Rückgabe der Beute. Dennoch freuen sich Albert Mouray und Claude Besson über ihren Erfolg. Die Katastrophe vom Dienstag verwandelt sich am Freitag in einen Sieg.

Sie haben den >Kopf<, das >Gehirn<, gefaßt.

Spaggiari wird dem Untersuchungsrichter, Richard Bouazis, am Samstag, den 30. Oktober, vorgeführt. Eine große Menschenmenge hat sich vor dem Justizpalast von Nizza versammelt: Reporter, Fotografen, Filmleute, Fernsehteams und viele, viele Neugierige.

Spaggiari liebt das. Er kostet den Rummel voll aus. Er ist elegant gekleidet, schaut selbstsicher und keineswegs niedergeschlagen um sich. Er lächelt und winkt und sagt zu den Reportern: »Nein, ich bedauere nichts - ich würde es wieder machen«, sagt er ins Mikrophon. Das gefällt den Leuten.

Ein Freund zupft ihn am Ärmel und flüstert ihm zu: »Mach dir keine Sorgen um Audi. Wir kümmern uns um sie.«

Im Gerichtsgebäude redet Spaggiari ununterbrochen. Er unterstreicht vor allem die Genialität seines Plans, er erzählt von der harten Arbeit unter der Erde, und er stapelt die Beute zu astronomischen Summen hoch: »Es waren weit mehr als hundertfünfzig Millionen Francs.« Doch die Polizei erfährt nichts, was ihr weiterhilft.

»Ich habe das Ding nicht für mich gedreht«, sagt er, »ich habe nur eine militärische Operation durchgeführt. Ich bin stolz darauf, ein Mitglied der >Catenay< zu sein.« Die >Catenay< ist eine Untergruppe der OAS, die sich darauf spezialisiert hat, ihren Leuten bei der Flucht vor der Polizei zu helfen. Allerdings ist man allgemein der Auffassung, daß die >Catenay< nach 1960 aufgelöst worden ist. »Ich habe keinen Centimes von der Beute behalten. Das Geld ist für die Unterdrückten in Jugoslawien, Portugal und Italien bestimmt gewesen. Aber ihr könnt euch ja nicht vorstellen, was wir alles im Tresor gefunden haben. Der Wert der Juwelen allein war weitaus größer als der des Goldes und des Bargelds.

Wir waren fortwährend im Kontakt mit der Außenwelt. Wir hatten zwei Wachtposten: Einer beobachtete die Polizei - wir wußten genau, wann ihr Patrouille hattet - der andere beobachtete den Wasserstand in den Kanälen.« Die Polizei hat sich gewundert, warum die Bande nur so wenig Schließfächer aufgebrochen hat. Sie vermuten, daß das Gewitter am Sonntagnachmittag, dem 18. Juli, den Wasserspiegel ansteigen ließ. Daß die >Kanalratten< Angst hatten, überflutet zu werden. Deshalb hätten sie frühzeitig die Bank verlassen. Spaggiari widerspricht ihnen: »Wir wußten genau, wie hoch das Wasser stand, und wir wußten, daß wir nicht in Gefahr waren. Der Grund, warum wir nicht mehr Boxen aufgebrochen haben, lag an der dicken Tresormauer aus Stahlbeton. Wir haben länger dafür gebraucht als vorgesehen.«

Als die >Kanalratten< den Tresorraum verlassen hätten, so berichtet Spaggiari, seien sie alle sehr höflich gewesen: »Merci beaucoup, Monsieur le Directeur, merci, merci«, hätten sie im Chor gesungen.

Und noch etwas liegt ihm sehr am Herzen: »Sie können sich nicht vorstellen, was für eine harte Arbeit das war, den Tunnel zu graben. Wir arbeiteten Tag und Nacht - bis die Straßenkehrer kamen.«

Es ist den Beamten bald klar, daß Spaggiari solche Art von Geschichten endlos weitererzählen kann. Und er tut das auch. Den ganzen Herbst und Winter 1976/1977 über langweilt er damit den Untersuchungsrichter Bouazis. Einmal in der Woche, immer am Donnerstagnachmittag, kommt Spaggiari zum Verhör.

Immer und immer wieder macht ihm der Beamte klar, daß die Verhöre dazu dienen sollen, der Polizei weitere Informationen zu liefern. Er erklärt Spaggiari, daß er ihm die Geschichte nicht abnimmt, das Geld verschenkt zu haben. Spaggiari jedoch tischt dem Untersuchungsrichter weiterhin eine Mischung aus Prahlerei, ungenauen Angaben, Ausflüchten und Lügen auf.

 

Und dann - es ist unfaßbar - geht dem Gerichtshof das Geld aus. (Das französische Gerichtssystem ist in seiner Anlage wohl einzigartig: Es müssen in dem jeweiligen Departement die Untersuchungen vorfinanziert werden.) Der Gerichtshof von Nizza nimmt deshalb bei der geschädigten >Societé Generale< einen Kredit von zwölftausend Francs auf. Ein paar weitere Verhaftungen folgen. Marie Françoise Astolfi wird aufgrund ihrer Tagebuchaufzeichnungen festgenommen. Daniel Michelucci und Michèle Seaglio werden ebenfalls eingelocht. Sie behaupten, an dem fraglichen Wochenende des Bankraubs im Casino von Aix en Provence gewesen zu sein. Daniel will die Goldbarren von einem Fremden in Italien gekauft haben. Weitere Barren werden samt Münzpresse von der Polizei in einem Haus in Marseille entdeckt.

Dominique Poggi, der von der gesamten französischen Polizei gesucht wird, stellt sich am 1. November. Zwei Tage vorher hat er sich bereits telefonisch gemeldet. Eine blonde Sexbiene im Leopardenfellmantel fährt ihn in einem weißen Matra-Simca zur Polizeistation am Boulevard Albert I.

Er ist ein dunkler Typ, hat gelocktes Haar und trägt einen beigen Samtanzug. Das Mädchen, eine wohlsituierte Schweizerin, fährt allein in ihr Appartement in Juan-les-Pins zurück.

Poggi streitet alles ab.

