Die zweite Inquisition
 
(Joanna Russ)

 

 

If a man can resist the influences of his townfolk, if he can cut free from the tyranny of neighborhood gossip, the World has no terrors for him; there is no second inquisition.

John Jay Chapman

 

Wenn ein Mensch sich den Einflüssen seiner Mitbürger widersetzen kann, sich freimachen von der Tyrannei des Geredes der Nachbarn, dann birgt die Welt für ihn keine Schrecken mehr; es gibt keine zweite Inquisition,

 

Ich habe unseren Gast oft beim Lesen im Wohnzimmer beobachtet, wenn sie unter der Stehlampe neben dem neuen Thilco-Radioschrank saß, die langen, langen Beine vor sich ausgestreckt; der Lichtkreis der Lampe fiel auf das Buch und ließ wenig von ihrem Gesicht erkennen: ein bräunlicher, fast kupferschimmernder Teint und so ausgeprägte Gesichtszüge, als wäre sie eine Mißgeburt, dazu rotglänzendes, schwarzes Haar, so kraus und ungebärdig, daß es wie die Putzwolle wirkte, mit der meine Mutter Töpfe und Pfannen scheuert. Sie las sehr viel jenen Sommer. Wagte ich mich unter dem Türbogen hervor, wo ich mich nicht eigentlich versteckte, sondern mehr im Schatten hielt, um ihr zuzusehen, dann hob sie oftmals das Gesicht und lächelte schweigend in meine Richtung, ehe sie sich wieder ihrem Buch zuwandte; vom Licht getroffen, wurde ihre Haut dann seltsam bleich. Manchmal stand sie auf und stakste mit der Anmut eines Storchs in die Küche, um etwas zum Essen zu holen; aufgerichtet stieß sie fast an der oberen Türkante an, und wie eine Spinne stelzte sie auf den langen Beinen, schlenkerte mit den dürren Armen, und dazwischen wirkte ihr Körper unproportioniert klein geraten, wie es oft bei sehr großen Menschen der Fall ist. Mit beträchtlicher Aufmerksamkeit blickte sie von großer Höhe auf die Schüsseln und Teller meiner Mutter herab, stellte an mich ein paar komische Fragen, beugte sich über das ausgewählte Gericht, über dem sie ein paar Augenblicke wie eine Giraffe meditierte, ehe sie sich wieder in ihre himmlische Höhe aufrichtete, die Schüssel in der Hand, deren Finger sich wie Insektenbeine um die Ränder krallten. So kehrte sie beschwingt wieder in das Wohnzimmer zurück. Sie ließ sich wieder in den unweigerlich zu kleinen Sessel nieder, verschränkte die Beine um die Stuhlbeine, fand es unbequem, reckte sich und streckte dann doch wieder beide Beine vor sich aus – an diese langen, undamenhaft harten Beine werde ich mich immer erinnern – und vertiefte sich wieder in ihre Lektüre.

Sie fragte oft: »Was ist das? Was ist das? Und was ist dies?« Doch das war nur am Anfang.

Meine Mutter, die sie nicht leiden konnte, sagte, sie sei vom Zirkus, und wir sollten für sie Verständnis haben und freundlich sein. Mein Vater machte Witze. Er mochte weder große Frauen noch kurze Haare – in unserer Gegend noch eine Seltenheit – noch Frauen, die lasen; aber sie interessierte sich für seine Schreinerei, und das gefiel ihm.

Aber sie war einen Meter dreiundneunzig groß; das war 1925.

Mein Vater war Buchhalter und baute als Hobby Möbel; wir hatten einen Gasherd, den er einmal repariert hatte, als er kaputtgegangen war, und hinter dem Haus standen ein Gartentisch und Stühle, die er gezimmert hatte. Ehe unser Gast, der die Ferien bei uns verbringen wollte, mit dem Zug eintraf, stand ich meinem Vater hinter dem Haus dauernd im Weg herum, aber nachdem wir sie am Bahnhof abgeholt hatten – sie schüttelte meinem Vater die Hand so kräftig, daß es ihm anscheinend wehtat –, schaute ich ihr beim Lesen zu und hoffte, sie möge mich anreden.

Sie sagte: »Du machst die Oberschule zu Ende?«

Ich lauerte wie üblich in der Tür; ich bejahte.

Sie blickte zu mir auf, dann wieder auf ihr Buch. Sie sagte: »Das ist ein sehr schlechtes Buch.« Ich schwieg. Ohne aufzuschauen tippte sie mit dem Finger auf das schäbige Polster, auf das sie die Füße gelegt hatte. Dann lächelte sie mich an. Ich trat vorsichtig vom Parkett auf den Teppich und näherte mich ihr so zögernd, als gälte es, die Sahara zu durchqueren; sie schwang die Beine auf den Boden, und ich setzte mich. Von der Nähe sah ihr Gesicht aus, als wären alle Rassen der Erde daran beteiligt und nur die häßlichsten Züge übernommen worden; so mochte ein amerikanischer Indianer aussehen, oder Echnaton aus einer Enzyklopädie, oder ein schwedischer Afrikaner, eine Maori-Prinzessin mit einem slawischen Unterkiefer. Plötzlich kam mir der Gedanke, sie könne eine Negerin sein, doch niemand schien sie dafür zu halten, möglicherweise weil noch keiner aus unserem Städtchen einen Neger zu Gesicht bekommen hatte. Bei uns gab es keine. Sie waren »Farbige«.

Sie sagte: »Du bist doch nicht hübsch, oder?«

Ich stand auf und erwiderte: »Mein Vater hält Sie für eine Mißgeburt.«

»Du bist sechzehn«, fuhr sie fort. »Setz dich.« Ich gehorchte. Ich verschränkte die Arme vor meinen Brüsten, weil sie zu groß waren, wie Ballons. Dann sagte sie: »Ich lese ein sehr dummes Buch. Du wirst es mir wegnehmen, ja?«

»Nein«, antwortete ich.

»Du mußt aber«, bestand sie, »sonst wird es mich vergiften, so sicher wie das Amen in der Kirche.« Sie grabschte von ihrem Schoß den Bestseller vom Vorjahr, grün eingebunden, mit goldenen Lettern DER GRÜNE HUT, EINE LIEBESGESCHICHTE; ich hatte versprochen, es niemals zu lesen, aber sie hielt es mir hin am lang ausgestreckten Arm, während sie zurückgelehnt sitzenblieb, und ihre Finger umschlossen das Buch fast wie ein Käfig. Wahrscheinlich hätte sie einen Basketball mit einer Hand umklammern können. Ich nahm es nicht.

»Mach schon«, drängte sie. »Lies es, na los, geh fort«, und da stand ich auch schon unter dem Torbogen am Fuß der Treppe und hatte DER GRÜNE HUT, EINE LIEBESGESCHICHTE in der Hand. Ich verbarg den Titel an meiner Brust. Sie lächelte mich an, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. »Mach dir keine Sorgen, deine Figur wird spätestens im nächsten Krieg der letzte Schrei sein.« Ich begegnete meiner Mutter am oberen Treppenpodest und mußte das Buch vor ihr verstecken; meine Mutter sagte: »Ach, die arme Frau!« Sie war mit Bettwäsche beladen. Ich ging in mein Zimmer und verschlang das Buch in einer Nacht. Als ich fertig war, vergrub ich es in meinem Bett, und im Schlaf träumte ich von Hispano-Suizas, von Simpelfransen und tragisch umwölkten Augen; von Frauen, die sich die Lippen anmalten und Liebesaffären hatten, die jede Nacht in der Begleitung von Juden in finsteren Kaschemmen verkehrten, die taten, was ihnen gefiel, und die in teuren Schweizer Kliniken Fehlgeburten hatten; von mitternächtlichem Schwimmen, von Verzweiflung, von Geld, von verbotener Liebe, von einem attraktiven Engländer, mit dem ich in ein Taxi stieg, angetan mit einem silbernen Lurex-Gewand und silberschimmernden Turban, wie man sie manchmal in den Gesellschaftsspalten der New Yorker Zeitungen sieht.

Dummerweise schob sich das Gesicht unseres Gastes immer wieder dazwischen, und weil ich nicht ausmachen konnte, ob sie belustigt oder verbittert oder beides zusammen war, verdarb mir das meine schönen Träumereien.

 

Meine Mutter entdeckte das Buch am nächsten Morgen. Ich fand es neben meinem Teller am Frühstückstisch. Weder meine Mutter noch mein Vater verloren ein Wort; meine Mutter hatte lediglich ein zärtliches, verhaltenes Lächeln auf den Lippen, während sie den Tisch deckte. Wir nahmen Platz, als endlich alles auf dem Tisch stand, und mein Vater reichte mir Brötchen und Eier und Marmelade. Dann setzte er die Brille ab und legte sie zusammengeklappt neben seinen Teller. Er lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Dann betrachtete er das Buch und rief mit gespielter Überraschung aus: »Na, was haben wir denn da?«

Ich schwieg und starrte angelegentlich auf meinen Teller.

»Das habe ich doch schon einmal gesehen«, sagte er. »Ja, ganz bestimmt sogar.« Dann wandte er sich an Mutter. »Erinnerst du dich nicht auch?« Meine Mutter bewegte den Kopf ein bißchen; sie bestrich eine Scheibe Toast mit Butter und legte sie auf meinen Teller. Ich wußte Bescheid: sie durfte mich nicht maßregeln, nur mein Vater. »Iß dein Ei«, ermahnte sie mich. Mein Vater hatte mit dem gleichen Ausdruck des Erstaunens keinen Blick von dem Buch DER GRÜNE HUT, EINE LIEBESGESCHICHTE gewandt und sagte schließlich:

»Na, so etwas findet man nicht besonders gern an einem friedlichen Sonnabendmorgen, oder?«

Ich schwieg weiter und schaute auf mein Frühstück. Meine Mutter meinte besorgt: »Sie ißt nichts, Ben.« Vater packte die Rückenlehne meines Stuhls, so daß ich ihn nicht wie beabsichtigt zurückschieben konnte.

