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„Guten Morgen, Celiska.“ Seiner Verlobten, die gerade das Büro betrat, nur einen kurzen Blick gönnend, konzentrierte sich Nils sogleich wieder auf den Aktenordner, den er in Händen hielt. Seine Miene war undurchdringlich, während er Seite für Seite umblätterte und am Ende ein verärgertes Schnauben hören ließ. „Ich glaube“, sagte er beherrscht, „du brauchst unbedingt ein paar Tage Urlaub.“ Den Ordner in der Hand, kam er ihr entgegen. Bei ihr angekommen, blieb er stehen und deutete mit dem Zeigefinger auf die Überschrift des aufgeschlagenen Schreibens. „Du hast doch gesagt, du hättest nichts von dem Auftrag meines Vaters gewusst. Wieso befindet sich dann hier eine entsprechende Anweisung?“
Celiska starrte ihn zunächst nur verständnislos an. Als sie gelesen hatte, was auf dem Blatt stand, wusste sie zwar, was er von ihr wollte. Sie war aber so überrascht durch das jähe Auftauchen eines ominösen Auftrages, dass sie bloß offenen Mundes zu ihm hinaufsah.
„Du kannst es nicht erklären?“, fragte er in gönnerhaft herablassendem Tonfall. „Dann tue ich es für dich, okay? Du hast diesen Wisch schlicht und ergreifend aus Versehen weggeheftet, statt ihn in die entsprechende Ablage zu geben. So weit, so gut. Als Vater dich nach der Liste fragte, hast du dich zwar daran erinnert, aber auf die Schnelle keine Entschuldigung für dein Versäumnis gefunden. Also hast du eine Ausrede gebraucht und den Auftrag dann schleunigst erledigt. Nun, damit ist die Sache vom Tisch – denke ich. Also brauchen wir das nicht mehr.“ Während er dies sagte, riss er das Schreiben aus dem Ordner und ging dann zielstrebig zu dem Aktenvernichter, der neben Celiskas Schreibtisch stand. „Geh nach Hause“, befahl er über die Schulter hinweg, während der Aktenvernichter das Blatt mit einem surrenden Geräusch verschlang, um es auf der anderen Seite in schmalen Streifen wieder auszuspucken. „Ruh dich ein paar Tage aus. Du scheinst es wirklich nötig zu haben.“
Wie sie nach Hause gekommen war, wusste Celiska nicht mehr. Ebenso wenig konnte sie sich daran erinnern, ein heißes Bad genommen und die Haare gewaschen zu haben. Der anfängliche Schock ließ jetzt ein wenig nach, so dass sie ihre Beziehung zu ihrem Verlobten noch einmal in aller Ruhe überdenken konnte. Sicher, die Indizien sprachen alle gegen sie. Dennoch hätte sie erwartet, dass er mehr Vertrauen in sie setzte – oder doch zumindest um Aufklärung des seltsamen Vorganges bemüht sei. „Hallo, schöne Frau!“
Celiska zuckte beim Klang der tiefen Männerstimme zusammen, und im nächsten Augenblick fühlte sie die Angst in Gestalt einer Gänsehaut an ihrem Rücken hinaufkriechen.
