Fortsetzung auf dem nächsten Stein
(R. A. Lafferty)
Droben im Big Lime Country gibt es eine Horstbildung, Schlotgestein, das halb gegen eine jüngere Erhebung gesunken ist. Es besteht aus Albit, durchsetzt mit Muschelkalk. Es entwickelte sich während der Eiszeit und jüngeren Perioden im Flachland zwischen Crow Creek und Green River, als diese (zumindest fünfmal) mächtige Ströme waren.
Das Schlotgestein ist nur wenig älter als die Menschheit und wenig jünger als Gras. Die Formation wurde hochgeschoben und verwitterte dann, bis auf die härteren Teile wie der Schlot selbst und einige Blöcke.
Eine Gruppe von fünf Personen kam an diese Stelle, wo das Schlotgestein gegen die jüngere Erhebung gesunken war. Die Leute kümmerten sich nicht um die dicke Kalksteinschicht darunter; sie waren keine Geologen. Ihnen ging es um die jüngere Erhebung (sie war von Menschen geschaffen) und auch ein wenig um den Felsenschlot; sie waren Archäologen.
Hier war Zeit, übereinandergehäuft, hervorbrechend in Wülsten und Akkumulationen, nicht in glatter Reihenfolge. Und hier war auch Zeit, in Schichten und Lagen, hoch aufgetürmt und dann eingestürzt und zerbrochen.
Die Fünfergruppe kam am frühen Nachmittag mit ihrem Geräteanhänger durch ein ausgetrocknetes Bachbett. Sie luden eine Menge Material aus und errichteten ein Lager. Es war eigentlich nicht nötig, an Ort und Stelle zu kampieren. Zwei Meilen entfernt am Highway gab es ein gutes Motel; außerdem führte eine Straße den Grat entlang. Sie hätten bequem leben und jeden Morgen in fünf Minuten zur Ausgrabungsstelle gelangen können. Aber Terrence Burdock vertrat den Standpunkt, daß man nur dann das richtige Gefühl für die Arbeit bekam, wenn man Tag und Nacht damit in Verbindung war.
Die fünf Leute waren Terrence Burdock, seine Frau Ethyl, Robert Derby und Howard Steinleser: vier schöne, ausgeglichene Menschen. Und Magdalen Mobley, die man weder schön noch ausgeglichen nennen konnte. Aber sie war elektrisierend; sie hatte etwas Besonderes an sich. Solange das Licht ausreichte, kletterten sie nach dem Aufschlagen des Lagers noch ein wenig in den Formationen umher. Sie alle hatten die Stelle schon früher gesehen und fanden sie vielversprechend.
„Diese merkwürdige Riefelung in der Bruchstelle des Schlots könnte fast Kernmaterial sein“, sagte Terrence. „Es unterscheidet sich auch vom übrigen Gestein. Es zieht sich wie ein Blitzstreifen durch die gesamte Länge. Es ist bereits für uns freigelegt. Ich glaube, daß wir den Schlot ganz entfernen werden. Er verdeckt den günstigsten Zugang zum Hügel, und diesem Hügel gilt schließlich unser Hauptaugenmerk. Aber wir wollen den Schlot zuerst untersuchen. Er bietet sich geradezu an.“
„Oh, ich kann euch alles sagen, was in dem Schlot ist“, meinte Magdalen verdrießlich. „Ich kann euch auch alles über die Erhebung sagen.“
„Ich frage mich, wozu wir uns überhaupt die Mühe machen, hier zu graben, wenn du schon weißt, was wir finden werden.“ Ethyls Stimme verriet Ärger.
„Das frage ich mich auch“, murmelte Magdalen. „Aber wir brauchen handfeste Beweise. Ohne handfeste Beweise bekommen wir keine Zuschüsse. Robert, geh etwa vierzig Meter nach Nordosten und schieß das Reh, das sich im Unterholz verbirgt. Wenn wir schon so primitiv leben, können wir auch Wildbret essen.“
„Es ist Schonzeit“, widersprach Robert Derby. „Außerdem gibt es hier kein Wild, höchstens in der Mulde dort unten, wo du es nicht sehen kannst. Und dann ist es vermutlich eine Geiß.“
„Nein, Robert, es ist ein zweijähriger, kräftiger Bock. Natürlich ist er in der Mulde, wo ich ihn nicht sehen kann. Vierzig Meter nordöstlich liegt nun mal die Mulde. Nun geh schon und schieße ihn! Bist du ein Mann oder eine Memme? Howard, du machst aus Pfählen ein Gestell zurecht, auf dem wir den Bock ausnehmen können.“
„Geh lieber, Robert“, sagte Ethyl Burdock, „sonst ist es um unseren Abendfrieden geschehen.“
Robert Derby nahm einen Karabiner und ging nach Nordosten. Nach vierzig Metern hatte er die Senke erreicht. Sie hörten das helle Echo eines Karabinerschusses. Und kurz danach kehrte Robert mit einem sonderbaren Grinsen zurück.
„Du hast ihn nicht verfehlt, Robert, er ist tot“, rief Magdalen laut. „Du hast ihn durch einen prächtigen Schuß in den Hals erledigt. Die Kugel drang ihm schräg ins Gehirn, als er den Kopf hochwarf. Weshalb hast du ihn nicht mitgebracht? Los, hol ihn!“
„Holen? Ich könnte das Ding nicht mal hochheben. Terrence, Howard, kommt mit! Wir binden ihn an einen Pfahl und schleppen ihn irgendwie her.“
„Oh, Robert, du hast wohl deinen hübschen Verstand verloren!“ spottete Magdalen. „Er wiegt nur hundertneunzig Pfund. Warte, ich hole ihn selbst.“
Magdalen Mobley stand auf und holte den großen Bock. Sie trug ihn lässig über den Schultern, ohne darauf zu achten, daß sie sich mit Blut verschmierte; gelegentlich hielt sie an, um einen Stein zu untersuchen und ihn dann mit dem Fuß zur Seite zu stoßen. Sie kam ohne weiteres mit ihrer Bürde zurecht. Das Ding sah aus, als würde es zweihundertfünfzig Pfund wiegen, aber wenn Magdalen behauptete, es waren hundertneunzig, dann gab es daran nichts zu rütteln.
Howard Steinleser hatte Pfähle zurechtgeschnitten und zu einem Gestell zusammengebunden. Sie zurrten den Bock fest, enthäuteten ihn, schlitzten ihm den Bauch auf, weideten ihn aus und richteten ihn gekonnt her.
„Brate ihn, Ethyl!“ sagte Magdalen.
Später, als sie um das Feuer saßen und die Dunkelheit hereingebrochen war, brachte Ethyl Magdalen das Hirn des Tieres, glitschig und halbroh, in der Absicht, ihr einen Streich zu spielen. Aber Magdalen verschlang es gierig. Es gehörte ihr. Sie hatte den Bock entdeckt.
Wenn Sie sich wundern, wie Magdalen wußte, welche unsichtbaren Dinge wo waren, so erging es den Mitgliedern der Gruppe nicht besser.
„Es verwirrt mich manchmal, daß ich der einzige zu sein scheine, dem die Analogie zwischen der Erdgeschichte und der Tiefenpsychologie auffällt“, sinnierte Terrence Burdock, als sie am Lagerfeuer ein wenig philosophisch wurden. „Das isostatische Prinzip gilt für den Verstand und seine tieferen Schichten ebenso wie für die Erde und ihre tieferen Schichten. Der Verstand hat seine Erosionen und Verwitterungen, ebenso wie seine Ablagerungen und Akkumulationen. Er hat auch seine Aufwerfungen und seine Spannungen. Er schwimmt auf einem ähnlichen Magma. In Extremfällen hat er seine Vulkanausbrüche und Gebirgsfaltungen.“
„Und er hat seine Vergletscherungen“, sagte Ethyl Burdock, und vielleicht sah sie ihren Mann in der Dunkelheit an.
„Der Verstand hat seinen harten Sandstein, manchmal umgeformt zu Quarz oder halb umgeformt zu Feuerstein vom reibenden, treibenden Sand des Alltags. Er hat seinen Schiefer vom alten Schlamm täglichen Versagens und täglicher Schwächen. Er erhält seinen Kalkstein von den lebhafteren Erfahrungen, denn Kalk ist der Überrest organischen Lebens. Und dieser Kalkstein kann echter Marmor sein, wenn es sich um eine Ablagerung reicher Emotionen handelt, oder gar Travertin, wenn es angeschwemmt wurde durch die heftigen Erinnerungsströme des Unterbewußtseins. Der Verstand hat seinen Schwefel und seine Edelsteine –“ Terrence schwafelte weiter, und Magdalen schnitt ihm das Wort ab.