»Du hast natürlich eine Erklärung dafür, oder?« erkundigte er sich.

Ich sagte nichts.

»Natürlich hat sie eine, meinst du nicht auch, Bess? Du willst doch bestimmt nicht deine Mutter kränken, oder? Du willst doch deiner Mütter keinen Kummer damit bereiten, daß du ein Buch stiehlst, von dem du genau weißt, daß du es aus gutem Grund nicht lesen darfst. Du weißt, daß wir dich nicht bestrafen. Wir besprechen es miteinander. Wir versuchen, dir unsere Gründe zu erklären. Das stimmt doch?«

Ich nickte.

»Na schön«, fuhr er fort. »Wie ist das Buch also in deine Hände geraten?«

Ich murmelte etwas Unbestimmtes.

»Ist meine Tochter gar zornig?« erkundigte sich mein Vater.

»Ist meine Tochter etwa widerspenstig?«

»Sie hat dir doch schon alles gesagt«, sprudelte ich heraus. Mein Vater wurde feuerrot.

»Was fällt dir ein, so über deine Mutter zu reden?« brüllte er los und stand auf. »Wage nur nicht, über deine Mutter in dem Ton zu reden!«

»Aber, Ben«, beschwichtigte meine Mutter.

»Deine Mutter ist die Selbstlosigkeit in Person«, schnaubte mein Vater, »und schreib dir das hinter die Ohren, kleines Fräulein. Deine Mutter sorgt sich um dich seit dem Tag deiner Geburt, und wenn du das nicht zu schätzen weißt, dann kannst du von mir aus –«

»Ben!« rief meine Mutter schockiert.

»Es tut mir leid«, sagte ich schließlich. »Es tut mir sehr leid, Mutter.« Mein Vater setzte sich wieder; er hatte einen Schnurrbart, und sein Haar war in der Mitte gescheitelt und zu beiden Seiten angeklatscht. Nun fiel ihm eine Strähne in die Stirn, und sein Gesicht war grau und bebte. Betont starrte er auf seine Kaffeetasse. Mutter ging um den Tisch und goß ihm Kaffee ein; dann verschwand sie mit der Kaffeekanne in der Küche und brachte mir Milch mit. Sie stellte das Glas neben meinen Teller. Dann nahm sie wieder Platz. Mit zitternden Lippen lächelte sie Vater zu, dann legte sie behutsam eine Hand auf meine und fragte:

»Liebling, warum hast du das Buch gelesen?«

»Nun?« knurrte mein Vater über den Tisch.

Einen Moment herrschte Stille, dann:

»Guten Morgen!«

und

»Guten Morgen!«

und

»Guten Morgen!« wünschte unser Gast fröhlich, durchquerte das Eßzimmer mit zwei langen Schritten und faltete sich dann vorsichtig auf ihrem Stuhl am Frühstückstisch zusammen, wobei die Knie hervorstachen. Sie reichte über den Tisch und ergriff DER GRÜNE HUT, lehnte es hinter ihrem Teller an die Milchkanne und vertiefte sich in die Seiten. Dann schaute sie hoch. »Ihre Bibliothek ist sehr fortschrittlich«, sagte sie. »Ich war so frei, dieses spannende Buch Ihrer Tochter zu empfehlen. Sie erwähnten doch, es sei Ihr Lieblingsbuch und Sie hätten es sich extra aus New York schikken lassen, nicht wahr?«

»Ich … weiß nicht recht …«, stammelte meine Mutter und schob ihren Stuhl zurück. Sie bebte von Kopf bis Fuß, und in ihren Zügen malte sich starrer Abscheu. Unser Gast betrachtete zuerst meine Mutter, dann meinen Vater, beugte sich zu ihnen hinüber mit gebanntem Interesse und zärtlichem Verständnis. Sie fuhr fort:

»Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich in Ihren Büchern herumschmökere?«

»Nein, ganz und gar nicht«, murmelte mein Vater.

»Ich esse fast für zwei, wegen meiner Länge«, entschuldigte sich unser Gast. »Das stört Sie doch hoffentlich auch nicht?«

»Nein, gewiß nicht«, entgegnete mein Vater und fand seinen Gleichmut wieder.

»Schön. Sie werden bei der Rechnung nicht zu kurz kommen«, sagte der Gast, schaute meine zusammengesunkenen Eltern der Reihe nach an, die nun hastig ihr Essen in sich hineinschaufelten und ihrem Blick auswichen, und fügte dann mit absichtlicher Taktlosigkeit hinzu:

»Ich habe mir noch eine Freiheit herausgenommen. Ich entfernte von den Klappen des Buchumschlages gewisse … Darstellungen, die meiner Meinung nach zum Text des Buches in keinerlei Beziehung standen. Sie haben doch nichts dagegen?«

Und während meine Mutter und mein Vater Blicke voll schockiertem Erstaunen und belämmerter Begriffsstutzigkeit wechselten, wandte sie sich leise an mich: »Hör auf zu essen. Dir wird sonst übel.« Dann bedachte sie beide mit einem wannen Lächeln, worauf meine Mutter in der Küche entschwand und mein Vater sich darauf besann, daß er zu spät zur Arbeit kommen würde. Sie winkte ihnen nach. Ich sprang auf, sobald meine Eltern den Raum verlassen hatten.

»In dem Buch waren keine Bilder«, flüsterte ich.

»Dann müssen wir welche machen«, antwortete sie und zog von irgendwoher einen Bleistift hervor. Damit zeichnete sie auf die Innenseiten der Umschlagklappen eine Reihe von Skizzen: die Heldin, wie sie in einer Eisdiele Soda mit einem Strohhalm trank, mit übergeschlagenen Beinen und überaus schick; wie sie in einem saloppen Badeanzug einen großen Tisch lachend hochhielt; wie sie mit ihrem Hispano-Suiza gegen einen Baum prallte und hoch in die Luft geschleudert wurde; und in der letzten Zeichnung, wie sie schüchtern und zimperlich in den Armen des Helden landete, der seine plötzliche Eroberung überrascht bestaunte. Dann zeichnete sie eine weiße Maus, die sich die Lippen anmalte, die in der Kirche eine andere Maus heiratete, dann die beiden in einer heftigen Umarmung, die ich lieber nicht genauer anschaute, dann die Maus mit einem dicken Bauch, in dem zwei kleine Mäuschen hockten (und Schach spielten), dann wie die kleinen Mäuschen nacheinander zur Welt kamen, und schließlich die ganze Mäusefamilie beim Picknick. Was in dem Picknickkorb war, konnte ich nicht erkennen, und darunter stand in großen Buchstaben eine Art Spruchband: Ich habe meine Kinder nicht geboren, um Zigaretten zu testen. Das begriff ich auch nicht. Sie lachte und radierte es aus mit der Bemerkung, es wäre wohl überholt. Dann skizzierte sie eine weiße Maus mit einem zusammengerollten Regenschirm, die meine Mutter verfolgte. Ich hob es hoch und schaute es eine Weile an; dann zerriß ich es in Fetzen und anschließend zerfetzte ich auch die anderen Zeichnungen. Ich sagte: »Sie haben kein Recht, so etwas …« Ich brach ab. Sie starrte mich an, nicht eigentlich ärgerlich und auch nicht eigentlich warnend, aber mir wurden die Knie weich, und ich mußte mich setzen. Mir kamen die Tränen.

»So. Die Resultate von angewandter Psychologie«, kommentierte sie trocken und sammelte die Papierschnitzel ein. Sie häufte sie in einer Untertasse auf und zündete sie mit einem Streichholz an. Sie hielt das verkohlende Streichholz zwischen Daumen und Zeigefinger hoch und sagte: »Siehst du? Der Finger bedeutet … sagen wir das Wahrnehmungsvermögen – aber der Daumen bedeutet Geld. Der Daumen ist hart.«

»Sie dürfen meine Eltern nicht so behandeln!« protestierte ich weinend.

»Und du darfst meine Zeichnungen nicht zerreißen«, rügte sie mich gelassen.

»Warum nicht? Warum nicht?« rief ich.

»Weil sie ihr Geld wert sind«, erklärte sie, »jedenfalls in gewissen Kreisen. Ich zeichne nichts mehr für dich.« Ungerührt balancierte sie die Untertasse mit der Asche auf einer Handfläche in die Küche. Ich vernahm ihre Stimme, dann die meiner Mutter, dann wieder die meiner Mutter und dann die unseres Gastes, die einen Felsen erweichen hätte können, doch was sie redeten, habe ich nie erfahren.

 

Ich ging in jenem Sommer oft abends am Zimmer unseres Gastes vorüber, durch den Korridor vorbei an dem vermieteten Raum im ersten Stock, wo die Fenster sich zum dunklen Garten hin öffneten. Alles war immer hell erleuchtet. Meine Mutter hatte die weißen Gardinen selbst genäht, weil sie so etwas immer selbst machte, und die Möbel stammten aus einer Auktion: eine Kommode mit einer Marmorplatte, ein Kleiderschrank, ein gußeisernes Bettgestell und an der Wand ein alter Victrola-Plattenspieler. Gewöhnlich lag ein aufgeschlagenes Buch auf dem Bett. Ich stand dann im Schatten vor der offenen Tür und schaute neugierig hinein, über den nackten Holzfußboden, weit und glatt wie ein gefrorener See und so glänzend gewachst, daß er im Lampenschein blitzte. An der Schrankseite hing ein schwarzes Gewand, darunter standen bequeme Schnallenschuhe mit breiten Absätzen, wie sie auch meine Mutter trug. Ich hätte zu gern gewußt, ob sie unten im Kleiderschrank silberne Abendpumps hatte. Manchmal war es Wells’ Buch DIE ZEITMASCHINE, das aufgeschlagen auf dem Bett lag, und dann redete ich gegen die schwarzen Fensterscheiben mit ihren transparenten Spiegelungen und den sich dahinter schwarz abzeichnenden Baumästen.