„Darf ich mich anschließen?“, fragte Vincent freundlich. „Oder möchtest du gern allein bleiben?“ Anstandshalber blieb er stehen und wartete zunächst auf eine Regung ihrerseits. Als sie nach sichtlichem Zögern kaum merklich nickte, setzte er sich auf den freien Gartenstuhl, schloss die Lider und hob das Gesicht der immer noch wärmenden Oktobersonne entgegen. „Wunderbar“, seufzte er leise. „Wenn es nach mir ginge, könnte es immerzu Sommer oder Herbst sein.“
„Was … Sie … du …“ Celiska konnte sich nicht erinnern, ihm erlaubt zu haben, sie mit dem vertraulichen Du anzusprechen. Dennoch verzichtete sie jetzt bewusst darauf, ihn zurechtzuweisen. Es wäre ihr peinlich gewesen, am Ende vielleicht zugeben zu müssen, dass sie unter unkontrolliert auftretendem Gedächtnisverlust litt. „Warum bist du hier?“
„Onkel Felix wollte, dass ich mir das Mauerwerk der Garage ansehe“, antwortete er mit geschlossenen Augen. „Aber jetzt ist er gar nicht da. Vermutlich hat er vergessen, dass wir uns für heute Nachmittag verabredet haben.“ Er zuckte gleichmütig mit den Achseln. „Sicher sind die beiden nur einkaufen gegangen und kommen gleich wieder.“ Einen tiefen Seufzer ausstoßend, streckte er die langen Beine aus und lag nun mehr in dem Stuhl als er saß. „Wenn ich dir im Weg bin, sag’s ruhig“, ließ er verlauten. „Ich kann auch oben warten.“
„Nein, nein! Du störst mich überhaupt nicht“, beeilte sich Celiska zu versichern. „Bleib ruhig sitzen. Ich … Willst du vielleicht einen Kaffee? Ich wollte auch gerade einen trinken.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang sie auf und hastete davon. Sie musste aus seiner Nähe, dachte sie für sich. Er saß zwar völlig entspannt, die Augen immer noch geschlossen. Aber seine Anwesenheit brachte sie völlig aus dem Konzept. Auch wenn er sie gar nicht weiter beachtete, meinte sie von ihm beobachtet und auf unerklärliche Weise bedroht zu werden.
Vincent hörte seine Gastgeberin in ihrer Küche hantieren und lächelte verhalten. Selbstverständlich war ihm aufgefallen, dass sie mit einem Mal äußerst nervös wirkte. Und genau dieser Umstand machte ihn froh, denn er nahm dies als Beweis dafür, dass sie ihm nicht ganz so gleichgültig gegenüberstand, wie sie ihn glauben machen wollte. Sie war ihm bisher zwar konsequent aus dem Weg gegangen, doch wollte er nun nicht länger ignoriert werden, entschied er. Entweder sie schmiss ihn hochkant raus, weil sie wirklich nichts mit ihm zu tun haben wollte. Oder sie …
Weiter kam er mit seinen Überlegungen nicht, denn aus dem Innern des Hauses ertönte plötzlich ein lautes Scheppern, dem ein unterdrückter Fluch folgte. Also sprang er auf und eilte durch die offene Terrassentür, um bei Bedarf zu helfen. In der Küchentür verhielt er kurz und betrachtete das Malheur. Dann hockte er sich neben Celiska und begann die Scherben der Kaffeetassen aufzusammeln, die verstreut inmitten von Zuckerwürfeln und cremeweißen Pfützen aus Kaffeesahne lagen.
„So ein Mist“, schimpfte sie heiser, wobei sie es bewusst vermied, ihren Helfer direkt anzusehen. „Jetzt hab ich keine Zuckerdose mehr!“
Vincent lachte verhalten und langte dabei nach der nächsten Scherbe. Weil er aber nach demselben Stück griff wie sie, berührten sich ihre Finger, was er als sehr angenehm empfand.
Celiska indes meinte von einem Feuerstrahl berührt worden zu sein, zuckte augenblicklich hoch, wobei sie die bereits aufgesammelten Teile wieder fallen ließ, und wollte nichts lieber, als auf der Stelle die Flucht zu ergreifen. Dennoch blieb sie auf der Stelle stehen – wenn auch so weit von ihm entfernt, dass weder eine absichtliche noch eine zufällige Berührung möglich waren.
„Lass … ich …“ Sie konnte seinem Blick nicht standhalten. „Ich fege am besten alles zusammen“, brachte sie schließlich hervor. „Muss ja sowieso alles in den Müll.“ Heilfroh, endlich eine sinnvolle Aufgabe gefunden zu haben, damit sie nicht länger nur dumm herumstand, holte sie Besen und Kehrblech herbei. „Setz dich am besten wieder raus“, schlug sie vor. „Oder ins Wohnzimmer“, entschied sie nach einem kurzen Blick aus dem Küchenfenster. „Die Sonne ist weg, also dürfte es draußen bald ziemlich frisch werden. Ich hole nur neue Tassen.“
Vincent bedachte seine Gastgeberin mit einem langen nachdenklichen Blick, warf dann die Scherben, die er immer noch in der Hand hielt, in den Mülleimer und richtete sich auf. „Alles in Ordnung mit dir?“, wollte er wissen.