»Am Wochenende, als der Bankraub gestiegen ist, war ich in Farinole in meinem Haus auf Korsika. Eine ganze Reihe von Zeugen kann das bestätigen. Zur Villa in Castagniers fuhr ich nur für die Sex-Party. Wenn dieses Haus das Hauptquartier der >Kanalratten< gewesen sein soll, dann ist das das erste, was ich höre. Und ein Spaggiari? Wie war der Name genau? Noch nie etwas von ihm gehört…« Jedoch hat Francis Pellegrin ausgesagt, daß er Poggi dem >Kopf< der Gang, Spaggiari, vorgestellt hat. Und Poggi wird wegen Beteiligung am Bankraub ins Gefängnis nach Nizza gebracht. Später jedoch widerruft Pellegrin seine Aussage: »Die Polizei hat mich unter Druck gesetzt: >Poggi, immer nur Poggi. Gestehen Sie: Sagen Sie, daß es Poggi ist.< Schließlich habe ich ihnen erzählt, was sie hören wollten. Nur, um meine Ruhe zu haben.«

Doch in Wirklichkeit habe er Spaggiari jemandem ganz anderen vorgestellt - einem Typen, den er in einer Bar getrofffen habe. An den Namen dieses Mannes kann er sich nicht mehr erinnern.

 

Die Verhöre ziehen sich hin. Spaggiari unterschreibt einen Vertrag mit dem französischen Verlag Albin Michel. Er will seine Memoiren selber schreiben. Den Vertrag des Literaturagenten Clemens von Bézard aus Nizza lehnt er ab, obwohl der ihm einen Vorschuß von zweihunderttausend Francs in bar anbietet. Insgesamt lautet der Vertrag über fünfhunderttausend Francs. Spaggiaris Anwalt, Jacques Peyrat: »Es geht ihm nicht ums Geld. Er will sein Leben und den Bankraub so beschreiben, wie er ihn sieht. Außerdem: Wer weiß, ob er nicht schon frei ist, bevor sie mit dem Buch fertig sind. Seien Sie froh, daß er den Vertrag nicht unterschrieben hat.«

Diesen eindeutigen Hinweis - man wird ihn später nur so auslegen können - gibt Spaggiaris Anwalt bereits Ende November 1976.

 

Spaggiaris Freunde sind sicher, daß er nicht aus Geldgier gestohlen hat: »Er ist intelligent, wagemutig und hat Nerven wie Drahtseile. Aber er ist noch nie der >Kopf< einer Sache gewesen. Er hat immer Befehle empfangen wollen.« Auch seine Mutter kann es nicht fassen: »Bert war immer ein so guter Junge.« Und Audi sagt: »Ich habe keine Ahnung von dem, was da passiert sein soll.« Doch dann fügt sie hinzu, daß er wohl niemals einen seiner Kameraden verraten würde.

Der Direktor von Nizzas Kanalisationssystem, Monsieur Testan, macht eine Aussage. Auch er hat einmal einen Tunnel wie den der Kanalratten aussschachten müssen. Er bewundert: »Es war die härteste Arbeit, die ich je getan habe. Wir waren zu fünft und haben am Tag nur einen Meter geschafft. Man konnte immer nur zehn Minuten durcharbeiten. In einem so schmalen Raum kann man nur die Unterarme bewegen, und man muß es mit kleinen Werkzeugen machen. Das ist extrem schwierig. Hut ab vor den Gangstern.«

Die Mitreisenden von Albert und Audi nach Japan können es nicht fassen. »Wer hätte gedacht, daß so ein netter, höflicher, hilfsbereiter, wohlerzogener Mann der Kopf der >Kanalratten< ist?«

In seiner Zelle macht Spaggiari zweimal am Tag Gymnastik. Er will sich fit halten. Anwalt Jacques Peyrat meint: »Seine Frau fehlt ihm sehr, aber seine Moral ist ungebrochen. Er denkt an seine Freiheit und das die ganze Zeit. Manchmal ist er wie ein Kind.«

 

Die Bewachung an solchen Donnerstag-Nachmittagen wird recht lasch gehandhabt. Spaggiari erscheint mit nur zwei Polizisten. Auf dem Gang des Gerichtsgebäudes im 2. Stock bleiben ihm meist fünf Minuten, in denen er mit Audi allein sprechen kann. Auch Clemens von Bézard trifft ihn hier: Spaggiari lehnt noch einmal - persönlich - das Angebot für ein gemeinsam zu schreibendes Buch ab und sagt: »Ich habe bereits mit meinen Memoiren begonnen, und ich werde sie auch weiterhin allein schreiben.«

Die Polizei ist sicher, daß Spaggiari irgendwann zusammenbricht. Er verlängert nur sein Leiden. Zum guten Ende wird er alles erzählen, und sie werden den Rest seiner Komplizen finden und den Fall abschließen. Sie haben keine Eile. Albert Mouray ist ein genauso geduldiger Mann wie der Untersuchungsrichter Bouazis. Beide haben Zeit. Am Donnerstag, dem 10. März 1977, verlieren sie den Boden unter den Füßen, und eine Welt stürzt für sie zusammen.

 

SPAGGIARI ZERSTÖRT EIN FAHRZEUG

 

Was verbirgt sich hinter dem ewigen Lächeln von Albert Spaggiari?