»Ich bin erst sechzehn.«

»Du siehst wie achtzehn aus«, erwiderte sie dann.

»Ich weiß«, sinnierte ich weiter. »Ich möchte gern achtzehn sein. Ich möchte von hier fort und aufs College gehen. Am liebsten Radcliffe, glaube ich.«

Sie hüllte sich in Schweigen, verblüfft.

»Lesen Sie Wells?« erkundigte ich mich und lehnte mich an den Türstock. »Ich finde das komisch. Hier am Ort liest niemand; sie interessieren sich nur für Geselligkeit. Ich lese aber eine Menge. Ich möchte gern viel dazulernen.«

Das entlockte ihr ein Lächeln, quer durch den Raum.

»Ich habe einmal etwas Komisches getan«, fuhr ich fort. »Ich meine komisch zum Lachen, nicht seltsam komisch.« Das war eine Redewendung, neuerdings in aller Mund. »Ich habe DIE ZEITMASCHINE gelesen und dann alle Leute gefragt, ob sie Eloi oder Morlocks seien; sie haben sich alle darüber amüsiert. Es lief nämlich darauf hinaus, was man am liebsten wäre, wenn man es sein könnte, wie beispielsweise ein Optimist oder ein Pessimist, oder ob man Bubiköpfe mag.« Dann fragte ich: »Was sind Sie?« Sie zuckte nur mit den Achseln und lächelte ein wenig breiter. Sie stützte das Kinn in eine langgliedrige Hand und schaute mit ihren schwarzen ägyptischen Augen in meine und sagte dann mit ihrer seltsam heiseren Stimme:

»Du mußt es zuerst sagen.«

»Ich glaube«, antwortete ich, »daß Sie eine Morlock sind.«

Da hockte sie auf dem Bett in dem von meiner Mutter untervermieteten Zimmer, neben ihr die aufgeschlagene ZEITMASCHINE, und entgegnete:

»Du hast absolut recht. Ich bin eine Morlock. Ich bin eine Morlock auf Urlaub. Ich kam direkt von der letzten Morlock-Versammlung, die zwischen den Sternen in einem großen Goldfischglas abgehalten wird, wo sich die Morlocks wie Fledermäuse an der Innenseite festklammern müssen, manche mit dem Kopf nach oben, die anderen andersherum, weil es dort oben kein Oben und Unten gibt; sie hocken zusammen wie eine Schar schwarzer Krähen, wie eine nach außen gewendete Kastanienschale. Es gibt ungefähr ein halbes Tausend Morlocks, und wir beherrschen die Welten. Meine schwarze Uniform hängt im Schrank.«

»Das habe ich mir doch gleich gedacht«, sagte ich.

»Du hast immer recht«, erwiderte sie, »und du kennst auch den Rest der Geschichte. Du weißt, wie mörderisch wir sind und wie gräßlich wir leben. Wir warten auf den großen Knall, wenn alles zusammenfällt und sogar die Morlocks ausgelöscht werden; in der Zwischenzeit bleibe ich hier und warte auf das Zeichen, und ich hefte Nachrichten an das Amateur-Ölgemälde deiner Mutter von der Hauptstraße, weil es eines Tages in einem Museum hängen wird und meine Freunde es dort finden können. Und bis dahin lese ich DIE ZEITMASCHINE.«

Darauf fragte ich: »Kann ich mit Ihnen kommen?« und lehnte dabei im Türrahmen.

»Ohne dich«, erwiderte sie ernsthaft, »wäre alles verloren.« Sie holte aus dem Kleiderschrank ein schwarzes Kleid, an dem Sterne blitzten, und ein Paar hochhackiger silberner Sandaletten und erklärte: »Das gehört dir. Sie stammen von meiner Urgroßmutter, die den Orden gegründet hat. Im Namen der Transzeitlichen Militärbehörde.« Und ich zog die Sachen an.

Ich stellte mir das alles so lebhaft vor, daß ich bedauerte, sie nicht leibhaftig vor mir zu sehen.

 

Jedes Jahr veranstaltete der Country Club Mitte August einen Ball, nicht nur für die reichen Familien, die ohnehin Mitglieder waren, sondern für die »anständigen« Leute, die in Holzhäusern in der Stadt wohnten; sogar einige der praktisch denkenden, tüchtigen jungen Ehepaare, die in großstädtischer Manier Mietwohnungen bewohnten, wurden aufgefordert, – im Stadtzentrum war so ein neues Apartmenthaus, ein vierstöckiges Gebäude aus roten Backsteinen mit einem Hof, errichtet worden. Wir sollten auch hingehen, weil ich dieses Jahr dafür alt genug war, aber am Tag vor dem Ball bekam mein Vater heftige Schmerzen in der linken Seite, und meine Mutter mußte zu Hause bleiben, um ihn zu pflegen. Er lag mit vielen Kissen im Rücken auf dem Sofa im Wohnzimmer, das in die Mitte gerückt war, damit er meiner Mutter bei der Gartenarbeit zusehen und ihr durch die Fenster ab und zu Anweisungen geben konnte. Den Weg zur Haustür konnte er so auch im Auge behalten. Er nörgelte dauernd, daß sie dies oder jenes falsch machte. Ich fragte nicht einmal, ob ich allein zum Ball gehen dürfte.

Mein Vater sagte:

»Geh doch in den Garten und hilf deiner Mutter.«

»Sie kann mich nicht brauchen«, antwortete ich. »Ich soll bei dir bleiben.« Darauf brüllte er ärgerlich: »Bess, Bess!« und bombardierte meine Mutter mit Anweisungen durch das offene Fenster. Da erblickte ich ein Paar Hände neben denen meiner Mutter und dann unsere Mieterin, hingehockt und eine Zigarette zwischen den Lippen, während sie Unkraut zupfte. Sie arbeitete schnell und ordentlich und rauchte weiter. »Nein, nicht so!« schrie mein Vater und warf die Dekke beiseite, die meine Mutter über ihn gebreitet hatte. »Du weißt nicht, wie man es macht. Bess, du machst alles verkehrt! Hör auf und mach es anständig!« Meine Mutter schaute verwirrt und verstört aus; sie verzog sich aus seinem Blickfeld, und unser Gast nahm ihren Platz ein. Sie winkte meinem Vater zu, und der resignierte und zog die Decke eng um die Schultern. »Ich hasse Frauen, die rauchen«, murmelte er gereizt. Ich entschlüpfte durch die Küche.

Der Werkzeugschuppen und Arbeitsraum meines Vaters nahm die hintere Hälfte des rückwärtigen Grundstücks ein. Der vordere Teil war Garten, halb mit Blumen, halb mit Gemüse und Kräutern bepflanzt und zog sich seitlich am Haus nach vorn, nach ungefähr fünf Metern seitlich von der Umfriedung der Nachbarn, an der Straßenseite durch einen weißen Bretterzaun begrenzt. Er war nicht besonders gepflegt, und unser Haus hätte einen neuen Anstrich brauchen können. Meine Mutter arbeitete kniend in einem Gemüsebeet hinter dem Haus. Unsere Mieterin beschnitt einen Fliederbusch und rauchte noch immer. Ich bettelte leise:

»Mutter, bitte, laß mich doch gehen!«

Meine Mutter strich sich mit der Hand über die Stirn und rief zu meinem Vater hin: »Ja, Ben?«

»Warum willst du mich nicht mitmachen lassen?« flüsterte ich. »Die Mütter von Ruth und Betty sind dort. Ruf sie doch bitte an!«

»So geht das doch nicht!« tönte es aus dem Wohnzimmerfenster. Meine Mutter seufzte geplagt auf und lächelte dann mit künstlicher Freude. »Ja, Ben«, rief sie freundlich. »Ich höre, was du sagst.« Und mein Vater setzte seine Anordnungen fort.

»Mutter«, bedrängte ich sie gedämpft, »kannst du nicht …«

»Dein Vater wird es nicht erlauben«, wehrte sie ab, lächelte wieder gequält und beschwichtigte meinen Vater. Ich schlenderte zum Fliederbusch, wo unsere Mieterin trockene Zweige zusammenlas. Sie trug wie üblich ein langweiliges schwarzes Kleid. Nach einem letzten Zug an der Zigarette, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, trat sie sie im Gras aus, raffte das trockene Holz zusammen und trug es zum Stapelplatz.

»Mein Vater sagt, man soll im August keine Bäume beschneiden«, babbelte ich unvermittelt.

»Ach?« sagte sie.

»Es tut ihnen weh«, flüsterte ich.

»Ach?« wiederholte sie. Sie trug viel zu knappe Gartenhandschuhe, nahm die Schere wieder auf und schnippelte sich durch die teils zentimeterdicken Zweige; sie brachen laut knackend, und manche schnellten einem ins Gesicht. Sie schnitt schnell und sehr geschickt.

Ich schwieg und betrachtete ihr Gesicht.

Sie schüttelte den Kopf mit Entschiedenheit.

»Aber Ruths und Bettys Mütter …« fing ich stokkend an.

»Ich nehme an so etwas niemals teil«, sagte sie.

»Sie müssen ja nicht dort bleiben«, versuchte ich es noch einmal beschwörend.

»Niemals«, antwortete sie. »Niemals!« Damit kappte sie einen besonders dicken, trockenen, silbernen Zweig vom Fliederbusch und gab ihn mir. Und dann musterte sie mich unverwandt mit einer plötzlich sehr strengen, ernsten und unangenehmen Miene, fremd, wie ein Mensch, der einen anderen in die Schlacht gehen sieht, wie aus einem Film, aber stur und unbeugsam. Ich wußte, daß ich bei ihr auf Granit biß. Ich stellte mir vor, daß sie einige der Kämpfe des Zweiten Weltkrieges erlebt haben mochte, möglicherweise sogar daran teilgenommen hatte. Obgleich ich kaum einen Ton herausbrachte, fragte ich:

»Waren Sie im Weltkrieg?«

»In welchem Weltkrieg?« erkundigte sich unsere Mieterin. Dann wiederholte sie: »Ich gehe niemals aus«, und wandte sich wieder dem Busch zu.