„Ja klar“, tat sie bewusst forsch. „Wieso fragst du?“
„Nur so.“ Ihre Anspannung war beinahe mit Händen zu greifen, stellte er im Stillen fest. Und dieser Umstand lag keineswegs nur in seiner Anwesenheit begründet. Aber fragen, nein, fragen würde er nicht, denn das stand ihm – einem ihr völlig fremden Mann – nicht zu. Um ihr also nicht länger im Wege zu sein, ging er in den Wohnraum hinüber und bereitete dort den Esstisch vor, damit sie das Geschirr später ungehindert abstellen konnte.
Unterdessen beendete Celiska die Aufräumarbeiten und wandte sich dann wieder dem Tablett zu, welches es neu zu bestücken galt. Warum nur, ging es ihr dabei durch den Kopf. Wieso brachte er sie derart aus der Fassung? Er war doch auch nur ein ganz gewöhnlicher Mann! Sicher, er sah umwerfend gut aus. Aber er hatte bestimmt kein Interesse an der Untermieterin seines Onkels. Warum auch? Er konnte sich sicher kaum retten vor Angeboten schöner Frauen. Und sein heutiger Besuch hatte auch nichts zu bedeuten. Er wollte doch bloß die Zeit überbrücken, bis Anna und Felix zurückkamen. Also würde sie sich jetzt zusammenreißen und eine freundliche Gastgeberin sein.
Vincent staunte nicht schlecht, als Celiska nach einigen Minuten wieder auftauchte. Ruhig und beherrscht servierte sie den Kaffee, bot sogar selbstgemachtes Gebäck an, zeigte jedoch weder Anzeichen der panikartigen Nervosität noch der jungmädchenhaften Scheu, die er auf der Terrasse erkannt haben wollte. Im Gegenteil. Voller Interesse stellte sie nun von sich aus verschiedene Fragen und lachte herzhaft, als er einige Anekdoten über seinen Onkel zum Besten gab.
„Er ist der Bruder meines Vaters“, erklärte er. „Allerdings ist er für mich mehr Vater als Onkel, denn er hat mich aufgezogen. Ein Jahr nach dem tödlichen Unfall meines Vaters hat meine Mutter wieder geheiratet. Aber wir … Nun, mein Stiefvater und ich konnten uns vom ersten Tag an nicht riechen, verstehst du. Also blieb ich bei Anna und Felix und wuchs bei ihnen auf.“
„Und deine Mutter hat dich einfach so zurückgelassen?“ Die Frage war kaum heraus, da hätte sie sich am liebsten die Zunge abgebissen. Wie konnte sie nur so indiskret sein, schalt sie sich insgeheim. Der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen war ein Nichts gegen sie! „Ich … Entschuldige bitte.“
„Ist schon okay“, winkte er ab. „Ich hab mich falsch ausgedrückt. Mutter wollte mich durchaus bei sich behalten. Aber ich wollte nicht mit ihr gehen. Ich habe zwar immer meine Anstandsbesuche bei ihr absolviert, aber ständig bei ihr leben wollte ich nicht.“ Beim letzten Wort bemerkte er die tiefe Betroffenheit seiner Gastgeberin und beeilte sich, eine Erklärung folgen zu lassen, damit die wunderschönen grünen Augen nicht mehr gar so traurig blickten. „Ich schwöre, ich hatte eine wunderbare Kindheit in diesem Haus. Felix und Anna haben mich immer geliebt wie ein eigenes Kind und deshalb maßlos verwöhnt. Manchmal wollten sie mich zwar am liebsten verschenken, weil ich ihre Nerven zu arg strapaziert hab. Aber dann haben sie mich doch behalten, weil ich hoch und heilig versprochen hab, dass ich ab sofort der reinste Engel sein wolle.“ Einen Schluck Kaffee nehmend, äugte er über den Rand der Tasse hinweg zu Celiska hinüber, bemerkte dabei das amüsierte Lächeln auf ihren Lippen und entschied, dass er nun genug geschwatzt habe. „Was ist mir dir?“, wollte er wissen.