„Sag doch einfach, daß wir Steine im Kopf haben“, meinte sie. „Aber es handelt sich um Zufallssteine, das versichere ich dir, und es kommen ständig die gleichen wieder. Es ist bei uns nicht dasselbe wie bei der Erde. Die Welt erhält ständig neue Gesteine. Dagegen tauchen immer die gleichen Leute auf und die gleichen Gehirne. Verdammt, da ist schon wieder so ein Exemplar davon. Er soll mich endlich in Ruhe lassen. Die Antwort lautet immer noch Nein.“
Sehr oft sagte Magdalen Dinge, die keinen Sinn ergaben. Ethyl Burdock vergewisserte sich, daß weder ihr Mann noch Robert oder Howard sich im Dunkel neben Magdalen geschlichen hatten. Ethyl war eifersüchtig auf das herbe, verdrießliche Mädchen.
„Ich hoffe, die Stelle ist ebenso ergiebig wie Spiro Mound“, hoffte Howard Steinleser. „Möglich wäre es doch. Soviel ich weiß, gab es nie einen Fundort, der scheußlicher oder kniffliger war als Spiro. Ich wollte, wir hätten jemanden, der dort mitgrub.“
„Oh, er war in Spiro dabei“, sagte Magdalen verächtlich.
„Er? Wer?“ erkundigte sich Terrence Burdock. „Keiner von uns war in Spiro. Magdalen, du warst noch nicht einmal auf der Welt, als sie diesen Hügel öffneten. Was kannst du darüber wissen?“
„Ja, ich erinnere mich, daß er in Spiro war“, sagte Magdalen. „Er buddelte immer seine eigenen Sachen aus und protzte damit.“
„Warst du wirklich in Spiro dabei?“ fragte Terrence plötzlich ein Stück Dunkelheit. Seit einiger Zeit spürten sie alle vage, daß sechs und nicht fünf Leute um das Feuer saßen.
„Ja, ich war in Spiro dabei“, sagte der Mann. „Ich habe dort gegraben. Ich habe bei vielen Grabungen gegraben. Ich grabe ausgezeichnet, und ich weiß immer, wann wir auf etwas Wichtiges stoßen. Ihr gebt mir einen Job?“
„Wer bist du?“ fragte ihn Terrence. Der Mann war jetzt recht gut zu sehen. Die Flammen schienen in seine Richtung zu flackern, als würde er sie irgendwie anziehen.
„Oh, ich bin nur ein reicher alter armer Mann, der nicht locker läßt und hofft und bittet. Es gibt eine, die das für alle Zeiten wert ist, also umwerbe ich die eine für alle Zeiten. Und manchmal bin ich andere Dinge. Vor zwei Stunden war ich das Reh in der Senke. Es ist komisch, sein eigenes Fleisch zu kauen.“ Und der Mann kaute unaufgefordert an einer Rehkeule.
„Er und seine verdammt billige Poesie!“ fauchte Magdalen wütend.
„Wie heißt du?“ fragte ihn Terrence.
„Manypenny. Anteros Manypenny ist mein Name für alle Zeiten.“
„Was bist du?“
„Oh, einfach Indianer. Shawnee, Choc, Creek, Andarko, Caddo und Pre-Caddo. Eine Menge Dinge.“
„Wie kann jemand Pre-Caddo sein?“
„Wie ich. Ich bin es.“
„Ist Anteros ein Creek-Name?“
„Nein, griechisch. Mann, ich bin die Wurzel Jesse, ich bin ein Erdarbeiter. Morgen werdet ihr es sehen.“
Mann, er war ein Erdarbeiter! Am nächsten Tag sahen sie es. Mit einer kurzstieligen Gartenhacke begann er den Schnitt am Fuß des Hügels, und er arbeitete zu schnell, als daß man es hätte glauben können.
„Er wird alles kaputt machen, was sich da unten befindet. Er wird nicht wissen, worauf er stößt“, beklagte sich Ethyl Burdock.
„Frau, ich mache nichts kaputt, was es auch sein mag“, sagte Anteros. „Ihr könnt ein Vogelei in einem Kubikmeter Sand vergraben. Ich entferne den ganzen Sand in einer Minute. Ich decke das Ei auf, wo es auch sein mag. Und ich werde das Ei nicht knicken. Ich spüre diese Dinge. Ich komme jetzt zu einem kleinen Gefäß aus der Proto-Plano-Periode. Es ist natürlich zerbrochen, aber ich zerbreche es nicht. Es besteht aus sechs Stücken, und sie werden genau zusammenpassen. Ich sage euch das vorher. Nun hole ich es heraus.“
Und Anteros holte es heraus. Etwas stimmte nicht mit dem Gefäß, lange bevor er es ausgebuddelt hatte. Aber es war zweifellos ein Fund, und vielleicht stammte er wirklich aus der Proto-Plano-Periode. Die sechs Scherben kamen zum Vorschein. Sie wurden flüchtig gesäubert und zusammengesetzt. Es war augenscheinlich, daß sie wunderbar passen würden.
„Also, das ist perfekt!“ rief Ethyl.
„Es ist zu perfekt“, widersprach Howard Steinleser. „Es war ein gedrehtes Gefäß, und wo gab es gedrehte Gefäße in Amerika, ohne die Töpferscheibe? Aber die eingedrückten Symbole stimmen mit den Proto-Plano-Symbolen überein. Die Sache ist faul.“
„Es ist die Welle und der Keil, das Fischzeichen“, erklärte Anteros. „Und darüber das Sonnensymbol. Das bedeutet Fischgott.“
„Das meine ich nicht“, beharrte Steinleser. „Niemand stößt in den ersten sechzig Sekunden einer Ausgrabung auf so ein Ding. Und es kann nicht sein, daß dieses Gefäß in der Erde steckte. Ich glaube erst dann an die Proto-Plano-Periode, wenn sich genau an dieser Stelle auch Geschoßspitzen finden.“
„Oh hier“, sagte Anteros. „Man kann die Formen der Feuersteinspitzen geradezu riechen. Zwei große Spitzen, eine kleine. Die Ausdünstung muß euch doch in die Nase steigen, oder? Vier Schaufeln Erde, und ich habe sie.“
Vier Schaufeln Erde, und Anteros hatte sie tatsächlich. Er legte zwei große Spitzen und eine kleine frei, zwei Speerspitzen und eine Pfeilspitze. Lanzettförmig waren sie, mit Schlagretuschen von den Rändern aus. Sie waren spätes Folsom, oder sie waren Proto-Plano; sie waren, was man wollte.
„Das kann nicht sein“, stöhnte Steinleser. „Es sind die fehlenden Glieder, die Übergangsstücke. Sie füllen die Lücke zu gut aus. Ich glaube das einfach nicht. Ich wäre selbst skeptisch, wenn wir in der gleichen Schicht einen Mastodonknochen fänden.“
„Sofort“, sagte Anteros und setzte die Hacke wieder ein. „He, diese alten Biester rochen aber komisch! Ein Elefant nimmt es nicht mit ihnen auf. Und eine schöne Brise davon hängt noch an den Knochen. Genügt ein sechster Brustwirbel? Ich bin ziemlich sicher, daß es sich um einen solchen handelt. Ich weiß nicht, wo der Rest des Tieres steckt. Vermutlich hat jemand hier den Knochen abgenagt. Neun Spatenstiche, und dann ganz vorsichtig!“
Neun Spatenstiche – und dann hob Anteros den alten, abgenagten Knochen ganz vorsichtig mit einer Kelle aus dem Boden. Ja, sagte Howard beinahe wütend, es sei der sechste Brustwirbel eines Mastodons. Robert Derby meinte, es sei der fünfte oder der sechste, der Unterschied ließe sich schwer feststellen.
„Laß das Graben eine Weile, Anteros“, sagte Steinleser. „Ich möchte hier Skizzen und Fotos anfertigen und ein paar Messungen vornehmen.“
Terrence Burdock und Magdalen Mobley arbeiteten am Fuß des Schlotfelsen, am Fuß der Riefelung, die sich von oben bis unten durch das Gestein zog wie Kernmaterial.