 

Am Ballabend forderte mich meine Mutter auf, mich anzuziehen, und ich gehorchte. An der Innenseite meiner Zimmertür hing ein Spiegel, aber die Fenster waren geeigneter; sie verwischten die Konturen, vermittelten meiner Gestalt einen schwarzen Hintergrund und tauchten meine Augen in geheimnisvolle, dunkle Schatten. Ich trug ein altrosa Organdykleid und hatte einen Strauß Maßliebchen aus dem Garten angesteckt. Als ich nach unten ging, wartete unsere Mieterin am Fuß der Treppe auf mich: hochgewachsen, mit bloßen Armen und fast schön. Sie hatte ihre unmöglich struppigen Haare irgendwie gebändigt und sie legten sich in einzelne rot schimmernde Locken wie auf einem Starfoto. Als sie sich in Bewegung setzte, fand ich sie anmutig und wunderschön in ihrem schwarzen, silbern aufblitzenden Gewand, das wie ein Pariser, oder besser noch wie ein New Yorker Modell aussah. Um die Stirn trug sie ein silbernes Band wie eine indianische Prinzessin, und an den Füßen die silbernen Sandaletten mit einer Spange über den Rist.

Sie sagte: »Hübsch siehst du aus«, und fügte dann flüsternd hinzu: »Ich werde kein guter Anstandswauwau sein. Ich werde einfach verschwinden.« Sie faßte mich am Arm und schaute mich mit seltsamer Zärtlichkeit an.

»Na schön«, sagte ich mit äußerlicher Gelassenheit, »ich komme wohl allein zurecht.« Dabei hoffte ich, sie würde mich nicht meinem Schicksal überlassen, und gleichzeitig, sie würde nicht ausgelacht werden wegen ihrer ungewöhnlichen Größe.

»Dein Vater wird um zehn Uhr eingeschlafen sein«, murmelte meine Mutter. »Komm also um elf Uhr heim. Und viel Spaß.« Sie küßte mich.

Ruths Vater, der Ruth, ihre Mutter, mich und unsere Mieterin zum Klubhaus fuhr, lachte nicht, und die anderen auch nicht. Unser Gast schien zusammen mit dem Kleid eine neue Anmut angelegt zu haben, verbunden mit großer Liebenswürdigkeit. Jedenfalls fand Ruth, die bisher nur Gerüchte über sie vernommen hatte, sie nett, und Ruths Vater, der Mathematiklehrer an der Oberschule war, fing nach einem Räuspern ein Gespräch an. »Es muß einem einsam vorkommen, wenn man immer zu Hause bleibt.«

Unsere Mieterin erwiderte: »Ja, das stimmt.« Sie legte eine langfingrige, elegante Hand auf seine Schulter wie das Bein einer unwirklichen Spinne, und seine Worte und die ihrigen hallten wider in der Nacht, hallten hin und zurück und verloren sich unter den Bäumen, die rechts und links der Straße in schwarzen Klumpen standen.

»Ruth möchte zum Zirkus«, sagte Ruths Mutter lachend.

»Möchte ich nicht!« protestierte Ruth.

»Wirst du nicht«, erklärte ihr Vater.

»Ich werde tun, was ich will«, konstatierte Ruth mit hochgereckter Nase und holte ein Cremehütchen aus der Handtasche und steckte es in den Mund.

»Du wirst es nicht tun!« donnerte ihr Vater empört.

»Daddy, du weißt genau, daß ich es doch tun werde«, sagte Ruth heiter, wenn auch etwas gedämpft. Und im Schutz der Dunkelheit schob sie sich auf dem Rücksitz näher zu mir und drückte mir aus ihrer verschwitzten Hand ein weiteres Cremehütchen in meine verschwitzte Hand. Ich verspeiste es; es war unangenehm und übertrieben süß.

»Ist es nicht phantastisch?« rief sie aus.

Der Country Club entsprach nicht meinen Erwartungen; er war nur ein Holzhaus mit einer um drei Seiten laufenden Veranda und einer bescheidenen Rasenfläche davor. Allerdings führte eine Auffahrt zu einem Portal mit zwei Steinpfosten, und jemand hatte den Eingang und die Auffahrt mit einer Kette von Lampions geschmückt. Das gefiel mir. Das Erdgeschoß bestand aus einem großen Raum mit auf Hochglanz poliertem Fußboden wie die Turnhalle unserer Schule; an einer Wand stand der Tisch mit Punsch und von der Decke hingen Girlanden an bunten Bändern und Lampions. Es sah nicht so aus wie im Film, aber alles war schön bunt. Korbstühle standen auf der Veranda verstreut, und ich beschloß, es hübsch zu finden. Hinter dem Punschtisch führte eine Treppe zu einer Galerie, auf der Tische für die Erwachsenen standen, wo sie sich ausruhen und etwas trinken konnten – Ruth ließ sich nicht davon abbringen, daß sie sich Alkohol für Mixgetränke mitbrachten, eine Praxis, die der Country Club mit zwei zugedrückten Augen nicht zur Kenntnis nahm. Auf beiden Seiten des Saales öffneten sich breite Balkontüren zur Veranda hin, und die Lampions schaukelten sanft in der Brise. Ruths Kleid war eleganter als meines. Wir stellten uns an den Punschtisch und tranken Punsch, während Ruth mich über unsere Mieterin ausquetschte. Ich speiste sie mit einem Haufen Lügen ab. »Du hast keine Ahnung«, sagte Ruth. Sie winkte einigen Freunden zu; dann sah ich sie mit einem Jungen vor der Kapelle tanzen, die am anderen Ende des Raums auf einer Empore saß. Inzwischen tanzten auch ältere Leute, ein paar ältere Jungen und Mädchen und ihre Eltern. Ich blieb beim Punschtisch stehen. Leute, die meine Eltern kannten, stellten sich zu mir und redeten mich an; sie fragten, wie es mir ginge, und ich sagte, gut. Sie fragten, wie es meinem Vater ginge, und ich sagte, gut. Jemand wollte mich einem anderen vorstellen, aber ich sagte, ich kenne ihn bereits. Ich hoffte, jemand würde mich auffordern. Ich wollte am Rand der Tanzfläche entlangschlendern und mich mit ein paar mir bekannten Mädchen unterhalten, aber dann ließ ich es bleiben. Ich sah mich im Geist mit Iris Marchs Liebhaber aus DER GRÜNE HUT die Treppe hinaufschreiten und an einem Tisch Platz nehmen, um eine Zigarette zu rauchen oder etwas zu trinken. Ich wandte mich vom Punschtisch ab und ging auf die Veranda hinaus. Unsere Mieterin saß ein Stück entfernt auf einem Korbsessel, die Beine weit ausgestreckt auf einer Sprosse des Geländers. Sie las mit Hilfe einer Taschenlampe in einer Zeitschrift. Die um die Veranda angepflanzten Blumen leuchteten flackernd im Schein der Lampions auf: runde Kissen von Petunien, von denen einige weiße aufblitzten, wenn sie eine Seite umdrehte und die Taschenlampe dabei bewegte. Ich beschloß, meine Zigarette in eine lange Spitze zu stecken. Der Mond ging über den Bäumen jenseits des Rasens auf, doch die Nacht war bedeckt, und so konnte ich nur einen helleren Schein in der Richtung ausmachen. Es war ziemlich warm. Mir schoß ein Satz durch den Kopf, von einem Zigarettenhalter aus Elfenbein, der im Mondlicht prunkvoll schimmerte. Unsere Mieterin wandte wieder eine Seite um. Eigentlich hätte sie meine Gegenwart merken müssen. Ich dachte wieder an Iris Marchs Liebhaber, der mich auf der Veranda suchte, als jemand mir auf die Schulter klopfte; es war Ruths Vater. Er ergriff meine Hand und führte mich zu unserer Mieterin, die mit einem traumverlorenen Lächeln hochschaute, dort im bunten und schummrigen Dämmerlicht. Ruths Vater sagte:

»Wer hätte das gedacht. Drinnen wartet ein Verwandter auf Sie.« Sie lächelte weiter, aber ihre Züge erstarrten, und einen Moment lang lächelte sie verloren in den leeren Raum neben seinem Kopf. Dann vollendete sie die Drehung des Kopfes und schaute ihn direkt an, noch immer mit einem Lächeln, dem aber jeder Funke Heiterkeit fehlte.

»Wie nett«, sagte sie. »Wer ist es denn?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Ruths Vater, »aber er ist sehr groß und schaut Ihnen ähnlich – Verzeihung. Er stellte sich als Ihr Vetter vor.«

»Danke«, sagte unser Gast abwesend und schüttelte Ruths Vater im Aufstehen die Hand. Wir gingen zu dritt nach drinnen. Die Zeitschrift und die Taschenlampe ließ sie auf dem Sessel liegen; anscheinend gehörten sie dem Klub. Ruths Vater begleitete uns zu der Treppe, die zur Galerie hinaufführte, und dort oben saß er an einem der Tische, ein Mann, noch hochgeschossener als unsere Mieterin, das sah man sogar im Sitzen. Er trug einen Abendanzug, während die meisten anderen Männer so angezogen waren, wie sie sonst ins Geschäft gingen. Im Gesicht sah er ihr nicht sehr ähnlich, die Züge waren etwas weniger ausgeprägt, sein Teint dunkler, und als wir uns näherten, erhob er sich. Er stieß fast an die Decke, so ein Riese war er. Er und unsere Mieterin begrüßten sich nicht mit Händeschütteln. Sie schauten Ruths Vater mit einem förmlichen Lächeln an, und Ruths Vater verschwand. Dann schaute der Fremde mich fragend an, aber unsere Mieterin hatte sich bereits mit gertenhafter Anmut auf den nächsten Stuhl sinken lassen. Sie gaben ein hübsches Paar ab. Der Fremde zog eine mit Silber beschlagene Taschenflasche aus der hinteren Hosentasche und goß Wasser aus einem Krug auf dem Tisch in ein sauberes Glas. Dann fügte er Whisky aus der Flasche hinzu, aber unsere Mieterin rührte ihn nicht an. Sie wandte sich seitlich zu mir hin, streckte einen Finger aus und forderte mich amüsiert auf: »Setz dich, Kind«, was ich auch tat. Sie erkundigte sich: »Vetter, wie hast du mich gefunden?«

»Par chance, Cousine«, antwortete der Fremde. »Durch Zufall.« Er schraubte den Verschluß auf die Taschenflasche und verstaute sie bedächtig wieder in der Hosentasche. Dann rührte er mit einem Cocktail-Quirl, wie sie in Bechern auf den Tischen standen, sein Getränk um.