Celiskas Blick verdunkelte sich jäh, denn ihre eigenen Kindheitserinnerungen schienen so weit weg, dass sie sich nur schwer darauf besinnen konnte. Dennoch gab sie einen kurzen Bericht ab, der sich allerdings so unpersönlich anhörte, als trage sie den Lebenslauf einer x-beliebigen, ihr völlig fremden Person vor. Die Tatsache, dass sie verlobt war und demnächst heiraten wollte, verschwieg sie. Sie wusste selbst nicht, warum. Stattdessen erzählte sie von ihrem Beruf, erwähnte auch die Firma, für die sie arbeitete, und wunderte sich nur kurz über das unmutige Stirnrunzeln und die kurzzeitig zu einem schmalen Strich zusammengepressten Lippen ihres Gastes. Sie plauderte so locker und fröhlich über den Alltag im Betrieb, dass man nie auf den Gedanken gekommen wäre, sie sei durch das vergiftete Klima unglücklich oder gar überfordert.
Doch Vincents Ohren vernahmen nicht nur die Worte, die gesprochen wurden. Er war darin geschult, auch die Untertöne herauszuhören, so dass er alsbald zu der Erkenntnis gelangte, dass da irgendetwas faul war. Er hätte es nicht genau definieren können, denn dafür fehlte ihm jeglicher Anhaltspunkt. Trotzdem konnte er das leise Unbehagen nicht abschütteln, welches nun immer deutlicher wurde. Dass eine junge Frau absichtlich so zurückgezogen lebte wie Celiska, war schon sehr ungewöhnlich, überlegte er. Zumal sie wirklich eine Schönheit war und von Verehrern umschwärmt gehörte. Auch ihre Zurückhaltung und Bescheidenheit waren erstaunlich, denn normalerweise hielten die jungen Frauen der heutigen Zeit mit ihrem Können und Wissen nicht hinter dem Berg und wollten ihren männlichen Kollegen in allem ebenbürtig sein. Nicht so Celiska. Sie war … eine kleine Heilige, schoss es ihm mit einem Mal durch den Sinn. Mitten in all dem Chaos und der emotionalen Eiszeit des zwanzigsten Jahrhunderts war sie eine herzerfrischende Ausnahme, die allerdings an ihrer rücksichtslosen Umwelt und der eigenen Sensibilität zerbrechen würde, falls ihr niemand zur Seite stand, um sie zu beschützen. Ach wie gern wollte er derjenige sein, der sie vor allem Bösen bewahrte, wünschte er sich sehnsüchtig.
*
Celia durchmaß den Salon mit raschen, sicheren Schritten. Man hatte nach ihr gerufen, damit sie Lady Langley half, also strebte sie nun zu deren Schlafgemach, um das entspannende Bad zu richten, nach dem verlangt worden war.
„Na, welches Zauberkraut hast du heute dabei?“
Die junge Frau blieb erschrocken stehen, drehte sich um und fand sich von Mary gestellt, die in einer Wandnische gestanden und offenbar auf sie gewartet hatte. Doch kaum nahm sie das hasserfüllte Gesicht ihres Gegenübers wahr, erinnerte sie sich an Venices Warnung, so dass sie ihre Worte sorgfältig zurechtlegte, bevor sie zu einer Antwort ansetzte.
„Wenn Ihr Melisse als Zauberkraut bezeichnen wollt, steht Euch das natürlich frei.“ Sie bemühte sich um Freundlichkeit, auch wenn sie nichts lieber getan hätte, als Mary zu sagen, für wie verachtenswert sie ihr Verhalten hielt. „Allerdings müsstet Ihr dann alle Bauern und auch die modernen Ärzte Zauberer nennen, denn sie schwören auf die Wirkung dieser Pflanze.“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, drehte sie sich um und eilte davon.
„Mein liebes Kind“, flötete die alte Dame, als sie Celias ansichtig wurde. „Ich kann es kaum erwarten! Was hast du da?“
Ein Sträußchen getrockneten Melissenkrauts vorzeigend, lief die junge Frau sogleich zum hölzernen Badezuber und erklärte dabei Wirkung und Anwendungsweise.