„Hol Anteros her!“, schlug Terrence vor. „Mal sehen, was er in sechzig Sekunden entdeckt.“
„Ach, der! Der wird wieder einige seiner eigenen Sachen ausbuddeln!“
„Wie meinst du das, seine eigenen Sachen? Niemand könnte hier etwas eingelagert haben. Es ist harter Sandstein.“
„Und hier noch härterer Feuerstein“, sagte Magdalen. „Ich hätte es mir denken können. Gib das verdammte Ding nach oben weiter! Ich weiß ohnehin ziemlich genau, was daraufsteht.“
„Was daraufsteht? Wie meinst du das? Aber es weist tatsächlich Zeichen auf! Und es ist groß und grob zugehauen. Wer würde Feuerstein für eine Skulptur verwenden?“
„Jemand, der stur ist wie Feuerstein“, sagte Magdalen. „Also schön, heraus damit! Anteros! Sieh zu, daß du diesen Stein in einem Stück herausholst! Wehe, du zerbrichst den Schlot und läßt ihn auf uns herabprasseln! Er kann das, mußt du wissen, Terrence. Er kann solche Dinge.“
„Was weißt du über ihn, Magdalen? Du hast bis gestern abend nichts von dem armen Mann gesehen oder gehört.“
„Nun, jedenfalls weiß ich, daß es das gleiche verdammte Zeug sein wird.“
Anteros holte den Stein heraus, ohne ihn zu zerbrechen oder den Schlot einzustürzen. Ein Stemmen mit der Brechstange, drei Dynamitbarren und eine Zündkapsel, und er berührte die Batteriekontakte, als er fast darüber war. Die Detonation, sie klang, als würde der Himmel auf sie herabstürzen, und einige dieser Himmelsblöcke waren ziemlich große Steine. Die Alten hatten sich gewundert, weshalb herabfallende Himmelsstücke immer dunkles Felsenzeug waren und nie himmelblaues, klares Material. Die Antwort darauf ist, daß immer nur Stücke des Nachthimmels herunterfallen, aber manchmal fallen sie fast den ganzen Tag, weil die Entfernung so groß ist. Und die Sprengung, die Anteros auslöste, brachte felsige Brocken des Nachthimmels herunter, obwohl heller Tag war. Sie brachte dunklere Felsen herab als jene, aus denen der Schlot bestand.
Dennoch, es war eine kleine Sprengung. Der Schlot wankte, aber brach nicht zusammen. Er blieb unsicher auf seiner Basis sitzen. Und der Feuersteinblock war frei.
„Tausend Speerspitzen und Pfeilspitzen konnte man aus diesem Koloß brechen und hauen“, staunte Terrence. „Dieser Feuersteinblock wäre ein primitives Vermögen für einen primitiven Menschen gewesen.“
„Ich hatte mehrere solche Vermögen“, sagte Anteros dumpf, „und das hier habe ich aufgehoben und mit einer Widmung versehen.“
Sie alle hatten sich um den Fund versammelt.
„Oh, der arme Mann!“ rief Ethyl plötzlich. Aber sie sah keinen der Männer an. Sie sah den Stein an.
„Soll er mich doch endlich damit verschonen!“ fauchte Magdalen wütend. „Mir ist es egal, wie reich er ist. Ich kann Bessere als ihn in jedem Hinterhof auftreiben.“
„Was reden die Weiber da zusammen?“ fragte Terrence. „Aber das hier sieht nach echten Schriftzeichen aus. Beinahe aztekisch, nicht wahr, Steinleser?“
„Nahuattanoisch, das ist eng verwandt dazu.“
„Kannst du es lesen?“
„Wahrscheinlich. Gebt mir acht oder zehn Stunden, und es müßte mir gelingen, den Zusammenhang der meisten Zeichen zu erkennen. Wir können jedoch kaum eine vernünftige Wiedergabe der Botschaft erwarten. Alle Nahuat-Tanoa-Ubertragungen haben bis jetzt Unsinn ergeben.“
„Und vergiß nicht, Terrence, daß Steinleser langsam liest“, sagte Magdalen boshaft. „Zudem deutet er auch andere Zeichen sehr schlecht.“
Steinleser war mürrisch und wortkarg. Wo hatte er sich die tiefen, bläulichen Kratzspuren im Gesicht zugezogen?
Sie entfernten an diesem Vormittag viele Felsbrocken und Geröll, machten eine Menge Aufnahmen und schrieben umfangreiche Notizen. Es gab ständig Funde, als die Leute in zwei Gruppen durch den erweiterten Schnitt im Hügel und durch die Kernriefelung im Schlot vorstießen. Es waren keine verwirrenden Entdeckungen mehr; keine gedrehten Gefäße aus der Proto-Plano-Periode; wie könnte das auch sein? Es gab keine vorher angekündigten, perfekten Geschoßspitzen aus dem späten Folsom, aber es gab zerbrochene Spitzen, von denen niemand etwas vorher gewußt hatte. Kein Mastodon-Brustwirbel wurde gefunden, aber man entdeckte Knochen vom Bison latifrons, von einem Wolf oder Kojoten, von Menschen. Es gab einige Widersprüche in der Beziehung der gefundenen Gegenstände, aber die Sache war nicht so faul wie am frühen Vormittag, nicht so faul wie in jenem Moment, als Anteros die Gefäßscherben, die drei Geschoßspitzen und den Mastodonknochen angekündigt und ausgegraben hatte. Die Funde jetzt waren so echt, wie man es erwartete, und doch wirkte ihre Anhäufung irgendwie verdächtig.
Und dieser Anteros war ein Erdarbeiter! Er entfernte den Sand, er entfernte die Steine, ihm entging nichts. Und mittags verschwand er.
Eine Stunde später kam er mit einem chromglänzenden Kombi wieder, aus einer überwachsenen Schlucht, wo niemand einen Weg vermutet hatte. Er war in der Stadt gewesen. Er brachte eine Menge Aufschnitt, Käse, Pasteten und appetitliche Kleinigkeiten, dazu zwei Kästen mit gekühltem Bier und etwas Whisky.
„Ich dachte, du seist ein armer Mann, Anteros“, tadelte Terrence.
„Ich sagte doch, daß ich ein reicher alter armer Mann bin. Ich habe neuntausend Morgen Grasland, ich habe dreitausend Stück Vieh, ich habe Luzernen- und Klee- und Getreidefelder und Weiden –“
„Oh, ich kann das nicht mehr hören!“ fauchte Magdalen.
„Ich habe andere Dinge“, schloß Anteros mürrisch.
Sie aßen, sie rasteten, sie arbeiteten den ganzen Nachmittag. Magdalen arbeitete ebenso rasch und gründlich wie Anteros. Sie war jung, sie war kräftig, sie war sonnengebräunt. Sie war nicht hübsch (Ethyl schon). Sie hätte jederzeit jeden der Männer haben können (Ethyl nicht). Sie war Magdalen, die oft Unangenehme, die meist Lässige, die plötzlich Leidenschaftliche. Sie war die Spannung der Gruppe, die Sehne des Bogens.
„Anteros!“ rief sie scharf, eben als die Sonne unterging.
„Die Schildkröte?“ fragte er. „Die Schildkröte im toten Wasser unter dem Felsvorsprung? Aber sie ist fett und glücklich und hat keinem etwas zuleide getan, es sei denn aus Hunger oder im Spaß.“
„Genau die! Sie wiegt achtzehn Pfund. Sie ist fett. Sie wird gut schmecken. Nur achtzig Meter, wo die Böschung zum Green River hin abfällt, unter dem kleineren Vorsprung aus Schieferton, der wie echter Schiefer aussieht, zwei Fuß tief –“
„Ich weiß, wo sie ist, ich werde die fette Schildkröte holen“, sagte Anteros. „Ich selbst bin die fette Schildkröte. Ich bin der Green River.“ Er ging, um sie zu holen.
„Oh, seine verdammte Poesie!“ fauchte Magdalen, als er fort war.
Anteros brachte die fette Schildkröte. Sie sah aus, als würde sie fünfundzwanzig Pfund wiegen; aber wenn Magdalen sagte, daß sie achtzehn Pfund wog, dann waren es achtzehn.