»Ich hatte eine Menge langweiliges Gerede auszustehen«, fuhr er fort, »von dem Mann, mit dem du gesprochen hast. Hier gibt es keinen einzigen Spezialisten, alle Leute sind halb schwachsinnig und dumm.«

»Er ist ein gütiger und ein kluger Mann«, wehrte sie ab. »Er lehrt Mathematik.«

»Dann ist er noch dümmer«, kommentierte der Fremde, »was der schon von Mathematik versteht!« Er kippte seinen Drink und sagte: »Ich finde, wir gehen jetzt heim.«

»Meinst du mich?« Unser Gast kräuselte amüsiert die Lippen. »Ich nicht!«

»Warum nicht du, die du mich kennst?« fragte der Fremde.

»Weil …«, begann unsere Mieterin, drehte sich absichtlich von mir weg dicht zu ihm hin und flüsterte ihm anscheinend kleine Bosheiten ins Ohr. Dabei beobachtete sie die Tänzer unten auf der Tanzfläche, die Männer in ihren dunklen Anzügen, die mittelalterlichen Ehepaare, Ruth und Betty mit ihren Freunden und die Collegestudenten auf Urlaub. Die Kapelle spielte einen Foxtrott. Der Fremde verzog nur ein wenig die Miene, sie verdüsterte sich. Er trank den letzten Schluck, setzte das Glas ab und drehte sich schwungvoll zu mir um.

»Geht sie aus?« fragte er mit Schärfe.

»Nun?«, sagte unsere Mieterin lässig.

»Ja«, antwortete ich. »Ja, sie geht aus. Jeden Tag.«

»Mit dem Wagen oder zu Fuß?« Ich schaute sie fragend an, aber sie gab kein Zeichen. Ihr Daumen und Zeigefinger formten auf dem Tisch einen Kringel.

»Ich weiß nicht«, sagte ich.

»Geht sie zu Fuß spazieren?« erkundigte er sich.

»Nein«, stieß ich unvermittelt hervor, »nein, sie fährt mit dem Wagen. Immer mit dem Wagen.«

»Ihr seid zu allem imstande«, bemerkte er beiläufig. »Eure Sippschaft.«

»Ich?« fragte sie. »Ich bin nicht närrisch. Mit mir kann man vernünftig reden.«

Nach einer kurzen Pause sagte er: »Wir werden reden.«

Sie zuckte die Achseln. »Warum auch nicht?«

»Im Haus des Mädchens«, ordnete er an. »Ich gehe fünfzehn Minuten nach dir weg. Gib mir deine Hand.«

»Warum?« fragte sie. »Du weißt, wo ich wohne. Ich werde mich nicht wie ein Tier im Wald verkriechen.«

»Gib mir deine Hand«, wiederholte er. »Aus alter Anhänglichkeit.« Sie streckte ihm die Hand über dem Tisch hin, er ergriff sie, und sie zuckte zusammen. Dann erhoben sich beide. Sie lächelte betörend, nahm mich bei der Hand und führte mich die Treppe hinab, während uns der Fremde mit offensichtlicher Freude über den Ausdruck nachrief: »Aus alter Anhänglichkeit … Bleib gesund, Cousine, und ein langes Leben!« Die Kapelle intonierte einen Marsch im Dixieland-Stil. Sie blieb bei fünf oder sechs Leuten stehen, darunter auch Ruths Vater, der Mathematik an der Oberschule lehrt, dann bei dem Kapellmeister und Betty, die mit einem Jungen aus unserer Klasse Punsch trank. Betty raunte mir zu: »Deine Maßliebchen stecken nicht mehr richtig. Sie fallen gleich herunter.« Wir gingen zwischen den Reihen geparkter Wagen hindurch und kamen an einen, der ihr zu gefallen schien; sie waren alle offen und einige Besitzer hatten die Schlüssel steckenlassen. Sie setzte sich hinter das Steuer und ließ den Motor an.

»Aber der Wagen gehört Ihnen nicht«, sagte ich. »Sie können nicht einfach …«

»Steig ein.« Ich glitt auf den Beifahrersitz.

»Es ist erst kurz nach zehn«, protestierte ich. »Sie werden Vater aufwecken. Wer …«

»Halt den Mund.«

Ich gehorchte. Sie fuhr schnell und sehr schlecht. Auf dem halben Weg nach Hause verringerte sie etwas das Tempo. Plötzlich lachte sie laut auf und sagte sehr geheimnisvoll, aber weniger zu mir als zu jemand anderem:

»Ich habe ihm gesagt, ich hätte hier eine Neilson-Schlinge installiert, die den halben Greene-Bezirk aus der Phase werfen würde. Eine Dead-Man-Kontrolle. Ich müßte jede Woche hingehen und sie aufhalten.«

»Was ist eine Neilson-Schlinge?« fragte ich.

»Klemmen gestern, klemmen morgen, aber klemmen niemals heute«, zitierte sie.

»Was ist eine …«, fing ich noch einmal an.

»Ich hab’ es dir gesagt, Mädchen«, entgegnete sie, »und so Gott will, wirst du niemals mehr darüber erfahren.« Mit einem Quietschen, das laut genug war, um die Toten aufzuwecken, preschte sie in unsere Auffahrt, sprang aus dem Wagen und durch die Hintertür in die Küche, als lägen mein Vater und meine Mutter im Tiefschlaf oder in einer lähmenden Trance, wie E. A. Poe es beschrieben hat. Dann befahl sie mir, den eisernen Feuerhaken aus dem Müllverbrennungsofen im Hof zu holen und festzustellen, ob das Ende noch heiß wäre. Als ich den Schürhaken anbrachte, legte sie das heiße Ende auf eine Flamme des Gasherdes. Dann wühlte sie unter dem Ausguß herum und brachte eine Flasche zum Vorschein, in der Salmiakgeist, ein Haushalts-Reinigungsmittel meiner Mutter, war.

»Das ist ein gräßliches Zeug«, sagte ich. »Wenn es Ihnen in die Augen kommt …«

»Gieß etwas in ein Wasserglas«, ordnete sie an und gab es mir. »Füll es zwei Drittel voll und bedecke es mit einer Untertasse. Hol noch ein Glas und eine Untertasse und stell alles zusammen auf den Küchentisch. Füll den Wasserkrug deiner Mutter auf, decke ihn auch zu und stelle ihn daneben.«

»Wollen Sie das etwa trinken?« rief ich erschrocken aus und blieb vor dem Tisch mit dem abgedeckten Glas stehen. Sie schubste mich wortlos weiter. Ich arrangierte alles wie gewünscht und schob noch drei Stühle um den Tisch zurecht. Dann ging ich wieder zum Herd und wollte die Flamme ausdrehen, aber sie nahm mich bei der Hand und stellte mich so hin, daß ich von der Tür und vom Fenster her den Blick auf den Herd versperrte. Sie fragte: »Mädchen, was ist die spezifische Wärme von Eisen?«

»Was?« fragte ich dumm.

»Du hast es doch gelernt«, wies sie mich zurecht. »Also?«

Ich starrte sie nur an.

»Aber du weißt es doch, besser als ich, Mädchen«, wiederholte sie. »Du weißt, daß deine Mutter heute Müll verbrannt hat, und daß der Schürhaken noch heiß sein muß. Und du bist schlau genug, einen eisernen Topf nicht anzurühren, der frisch vom Herd kommt, selbst wenn die Flamme nicht mehr brennt, weil es lange dauert, bis Eisen sich erhitzt, und bis es sich abkühlt. Das stimmt doch?«

Ich nickte.

»Andererseits weißt du nicht«, fuhr sie fort, »wie lange Aluminiumtöpfe zum Abkühlen brauchen, weil hier noch niemand solches Geschirr benutzt. Und wenn ich dir erklärte, wie selten Schwermetalle sind, und was ein Atommeiler ist, und wie Hitze durch Glas dringen kann oder durch Kunststoff oder sogar einen Keramikrost, dann hättest du keine Ahnung, wovon ich eigentlich rede, oder?«

»Nein«, sagte ich und bekam plötzlich Angst, »nein, nein.«

»Dann weißt du mehr als manch anderer«, sagte sie. »Du weißt mehr als ich. Erinnerst du dich noch, wie ich mich verbrannte, als ich mit den Töpfen deiner Mutter herumhantierte?« Sie betrachtete ihre Handfläche und verzog das Gesicht. »Er kommt«, warnte sie. »Bleib vor dem Herd stehen. Wenn er dich auffordert, das Gas abzudrehen, dann gehorche. Wenn ich ›Jetzt‹ sage, dann schlag ihn mit dem Schürhaken.«

»Ich kann nicht«, flüsterte ich. »Er ist zu groß.«

»Er kann dir nichts tun«, beschwichtigte sie mich. »Das würde er nicht wagen, es wäre ein Anachronismus. Tue, was ich sage.«

»Was wollen Sie denn machen?« jammerte ich.