Schlagzeile im >Nice-Matin< am 3. November 1976

 

Der Gefangene sieht bleich aus. Er hat sein Frühstück nicht angerührt. Seit einigen Tagen hat er keinen Appetit mehr. »Ich fühle mich nicht gut«, sagt er dem Wärter. »Ich habe zuviel geraucht.«

Der Wärter, dessen Name Verrauld ist, behandelt Spaggiari mit großem Respekt. »Kann ich irgend etwas für sie tun, Monsieur?« fragt er zuvorkommend. »Nein, danke. Ich brauche nichts.«

Verrault verläßt ihn, und Spaggiari steht auf und schaut in den Spiegel. Heute kommt es darauf an, er muß ganz normal wirken: Lächeln, Witze reißen, selbstsicher und sorglos erscheinen. Es ist ein Donnerstag wie jeder andere, und sein zwanzigstes Verhör bei dem Untersuchungsrichter wird genauso sein, wie es das neunzehnte war - bis auf eines…

Er zieht seinen bevorzugten schwarzen Samtanzug und das weiße Seidenhemd an und steckt die gewohnte Don-Miguel-Zigarre in den Mundwinkel. Als ihn die Polizisten um halb drei abholen, lächelt er freundlich, grüßt höflich und streckt ihnen seine Arme für die Handschellen entgegen. Der graugrüne Polizeibus bringt ihn zum Gerichtsgebäude. Die üblichen zwei Polizisten auf dem Motorrad folgen als Bewachung. Zusätzlich folgt eine Eskorte von vier Kripobeamten in einem neutralen Wagen. Spaggiari weiß nichts davon. Richter Richard Bouazis hat diese Vorsichtsmaßnahme erst vor zwei Wochen angeordnet. Spaggiari steigt die Marmorstufen des Gerichtsgebäudes hinauf. Mit einer Hand ist er an den einen Polizisten gekettet, der andere hält ihn am Arm fest. Beide Beamten sind bewaffnet. Albert nimmt immer zwei Stufen auf einmal und hält so seine Wächter auf Trab, demonstriert seine gute Form. Er hat ein eher vertrauliches Verhältnis zu den Polizisten.

Der Raum für das Verhör ist sehr klein. Er ist mit Linoleum ausgelegt, und die Wände sind eintönig grau-gelb gestrichen. An den Fenstern hängen keine Vorhänge. Das Zimmer ist überreif für eine Renovierung, und außerdem sollen demnächst Gitter vor den Fenstern angebracht werden. Das ist bisher immer verschoben worden, weil in der Gerichtskasse permanent Ebbe herrscht. Rechts von der Tür steht ein mittelgroßer Tisch für den Untersuchungsrichter. Daneben steht ein mit Dokumenten überladenes Pult für die Protokollführerin. Es existieren genau vier Stühle und ein Aschenbecher. Spaggiari kommt herein und begrüßt seinen Anwalt, Jacques Peyrat. Der breitschultrige, ehemalige Fremdenlegionär ist ein Freund von Bürgermeister Jacques Médecin. Er hat sich für die nächsten Wahlen als Stadtrat aufstellen lassen. Albert und die beiden Frères Jacques sind Duzfreunde. Sie kennen sich bereits aus der Zeit des Indochinakrieges.

Untersuchungsrichter Bouazis kommt herein. Die beiden Polizisten nehmen Spaggiari die Handschellen ab, verlassen den Gerichtsraum und schließen die Tür von außen ab.

Nur vier Personen bleiben zurück: Spaggiari, Peyrat, Bouazis und Mademoiselle Hoarau, eine Dame so um die Vierzig, mit streng zurückgebundenem Haar, die bereits Hunderte von Seiten während der Verhöre aufgenommen und getippt hat.

Bouazis stellt die ersten Fragen. Spaggiari raucht ununterbrochen und ist ausweichend wie immer. Um zehn vor fünf erinnert ihn der Untersuchungsrichter daran, daß er ihm in der letzten Woche einen detaillierten Plan von dem Bankraub versprochen habe.

Langsam greift Spaggiari in die Innenseite seiner Samtjacke und holt ein Stück Papier hervor. Er reicht es dem Beamten. «Voilà, hier ist alles, was sie wissen wollen.« Bouazis faltet das Papier auseinander. Es ist bedeckt mit Linien, Zeichen und Eintragungen. Er betrachtet es mit wachsender Ratlosigkeit. Plötzlich schaut er auf: »Was soll ich damit anfangen? Wo ist überhaupt die Messehalle eingezeichnet?«

Peyrat schaut seinen Freund und Klienten einen Augenblick an und ist über Spaggiaris Aussehen entsetzt. Der Anwalt sagt später: »Er war kreidebleich, ich habe ihn noch nie so verkrampft gesehen. Er sah aus wie eine Leiche. Plötzlich hatte ich Angst um ihn.«

Spaggiari steht auf: »Beruhigen Sie sich«, sagt er dem Untersuchungsrichter. Geschmeidig geht er durch den kleinen Raum, an Mademoiselle Hoarau’s Pult vorbei, und tritt neben Richter Bouazis. Er lehnt sich über die Schulter des Magistrats und deutet auf den Plan: »Schauen Sie…« Dann macht er einen Riesensatz zum Fenster, reißt es auf und springt hinaus.

Anwalt Peyrat schreit: »Nein, tu’s nicht! Tu’s nicht!« (»Ich dachte, er wolle sich umbringen«, gesteht er später.) Der Untersuchungsrichter und der Anwalt springen von ihren Stühlen hoch und eilen zum Fenster. Unter diesem Fenster, das sich im 2. Stock befindet, ist ein sechzig Zentimeter hoher Mauervorsprung, der einem Seiteneingang als Vordach dient. Dieser Eingang heißt Service Etrangers, und draußen bilden die Ausländer jeden Tag eine lange Schlange, um ihre Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis zu beantragen oder verlängern zu lassen. Spaggiari springt auf diesen Sims.

Von dort aus hechtet er auf das Dach eines parkenden Renault 6 und beult es ein. Er läßt sich abrollen und landet mit beiden Beinen auf der Straße.

Neben dem Renault steht eine metallicgrüne Kawasaki 900 mit laufendem Motor. Der untersetzte Fahrer trägt einen Helm mit getöntem Sichtschutz. Spaggiari springt auf den Soziussitz.