„Fang zu kochen an, Ethyl!“ sagte Magdalen. Magdalen besaß keine abgeschlossene Ausbildung, und es war ein Mordsdusel, daß sie an der Expedition überhaupt teilnehmen durfte. Die anderen Gruppenmitglieder waren alle bedeutende Archäologen. Magdalen hatte kein Recht, irgend jemandem Befehle zu erteilen, außer ihrem angeborenen Recht.
„Ich weiß nicht, wie man Schildkröte macht“, beschwerte sich Ethyl.
„Anteros wird es dir zeigen.“
„Der nächtliche Geruch frisch ausgehobener Erde!“ sinnierte Terrence Burdock, als sie etwas später um das Lagerfeuer saßen, voll Schildkröte und Whisky, und den Quellen der Weisheit ganz nahe. „Ein freigelegtes Zeitalter läßt sich meiner Meinung nach schon durch die besondere Geruchsnote bestimmen.“
„Geruchsnote! Daß ich nicht lache!“ tönte es von Magdalen. Aber tatsächlich, es ging ein zeitbeschwörender Hauch von der Grabung aus: kühl, zugleich modrig und schwer, erfüllt von altem, geschichtetem Wasser und zusammengepreßtem Tod. Geschichtete Zeit.
„Es hilft, wenn man bereits weiß, welcher Art das freigelegte Zeitalter ist“, sagte Howard Steinleser. „Hier haben wir eine Anomalie. Der Schlot verhält sich manchmal, als sei er jünger als der Hügel. Der Schlot kann nicht jung genug sein, um einen Felsblock mit Schriftzeichen zu enthalten, aber er tut es.“
„Die ganze Archäologie besteht aus Anomalien“, sagte Terrence, „die so zusammengesetzt werden, daß sie in ein Zufallsschema passen. Andernfalls gäbe es kein System für sie.“
„Jede Wissenschaft besteht aus Anomalien, die so zusammengesetzt werden, daß sie passen“, sagte Robert Derby. „Hast du die Schrift entziffert, Howard?“
„Ja, so ziemlich. Besser, als ich es erwartete. Charles August kann natürlich alles noch einmal überprüfen, wenn wir das Ding zur Universität bringen. Es ist eine Inschrift, die nichts mit einem König oder einem Stamm, aber auch nichts mit Krieg oder Jagd zu tun hat. Sie fällt unter keines der herausragenden Symbole, in keine unserer Kategorien. Sie kann nur als unkategorisiert oder persönlich eingestuft werden. Die Übersetzung ist noch holprig.“
„Los, fang an, Howard!“ rief Ethyl.
„Du bist die Freiheit der Wildschweine im Sauergras und der Adel der Dachse. Du bist die Klugheit der Schlangen und das Schweben der Geier. Du bist das Lodern von Mesquitesträuchern, die der Blitz in Brand gesetzt hat. Du bist die Heiterkeit von Kröten.“
„Man muß zugeben, daß er sich etwas ganz Neues ausgedacht hat“, sagte Ethyl. „Deine Liebesbriefe waren nicht so ausgeprägt, Terrence.“
„Was sind das für Zeilen, Steinleser?“ fragte Terrence. „Man muß sie irgendwie einordnen.“
„Ich glaube, Ethyl hat recht. Es handelt sich um ein Liebesgedicht. ‚Du bist das Wasser in Felszisternen und die verborgenen Spinnen in diesem Wasser. Du bist der tote Kojote, der halb im Fluß liegt, und du bist die alten, gefangenen Träume im Gehirn des Kojoten, die durch die gebrochenen Augen sickern. Du bist die glücklichen Schmeißfliegen um diese gebrochenen Augen.’“
„Nun reicht es aber, Steinleser“, rief Robert Derby. „Das kannst du nicht alles von ein paar Kratzern auf Feuerstein haben. Was bedeutet ‚gefangene Träume’ in der Zeichenschrift der Nahua-Tanoa?“
„Das ausgefüllte Menschenzeichen neben dem hohlen Menschenzeichen, beide eingeschlossen in das Nachtsymbol – das ist immer als Traum gewertet worden. Und hier befindet sich das Traumsymbol im Innern des Zeichens für eine tödliche Falle. Ja, ich glaube, das heißt ‚gefangene Träume’. Weiter: ‚Du bist die Kornmade im dunklen Herzen der Ähre, der nackte kleine Vogel im Nest. Du bist die Krätze des kranken Kaninchens, die Leben und Fleisch verschlingt und es in dein Blutwasser verwandelt. Du bist Sterne, in Kohle gepreßt. Aber du kannst nicht geben, du kannst nicht nehmen. Wieder wirst du am Fuß der Klippe zerschmettert, und das Wort wird ungesagt auf deiner geschwollenen, purpurnen Zunge bleiben.’“
„Ein Liebesgedicht vielleicht, aber nicht so wie die anderen“, sagte Robert Derby.
„Ich konnte mich mit seinem Unsinn nie anfreunden, und ich habe es versucht, ich habe es wirklich versucht“, stöhnte Magdalen.
„Hier ist die Veränderung der Subjektperson, angezeigt durch das Symbol des schrägen Auges in Verbindung mit dem Ich-Zeichen“, erklärte Steinleser. „Es wird nun in der ersten Person fortgefahren: ‚Ich habe zehntausend Säcke Korn. Ich habe Gold und Bohnen und neun Büffelhörner voll Wassermelonenkerne. Ich habe den Lendenschurz, den die Sonne bei ihrer vierten Reise über den Himmel trug. Nur drei Lendenschurze auf der Welt sind älter und kostbarer als dieser. Ich flehe dich an, mit einer Stimme so laut wie das Hämmern der Reiher (dieses Bild ist nicht genau übertragen, denn es handelt sich um keinen modernen Hammer, sondern um einen Faustkeil) und das Schnauben der Büffel. Meine Liebe ist biegsam wie ein Schlangenknäuel, sie ist beständig wie das Faultier, sie ist wie ein gefiederter Pfeil in deinen Leib – so ist meine Liebe. Weshalb bleibt meine Liebe unerfüllt?“
„Ich glaube dir nicht, Steinleser“, warf Terrence Burdock ein. „Was ist das Symbol für ‚unerfüllt?’“
„Das Zeichen der ausgestreckten Hand – aber alle Finger nach hinten gebogen. Es geht weiter. ‚Ich schreie dich an! Wirf dich nicht in die Tiefe! Du glaubst, daß du auf der hängenden Himmelsbrücke bist, aber du bist auf dem Klippenrand. Ich werfe mich zu Boden vor dir, ich bin nicht mehr als Hundekot.’“
„Wohlgemerkt, das stammt von ihm, nicht von mir“, stieß Magdalen hervor. An Magdalen war immer etwas grundlegend Widersprüchliches.
„Ah – lies weiter, Steinleser“, sagte Terrence. „Das Mädchen spinnt – oder sie träumt laut.“
„Das ist alles, Terrence, bis auf ein Schlußsymbol, das ich nicht verstehe. Für die Zeichenschrift benötigt man eine Menge Platz. Mehr nahm der Stein nicht auf.“
„Wie sieht das Symbol aus, das du nicht verstehst, Howard?“
„Es ist das Speerwerferzeichen, verbunden mit dem Zeitsymbol. Es bedeutet etwas wie ‚weitergeworfen’ oder ‚darüberhinaus geworfen’. Aber was soll das in diesem Zusammenhang heißen?“
„Es bedeutet ‚Fortsetzung folgt’, du Schwachkopf, ‚Fortsetzung folgt’“, sagte Magdalen. „Keine Angst. Es gibt noch mehr dieser Steine.“
„Ich finde es herrlich“, sagte Ethyl Burdock, „in seinem Rahmen natürlich.“
„Warum nimmst du ihn dann nicht, Ethyl, in seinem Rahmen natürlich?“ fragte Magdalen. „Mir ist es egal, wie viele Säcke Korn er besitzt. Ich habe die Nase voll.“
„Wen soll ich nehmen, Liebes?“ fragte Ethyl. „Howard Steinleser kann die Steine deuten, aber wer deutet unsere Magdalen?“
„Oh, ich kann sie wie einen Stein lesen“, lächelte Terrence Burdock. Aber er konnte es nicht.
Aber es hatte sie gepackt. Es war um sie und in ihnen: die Klugheit der Schlangen und die Heiterkeit der Kröten, die verborgenen Spinnen im Wasser, die gefangenen Träume, die durch die gebrochenen Augen sickerten, die Krätze des kranken Kaninchens, das Schnauben der Büffel und der gefiederte Pfeil im Leib. Und um das alles war der Nachthauch von Feuerstein und aufgeworfener Erde und glucksenden Bächen, der Moder und der ganz besondere Moschusduft, der den Namen Adel der Dachse trägt.