»Wenn ich ›Jetzt‹ sage«, wiederholte sie eindringlich, »hau ihn mit dem Schürhaken.« Damit ließ sie sich auf einen Stuhl sinken, zog das Marmeladeglas heran, in dem meine Mutter verschiedenen Krimskrams aufbewahrte, holte sich das Lady-Marlene-Kissen hervor und begann, ihre Nägel zu polieren. Auf der Küchenuhr vergingen zwei Minuten. Nichts geschah. Ich stand da und hielt das kalte Ende des Schürhakens hinter mir in der Hand und lauerte, bis ich einfach etwas sagen mußte: »Warum verziehen Sie das Gesicht. Tut Ihnen etwas weh?«

»Der Splitter in der Handfläche«, erklärte sie ruhig. »Der Bastard.«

»Warum ziehen Sie ihn nicht heraus?«

»Weil sonst das Haus in die Luft fliegt.«

Er kam durch die offene Küchentür herein.

Wortlos legte sie beide Hände mit den Flächen nach oben auf den Küchentisch, und ebenso wortlos gürtete er den zu seinem Abendanzug gehörigen schwarzen Cummerbund auf und schnellte ihn nach ihr. Er legte sich über ihre beiden Arme und zog sich dann zusehends zusammen, haftete an Armen und Tisch wie ein schwarzes Heftpflaster, zerrte ihren Oberkörper herab und schnellte dann mit einem Ende um die Tischkante, so daß das Holz fast zersplitterte. Ihre Arme wirkten wie gelähmt. Er legte einen Finger auf seine Zunge, dann auf ihre Handfläche, wo ein kleiner schwarzer Fleck war. Der Fleck verschwand. Er lachte und befahl mir, die Flamme auszudrehen, und ich gehorchte.

»Nimm es ab«, sagte sie daraufhin.

Er antwortete: »Schade, daß du dich versteckst, sonst könntest du auch bewaffnet sein.« Mit einem Knall wie ein Schuß löste sich das schwarze Ding vom Küchentisch, er befreite ihre Arme und tat es wieder um, wo es mit dem schwarzen Anzug zu verschmelzen schien.

»Nun, nachdem ich das benutzt habe, wissen wir alle, wo wir stehen«, sagte er und hockte sich auf einen Küchenstuhl, der viel zu klein war für seine Maße, und als er sich zurücklehnte, stachen seine Knie in die Luft.

Daraufhin sagte sie etwas, was ich nicht verstand. Sie hob die Untertasse vom leeren Glas und goß Wasser hinein. Wieder sagte sie etwas Unverständliches und bot es ihm an, doch er winkte es beiseite. Sie zuckte die Achseln und trank das Wasser selbst. »Fliegen«, murmelte sie und bedeckte das Glas wieder. Schweigend saßen sie ein paar Minuten da. Ich wußte nicht, was ich tun sollte; ich sollte natürlich auf das Stichwort »Jetzt« warten und ihn dann mit dem Schürhaken schlagen, aber niemand rührte sich. Die Küchenuhr, die ich am Morgen aufzuziehen vergessen hatte, blieb um zehn Minuten vor elf stehen. Vor dem Fenster zirpte eine Grille, und ich hatte Angst, man würde den Salmiakgeist doch riechen. Gerade, als ich vom Stillstehen einen Krampf im Bein bekam, nickte unsere Mieterin. Sie seufzte dabei bedauernd. Der Fremde erhob sich, stellte behutsam den Stuhl beiseite und verkündete: »Gut. Ich rufe sie.«

»Jetzt?« sagte sie.

Ich brachte es nicht fertig. Ich schwang den Feuerhaken vor und stand da, ihn mit beiden Händen umklammernd. Der Fremde, der fast an die Decke stieß, verschwendete nur einen kurzen Seitenblick auf mich, als sei ich der Mühe nicht wert, und konzentrierte sich dann wieder auf sie. Sie hatte das Kinn in die Hand gestützt. Dann schloß sie die Augen.

»Leg es weg«, sagte sie müde.

Ich wußte nicht, was ich machen sollte. Sie schlug die Augen auf und nahm die Untertasse von dem anderen Glas auf dem Tisch.

»Leg es jetzt weg«, sagte sie und führte das Glas mit Salmiakgeist an die Lippen.

Unbeholfen traf ich ihn mit dem Schürhaken. Was dann geschah, ging mir zu schnell, aber ich glaube, er lachte und griff nach dem Schürhaken – dem heißen Ende – und stieß mich beiseite und schrie auf, denn plötzlich hockte ich auf allen Vieren und sah, wie sie ihm ein Bein stellte, als er sich erfolglos auf sie stürzen wollte, mit verkniffenen Augen und hustend und halb erstickt. Das Salmiakgeistglas lag leer und in Scherben auf dem Boden; ein brauner Fleck auf dem weißen Tischtuch zeigte an, wo es heruntergerollt war. Als er umfiel, gab sie ihm einen Tritt in die Schläfe. Dann trat sie beiseite und streckte mir die Hand hin. Ich gab ihr den Schürhaken, den sie am heißen Ende mit dem zusammengeknautschten Zipfel des Tischtuchs ergriff, dann am anderen Ende packte und ihm mit schrecklicher Kraft gegen die Luftröhre, nicht etwa gegen den Kopf, hieb. Als er still war, berührte sie sein Jackett an verschiedenen Stellen mit dem heißen Ende des Hakens, strich über seine Gürtellinie, wo der Cummerbund sein mußte, dann über zwei Stellen an beiden Schuhen. Dann befahl sie mir: »Geh raus.«

Das tat ich, aber ich sah noch, wie sie ihm ein Ende bereitete, nicht etwa mit dem Schürhaken, sondern mit der Breitseite des Absatzes ihrer silbernen Sandaletten, die sie ihm auf die Kehle drückte.

Als ich die Küche wieder betrat, war er verschwunden. Ein sauber ausgespültes Glas stand auf dem Ablauf neben dem Spülbecken, und der Schürhaken lehnte aufrecht in einer Ecke des Beckens, unter fließendem Wasser. Unsere Mieterin brühte am Herd Tee in der braunen Kanne meiner Mutter auf. Direkt über ihr hing der auf einem Leinentuch gedruckte holländische Kalender, den meine Mutter schätzte, denn sie war ja schließlich modern. Meine Mutter pinnte immer Sprüche daran; einer lautete: »Sei vorsichtig. Im Haushalt passieren – außer im Bad – die meisten Unfälle in der Küche.«

»Wo …«, fragte ich, »wo ist …«

»Setz dich«, sagte sie. »Setz dich hier hin.« Und damit drückte sie mich auf seinen Stuhl am Küchentisch. Aber von ihm war keine Spur mehr zu sehen. Sie sagte: »Denk nicht zuviel darüber nach.« Sie wandte sich wieder dem Tee zu, der genug gezogen hatte, gerade als meine Mutter mit einem verlegenen Lächeln aus dem Wohnzimmer herüber kam, die Schultern in eine Decke gehüllt. »Meine Güte, ich muß eingeschlafen sein.«

»Tee?« bot unsere Mieterin an.

»Mir sind plötzlich die Augen zugefallen«, murmelte meine Mutter und setzte sich hin.

»Ich vergaß«, sagte unsere Mieterin. »Ich habe mir einen Wagen ausgeliehen. Mir war nicht gut. Wir müssen den Besitzer anrufen. « Sie ging in die Diele zum Telefon, denn wir waren mit die ersten, die einen Anschluß hatten. Nach ein paar Minuten kehrte sie zurück. »Ist alles in Ordnung?« erkundigte sich meine Mutter. Wir tranken schweigend Tee.

»Sagen Sie mir«, unterbrach unsere Mieterin schließlich das Schweigen, »wie gut ist Ihr Radioempfang?«

»Bestens«, antwortete meine Mutter, ein bißchen beleidigt.

»Das ist gut«, erklärte unsere Mieterin und fügte dann hinzu, wie unter einem Zwang, »Sie wohnen nämlich in einem toten Gebiet, wissen Sie, in einem funkstillen Winkel.«

Erschrocken fuhr meine Mutter auf: »Wie bitte …«

»Entschuldigen Sie mich«, sagte unsere Mieterin, »aber mir ist nicht gut.« Sie setzte klirrend die Tasse auf den Unterteller, erhob sich und verließ die Küche. Meine Mutter hatte beruhigend ihre Hand auf meine gelegt.

»Ist irgendwer … ihr auf dem Ball zu nahe getreten?« fragte meine Mutter sanft.

»Ach, nein«, entgegnete ich.

»Bist du sicher?« drang meine Mutter weiter in mich. »Bist du wirklich ganz sicher? Hat sich jemand über sie lustig gemacht? Oder etwas über ihre Erscheinung gesagt? Über ihre Körpergröße? Irgend etwas Abfälliges?«

»Ruth sagte, sie sähe wie eine Giraffe aus«, berichtete ich. Mutter nahm ihre Hand von meiner und stand erleichtert auf. Sie räumte das Teegeschirr weg und stellte es in die Spüle. Stirnrunzelnd ergriff sie den Schürhaken und legte ihn in den Küchenschrank. Dann trocknete sie das Glas ab, das unsere Mieterin ausgespült auf das Abtropfbrett gestellt hatte, das Glas, das mit Salmiakgeist gefüllt gewesen war.