„Fein, meine Liebe“, seufzte Lady Langley. „Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich meinen, du bedienst dich der Zauberkraft, um mein Wohlergehen zu fördern.“ Sie registrierte zwar die zutiefst betroffene Miene ihrer zukünftigen Schwiegertochter sowie die plötzlich wächserne Farbe ihrer Wangen, dachte sich jedoch nicht das Geringste dabei. Stattdessen plapperte sie belangloses Zeug, derweil die junge Frau mit aufeinander gepressten Lippen ihre Vorbereitungen traf. Sie gab das trockene Kraut in einen Leinenbeutel, verschnürte ihn mit einem Band und weichte das Säckchen anschließend in dem bereitgestellten Kübel mit kochend heißem Wasser ein, was einen stark riechenden Sud ergab. Am Ende nahm sie den Beutel heraus, kippte die Brühe in den Badezuber und prüfte die Temperatur des Badewassers, bevor sie sich umwandte, um der alten Dame aus ihrer Kleidung zu helfen. Doch kaum bekam sie den Körper ihrer Herrin zu sehen, hielt sie erschrocken den Atem an, denn die Hautfarbe erinnerte an hellen, fleckigen und daher minderwertigen Marmor.
Durchblutungsmangel, stellte Celia in Gedanken fest, um gleich darauf ihre Vermutung bestätigt zu finden. Als sie nämlich Lady Langleys Arm umfasste, um ihr beim Einstieg in den Badezuber zu helfen, meinte sie eine Tote zu berühren. Eiskalt, dachte sie erschrocken. Dabei hätte die Herrin eigentlich völlig verschwitzt sein müssen, da der Raum ziemlich überheizt war. Obwohl es ein recht milder Herbsttag war, brannte im Kamin ein hell loderndes Holzfeuer.
„Ihr solltet wirklich ab und an einen Spaziergang machen“, wagte sie vorzubringen. „Ein wenig körperliche Bewegung würde Euch sicher gut tun.“
„Papperlapapp“, wischte man ihren Vorschlag beiseite. „Ich habe keine Freude an Gewaltmärschen! Es reicht doch völlig aus, wenn ich im Hause herumlaufe.“ Während sie noch sprach, ließ sie sich wohlig seufzend in das warme Wasser gleiten und verlangte, von Celia den Rücken gewaschen zu bekommen.
Die junge Frau wusste, sie sollte lieber still sein, konnte den nächsten Satz jedoch nicht unterdrücken. „Wenn Ihr Euch so wenig bewegt, wird Euer Körper nicht richtig durchblutet“, tadelte sie leise. „Als Erstes sieht man das dann der Haut an. Sie wird alt und runzlig.“ Da sie sich in der Hocke befand und zudem den Kopf gesenkt hielt, um die Arbeit ihrer Finger zu kontrollieren, sah sie die Hand nicht kommen, so dass der Hieb sie buchstäblich von den Beinen fegte. Einen erschrockenen Schrei ausstoßend, landete sie unsanft auf ihrem Gesäß und konnte zunächst nicht fassen, dass man sie allein wegen eines harmlosen Hinweises geschlagen hatte. Verblüfft starrte sie zum wütenden Gesicht ihrer künftigen Schwiegermutter hinauf.
„Du wagst es?“, zischte Lady Langley aufgebracht. „Du wagst mir zu sagen, was ich zu tun habe! Du unverschämtes kleines Luder! Soweit kommt’s noch. Verschwinde aus meinen Augen! Schick mir Mary. Sie soll mich baden. Ich will nicht mehr, dass du mir hilfst. Und deine Hexenkräuter brauche ich auch nicht!“ Während sie noch schimpfte, langte sie nach dem klatschnassen Lappen, mit dem man ihr gerade noch den Rücken gerubbelt hatte, und warf ihn in die Richtung des mittlerweile völlig verstörten Mädchens. „Verschwinde endlich!“
Celia konnte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite neigen, um nicht getroffen zu werden. Gleich darauf schoss sie hoch und rannte aus dem Raum.