Von oben ruft Untersuchungsrichter Bouazis verzweifelt: »Arretez-le! Arretez-le!« - aber niemand hält ihn auf. Spaggiari ruft zurück: »Au revoir.« Und macht mit seinen Fingern das V-Zeichen - V wie victory - wie Sieg. Die Passanten hören sein hämisches Lachen, als das Motorrad auf dem Boulevard Jean-Jaurès verschwindet. Die Flüchtigen erleben noch einen bangen Augenblick, als ein Auto aus einer Parklücke ausschert und ihnen den Weg versperrt. Doch der Motorradfahrer ist geschickt genug, reißt seine Maschine herum und kann dem herausfahrenden Auto ausweichen. Er streift es nur geringfügig. Inzwischen ist ein Polizist vor dem Gerichtsgebäude auf sein Motorrad gesprungen und beginnt die Verfolgung. Doch Spaggiaris Vorsprung ist zu groß, und der Polizist verliert die beiden sofort aus den Augen. Die Polizei reagiert, so gut sie kann. Innerhalb von zehn Minuten werden alle Ausfallstraßen von Nizza kontrolliert, die französischen Grenzbehörden sind verständigt, alle Züge und Flugzeuge werden gestoppt. Eine Privatmaschine, die gerade gestartet ist, muß wieder landen. Eine unglaubliche Menschenjagd beginnt.

Aber es nützt alles nichts. Spaggiari ist spurlos verschwunden. Jedoch hat er des öfteren von sich hören lassen, der Presse und dem Fernsehen Interviews gegeben. Aber davon später.

Der Renault 6, auf dessen Haube er gelandet ist, sieht ziemlich demoliert aus und muß generalüberholt werden. Dem Besitzer, Monsieur Gonzales, bricht es fast das Herz. Sein Auto war so gut wie neu. Er wohnt in der Rue de Pontin, gleich neben dem Gerichtsgebäude. Sein funkelnagelneuer Wagen ist schon einmal beschädigt worden. Deshalb hat er ihn vor dem Gericht geparkt, weil er glaubte, daß er dort am sichersten sei.

Die Reparatur kostet ihn rund zweitausendachthundert Francs, und die Versicherung weigert sich, Monsieur Gonzales den Schaden zu bezahlen, weil für diese Art von Unfällen keine Paragraphen vorgesehen sind. Alles, was er tun kann, ist, bei der Polizei eine Anzeige wegen Sachbeschädigung gegen Albert Spaggiari zu erstatten. Adresse: Unbekannt.

Es wird eine Geschichte mit Happy-End, die typisch für den Kopf des Superdings ist. Ein paar Tage später erhält Monsieur Gonzales per Post eine Anweisung über genau den Betrag der Autoreparatur. Dazu hat Spaggiari noch ein paar Worte der Entschuldigung geschrieben.

Die Korken von sieben Flaschen Champagner knallen an diesem Abend in Spaggiaris Lieblingsrestaurant, >Roi du Yan<. Die alten Kameraden feiern.

Anwalt Jacques Peyrat fühlt sich dagegen in seiner Haut nicht wohl. »Er muß die Flucht geplant haben«, sagt er entschuldigend. »Er hat mich und den Untersuchungsrichter an der Nase herumgeführt.«

Auch die Gerichtsbeamten sind in einer peinlichen Situation. Bereits ein Jahr vorher ist ein Gefangener aus genau demselben Fenster entkommen. Den jedoch haben sie in der Altstadt schnell wieder einfangen können. Und tiefgründig hatte Anwalt Jacques Peyrat bereits Ende November 1976 den Autoren dieses Buches erklärt: »Wenn er fliehen sollte, dann aus diesem Fenster.« Auch die Polizei ist bis auf die Knochen blamiert und die Regierung nicht gerade erfreut. Innenminister Poniatowski hängt sich ans Telefon und befiehlt eine noch nie zuvor dagewesene Razzia: Am 10. und 11. März kämmen tausend Polizisten aus Nizza und Umgebung jedes einzelne Haus in der Altstadt durch. Sie fahren auch sofort zur Farm nach Bézaudun und müssen feststellen, daß auch Audi verschwunden ist.

Die Türen des Landhauses sind unverschlossen, die Fensterläden geöffnet, und niemand ist zu Hause. Die Polizei befragt den Nachbarn, Ange Goujon. »Ich habe die Hunde, Packa und Vesta, und die Hühner versorgt«, sagt er. »Aber ich habe geglaubt, daß Madame Spaggiari jeden Augenblick kommen würde.«

Audis Kollegin, die Krankenschwester Fabienne Nehr, sagt, daß sie Audi am 3. März zuletzt gesehen hat. »Sie fühlte sich nicht gut, und ich schlug ihr vor, für ein paar Tage in die Berge zu fahren. Das war das letztemal, daß ich sie gesehen habe.«

An diesem Tag erscheint Audi auch in dem Geschäft an der Route de Marseille mit einem kleinen Handgepäck. André Devésa, der inzwischen das Geschäft gekauft hat: »Sie erklärte uns, daß sie bis zum 25. März fortfahren würde. Sie machte einen müden Eindruck.« Auch Spaggiaris Anwalt, Jacques Peyrat, weiß von Audis Kurzurlaub.

»Sie war total erschöpft von all dem Ärger. Sie wollte nichts mehr mit der Sache zu tun haben und aus Nizza verschwinden. Die anonymen Anrufe und Drohungen machten ihr sehr zu schaffen. Sie sagte, daß sie mit unbekanntem Ziel fortfahren wolle und ein paar Wochen wegbleiben würde.« Audi ist natürlich die einzige neben Peyrat, die während der Untersuchungshaft mit Spaggiari Kontakt hat. Erinnern wir uns an die Fünfminuten-Gespräche, die da ganz offiziell auf dem Korridor des Gerichtsgebäudes stattfanden. Sie muß ihm die Details für die Flucht gegeben haben. Nun ist sie genauso verschwunden wie ihr Mann. Die Polizei verhört die Zeugen der Flucht. Der Motorradfahrer in der Rue de la Préfecture hat von ein Uhr an dort gewartet. Er hat die Speichen seiner Maschine gereinigt. Die meiste Zeit über hat er seinen Helm getragen. Aber ein paar Minuten lang hat er ihn abgesetzt, und mehrere Leute haben sein Gesicht sehen können.

