Jim und Mary G.
 
(James Sallis)

 

 

Den kleinen Mantel vom Haken holen, dann hinein mit seinen Armen, gar nicht leicht, weil er so aufgeregt ist und irgendwie immer nach der falschen Seite zappelt. Und immerzu sieht er mit diesen blauen Augen zu einem auf. Park gehen, Papa, sagt er, Möwen sehen. Zerrt zur Tür. Die Möwen liebt er besonders; er hat sie auf dem Boot entdeckt, bei der Überfahrt, und begreift nicht, sucht sie ständig im Park.

Den Schal um seinen Hals wickeln. Gelb, weiß. (Siehst du, wie weiß die Haut da ist, wie die Adern durchschimmern.) Strumpfmütze – er zieht sie über die Augen, geht haha. Lachen kann er noch nicht. Rote Fäustlinge. Nun den Reißverschluß hochziehen, und er ist verpackt. Der Mantel ist aus grünem Kordsamt, mit schwarzem Elastikbund an Hals und Ärmeln und einer runden Kapuze, die bis über die Mütze geht. Es ist November. In England. Das letzte Mal, daß ich all dies tue, denkt er. Liegt noch Schnee am Boden, ich habe heute morgen nicht nachgesehen.

Ihn an der Hand nehmen und sich auf den Weg machen. An der Tür loslassen, weil man beide Hände braucht, um die Klinke herunterzudrücken. Mary wäscht das Geschirr in der Küche. (Tschüs, sagt sie ganz leise, als du die Tür zumachst.) Er läuft voraus und ist als erster an der Haustür, wartet dort, die Nase ans Glas gedrückt. Weißes Licht im Korridor. Du holst ihn ein. Die Milch ist gekommen, zwei Flaschen, und dazwischen steckt der Guardian. Die Matte zur Seite rutschen, sonst kann man die Tür nicht aufmachen. Park gehen, Papa, Möwen sehen. Kalte Nebelluft strömt herein. Umkehren und die Galoschen holen, mit den vielen kleinen Messinghäkchen? Nein, der Schnee ist fort. Nur ein wenig grauer Matsch. Vorsicht. Die Stufen hinunter.

Knirscht den Bürgersteig entlang, vor dir her, enttäuscht, weil kein Schnee da ist, aber dreht sich um, haha. Park gehen? Der Himmel ist flach und weiß wie ein Blatt Papier. Ein Stück entfernt wirbelt ein Vogelschwarm dahin, kreist in sich selbst – schwarze Tupfen, wie Eisenspäne mit einem Magneten unter dem Papier. Bäume säumen die Häuserreihe auf der anderen Straßenseite. Was für welche? Das Laub kräuselt sich in kleinen Wellen. Es sieht aus wie grünes Stanniol. Auf die Promenade.

Er fragt sich, warum ist alles so still. Warum sind keine Autos unterwegs. Oder ein Postwagen. Oder ein Milchauto, das mit klirrenden Flaschen vorüberrollt. Wo sind alles. Es ist zehn Uhr vormittags, wo sind alle.

Aber da um die Ecke ist ein Wagen, festgefahren auf dem Eis des Straßenrands, wo er letzte Nacht parkte, und die Räder drehen whrrrr durch. Lächeln, du verstehst die Probleme eines Erwachsenen. Und gehst in die entgegengesetzte Richtung. Sein Fäustling bleibt in deiner Hand. Haha.

 

Sie hatte nur einmal die Fassung verloren, beim Frühstück. Wie an jedem Morgen hatte der Junge sie geweckt. Er stand in seinem Bett im Zimmer nebenan und hopste auf und ab, bis die Federn gegen den Rahmen schlugen. Dann kletterte er heraus und kam an ihre Tür, schielte um den Pfosten und trippelte schließlich in seinem weißen Wollnachthemd zaghaft näher. Bis ans Bett. Sie taten so, als schliefen sie noch. Fühstück, Fühstück, sagte er dann, stupste sie und zerrte an den Decken, bis er schließlich aufs Bett kletterte und zwischen ihnen zu hopsen begann; erst jetzt machten sie die Augen auf: Hallo. Morggen. Er war stolz auf seine gs. Schon da versagten Marys Kräfte fast, als ihr einfiel, was heute war, was sie in der vergangenen Nacht beschlossen hatten.

Sie drehte ihr Gesicht zum Fenster (noch hatten sie sich keine Vorhänge leisten können), und er hörte sie ein paarmal tief durchatmen. Aber einen Augenblick später hatte sie sich gefangen – stand auf, mit ihrem gesteppten Morgenrock, und ging in die Küche, das Kind hinterher.