„Hat sie dich endlich durchschaut?“
Marys gehässige Frage drang gar nicht erst in Celias Bewusstsein. Insgeheim zutiefst verbittert, weil nun auch die Herrin an ihr zweifelte, raffte sie ihren langen Rock und verließ das Herrschaftshaus mit eiligen Schritten. Wohin ihre Füße sie trugen, war ihr herzlich gleichgültig. Alles, was sie jetzt noch wollte, war, so schnell und so weit wie möglich fortzukommen!
Sie erreichte eben die ersten Bäume des Obstgartens, als sie das Geräusch herannahender Pferdehufe vernahm. Wie aus einem Traum erwachend, richtete sie sich kerzengerade auf, wandte sich um und blickte dem Reiter entgegen.
Victors düstere Miene verhieß nichts Gutes, doch Celia fühlte keine Angst. Eigentlich fühlte sie überhaupt nichts mehr, denn in ihrem Innern hatte sich mittlerweile eine eigenartig gleichgültige Leere breit gemacht. Hoch aufgerichtet stand sie einfach nur da und sah ihm zu, wie er von seinem Pferd stieg und sogleich auf sie zustürmte.
„Wo wollt Ihr hin?“, herrschte er sie an, sobald er ihr gegenüberstand. „Seid Ihr immer noch nicht klug geworden? In dieser Aufmachung hier herumzuspazieren dürfte mehr als leichtsinnig sein! Seid Ihr von Sinnen?“
Celia folgte mit den Augen der Bewegung seines Zeigefingers, verzog jedoch keine Miene. Er hat Recht, ging es ihr durch den Sinn. Das dünne Seidenkleid war wirklich nicht für einen Spaziergang geeignet, zumal es doch empfindlich kühler war, als sie ursprünglich gedacht hatte. Außerdem war es ein sehr aufreizendes Kleidungsstück, stellte sie ohne eine Regung fest. Es hatte zwar einen züchtigen Ausschnitt, aber das dünne Material wurde vom Wind so eng an ihren Körper gepresst, dass nicht eine Kontur verborgen blieb. Selbst ihre Brustwarzen, die sich wegen der Kälte zusammengezogen hatten, zeichneten sich überdeutlich unter der hellgrünen Seide ab.
Victor war für einen Moment so verwirrt angesichts ihres ungewohnten Verhaltens, dass er zunächst einmal schluckte. Als er erkannte, dass sie in der Tat neben sich stand und daher gar nicht begriff, in welch misslicher Lage sie sich befand, löste er die Bänder seines schweren Umhangs, nahm den Mantel von den Schulter und wickelte ihn um die vor Kälte schlotternde junge Frau.
„Leichtfertiges Weibervolk“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wollt Ihr Euch bewusst umbringen? Wenn Ihr schon nicht geschändet oder abgeschlachtet werdet, holt Ihr Euch durch die Kälte den Tod!“ Weil sie immer noch nicht reagierte, ja, sich noch nicht einmal gegen den Griff seiner Hände wehrte, dem sie doch sonst immer auszuweichen verstand, hob er ihr Kinn und blickte in ihr ausdrucksloses Gesicht. „Celia! Was ist denn mit Euch?“, fragte er besorgt.
„Ihr solltet Euch von mir fernhalten“, murmelte sie kaum hörbar. „Wisst Ihr denn nicht, dass Ihr möglicherweise einer Hexe gegenübersteht?“
Victor sah die schönen Augen in einer Tränenflut schwimmen und hätte seine Seele dafür verpfändet, wenn ihm nur ein paar passende Trostworte auf die Zunge gelegt worden wären. Da ihm jedoch partout nichts einfallen wollte, zog er die junge Frau kurzerhand an sich. Ungeachtet der Steife ihres Körpers hielt er sie voller Zärtlichkeit umfangen und streichelte dabei ihren Rücken.
„Ihr seid keine Hexe“, murmelte er schließlich in ihr Haar. „Wer auch immer so etwas behauptet, ist ein gottverdammter Lügner!“
Der Fluch war ihm entschlüpft, ohne dass er über seine Worte nachgedacht hätte, und bewirkte genau das Gegenteil dessen, was er eigentlich beabsichtigte: Statt sich zu beruhigen, lief ein Ruck durch Celias Körper, als wäre in der Tat gerade erst Leben in sie gefahren. Mit einem Mal hellwach, fand sie sich in den Armen des zutiefst gefürchteten Mannes gefangen und strebte nun mit aller Macht von ihm fort, obwohl sie insgeheim etwas ganz anderes wünschte. Allein die Furcht, dass er nicht nur ihren Körper, sondern auch ihr Herz und ihre Seele an sich reißen und mit in die Hölle nehmen würde, wenn sie ihn weiter gewähren ließ, machte es ihr möglich, ihn tatsächlich von sich zu stoßen.