Sie redeten über Archäologie und Sagen. Dann war es tiefe Nacht und der Morgen des dritten Tages.
Oh, die Ausgrabungsarbeiten gingen rasch vonstatten. Die Fundstelle war bereits jetzt reichhaltiger als Spiro, obwohl der Schnitt am Fuße des Hügels nur ein kleines Versprechen der Dinge war, die da kommen sollten. Und der merkwürdige Zwilling des Hügels, der zerbrochene Schlot, bestätigte und verwirrte und widersprach. In dem Schlot hatte sich die Zeit verschoben, zumindest in dem sonderbaren, geriefelten Kern; das übrige war normal genug und steril genug.
Anteros arbeitete an diesem Tag mit einer stillen Verdrossenheit, und Magdalen brütete vor sich hin, umgeben von einer elektrischen Aura.
„Perlen, Glasperlen!“ fuhr Terrence zornig auf. „Heraus mit der Sprache! Wer unter uns ist der Witzbold? Ich kann das einfach nicht dulden.“ Terrence war den ganzen Tag über schlecht gelaunt gewesen. Er besaß die gleichen tiefen Kratzspuren wie Steinleser am Tag zuvor und haderte mit der Welt.
„Es hat schon früher Verstecke mit Glasperlen gegeben, Terrence, Hunderte“, sagte Robert Derby leise.
„Es hat auch schon früher Witzbolde gegeben, Hunderte“, brüllte Terrence. „Denen hier sieht man ihr Made in Hongkong deutlich an, verdammt billige Dutzendware. Sie haben in einer Schicht um das Jahr 700 nichts zu suchen. Also schön, wer war es?“
„Ich glaube nicht, daß es einer von uns war, Terrence“, warf Ethyl zaghaft ein. „Sie sind einen guten Meter von der Schrägfläche des Hanges entfernt. Wir haben dreihundert Jahre organischen Lehms durchstoßen, um zu ihnen zu gelangen.“
„Wir sind Wissenschaftler“, sagte Steinleser. „Wir haben also diese Perlen entdeckt. Andere vor uns haben ähnliche Funde gemacht. Denken wir einmal logisch darüber nach!“
Es war Mittag, so aßen und rasteten sie und dachten logisch darüber nach. Anteros hatte ihnen ein Stück hellen Schweinebraten besorgt, und sie machten sich Sandwiches zurecht, tranken Bier und aßen Pickles.
„Abgesehen von dem totalen Widerspruch, daß immer wieder Glasperlen an Stellen gefunden werden, wo es keine geben darf“, sagte Robert Derby, „wissen wir, daß ein echtes Geheimnis alle frühen indianischen Perlen umgibt, seien sie nun aus Knochen, Stein oder Geweihen. Es gibt Millionen und Abermillionen dieser winzigen Perlen mit ihren feinen Löchern, feiner als jeder Bohrer, der je gefunden wurde. Es existieren Reste, es existieren Zentren jeder anderen indianischen Kunstfertigkeit, und es haben sich sämtliche Geräte weiterentwickelt. Warum gibt es diese Millionen durchlöcherter Perlen und niemals einen Bohrer dazu? Man hatte keine Technik, mit deren Hilfe man einen so feinen Bohrer herstellen konnte. Wie entstanden diese Löcher?“
Magdalen kicherte. „Perlenspucker“, sagte sie.
„Perlenspucker? Du hast deinen wirren Verstand ganz verloren!“ fuhr Terrence auf. „Das ist die einfältigste und primitivste aller indianischen Legenden.“
„Aber es ist die Legende“, sagte Robert, „die Legende von mehr als dreißig verschiedenen Stämmen. Die Kariben-Indianer in Kuba erzählten, daß sie ihre Perlen von Perlenspuckern bekämen. Die Indianer von Panama berichteten Baiboa das gleiche. Die Indianer der Pueblos gaben diese Geschichte an Coronado weiter. Jede indianische Gemeinschaft hatte einen Mann, der ihr Perlenspucker war. Es gibt Creek-, Alabama- und Kosati-Berichte von Perlenspuckern: denkt an Swantons Sammlung! Und seine Legenden wurden verhältnismäßig spät aufgezeichnet.
Mehr noch, aus der Zeit, als die ersten europäischen Tauschperlen auftauchten, gibt es die Geschichte von einem Indianer, der sich einige davon geben ließ und sagte: ‚Ich bringe sie zum Perlenspucker. Wenn er sie sieht, kann er sie auch spucken.’ Und dieser Perlenspucker spuckte sie dann scheffelweise. Es gab nie eine andere indianische Version über die Herkunft ihrer Perlen. Alle wurden von einem Perlenspucker gespuckt.“
„Wirklich, das ist sehr unrealistisch“, sagte Ethyl. Wirklich, das war es.
„Geschwätz! Ein Perlenspucker aus dem Jahr 700 konnte keine Perlen aus der Zukunft spucken, er konnte keine billigen Hongkongperlen unserer Periode spucken,“ Terrence war sehr wütend.
„Verzeihung, Sir, er konnte doch“, sagte Anteros. „Ein Perlenspucker kann Zukunftsperlen spucken, wenn er sich beim Spucken nach Norden wendet. Das ist altbekannt.“
Terrence war wütend, er schäumte und verdarb ihnen den Tag, und die Kratzspuren in seinem Gesicht schillerten bläulich. Er wurde noch wütender, als er sagte, daß der seltsame dunkle Abschlußstein des Schlots gefährlich sei, daß er herunterfallen und jemanden erschlagen könne; und als Anteros erwiderte, es gäbe gar keinen Abschlußstein auf dem Schlot, Terrence bilde sich das nur ein, und er solle sich in den Schatten setzen, um ein wenig zu rasten.
Und Terrence war dem Platzen nahe, als er entdeckte, daß Magdalen etwas beiseite zu schaffen versuchte, das sie im geriefelten Kern des Schlots gefunden hatte. Es war ein großer, schwerer Schieferstein, zu schwer sogar für Magdalen mit ihren erstaunlichen Kräften. Sie hatte ihn aus der Öffnung geschleift und versuchte ihn nun mit Felsbrocken und Geröll zu bedecken.
„Robert, du markierst die Fundstelle!“ rief Terrence erbost. „Man sieht sie noch ganz deutlich. Magdalen, laß das! Was es auch sein mag, es muß untersucht werden.“
„Oh, es ist noch mehr von dem verdammten Zeug. Wenn er mich nur in Ruhe ließe! Mit seinem Geld kann er Mädchen in Hülle und Fülle haben. Außerdem ist es privat, Terrence. Du hast kein Recht, es zu lesen.“
„Du bist hysterisch, Magdalen, und vielleicht schicken wir dich noch weg von hier.“
„Ich wollte, ich könnte weg. Ich kann es nicht. Ich wollte, ich könnte lieben! Ich kann es nicht. Warum genügt es nicht, daß ich sterben muß?“
„Howard, du kümmerst dich heute nachmittag um den Stein“, befahl Terrence. „Er besitzt eine Art Schrift. Wenn er das ist, wofür ich ihn halte, flößt er mir Angst ein. Er ist zu jung für eine erodierte Schlotformation, Howard, besonders, da er sich ein gutes Stück unterhalb der Kuppe befand. Versuch ihn zu entziffern!“
„Vielleicht bringe ich etwas heraus, wenn ich mich ein paar Stunden damit befasse. Ich habe noch nie etwas Derartiges gesehen. Wofür hältst du ihn, Terrence?“
„Was glaubst du, wofür ich ihn halte? Er stammt aus einer viel jüngeren Zeit als sein Vorgänger, und der war bereits unmöglich. Ich will nicht als erster eingestehen, daß ich den Verstand verloren habe.“
Howard Steinleser beschäftigte sich mit den Schriftzeichen des Felsblocks; und zwei Stunden vor Sonnenuntergang brachten sie ihm noch einen, diesmal einen grauen Specksteinquader von höher oben. Die Zeichen, mit denen er bedeckt war, hatten nicht die geringste Ähnlichkeit mit denen auf dem Schieferblock.