Er streckte den Arm aus und holte sich eine Zigarette von der Truhe, die sie als Nachttisch benutzten. Eine kleine Holzlampe stand darauf, und daneben lagen ein BH, ein paar lose Zigaretten und ein Einmachglasdeckel mit Asche und Kippen. Rauchen, auf das Plätschern des Wassers horchen, das Klappern von Pfannen, Schränken und Schubladen. Dann verstummten die Geräusche, und er hörte sie beide im Bad: eine Weile lief die Wasserleitung, dann die Toilettenspülung, und die zufriedenen Ausrufe des Kindes drangen an sein Ohr. Sie gingen zurück in die Küche, und die Geräusche setzten wieder ein. Das Spritzen von Fett, das Geplapper des Kindes, wie artig es gewesen sei. Die Kühlschranktür klappte auf und zu, dann wieder auf; Mary sagte etwas. Das Kind wollte helfen.

Er stand auf und begann sich anzuziehen. Komisch, daß sie vergessen hatte, ihn gleich nach dem Aufstehen ins Bad zu fuhren, das tat sie sonst immer. Helfen, kam aus der Küche die Erklärung, als er zur Kommode ging. Sie war klobig und häßlich, mit jenem Hochglanz, der typisch für billige Möbel ist, aber sie hatte schon in der Wohnung gestanden, als sie einzogen, das einzige Überbleibsel. Er öffnete eine Schublade und holte ein Hemd heraus. Alle seine Hemden waren weiß. Nun, sie hatte ihn einmal gefragt, Vor Jahren. Ihm war es gleich, damals wie heute.

Er ging in die Küche, den Pullover halb übergestreift. „Post?“ Durch die Wolle. Keiner der beiden drehte sich um, so zerrte er ihn zurecht und stülpte den Hemdkragen nach außen. Dann die Manschetten.

„Ein Brief von meinen Eltern. Sie sorgen sich, weil wir nichts von uns hören lassen, und hoffen, daß bei uns alles in Ordnung ist. Vater geht es wieder besser. Wir sollen ihnen schreiben.“

Das Kind schleifte seinen Hochstuhl aus der Ecke herbei. Vor langem waren sie übereingekommen, daß er so viele seiner kleinen Pflichten wie nur möglich selbst erledigen sollte – um Verantwortungsgefühl zu entwickeln, hatte Mary gesagt – aber an diesem Morgen half ihm Jim, den Stuhl zu tragen. Er klappte das Tablett zur Seite, hob ihn hinein und rückte das Gestell näher an den Tisch. Als er aufschaute, wandte sich Mary rasch ab und beugte sich über den Herd.

Eier, Bückling, Toast und Schinken. „Ich dachte, es wäre nett“, sagte Mary, „ein ordentliches Frühstück zu machen.“ Und dann kam der Augenblick, in dem sie die Fassung verlor.

Das Kind hatte damit begonnen, mit den Fingern im Essen herumzurühren, so stand sie wieder auf, um seinen Löffel zu holen. Er war aus schwerem Silber, mit einem Elfenbein-K im Griff, und er hatte früher ihr gehört. Sie überquerte die Fliesen, hielt den kleinen Löffel vor sich und starrte ihn an. Mami weint, sagte das Kind. Mami weint. Sie lief aus dem Zimmer. Das Kind drehte sich in seinem Stühlchen um und sah ihr nach, dann aß es mit dem Löffel weiter. Der Plastikbezug quietschte, wenn das Kind sich bewegte. Das Stühlchen war aus Metall, der Bezug weiß mit großen blauen Sternen drauf. Sie hatten es bei Woolworth gekauft. Zwölf sechs. Wie die Kommode paßte es irgendwie in die Wohnung.

Ein paar Minuten später kam Mary zurück, schenkte ihnen beiden Kaffee ein und nahm ihm gegenüber Platz.

„Es ist am besten so“, sagte sie. „Er wird nicht leiden müssen. Es ist die einzige Lösung.“

Er nickte und starrte in den Kaffee. Nahm die Brille ab und putzte sie mit dem Hemdzipfel. Das Kind vermischte die Eier und den Bückling in seiner Schüssel. Hielt den Löffel wie einen Meißel in der Hand und rührte immer im Kreis herum.

„Jim …“

Er sah auf. In diesem Moment erschien sie ihm sehr müde, sehr schwach.

„Wir könnten ihn an einen dieser Plätze bringen. Wo man sie … betreut.“

Er schüttelte heftig den Kopf. „Nein, das haben wir bereits besprochen, Mary. Er würde es nicht begreifen. So wie ich es mache, wird es leichter sein. Wenn ich es selbst mache.“

Sie ging ans Fenster und starrte es an. Es füllte fast eine Wand aus. Es war mit Eisblumen überzogen.