Kommissar Jacques Tholance, Nizzas Colombo, pfeift dreimal durch die Zähne und holt jubilierend die Fotos aller mutmaßlichen Komplizen Spaggiaris hervor. Mehrere Zeugen erkennen sofort den Motorradfahrer wieder. Es ist Gerard Rang, der achtundzwanzigjährige Besitzer des berüchtigten Chi-Chi-Nachtclubs in Haut-de-Cagnes. Er hat glattes, blondes Haar und ist leicht untersetzt. Auch er ist ein Rechtsextremist. Tholance fischt das Dossier von Rang heraus, das so dick ist wie das Telefonbuch von Paris. Er und Spaggiari haben sich bereits zweier Verbrechen verdächtig gemacht: Einmal bei einem riesigen Aufkommen von gefälschten Schecks, die ganz Nizza im Sommer 1974 überschwemmten. Und dann mit dem profihaften Überfall auf die >Banque de Paris und Pays Bas< in Nizza im gleichen Jahr.

Zu einer Verhaftung haben die Beweise bei beiden Verbrechen damals nicht ausgereicht.

Jedoch ist Rang überführt worden, ein betrügerisches Wettunternehmen geführt zu haben, bei dem er die Einsätze zwar eingestrichen, doch die Gewinne nie ausgezahlt hat. Auch Rang ist einer der Klienten von Maitre Peyrat. Und Jacques Tholance erinnert sich, daß während des Bankraubs ein Motorradfahrer während der gesamten Zeit am Rande des Flußbettes Wache geschoben hat. Dort, wo der Eingang zur unterirdischen Straße in das Kanalsystem ist.

Am Sonntag, dem 13. März um zehn Uhr vormittags, riegeln Kommissar Tholance und vierundzwanzig Polizisten einen Block der Luxus-Appartements der >Arcadia<, einer teuren Siedlung am Mont Fabront, ab, der hoch über Nizza liegt. Tholance geht zum Appartement 2F, mit Blick auf den Swimmingpool, und läutet an der Tür. Nachdem er bereits mehrmals geklingelt hat, hört er von drinnen Lärm. »Öffnen Sie, Rang. Kommen sie raus. Sie haben keine Chance.«

Schließlich kommt die Antwort: »Okay, ich bin in fünf Minuten unten.«

Tholance erkennt Rangs Stimme. Er wartet. Fünf Minuten später öffnet Rang die Tür. Er trägt einen schwarzen Yves-St.-Laurent-Blazer, graue Flanellhosen und schwarze Stiefel mit hohem Absatz. Auf der Nase sitzt eine Ray-Ban-Sonnenbrille.

Er scheint sich sehr sicher zu fühlen. »Weshalb immer Sie mich auch verhaften, Sie machen einen großen Fehler«, sagt er. Tholance antwortet nicht. Er hat genügend Zeit. Rangs Verteidigung ist überraschend schwach. Zuerst sagt er, daß er zwar eine 500er Maschine fährt, doch dann behauptet er, mit einer 900er Kawasaki nicht umgehen zu können. Niemand glaubt ihm das.

Dann kommt er mit seinem Alibi für die fragliche Zeit, in der Spaggiari so spektakulär aus dem Gerichtsgebäude geflohen ist.

»Ich habe zu dieser Zeit Tennis gespielt - im Club Arcadia.«

»Mit wem?«

»Mit mir selbst.«

»Wie kann man allein Tennis spielen?«

»Gegen die Wand.«

Dann wird Beweismaterial vorgebracht. Einer von Peyrat’s Mitarbeitern kommt mit vier Mädchen der Arcadia-Siedlung, die bestätigen sollen, daß sie Rang beim Tennisspiel gegen die Wand gesehen haben. Der Mitarbeiter ist niemand anderes als Martine Wolf, die a) Peyrat’s Partnerin ist und ebenfalls an den Verhören von Spaggiari teilgenommen hat, b) Rangs Freundin ist und c) erst vor kurzem eine Wohnung in der Rue de la Préfecture Nummer 5 gemietet hat, genau gegenüber dem Fenster, aus dem Spaggiari geflohen ist.

Rang ist tatsächlich zahlendes Mitglied beim Tennisclub Arcadia, aber niemand kann sich daran erinnern, ihn während der letzten zwölf Monate beim Aufschlag gesehen zu haben.

Kommissar Tholance ordnet eine Gegenüberstellung mit den Zeugen an. Die vier Mädchen können Rang nicht identifizieren. Sie haben zwar jemanden allein Tennisspielen sehen, aber ihre Wohnungen sind zu weit von dem Platz entfernt, als daß sie Rang genau hätten ausmachen können.

Tholance organisiert eine andere Gegenüberstellung. Diesmal sollen zwei Zeugen, die die Flucht beobachtet haben, Rang aus einer sechsköpfigen Reihe mit anderen blonden Personen herausfinden. Sie zögern keinen Augenblick - sie deuten auf Rang.

Rang wird wegen Beihilfe zur Flucht von Spaggiari angeklagt. Am 19. März erfahren die Autoren dieses Buches von Spaggiaris Kameraden der OAS: »Wir haben es geschafft! Er ist außer Landes.«

 

EPILOG

 

Viele Grüße von Albert!

Postkarte von Albert Spaggiari an die Autoren dieses Buches im April 1977

 

Am 20. März wird Jacques Peyrat zum Stadtrat von Nizza gewählt.

 

Weniger als eine Million Francs können von der Gesamtbeute sichergestellt werden: Das Gold, das Bournat verkauft hat, und die Barren, die im Schließfach von Daniel Michelucci in Brüssel gefunden werden, sowie das Gold in der geheimen Münzprägewerkstatt in Marseille. Die >Societé Générale< erhält nur dreißig Millionen Francs Schadenersatz von ihrer Versicherung, Lloyds in London. Höher ist sie nicht versichert. Den Rest muß sie und der französische Staat selber tragen.

Aber auf der Verliererseite stehen auch die Bankkunden, die den Reichtum in ihren Schließfächern weder der Steuer noch der Polizei angeben wollten.

Sieben Personen weigern sich strikt, irgendeine Aufstellung über den Inhalt ihrer Boxen zu geben. Es heißt, sie hätten Millionen verloren.

Einer jedoch erzählt in Nizza jedem, der es hören will, daß er am Wochenende des Supercoups eine halbe Million Francs verloren hat. Sein Name: Gérard Rang.