Und sonst lief die Sache gut, viel zu gut. Erneut stellte sich das Gefühl ein, daß etwas faul war. Keine Fundserie konnte so perfekt sein, keine Versteinerung konnte so ordentlich gegliedert sein.
„Robert“, rief Magdalen Robert Derby kurz vor Sonnenuntergang zu, „auf der hochgelegenen Wiese über dem Ufer, etwa vierhundert Meter flußabwärts, dicht hinter dem alten Zaun –“
„– ist ein Dachsbau, Magdalen. Jetzt hast du es geschafft, jetzt sehe ich auch schon unsichtbare Dinge in der Ferne. Und wenn ich den Karabiner nehme und ganz leise hinschleiche, wird der Dachs den Kopf aus dem Loch strecken (ich schleiche mich gegen den Wind an), und ich gebe ihm eine Ladung zwischen die Augen. Er ist ein schwerer Kerl, fünfzig Pfund.“
„Dreißig. Hol ihn, Robert! Du fängst an, ein wenig zu begreifen.“
„Aber Magdalen, Dachsfleisch schmeckt wild. Es wird selten gegessen.“
„Kann die Verdammte sich nicht eine Henkersmahlzeit wünschen? Geh und hol ihn, Robert!“
Robert ging. Die Stimme des kleinen Karabiners war auf die Entfernung kaum zu hören. Bald darauf brachte Robert den toten Dachs.
„Du bereitest ihn zu, Ethyl!“ befahl Magdalen.
„Ja, ich weiß. Und wenn ich es nicht kann, wird mir Anteros helfen.“ Aber Anteros war verschwunden. Robert fand ihn auf einem kleinen Hügel in der Abendsonne, die Schultern nach vorn gesunken. Der seltsame Mann schluchzte still vor sich hin, und sein Gesicht erinnerte an stumpfen Bimsstein. Aber er kam mit, um Ethyl bei der Zubereitung des Dachses zu helfen.
„Wenn dir der erste der heutigen Steine Furcht eingeflößt hat, dann müßte dir der zweite die Haare zu Berge stehen lassen, Terrence“, sagte Howard Steinleser.
„Er tut es. All die Blöcke sind zu jung für eine Schlotformation, aber dieser letzte hier stellt eine Beleidigung dar. Er ist keine zweihundert Jahre alt, über ihm jedoch befinden sich tausendjährige Schichten. Welche Zeit ist darin niedergelegt?“
Sie hatten wildes Dachsfleisch gegessen und schlechten Whisky getrunken (Anteros, der ihn spendierte, wußte nicht, daß er schlecht war), und der Moschusgeruch war um sie und in ihnen. Das Lagerfeuer zischte manchmal in heftigen kleinen Explosionen auf; wenn das geschah, breitete sich der Flammenschein weit aus. Einmal sah Terrence Burdock in diesem tanzenden Licht, daß der merkwürdige dunkle Abschlußstein wieder auf dem Schlot lag. Er glaubte, ihn auch tagsüber dort gesehen zu haben; aber er war nicht da gewesen, nachdem er im Schatten gerastet hatte, und er war absolut nicht da gewesen, als er den Schlot selbst erkletterte, um nachzuschauen.
„Hören wir uns das zweite Kapitel an und dann das dritte, Howard“, sagte Ethyl. „Es ist ordentlicher so.“
„Gut. Das zweite Kapitel also (der Stein, auf den wir heute zuerst und weiter unten stießen) ist in einer Sprache geschrieben, die bisher noch kein Mensch geschrieben sah; und doch macht es kaum Schwierigkeiten, sie zu lesen. Selbst Terrence erriet, worum es sich handelte, und es flößte ihm Angst ein. Es ist die Andarko-Caddo-Fingersprache, in Stein gegraben. Es ist die sogenannte Zeichensprache der Plains-Indianer, in stilisierten Bildern niedergeschrieben. Und sie muß sehr jung sein, nicht älter als dreihundert Jahre. Die Fingersprache war bruchstückhaft, als die ersten Spanier landeten, bei der Ankunft der Franzosen jedoch bereits voll ausgereift. Es war eine explosionsartige Entwicklung, wie es bei solchen Dingen oft geht, ausgearbeitet innerhalb von hundert Jahren. Dieser Felsblock muß jünger als sein Situs sein, aber man merkte nichts davon, daß er nachträglich eingelagert wurde.“
„Lies vor, Howard, lies vor“, rief Robert Derby. Robert fühlte sich großartig, aber die anderen waren an diesem Abend schlecht gelaunt.
„‚Ich habe dreihundert Ponies’, trug Steinleser auswendig vor. ‚Ich besitze zwei Tagesritte Norden und Osten und Süden und einen Tagesritt Westen. Ich schenke dir alles. Ich dröhne mit mächtiger Stimme wie Feuer in hohen Bäumen, wie das Bersten von Gipfeltannen. Ich heule wie Wölfe, die ihr Opfer umzingeln, wie die wilde Stimme des Löwen, wie der heisere Schrei gerissener Kälber. Vernichte du dich nicht wieder! Du bist der Morgentau auf Tollkraut. Du bist die schnellen, gewölbten Schwingen des Nachtfalken, die zierlichen Füße des Skunk, du bist der Saft des Sauerkürbis. Warum kannst du nicht nehmen oder geben? Ich bin der breitnackige Stier der Hochebene, ich bin der Fluß selbst und die fauligen Tümpel, die der Fluß zurückläßt, ich bin die nackte Erde und die Felsen. Komm zu mir, aber komm nicht so heftig, daß du dich selbst vernichtest.’
So, das war der Text des ersten Felsblocks, die in Stein gegrabene Andarko-Caddo-Fingersprache. Das letzte Symbol verstehe ich allerdings nicht: ein fliegender Pfeil und ein Stein dahinter.“
„‚Fortsetzung auf dem nächsten Stein’ natürlich“, sagte Robert Derby. „Aber weshalb wurde die Fingersprache eigentlich nie niedergeschrieben? Die Symbole sind leicht und einfach zu stilisieren, und sie wurden von vielen Stämmen verstanden. Es wäre ganz natürlich gewesen, sie zu schreiben.“
„Es gab in dieser Gegend die alphabetische Schrift, bevor sich die Fingersprache richtig entwickelte“, sagte Terrence Burdock. „Genau genommen war es die Ankunft der Spanier, die den Anstoß gab. Die Fingersprache diente der Verständigung zwischen Spaniern und Indianern, nicht der Verständigung zwischen Indianern und Indianern. Und doch glaube ich, daß früher einmal eine Fingersprache niedergeschrieben wurde; sie war der Ursprung der chinesischen Bilderschrift. Und auch dort diente sie anfangs als Verständigungsmittel zwischen verschiedenartigen Völkern. Verlaßt euch darauf, wenn die gesamte Menschheit eine einzige Sprache gesprochen hätte, wäre niemals die Schrift entstanden. Das Schreiben begann immer als Brücke, und es mußte irgendeine Kluft geben, die es überbrückte.“
„Wie hier bei uns“, sagte Steinleser. „Dieser ganze Schlot ist unverständlich. Seine oberste Schicht müßte älter sein als die Basisschicht des Hügels, da der Hügel an einer Stelle errichtet wurde, wo das Gestein der Schlotformation erodiert war. Aber in mancher Hinsicht scheinen sie der gleichen Zeit anzugehören. Wir müssen hier alle unter einem Bann stehen. Nun arbeiten wir seit zwei, beinahe drei Tagen hier, und die völlige Unmöglichkeit unserer Situation ist uns immer noch nicht zu Bewußtsein gekommen.
Das Symbol der Nahuatl für Zeit ist der Schlot. Die Gegenwart bezeichnet der untere Teil eines Schlots, in dem Feuer brennt. Die Vergangenheit wird dargestellt durch schwarzen und die Zukunft durch weißen Rauch aus einem Schlot. Auf dem Stein von gestern tauchte ein Unterschriftssymbol auf, das ich nicht verstand und nicht verstehe. Es schien anzudeuten, daß etwas von oben nach unten durch den Schlot wanderte, anstatt umgekehrt.“
„Ich finde nicht, daß es große Ähnlichkeit mit einem Schlot hat“, sagte Magdalen.
„Ebensowenig wie ein junges Mädchen große Ähnlichkeit mit Morgentau auf Tollkraut hat“, erwiderte Robert Derby. „Und doch erkennen wir das Gleichnis an.“
Sie redeten eine Weile über die Unmöglichkeit des ganzen Unternehmens.