»Die arme Frau«, murmelte meine Mutter beim Abtrocknen, »oh, diese bedauernswerte Frau.«

 

Nach diesen Ereignissen passierte nicht mehr viel. Ich begann, meine Schulbücher für den ersten Schultag zurechtzulegen. Blaue Kornblumen erblühten zu beiden Seiten des Hauses, und mein Vater, dem es wieder besser ging, mähte sie mit einer Sichel nieder. Meine Mutter züchtete Garten-Kornblumen in einem der Beete hinter dem Haus, die doppelt so hohe Stengel und doppelt so große Blüten hatten wie die wilden; sie erklärte mir, wieso die gezüchteten so viel voller wuchsen, aber das habe ich wieder vergessen. Unsere Mieterin schloß mit einem Mann Bekanntschaft, einem nicht besonders netten Mann, denn er war Pole und arbeitete in der einzigen Autowerkstatt des Ortes. Sie ging nicht mit ihm aus, sondern traf ihn abends in der Küche. Er war kräftig und untersetzt, strohblond und hatte einen unaussprechlich polnischen Namen, aber alle nannten ihn Bogalusa Joe, weil er fünfzehn Jahre in Bogalusa, Louisiana (bei ihm hieß es Luusiana) verbracht hatte und dauernd davon erzählte. Seiner Lieblingstheorie nach waren Neger auch nichts anderes als wir, und in hundert Jahren wären wir so vermischt, daß wir nicht mehr voneinander zu unterscheiden wären. Meine Mutter hatte sehr fortschrittliche Ansichten, aber sie erlaubte mir nicht, auch nur mit ihm zu sprechen. Er trat sehr respektvoll auf, nannte sie »Ma’m« und fluchte nicht, aber er betrat niemals unser Wohnzimmer. Er traf sich mit unserer Mieterin entweder in der Küche oder im Hof hinten, auf der Schaukel. Sie tranken dann Kaffee oder spielten Karten. Manchmal forderte sie ihn auf, ihr eine Geschichte zu erzählen, weil sie gern spannenden Geschichten zuhörte, und dann berichtete er von der Zeit, als er sich in Louisiana versteckt halten mußte. Das war wegen irgendwem oder irgend etwas nötig, und er hatte sich unter den Negern drei Jahre lang verborgen gehalten, und sie hatten ihn aufgenommen und ihm Arbeit gegeben und für ihn gesorgt. Er sagte dann: »Die Farbigen sind Menschen wie wir. Sie stellen sich nur schlauer an. Das müssen sie, um durchzukommen. Sie lassen sich nicht für dumm verkaufen. Ich hab zwei Jahre lang ein farbiges Mädchen gehabt, so was Cleveres hab’ ich nie wieder erlebt. Und schön war sie. Nicht so schön wie die Weißen, aber schön auf ihre Art.«

»Wart noch hundert Jahre«, fügte er nach einer Pause hinzu, »und dann sind wir alle Mischlinge.«

»Oder zweihundert?« fragte unsere Mieterin und goß Kaffee ein. Er nahm einen Haufen Zucker dazu und sagte dann, das habe er sich in Bogalusa angewöhnt. Sie setzte sich wieder, stützte die Ellbogen auf den Tisch und lächelte ihn an.

Er rührte den Zucker um, betrachtete sie einen Moment und fragte dann sanft:

»Schwarze Frauen sind das Schlaueste in der Welt. Du bist doch auch eine Schwarze, oder?«

»Teils«, antwortete sie.

»Schöne Frau«, sagte er. »Niemand weiß es?«

»Im Zirkus schon«, entgegnete sie. »Aber das ist ihnen gleich. Soll ich dir sagen, was wir Zirkusleute von euch denken?«

»Von wem?« fragte er erstaunt.

»Von euch allen«, sagte sie. »Von allen, die nicht zum Zirkus gehören. Von allen, die nicht das können, wozu wir fähig sind, die nicht die Größten und Besten sind, die nicht einen Menschen mit bloßen Händen umbringen oder eine neue Sprache in sechs Wochen lernen oder die Schlagader eines Menschen auf fünfzehn Meter Entfernung mit nichts anderem als einem Taschenmesser aufschlitzen oder an der Fassade der Greene County First National Bank vom Parterre bis zum fünften Stock ohne Hilfen hochklettern können. Das kann ich alles.«

»Na, da bin ich platt«, murmelte Bogalusa Joe.

»Wir verachten euch«, sagte sie. »Wir verachten euch wirklich und halten euch für Tölpel. Für Abschaum, mit dem man die Erde düngt. Das bist du, Joe.«

»Mädchen, hast du heute ’ne miese Stimmung«, sagte er und ergriff ihre Hand auf dem Tisch, aber nicht wie im Kino oder in Romanen; den Ausdruck in seinem Gesicht hatte ich noch nie gesehen, nicht bei den Pennälern, die ein Mädchen einzuwickeln versuchten, nicht bei den Erwachsenen, nicht einmal bei Brautleuten, denn da sah es immer romantisch oder geil aus, während er sie mit unendlicher Zärtlichkeit und Sorge betrachtete. Sie entzog ihm die Hand. Mit dem gleichen schwachen, abwesenden Lächeln, das sie den ganzen Abend gezeigt hatte, schob sie den Stuhl zurück und stand auf. Ausdruckslos sagte sie:

»Was ich alles kann. Und was nützt es mir?« Sie zuckte die Achseln und fügte hinzu: »Ich muß morgen weg.« Er erhob sich auch und legte den Arm um ihre Schultern. Das schaute meiner Meinung nach blöde aus, weil er fast zehn Zentimeter kleiner war als sie.

»Du mußt doch nicht weg, Mädchen«, sagte er. Sie starrte in den Hof hinaus, als überbrücke sie Meilen, sei Ewigkeiten von uns entfernt, von unseren Gemüsebeeten und unserer Schaukel und unseren Blumen, irgendwo, wohin wir ihr nicht folgen konnten. Er bedrängte sie: »Hör doch, Schatz …« Und als sie ihre Haltung nicht änderte, legte er seine breiten Mechanikerpranken unter ihr Kinn und drehte den Kopf zu sich her. »Schatz, du kannst bei mir bleiben.« Er neigte sich ganz nah zu ihr hin. »Heirate mich«, bat er unvermittelt. Sie fing zu lachen an, ein Lachen, wie ich es noch nie zuvor so gehört hatte. Dann bekam sie einen Erstickungsanfall. Er legte den Arm um sie, und sie lehnte sich an ihn, keuchend und röchelnd wie jemand mit Asthma; dann legte sie die Hände vor das Gesicht und würgte, als würde ihr übel, und sie biß sich in die Handflächen. Erst nach ein paar Sekunden merkte ich, daß sie weinte. Er schaute sehr betreten drein. So standen sie da, sie schluchzte, er unbeholfen daneben – und ich in meinem Versteck, von dem aus ich alles beobachtete. Sie gingen langsam auf die Küchentür zu. Als sie verschwunden waren und das Licht gelöscht hatten, folgte ich ihnen in den dunklen Hof hinaus, zu der Schaukel, die mein Vater unter einem großen Baum gebastelt hatte, mit Kissen und gut abgefedert, und so breit, daß vier Leute darauf Platz hatten. Ringsum war sie von Gebüsch umgeben. Auf einem Pfosten hatte mein Vater eine Petroleumlampe befestigt, aber sie war nicht angesteckt. Ich konnte sie gerade noch ausmachen. Einige Minuten saßen sie schweigend da und schauten durch die Äste hinauf in die Dunkelheit. Die Federn knarrten etwas, wenn unsere Mieterin die langen Beine einmal so und einmal so überschlug. Sie holte eine Zigarette hervor und zündete sie an; der Schein verwischte ihre Züge, und dann bewegte sich ein kleiner orangener Punkt auf und ab, als sie rauchte, und machte die Dunkelheit noch undurchdringlicher. Dann verschwand er; sie hatte die Zigarette im Gras ausgetreten. Ich sah ihre Gestalten nun deutlicher. Der Mechaniker Bogalusa fragte:

»Morgen?«

»Morgen«, antwortete sie. Dann küßten sie sich. Das gefiel mir, so war es richtig. Das hatte ich schon früher beobachtet. Sie lehnte sich auf dem Sitz zurück und streckte die Beine im Gras weit von sich; ihr Kopf sank auf die Rückenpolster. Ohne ein Wort schob er ihren Rock bis weit über die Knie und legte die Hand zwischen ihre Beine. Das ging dann weiter, und ich schaute zu, von den ersten Zuckungen zu den Stößen, den Geräuschen und dem Ringkampf auf Leben und Tod in der Dunkelheit. Mir schoß immer wieder das Wort Epilepsie durch den Kopf. Sie zogen sich an und rauchten wieder, wobei sie leise miteinander redeten. Ich kauerte hinter den Büschen, und mein Herz klopfte wie rasend.

Ich hatte fürchterliche Angst.

 

Sie verließ uns weder am nächsten noch am übernächsten Tag, sie zeigte sogar meiner Mutter ein Kleid und erkundigte sich, ob sie es irgendwo in der Stadt abgeändert haben könnte. Meine Schulkleider waren herausgeholt worden und hingen im Hof zum Lüften, damit sie nicht mehr nach Mottenpulver rochen. Ich hatte alle Bücher eingeschlagen. Eines Morgens kam ich herunter und wollte meine Mutter bitten, den Saum eines Strickkleides zu heben, wie die Zeitschriften es für junge Mädchen empfahlen. Ohne Krach würde das kaum abgehen. Ich fand meine Mutter weder in der Diele noch in der Küche, und so versuchte ich es mit dem Wohnzimmer. Ehe ich jedoch halb durch die Tür gelangt war, vernahm ich eine Stimme: »Bleib stehen.« Ich entdeckte meine Eltern auf zwei Stühlen nahe der Tür; sie saßen beide steif wie Puppen da und hielten die Hände im Schoß verschränkt.

Ich sagte: »Um Himmels willen, was macht …«

»Bleib stehen«, wiederholte die gleiche Stimme. Meine Eltern rührten sich nicht. Meine Mutter hatte ihr verbindliches Lächeln aufgesetzt. Sonst war niemand im Zimmer. Ich wartete eine Weile, während meine Eltern leblos dahockten, und dann kam unsere Mieterin aus einer Ecke in der Nähe des neuen Musikschrankes herausgeglitten; eingehüllt in den neuen Frühjahrsmantel meiner Mutter stakste sie über den Teppich und blickte prüfend zu jedem der Wohnzimmerfenster. Bei meinem Anblick grinste sie. Sie klopfte auf den Musikschrank und winkte mir, hereinzukommen. Dann legte sie den Mantel ab und breitete ihn über den Musikschrank.

Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet.