„Möchtest du nach dem Frühstück Spazierengehen?“ fragte er das Kind. Sofort schob es die Schüssel weg und sagte: „Erst Tolette?“

„Du oder ich?“ fragte Mary vom Fenster her.

Nach einer Pause: „Du.“

Er saß allein in der Küche und sann nach. Wasser lief, die Toilette rauschte, er kam stolz heraus. „Park gehen“, sagte er. „Möwen sehen.“

„Vielleicht.“ Das war es, die Lüge, die ihm später wieder einfiel; daran erinnerte er sich am deutlichsten. Er stand auf und ging in den Flur, gefolgt von dem Kind. Er zog den Mantel an. „Wo ist sein zweiter Schal?“

„In der Kommodenschublade. Ganz oben.“

Er holte ihn, begann nach der Strumpfmütze und den Fäustlingen zu suchen. Ging durch die Räume, zog Schubladen auf. Es gibt keine Seemöwen in London. Als sie ihm Mütze und Handschuhe brachte, war ein Loch in der Mütze, und er machte sich auf die Suche nach der anderen. Ging durch die Räume, immer wieder ins Kinderzimmer.

„Um Himmels willen, geh“, sagte sie schließlich. „Bitte, bleib! Oh, verdammt, Jim, geh!“ Und sie drehte sich um und lief in die Küche.

Bald hörte er sie hantieren. Tisch abräumen, Wasser aufdrehen, Sachen auf- und zumachen, Bestecke klappern.

„Park gehen?“

Er begann das Kind anzuziehen. Den kleinen Mantel vom Haken holen, ihm den Schal um den Hals wickeln. Es gibt keine Seemöwen in London. Strumpfmütze, haha.

Das letzte Mal, daß ich all dies tue, denkt er.

Jetzt rumbumbum. Die komische Treppe hinunter.

Als er zurückkam, lag Mary auf dem Bett, immer noch in ihrem gesteppten Morgenrock, und starrte die Decke an. Es schien sehr dunkel, sehr kalt im Zimmer. Er setzte sich im Mantel neben sie und legte ihr die Hand auf den Arm. Autos fuhren am Fenster vorbei. Die Mieter oben hatten ihr Radio an.

„Weshalb hast du die Kommode weggerutscht?“ fragte er nach einer Weile.

Ohne den Kopf zu bewegen, richtete sie den Blick zum Fußende des Betts. „Nachdem du fortgegangen warst, lag ich hier, und da fiel mir auf, daß sich eine Ampel oder etwas Ähnliches von der Straße her darin spiegelte. Es blinkte auf und ab, ich muß wohl eine Stunde lang hingestarrt haben. Nun wohnen wir schon seit Wochen hier, und ich hatte es noch nie bemerkt. Aber als ich erst einmal darauf aufmerksam wurde, mußte ich die Kommode wegrücken.“

„Du solltest nicht so schwere Sachen schieben.“

Lange Zeit lag sie reglos da, und als sie sich endlich rührte, geschah es nur, um den Kopf ein wenig zu drehen und ihn schweigend anzusehen.

Er nickte, einmal, ganz langsam.

„Es hat nicht …“

Nein.

Sie lächelte, traurig, und er legte sich neben sie in das schmale Bett. Sie wirkte jetzt jünger, ausgeruht, wieder sie selbst. Es war Wärme in ihrer Hand, als sie die seine nahm und auf ihren Leib preßte.

Sie lagen den ganzen Nachmittag still da. Auf den Straßen bildete sich wieder Eis; sie hörten, wie draußen Räder schleuderten, Motoren hochgejagt wurden. Die Haustür ging auf, Milchflaschen schepperten, die Tür schloß sich wieder. Dann war alles still. Die Bäume auf der anderen Straßenseite ließen ihre Äste unter dem Gewicht des Eises hängen.

Ein Geräusch machte sich in der Wohnung bemerkbar. Ganz schwach und gleichmäßig, wie ein Ticken. Er hörte stundenlang zu, bis er erkannte, daß es ein tropfender Wasserhahn im Bad war.

Draußen verwischten sich die Umrisse der Bäume. Langsam kam die Nacht. Und mit ihr, Schnee. Sie lagen zusammen im Dunkel und starrten aus dem vereisten Fenster. Hin und wieder huschten Lichter darüber hinweg.

„Morgen schaffen wir seine Sachen weg“, sagte sie nach einer Weile.