„Wir haben Schuppen auf den Augen“, sagte Steinleser. „Der geriefelte Kern des Schlots stimmt nicht. Ich bin nicht einmal sicher, ob der restliche Schlot stimmt.“
„Er tut es nicht“, erklärte Robert Derby. „Wir können die meisten Schichten des Schlots mit bekannten Perioden des Flusses und des Creeks identifizieren. Ich habe mir heute alles genau angesehen. Dabei entdeckte ich einen Streifen, wo der Sandstein überhaupt nicht erodiert ist, wo er dreihundert Meter von der Verwerfung des Flußbetts entfernt ist und über sich eine hundertjährige Schicht aus Lehm und Grasnarbe hat. Es gibt andere Stellen, wo der Stein in verschiedenen Tiefen freigelegt ist. Wir können ziemlich genau sagen, wann der Schlot entstand, wir können Übereinstimmungen bis zu den letzten Jahrhunderten finden. Aber wann entstand die oberste, zehn Fuß starke Schicht? Dazu gibt es nirgends Parallelen. Die Jahrhunderte, die von der obersten Schlotschicht dargestellt werden, Leute, diese Jahrhunderte kommen erst.“
„Und wann bildete sich der dunkle Abschlußstein –?“ begann Terrence. „Ah, ich habe den Verstand verloren. Er ist nicht da. Ich bin verrückt.“
„Nicht verrückter als wir anderen“, sagte Steinleser. „Ich glaubte ihn auch zu sehen. Und dann war er verschwunden.“
„Die Felsenschrift, sie ist wie eine alte Erzählung, an die ich mich nur noch halb erinnere“, sagte Ethyl.
„Oh, das ist sie, ja“, murmelte Magdalen.
„Aber ich weiß nicht mehr, was mit dem Mädchen geschah, das darin vorkam.“
„Ich weiß, was mit ihr geschah, Ethyl“, sagte Magdalen.
„Lies uns das dritte Kapitel vor, Howard“, bat Ethyl. „Ich bin gespannt, wie die Sache ausgeht.“
„Zuerst solltet ihr alle einen Schluck Whisky gegen den Schüttelfrost nehmen“, schlug Anteros unterwürfig vor.
„Aber keiner von uns hat Schüttelfrost“, widersprach Ethyl. „Mach du, was du willst, Ethyl“, sagte Terrence, „aber ich brauche den Whisky. Auch wenn der Schüttelfrost nicht von einer Erkältung, sondern von meiner Angst kommt.“
Sie tranken alle Whisky. Sie redeten eine Weile, und jemand nickte ein.
„Es ist spät, Howard“, sagte Ethyl schließlich. „Lies uns das nächste Kapitel vor! Ist es das letzte? Danach gehen wir schlafen. Wir haben morgen eine ziemliche Plackerei vor uns.“
„Unser dritter Block, der zweite dieses Tages, zeigt eine andere und noch spätere Schriftform, und es gab sie bisher noch nie auf Stein. Es handelt sich um die Kiowa-Bilderschrift. Die Kiowa benutzten für ihre nach außen laufenden Schriftspiralen Büffelhäute, die nahezu pergamentdünn gegerbt waren. In verfeinerter Form (und dazu zählt unser Exemplar) erscheint sie ziemlich spät. Die Kiowa-Bilderschrift erreichte ihren Höhepunkt vermutlich erst unter dem Einfluß von weißen Künstlern.“
„Was verstehst du unter ‚ziemlich spät’, Steinleser?“ fragte Robert Derby.
„Die Schrift ist keine hundertfünfzig Jahre alt. Aber ich habe sie bisher noch nie auf Stein gesehen. Sie paßt einfach nicht auf Stein. Es gibt in den letzten Tagen eine Menge Dinge, die ich noch nie gesehen habe.
Also gut, kommen wir zum Text, oder soll ich sagen Piktogramm? ‚Du hast Angst vor der Erde, du hast Angst vor rauhem Boden und Steinen, du hast Angst vor feuchter Erde und faulendem Fleisch, du hast Angst vor dem Fleisch selbst, alles Fleisch ist faulendes Fleisch. Wenn du kein faulendes Fleisch liebst, liebst du überhaupt nicht. Du glaubst an die Himmelsbrücke, befestigt an Ranken und holzigen Lianen, die immer dünner werden, je höher sie reichen, bis sie schließlich haarfein sind. Es gibt keine Himmelsbrücke, du kannst sie nicht betreten. Dachtest du, daß die Wurzeln der Liebe von unten nach oben wachsen? Sie stecken in tiefer Erde, die altes Fleisch und Gehirne und Herzen und Eingeweide ist, die alte Büffelgedärme und Schlangenschwänze ist, die schwarzes Blut und Moder und Stöhnen ist. Das hier ist alte, verbrauchte, grausame Zeit, und die Wurzeln der Liebe wachsen aus ihrem geronnenen Blut.’“
„Du scheinst bemerkenswert farbige Worte aus den einfachen Bildern zu holen, Steinleser, aber allmählich steckst du mich an“, sagte Terrence.
„Ah, vielleicht schwindle ich ein wenig“, meinte Steinleser. „Du trägst sogar ziemlich dick auf“, erklärte Magdalen.
„Nein, das nicht. Keiner meiner Sätze ist völlig aus der Luft gegriffen. Es geht weiter: ‚Ich habe zweiundzwanzig Gewehre. Ich habe Ponies. Ich habe mexikanisches Silber, Dollarstücke. Ich bin reich in jeder Hinsicht. Ich schenke dir alles. Ich rufe mit lauter Stimme wie ein Bär, der Tollkraut gefressen hat, wie ein verliebter Ochsenfrosch, wie ein Hengst, der sich gegen einen Puma aufbäumt. Es ist die Erde, die dich ruft. Ich bin die Erde, verfilzter als Wölfe und rauher als Steine. Ich bin die Sumpf-Erde, die dich in die Tiefe zieht.
Du kannst nicht geben, du kannst nicht nehmen, du kannst nicht lieben, du denkst, es gibt etwas anderes, du denkst, es gibt eine Himmelsbrücke, auf der du dahinschlendern kannst, ohne in die Tiefe zu stürzen. Ich bin die Erde, wildschweinborstig, es gibt keine andere. Du wirst am Morgen zu mir kommen. Du wirst leicht und graziös zu mir kommen. Oder du wirst zögernd kommen. Dann sei zerschmettert, in jedem Knochen und jedem Gelenk. Sei zerbrochen durch unsere Begegnung! Sei zerschmettert wie durch einen Blitz, der von der Erde auffährt! Ich bin das rote Kalb, von dem die Inschrift erzählt. Ich bin die faulende rote Erde. Lebe am Morgen oder stirb am Morgen, aber denke daran, daß Liebe im Tod besser ist als gar keine Liebe.’“
„Oh, Junge! Niemand holt solches Zeug aus Kinderbildchen, Steinleser“, stöhnte Robert Derby.
„Nun, das war das Ende des Spiralbildes. Und eine Kiowa-Spirale endet entweder mit einem Innenschnörkel oder mit einem Außenschnörkel. Die hier endet mit einem Außenschnörkel, und das bedeutet –“
„‚Fortsetzung auf dem nächsten Stein’, das bedeutet sie“, rief Terrence grob.
„Ihr werdet die nächsten Steine nicht finden“, sagte Magdalen. „Sie sind versteckt, und meistens sind sie noch gar nicht da, aber sie werden ewig weitergehen. Aber trotz allem werdet ihr es morgen früh in den Felsen lesen. Ich möchte, daß endlich Schluß damit ist. Oh, ich weiß nicht, was ich möchte.“
„Ich glaube, ich weiß, was du heute nacht möchtest, Magdalen“, sagte Robert Derby.
Aber er wußte es nicht.
Das Gespräch verstummte, das Feuer brannte herunter, sie gingen zu ihren Schlafsäcken.
Dann kam eine lange, rauhe Nacht und der Morgen des vierten Tages. Aber halt! Nach den Legenden der Nahuat-Tanoa endet die Welt am vierten Morgen. All die Leben, die wir gelebt haben oder zu leben glaubten, sind nichts als Träume der dritten Nacht. Der Lendenschurz, den die Sonne auf der vierten Tagesreise trägt, ist nicht so wertvoll, wie behauptet wurde. Sie trägt ihn nicht länger als etwa eine Stunde.