„Lasst mich“, keuchte sie angestrengt. „Rührt mich nicht an! Wenn Ihr mich nicht gehen lasst, schreie ich um Hilfe!“
Victor ließ sie tatsächlich los, aber nicht etwa, weil sie dies verlangte, sondern weil sie so jäh ihr Verhalten änderte. Doch nur einen Augenblick später fühlte er kalten Zorn in sich aufsteigen, denn in ihrem Blick stand so viel Anklage, als hätte er ihr wirklich etwas angetan. Aber was nicht war, konnte ja immer noch werden, grollte er innerlich.
„Je nun“, stieß er hervor. „Dann müsst Ihr aber sehr laut rufen, denn in diesem Teil des Gartens ist kaum einmal jemand anzutreffen, außer Gesindel!“ Sprach’s und langte erneut nach ihren Armen, um sie sogleich an sich zu ziehen und ihren erschrocken geöffneten Mund zu küssen.
Celia fühlte einen sengend heißen und ungemein süßen Schmerz durch ihr Innerstes schießen, während sein Mund ihre Lippen in Besitz nahm und seine Arme sie so fest hielten, dass sie buchstäblich jeden Muskel seines Körpers an dem ihren spürte. Für einen kurzen Moment ließ sie sich von ihrem eigenen Verlangen übermannen und wünschte sich, dieser möge niemals enden. Als Victors Kuss jedoch merklich fordernder wurde und er mit einer Hand nach ihrer Brust tastete, während er sie mit der anderen weiterhin fest an sich gepresst hielt, kam sie wieder zur Besinnung. Auch wenn er ihren Leib betören mochte, dachte sie nun voller Bitterkeit, er würde ihre Seele nicht bekommen! Der Teufel konnte sich noch so viele Schmeicheleien und Schliche einfallen lassen, er würde nicht über die Schwäche ihres Körpers an sein Ziel gelangen. Er mochte sich getrost nehmen, was er begehrte. Aber sein Tun würde weder ihr Herz berühren noch ihren festen Glauben an Gott erschüttern.
Dass ihre Abwehr erschlaffte, blieb Victor nicht verborgen, was ihn augenblicklich zur Vernunft brachte. Den Kopf hebend, um sie ansehen zu können, wurde er sich ihrer schmerzlich verzerrten Miene und der stillen Anklage in ihren Augen bewusst und nahm auf der Stelle die Hände von ihr.
„Verzeiht“, murmelte er mit belegter Stimme. „Ich habe wohl meine gute Erziehung vergessen. Ich wollte Euch nicht wehtun.“
„Das habt Ihr nicht“, erwiderte sie tonlos. „Es war allein meine eigene Schuld.“ Mit dem letzten Wort auf den Lippen drehte sie sich um und strebte sogleich dem Feldweg zu. Weil sie aber gleich darauf am Arm gepackt und aufgehalten wurde, stieß sie einen kurzen Schreckenslaut aus. „Lasst mich!“, verlangte sie erstickt. „Ich muss gehen! Ich muss … Bitte!“ Während sie noch flehte, versuchte sie sich aus seinem Griff zu winden, kam jedoch nicht gegen seine Körperkraft an und verfiel darüber in haltloses Weinen.
„Aber wo wollt Ihr denn hin?“, wollte er verwundert und betroffen zugleich wissen, während er sie losließ.
„Ins Dorf“, schluchzte sie. „Der Schmied wird mich sicher aufnehmen, bis ich nach Hause kann. Man will mich im Herrschaftshaus nicht mehr haben. Also muss ich doch irgendwohin, bis Vater mich holt!“ Bevor man sie aufs Neue aufhalten konnte, warf sie sich herum und rannte davon.