Spaggiari selber behauptet, daß er mit dem Superding weit mehr als hundert Millionen Francs gemacht habe. Im Spätherbst 1981 streitet er mit dem Chef der englischen Posträuber, Ronald Biggs, bei Whisky und teuren Havanna-Zigarren, in Rio de Janeiro darüber, wer von beiden der erfolgreichere, der größte Bankräuber aller Zeiten ist. Wenn man den offiziellen Zahlen des Coups von Nizza nur halbwegs Glauben schenkt, steht ein Sieger von vornherein fest: Albert Spaggiari hat den Bankraub des Jahrhunderts geschafft.

Das größte Ding, das es jemals gegeben hat. Es gibt allerdings eine Reihe von Fragen, die in dem Fall und nach der Untersuchung offen bleiben: Warum hat die Kripo von Nizza nicht schon vor dem Bankeinbruch von der Sache gewußt?

Warum haben sie Spaggiari nicht festgenommen, nachdem er der CIA ein Geständnis abgelegt hatte? Warum hat sich Spaggiari nach der Razzia am 26. Oktober nicht versteckt?

Für sich allein genommen, kann man die dritte Frage damit beantworten, daß Spaggiari größenwahnsinnig ist, und wie die meisten Größenwahnsinnigen glaubt, daß ihn die Götter lieben und schützen. Das Problem ist nur, daß irgend jemand tatsächlich die Hand schützend über ihn gehalten haben muß - aber wer? Und warum? Wieso lassen ihn seine Beschützer erst verhaften, um ihn dann wieder zu retten?

An diesem Punkt kommt unweigerlich die Politik ins Spiel. Nizza ist der einzige Ort in ganz Südfrankreich, wo rechts gewählt wird. Und rechtsradikal sind sie in dieser Geschichte alle - vom Bürgermeister bis zu Gérard Rang. Die Hauptakteure des Supercoups sind auf faszinierende Weise miteinander verbunden: Der Bürgermeister ist gut mit Spaggiari und seiner Frau befreundet. Albert ist ein Komplize von Gérard Rang. Dessen Freundin ist Martine Wolf. Sie ist Partnerin von Jacques Peyrat, der wiederum ein enger Freund und direkter Mitarbeiter des Bürgermeisters von Nizza ist.

Die engen Beziehungen mit Spaggiari hätten jeden anderen Bürgermeister das Genick gekostet. Aber jeder andere Bürgermeister ist eben nicht Jacques Médecin. Die Familie Médecin ist die mächtigste Nizzas und die Hauptstraße der Stadt ist nicht umsonst nach Jacques Vater, >Jean Médecin< benannt worden. Auch er war bereits Bürgermeister. Außerdem ist Jacques Médecin ein enger Vertrauter und Freund des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing.

Die OAS taucht in dieser Geschichte immer wieder auf. Spaggiari wie auch einige seiner Komplizen ist einer ihrer Mitglieder. Und die OAS rühmt sich auch, Spaggiari außer Landes gebracht zu haben.

Ist es möglich, daß Sympathisanten der OAS ihn von höchster Stelle aus vor den Nachforschungen der Polizei geschützt haben? Wir können nicht mehr tun, als diese Fragen aufwerfen.

Und wenn er geschützt wurde, bleibt immer noch die Frage, warum er dann überhaupt verhaftet wurde und später fliehen konnte.

Sein ganzes Leben lang hat Spaggiari große Ideen und Träume gehabt, aber niemand gab ihm eine Chance. So ist es möglich, daß er zum Schluß die Sache selber in die Hand geno men hat, daß er sehr wohl zu einem Superding fähig gewesen ist. Alles weist darauf hin.

Aber wir müssen auch eine andere Möglichkeit aufzeigen: Daß Spaggiari nur der Befehlsempfänger eines anderen, bisher völlig unbekannten Supermannes des gesamten Unternehmens war. Entweder ein Meisterverbrecher oder ein politischer Fanatiker.

Indem sich Spaggiari festnehmen ließ, kann er den eigentlichen Drahtzieher geschützt haben. Wenn das so ist, dann hat derjenige Glück gehabt oder ausgezeichnete Beziehungen. Denn die Polizei von Nizza hat sich nie Gedanken darüber gemacht, daß vielleicht ein ganz anderer hinter dem Bankraub des Jahrhunderts steckt. Sie suchten und suchen nur den einen: Spaggiari.

Wenn diese Hypothese stimmt, ist auch ein anderes Rätsel aufgeklärt: Der Bankraub auf der Ile St. Louis in Paris. Wie wir bereits geschrieben haben, sieht es a) nicht danach aus, daß ein und dieselbe Bande ein weiteres, kleines Ding dreht, nachdem ihr bereits hundert Millionen Francs in die Hände gefallen sind. Aber es ist b) unwahrscheinlich, daß zwei völlig verschiedene Banden zur gleichen Zeit auf ähnliche Art und Weise den Tresorraum einer >Societé Generale< knacken.

Jedoch ist es durchaus möglich, daß ein Supermann die Idee für die beiden Einbrüche gehabt hat und sie von zwei verschiedenen Banden getrennt, in zwei Städten zur gleichen Zeit, ausführen ließ.

Folgen wir dieser Hypothese bis zum logischen Ende. Dann könnte der Drahtzieher der Superdinger Albert Spaggiari für seinen Plan benutzt haben, mit einer Deckung von höchster Stelle. Damit aber die Öffentlichkeit nicht unruhig wird, und die Polizei auch den Schuldigen findet, läßt sich Spaggiari verhaften, aber man ist nicht sicher, daß er alle Verhöre durchsteht und verhilft ihm zur Flucht. Was kann der Supermann noch mehr tun, um seine Identität zu wahren?

Nun, er kann Spaggiari töten lassen.

 

Im Herbst 1977 tauchen in Nizza tatsächlich Gerüchte auf, daß Spaggiari tot ist. Jedoch werden diese bald von einigen öffentlichen Auftritten des Monsieur Albert zerstreut. Er schickt den Journalisten vom Nice Matin eine Postkarte: Sie zeigt sein Porträt, und er trägt einen schwarzen Mantel und eine Baskenmütze - vielleicht, um einen neuen Haarschnitt zu verbergen. Der Gruß lautet: »Bien le bonjour, d’Albert!«

Ein Graphologe vergleicht die Schrift mit der von Spaggiari und erklärt sie für identisch.