Und in der Tat, der vierte Morgen hätte etwas Endgültiges an sich. Anteros war verschwunden. Magdalen war verschwunden. Der Schlotfelsen wirkte stark verkleinert (etwas hatte ihn verlassen) und hatte, gebrochen wie er war, etwas Verrücktes an sich. Die Sonne war aufgegangen, ein prunkvolles Grau-Orange durch den Nebel. Das Unterschriftsymbol des ersten Steins beherrschte die Umgebung. Es war, als käme etwas durch den Schlot nach unten, ein furchterweckender Rauch; aber es entpuppte sich als der lästige Morgennebel.
Nein, doch nicht. Es kam etwas anderes den Schlot oder den verborgenen Himmel herunter: Kiesel, Steine, unbeschreibliche Brocken fauligen Schlicks, die häßlicheren Bestandteile des Himmels; ein leichter Alptraumregen hatte dort eingesetzt; der Schlot begann offensichtlich einzustürzen.
„Das ist die verrückteste Sache, die mir je unter die Augen gekommen ist“, knurrte Robert Derby. „Glaubt ihr, daß Magdalen wirklich mit Anteros wegging?“ Derby war an diesem Morgen grimmig und aufbrausend, und sein Gesicht zeigte wilde Kratzspuren.
„Wer ist Magdalen? Wer ist Anteros?“ fragte Ethyl Burdock.
Terrence Burdock stieß an der Hügelkuppe einen wilden Schrei aus. „Alle herkommen!“ rief er. „Hier ist ein Fund, der unsere Strapazen belohnt. Wir müssen knipsen, skizzieren, messen, aufzeichnen, die genaue Stelle festhalten. Das ist der schönste Basaltkopf, den ich je gesehen habe, in natürlicher Größe, und ich habe den Verdacht, daß unter der Erde noch der Körper steckt. Wir werden ihn bald freilegen. Gah! Ein unheimlicher Bursche!“
Aber Howard Steinleser hielt ein leuchtend gefärbtes Etwas in beiden Händen und studierte es.
„Was ist denn, Howard? Was machst du da?“ fragte Derby. „Ah, ich glaube, das ist der nächste Stein in der Reihe. Die Schrift ist alphabetisch, aber verzerrt, es fehlt ein Element. Ich glaube, es ist modernes Englisch; ich werde den Fehler gleich finden. Der Text scheint –“
Felsbrocken und Steine kamen den Schlot herunter, und Nebel, ein Nebel, der den Verstand und die Erinnerung nahm. „Steinleser, fehlt dir nichts?“ fragte Robert Derby mitleidig. „Das Ding, das du in der Hand hältst, ist kein Stein.“
„Es ist kein Stein. Ich dachte, es sei einer. Was ist es dann?“
„Eine Osage-Orange. Es ist kein Stein, Howard.“ Und das Ding war eine zähe, holzige, runzlige Wildorange, so groß wie eine junge Melone.
„Du mußt zugeben, daß die Runzeln ein wenig Ähnlichkeit mit Schriftzeichen haben, Robert.“
„Ja, sie sehen ein wenig wie Schriftzeichen aus, Howard. Gehen wir hinauf! Terrence brüllt sich die Lunge aus dem Leib. Du hast zu viele Steine gelesen. Außerdem ist es hier nicht sicher.“
„Wozu hinaufgehen, Howard? Das andere Ding kommt herunter.“
Es war die wildschweinborstige Erde, die sich mit einem Grollen aufbäumte. Es war der Blitz, der aus der Erde nach oben jagte, und er holte sich seine Beute. Ein Donnern und Dröhnen wurde laut. Der dunkle Abschlußstein löste sich vom Schlot und schlug mit entsetzlicher Wucht zu Boden, zerschellte mit einem großen Knall. Dazu etwas anderes, das der Stein enthalten hatte. Und um sie brach der ganze Schlot zusammen.
Sie wurde von der Begegnung zerbrochen. Sie wurde zerschmettert, jeder Knochen und jedes Gelenk. Und sie war tot.
„Wer – wer ist sie?“ stammelte Howard Steinleser.
„Oh Gott! Magdalen natürlich!“ rief Robert Derby.
„Ich kann mich schwach an sie entsinnen. Verstand sie nie so recht. Sie wirkte wie ein Mauerblümchen, überreif zum Pflücken, ließ sich aber nicht anrühren. Zerfleischte mir kürzlich fast das Gesicht, als ich die Zeichen falsch deutete. Sie glaubte, daß es eine Himmelsbrücke gäbe. Davon ist in vielen Mythologien die Rede. Aber es gibt natürlich keine. Na ja.“
„Das Mädchen ist tot! Verdammt! Was wühlst du in diesen Steinen?“
„Vielleicht ist sie in ihnen noch nicht tot, Robert. Ich will sie lesen, bevor etwas mit ihnen geschieht. Dieser Abschlußstein, der herabstürzte und zerbrach, es ist einfach unmöglich. Es ist eine Schicht, die es noch nicht gibt. Ich wollte schon immer die Zukunft lesen und bekomme vielleicht nie wieder die Gelegenheit dazu.“
„Narr! Das Mädchen ist tot! Kümmert das denn keinen? Terrence, hör das Geschrei um deinen Fund auf! Komm herunter! Das Mädchen ist tot!“
„Robert, Howard, beeilt euch!“ beharrte Terrence. „Laßt das zerbrochene Zeug da unten. Es ist wertlos. Aber ein Ding wie das hier hat noch kein Mensch gesehen.“
„Beeilt euch, Männer!“ jubelte Ethyl. „Oh, es ist ein herrliches Stück. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so etwas gesehen.“
„Ethyl, ist denn an diesem Morgen alles wahnsinnig?“ fragte Robert Derby, als er zu ihr hinaufstieg. „Sie ist tot. Kannst du dich wirklich nicht an sie erinnern? Erinnerst du dich nicht an Magdalen?“
„Ich weiß nicht recht. Ist sie das Mädchen dort unten? Das gleiche Mädchen, das schon seit ein paar Tagen hier herumlungert? Sie hätte nicht auf diesem hohen Felsen herum klettern sollen. Es tut mir leid, daß sie tot ist. Aber sieh dir doch an, was wir hier freilegen!“
„Terrence! Erinnerst du dich nicht an Magdalen?“
„Das Mädchen da unten? Sie hat ein wenig Ähnlichkeit mit der Kleinen, die mir kürzlich nachts das Gesicht wie eine Furie zerkratzte. Wenn wieder jemand in die Stadt kommt, soll er den Sheriff verständigen, daß hier ein totes Mädchen ist. Robert, hast du je so ein Gesicht gesehen? Und da kommen schon die Schultern zum Vorschein. Ich glaube, daß es sich um eine mannsgroße Statue handelt. Wunderbar, wunderbar!“
„Terrence, du hast den Verstand verloren. Du erinnerst dich doch an Anteros?“
„Gewiß, der Zwillingsbruder von Eros, aber man hat nie viel aus dem Symbol der unerfüllten Liebe gemacht. Donner! Das ist der Name für ihn! Er paßt großartig zu ihm. Wir werden ihn Anteros nennen.“
Nun, es war Anteros, naturgetreu in Basalt. Sein Gesicht war verzerrt. Er schluchzte lautlos und erstarrt, und seine Schultern waren vor Kummer gebeugt. Die Skulptur war faszinierend in ihrer erbarmungswürdigen Leidenschaft, ihrer versteinerten, unerfüllten Liebe. Vielleicht war sie jetzt eindrucksvoller als später, wenn man sie säuberte. Anteros war Erde, er war die Erde selbst. Welcher Periode das Bildnis immer angehören mochte, es war überragend in seiner Aussage. „Der lebende Anteros, Terrence! Erinnerst du dich nicht an unseren Helfer, Anteros Manypenny?“
„Natürlich. Er kam heute morgen nicht zur Arbeit, was? Sag ihm, daß er entlassen ist.“
„Magdalen ist tot! Sie war eine von uns! Verdammt, sie war die wichtigste von uns!“ rief Robert Derby. Terrence und Ethyl hörten nicht auf seinen Ausbruch. Sie waren damit beschäftigt, den Rest der Statue freizulegen.
Und in der Tiefe studierte Howard Steinleser dunkle, zerbrochene Steine, bevor sie verschwanden, studierte eine Schicht, die es noch nicht gab, und las in einer nebligen Zukunft.