Albert schreibt auch an Nice Matin, daß Gérard Rang nicht der Mann ist, der die Kawasaki 900 gefahren und ihm zur Flucht verholfen hat.

Die Postkarte, der Brief und das Geldmandat, das er dem Besitzer des beschädigten Renault 6 geschickt hat, sind alle in Nizza abgestempelt. Das will jedoch nichts heißen. Die alten Kameraden aus dem >Roi du Yan< erzählen fröhlich bei Wein und Spaghetti: »Wir haben ihn damals rausgebracht. Und jetzt ist er in Südamerika in Sicherheit.« Die Aufregung ist verflogen, über das Superding ist Gras gewachsen. In dem bescheidenen Prozeß des Jahrhundertbankraubs werden nur fünf kleinere Haftstrafen ausgesprochen. Der Hauptangeklagte Spaggiari fehlt und wird in Abwesenheit zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt. Für Dominique Poggi werden vom Staatsanwalt zwar ebenfalls zwanzig Jahre gefordert, doch er wird mangels Beweisen freigesprochen. Und auch Audi, die zwei Monate nach ihrem Verschwinden, ohne Angabe von Details nach Nizza zurückkehrt, wird freigesprochen.

Sie führt - allein - das bescheidene Leben der kleinen Krankenschwester in der Praxis an der Route de Marseille und fährt am Wochenende auf ihre Farm nach Bézaudun, wo sie von den glücklichen alten Zeiten träumt, als sie noch mit Albert Spaggiari zusammenlebte. Monsieur Albert dagegen führt endlich das erträumte Leben eines Playboys und Multimillionärs. Auf einer Hazienda irgendwo in Südamerika läßt er die Puppen tanzen und badet, wie er Reportern in Interviews freizügig erklärt, in Champagner.

 

P.S. Für die besonders gute Zusammenarbeit bedanken wir uns bei der Polizei, den Behörden und der Unterwelt von Nizza.

Die Autoren

 

POSTSCRIPTUM

 

»Tout me fait rire«

»Ich finde alles zum Lachen«

Es ist Samstag, fünf Uhr morgens, der 10. Juni 1989. Ein anthrazitfarbener Peugeot mit dunkelgetönten Scheiben rast durch die Straßen von Hyères in Südfrankreich. Der Wagen wäre völlig unauffällig, wenn er nicht so schnell fahren würde. Schließlich hat er französische Nummernschilder und ist das Modell, was so viele französische Bürger bevorzugen.

Er gleicht dem metallgrauen Peugeot, der vor dreizehn Jahren eine Schlüsselrolle in diesem Ganovenstück gespielt hat. In dem Stück, in dem die Société Générale von Nizza um hundert Millionen Francs, rund sechzig Millionen Mark, gebracht wurde. Der Peugeot bleibt unbemerkt im Morgengrauen, selbst, als er mit quietschenden Reifen vor dem Haus von Madame Juliette Clement zum Halten kommt. Im Inneren des düsteren Hauses der älteren Frau findet ein seltsames Schauspiel an diesem Morgen statt. Der Fahrer des Peugeot und ein Beifahrer öffnen ihre Türen. Beide Männer reisen incognito. Sie tragen schwarze Overalls und Masken. Sie sehen aus wie exotische Kriminelle oder, als ob sie einem James-Bond-Film entsprungen seien. Die Masken und die Bekleidung verleihen den ohnehin obskuren Erscheinungen noch etwas Unheimlicheres. Die beiden Gangster sind sehr nahestehende Vertraute zu einem Dritten, der im Fond liegt. Die zwei flüstern hektisch auf italienisch, öffnen eine der hinteren Türen, beugen sich vor und heben behutsam den dritten Mann aus dem Auto. Er trägt nicht die ninja-ähnliche Kleidung seiner zwei Freunde, die ihn in solcher Heimlichkeit hierhergebracht haben. Er hat sich nicht verkleidet, weil - was immer an Polizeiaktionen an diesem Morgen passiert - es in seinem Leben keine Rolle mehr spielen wird. Er ist tot. Sein Name: Albert Spaggiari. Aber selbst, wenn er noch leben würde, wäre es unwahrscheinlich, daß er sein Gesicht hinter einer gewöhnlichen schwarzen Maske verstecken würde. Seine Arroganz und sein übermächtiges Selbstbewußtsein würden diese Art von Verkleidung nicht zulassen. Davon abgesehen ist Spaggiari kein Mörder oder ein Volksfeind. Er ist ein >einfacher< Bankräuber, der für seinen Ruf einiges getan hat. Jahrzehnte sind vergangen, seit er in seiner wilden Jugend davon geträumt und es sogar vorbereitet hat: General Charles de Gaulles zu exekutieren und weitere Terroranschläge für die äußerste Rechte in Frankreich auszuführen. Und selbst wenn Spaggiari aufgehört hat, der Obrigkeit ins Gesicht zu spucken, hat er niemals aufgehört, über sie zu lachen.

Die Vermummten strecken sich, atmen durch und tragen den Leichnam vom Peugeot zum Seiteneingang von Madame Juliette Clèment’s altem Bauernhaus. Die Besitzerin und einzige Bewohnerin des Gebäudes, Madame Clément, ist Spaggiari’s Mutter. Sie lebt hier seit 55 Jahren. Damals war Klein-Albert zwei Jahre alt.

An diesem Junimorgen schläft sie tief, als der Wagen vorfährt.

 

Die zwei Einbrecher haben keine Schwierigkeit, ins Haus zu gelangen. Sie tragen den Körper durch die Finsternis und suchen nach dem Küchentisch, ohne Licht zu machen. Vorsichtig legen sie den Toten ab. So wie in einer Leichenhalle, nur ohne Sarg und ohne Blumen. Und still und heimlich schleichen sie sich wieder aus der Küche und aus dem Haus. Die Türen des Peugeot schlagen zu und der Fahrer gibt Gas. Die alte Frau wacht vom Lärm des Wagens auf, und es dauert nicht lange, dann findet sie den Toten in ihrer Küche. Madame Clement hat ihren Sohn Jahre nicht gesehen. Aber hier liegt er nun - auf einem Tisch.

 

Später am Tag, gegen Mittag, stehen die Polizisten von Hyères und andere französische Beamte in der Küche der trauernden Mutter. Sie kümmern sich um die Bestattung, nachdem sie Albert Spaggiari fotografiert, seine Fingerabdrücke genommen und ihn auch sonst gründlich untersucht haben.

 

Nach mehr als zwölf Jahren ist es das erste Mal, daß irgendein französischer Polizist Albert Spaggiari so nahe gekommen ist. Dem Chef und Organisator des Bankraubs des Jahrhunderts.

Dem Mann, der mit ein paar Helfern 1976 das tollste Ding unter den Straßen von Nizza drehte: er raubte um die einhundert Millionen Francs: in cash, Gold, Schmuck und wertvollen Steinen aus dem Tresor der wichtigsten Bank der Stadt. Der Mann, der das gesamte französische Rechtsgefüge aus den Angeln gehoben hat und zugleich die ganze Welt mit seinen Possen amüsierte, ist nun endgültig den Händen der Polizei entglitten.

 

Im Alter von 57 Jahren ist er an Lungenkrebs gestorben. Albert Spaggiari hat es den Behörden noch einmal erlaubt, ihn zu sehen, ohne sie jedoch hinter seine vielen Geheimnisse kommen zu lassen.

Denn selbst, wenn er hier vor ihnen liegt, klärt das nicht die Fragen, die sich die örtliche Polizei, Interpol und alle Geheimdienste der Welt stellen. Frech wie er war, konnte er nicht widerstehen, sie alle immer wieder mit Hilfe der internationalen Presse zu verhöhnen. Eigentlich sollte man meinen, daß jemand, der mit soviel Geld verschwindet, sich von den Behörden fernhält: Aber Spaggiari ist da anders. Er ist so egozentrisch, daß die Medien begeistert hinter ihm stehen. Selbst, wenn er, in Abwesenheit, zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt worden ist, versteckt er sich nicht. Spaggiari prangt auf den Titelseiten von Europas Illustrierten, und er foppt ununterbrochen die Polizei mit seinen Interviews und Fotosessions. Unvergleichlich ist wohl seine berühmte Postkarte, die er mit »Bien le bonjour, d’Albert!« unseren Autoren geschickt hat. Abgestempelt in Nizza. Einen Monat, nachdem er aus dem Fenster des Justizpalastes gesprungen ist.

 

Alles, was der Polizei bleibt, ist Spaggiari immer wieder in anderer Verkleidung auf Fotos in der Presse bewundern zu dürfen. Schäumend müssen sie von seinem wilden und luxuriösen Leben in Südamerika erfahren. Nur, daß sie nicht selbst dahinterkommen, sondern die Medien dazu brauchen.

Für seine hilfreiche Einstellung gegenüber der Presselandschaft wird er fürstlich entlohnt. Das macht ihn natürlich noch schärfer.

 

Als Spaggiari an einem sonnigen Donnerstagnachmittag im März 1977 aus dem Palais de Justice flieht, ist er innerhalb von zehn Minuten verschwunden. Erst geht es nach Italien, dann nach Südamerika. In Paraguay findet er bei dem ultrarechten Diktator Alfredo Strössner Unterschlupf. Ähnlich wie einst unser aller Konsul Weyer.

 

In der Zeit, in der er auf seiner Ranch bei Assunçion ein ausschweifendes Leben führt, wird er ein guter Freund des Generals. Sie träumen von einer weltweiten ultrarechten Herrschaft und sind ein Herz und eine Seele. Du kannst ihn aber auch am Strand des Südatlantik sehen, in fröhlichem Gespräch mit Super-Posträuber Ronald Biggs. Mit Havannas, Schampus und den schönsten Brasilianerinnen im Arm, an der Copacabana von Rio. Albert unterzieht sich mehreren plastischen Operationen und zeigt sich vor Fremden nie ohne Verkleidung. Es heißt sogar, daß er niemals ein und dieselbe trägt. Hinter seiner Frechheit steckt also doch immer genügend Vorsicht. Spaggiari’s Streiche hören mit seinem Verschwinden nicht auf. Die Art, wie er die Polizei provoziert, ist eine maßlose Unverschämtheit.

Sein Ego und seine Eitelkeit treiben ihn von Interview zu Interview. Und seine Honorare werden immer höher. Wenn er den Bankraub des Jahrhunderts nicht gemacht hätte, so könnte er von seinen Presseeinkünften wunderbar leben.

 

Drei Tage vor seinem Tod telefoniert Albert Spaggiari mit seiner Mutter in Hyères, um Abschied zu nehmen. Er ruft sie aus Italien an und sagt ihr, daß er seit langem an Lungenkrebs leidet.

Er hofft, seine Mutter noch einmal zu sehen und versucht eine Reise nach Hause zu organisieren. Was er nicht weiß: Dieser Anruf soll sein letztes Gespräch mit ihr sein. Seine zwei Gefährten sorgen aber dafür, daß er zu seiner Mutter nach Hyères kommt. So kehrt Spaggiari in seine Heimat zurück. Sehnsüchtig erwartet von Mutter und Polizei, die so viele Jahre auf ihn gewartet haben. An diesem 10. Juni 1989 weiß jeder, daß es zu spät ist, irgendwelche Fragen zu stellen. Die Fragen, die man sich all diese letzten zwölf Jahre gestellt hat.

Albert Spaggiari nimmt sie mit in den Tod. Er hat die Obrigkeit bis in die Ewigkeit hinters Licht geführt.

 

Sofort nach seinem Verschwinden wird sein Haus in der Toscana in Italien bis auf den letzten Stein untersucht. Sie finden nichts. Nur ein rundes Schild aus Olivenholz über dem Eingang seines Schlafzimmers, in das mit großen Lettern geschnitzt ist: »Tout me fait rire.«

»Ich finde alles zum Lachen.«