Ich hielt es für schwarz, aber der Ausdruck paßte nicht; es war eine Schwärze, dunkler als dunkel, ein Schwarz, das das Licht verschlang, grundloser, als man es sich im Traum vorstellen kann, eine Schwärze, die jede Einzelheit verwischte, jede Bewegung, jede Kontur und nur eine schreckliche Benommenheit zurückließ, denn ihr Körper – das Gewand war hauteng wie ein Taucheranzug oder das Trikot eines Artisten – war verschwunden, ausgelöscht bis auf die äußeren Umrisse. Ihr Gesicht und die Hände schwebten im Raum. Sie sagte: »Hübsch, nicht?« und setzte sich mit übergeschlagenen Beinen auf den Musikschrank. Dann forderte sie mich auf, die Vorhänge zuzuziehen. Ich gehorchte, ging von einem Fenster zum nächsten, um meine erstarrten Eltern herum, und schloß die Vorhänge. In der Mitte des knarrenden Fußbodens blieb ich abrupt stehen und sagte: »Mir wird übel.«

Augenblicklich huschte sie vom Musikschrank und schlüpfte in den Mantel meiner Mutter. Am Arm führte sie mich zur Wohnzimmercouch, machte es mir bequem und massierte meinen Rücken. Sie sagte: »Deine Eltern schlafen. Ein bißchen davon hast du ja schon mitgekriegt. Du bist ein wundervolles, aufmerksames Mädchen, aber ein bißchen durcheinander, nicht wahr? Wegen der Morlocks? Und der Transzeitlichen Militärbehörde?«

Ich wollte etwas sagen, aber sie massierte meinen Rücken weiter.

»Niemand wird dir etwas tun«, beruhigte sie mich. »Und deinen Eltern wird auch nichts geschehen. Denk doch, wie aufregend alles ist! Überleg! Die rebellierenden Morlocks, die Revolution innerhalb der Transzeitlichen Militärbehörde.«

»Aber ich … ich …« stammelte ich.

»Wir sind Freunde«, fuhr sie ernsthaft fort und nahm meine Hände. »Wir sind wahre Freunde. Du hast mir geholfen. Das werden wir dir nicht vergessen.« Sie ließ den Mantel meiner Mutter auf die Couch fallen und stellte sich dann vor die Tür, die Hände in die Hüften gestemmt. Dann rieb sie sich nervös den Nacken und räusperte sich. Sie drehte sich zu mir um und schaute mich durchdringend an.

»Bist du ruhig?« fragte sie. Ich nickte. Sie lächelte mich an. »Bleib ruhig«, sagte sie sanft. »Sois transquille. Wir sind Freunde«, und damit wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Türbogen zu. Nach einer Weile sagte sie leise und fast traurig: »Freunde.« Und wieder lächelte sie mich an.

Die Tür verwandelte sich in einen Spiegel. Er wurde milchig beschlagen, hell wie eine angestrahlte Wolke, dann glich er fast einem wallenden Vorhang und dann wieder einem Spiegel, obgleich ich darin nur unsere Mieterin und mich erkennen konnte, nicht meine Eltern, nicht die Möbel, nicht das Wohnzimmer.

Dann trat der erste Morlock hindurch.

Und der zweite.

Und der dritte.

Und die anderen.

Oh, das Wohnzimmer füllte sich mit Riesen! Sie waren wie sie, glichen ihr im Gesicht, in den hochgewachsenen Körpern, hautnah in schwarzen Uniformen, Männer und Frauen aller Rassen der Erde, aber vermischt und riesig, wie die Zuchtpflanzen meiner Mutter, fast einen halben Meter größer als unsere Mieterin, eine Schar schwarzer Raben, schwarzer Fledermäuse, schwarzer Wölfe, die Professionellen einer künftigen Welt – da kauerten sie auf unseren Möbeln, auf dem Musikschrank, einige hingen an den Wänden und den Vorhängen, als könnten sie fliegen, als wären sie so schwerelos wie im Raum, wo sich die Morlocks treffen, ein halbes Tausend von ihnen in einer Blase irgendwo zwischen den Planeten.

Die die Welt regieren.

Zwei krochen durch den Spiegel und auf den Teppich, ein Mann und eine Frau, unförmig und wie Seehunde gebaut, und sie trugen Taucheranzüge und runde Helme. Sie lagen auf dem Teppich und atmeten Wasser (aus merkwürdigen Kiemen am Nacken, und ich sah in der Flüssigkeit kleine Teilchen herumschwimmen wie Staubflöckchen in der Luft), und sie schauten aus talgigen Gesichtern zu den anderen auf. Ihre Anzüge saßen prall. Einer der Morlocks sagte zu einem der Seehunde etwas, und der antwortete gurgelnd und fingerte an den auf dem Rücken befestigten Tanks herum.

Dann redeten sie alle auf einmal.

Selbst wenn ich die Sprache gekonnt hätte, wäre es für mich viel zu schnell gegangen; die Laute folgten einander schnell, klangen eindringlich und scharf, ähnlich der Kürzel, mit denen sich die Piloten mit der Bodenleitstelle verständigen, wie ein Code, den jeder kennt, um Anordnungen schnellstmöglich weiterzugeben. Nur die Seehundleute sprachen bedächtiger, und sie gurgelten und stanken wie ein morastiges Ufer. In ihren Gesichtern bewegte sich nichts, außer den runden Mündern, wie bei Fischen. Ich glaube, sie haben mich eine Weile lang in Schlaf versetzt (oder vielleicht bin ich nur eingedöst), und dann war da etwas mit den Seehundleuten, mit dem auf dem Musikschrank hokkenden Morlock, dann fielen alle ein, und es raunte durch den Raum und endete in einem hastigen, scharfen Wortwechsel zwischen einem der Morlocks und meiner Freundin. Sie waren noch immer bei Geschäften, aber sie schauten mich an; es ist gräßlich, angestarrt zu werden und sich dabei taub vorzukommen. Ich wünschte, ich würde schlafen; mir war weinerlich zumute, weil ich keines ihrer Worte verstehen konnte. Dann schrie meine Freundin etwas, wich mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern zurück und zitterte heftig. Sie brüllte weiter, versuchte verzweifelt, etwas klarzustellen, hieb die geballte Faust in die andere Handfläche und schrie mit verzerrter Miene, nicht mehr gelassen wie bei Geschäften üblich. Der andere Morlock atmete keuchend und war blaß geworden. Er zischte giftig eine Entgegnung. Er zog aus seiner schwarzen Uniform, unter der sonst etwas verborgen hätte sein können, ein silbernes Geldstück, hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger hoch und sagte in bestem Englisch, während er mich anschaute:

»Im Namen des Krieges gegen die Transzeitliche …«

Sie sprang ihn in dem Moment an. Ich raffte mich hoch und sah, wie sie ihre Hand um seine Hand mit dem Silberstück schloß. Sie balgten sich wie Schemen auf dem Boden, lösten sich voneinander und standen auf, wichen, so weit es der Raum erlaubte, voneinander weg, und es war deutlich, daß sie einander haßten. Sie sagte mit Nachdruck: »Ich bestehe darauf.«

Er zuckte mit den Achseln und erwiderte etwas, abgehackt und vehement. Sie zog aus der Dunkelheit ihres Gewandes ein Messer – nur ein Messer – und ließ den Blick langsam über jede Person im Raum schweifen. Niemand regte sich. Sie zog die Augenbrauen hoch.

»Tcha! grozny?«

Die Seehundfrau auf dem Boden zischte wie Dampf, der aus einem Heizkörperventil entweicht. Sie erhob sich nicht, sondern legte sich auf den Rücken und blinzelte, eine formlos fette Frau.

»Du?« sagte meine Freundin abfällig. »Du machst den Teppich schmutzig.«

Wieder zischte die Seehundfrau. Vor aller Augen ging meine Freundin langsam zu ihr hin. Sie beugte sich nicht zu ihr hinab, wie ich erwartet hatte, sondern warf sich in einer Art seitlicher Hechtrolle auf sie und rammte ihr ein Knie in die Flanke. Einen Absatz stemmte sie ihr auf den Bauch, als wolle sie den Taucheranzug zerreißen. Die Seehundfrau konnte die bewaffnete Hand meiner Freundin erwischen und versuchte, das Messer gegen sie zu wenden, während sie die andere behandschuhte Hand an ihre Kehle legte. Sie wollte sie erwürgen. Der freie Arm meiner Freundin lag auf dem Teppich; entweder stützte sie sich auf den Boden oder versuchte sich loszureißen. Dann verwischten sich wieder alle Gestalten. Ich hörte Keuchen, dann ein lautes, mechanisches Klicken. Meine Freundin sprang auf und zuckte zurück; das Messer entfiel ihr, und sie hielt eine Hand vor das linke Auge. Die Seehundfrau wand sich und warf sich auf dem Boden herum, während sie ein Schauder von Kopf bis Fuß durchzuckte, wie Wellenlinien in der Schwärze. Blasen bildeten sich im runden Helm. Die andere Seehundgestalt rührte sich nicht. Vor meinen Augen sank der Wasserspiegel im Schutzhelm, und Luft strömte hinein. Das muß wohl ihr Tod gewesen sein. Meine Freundin, unsere Mieterin, stand in der Mitte des Raums, und unter der vorgehaltenen Hand quoll Blut heraus. Schmerzen drückten ihre Schultern nieder, und ihr Gesicht war qualvoll verkrampft, aber niemand im Raum kam ihr zu Hilfe.

»Leben …«, röchelte sie, »um Leben. Für deines.« Dann stürzte sie zu Boden. Die Seehundfrau hatte ihr ein Auge ausgestochen. Zwei Morlocks eilten nun zu ihr und hoben sie und das Messer auf. Sie schleppten sie zum Spiegel im Türbogen, als sie etwas zu murmeln begann.

»Deine verfluchten Zeichnungen«, brüllte der Morlock, mit dem sie gekämpft hatte, in einem Anfall von unbeherrschter Wut. »Wir haben Krieg; die Transzeitliche ist uns auf den Fersen. Meinst du, wir haben jetzt Zeit für Dilettantismus? Du meinst, die Enkelin dieser Frau zu sein! Wir kämpfen um die Freiheit von fünfzig Milliarden Menschen, nicht für deine Skizzen!« Befehlend gab er den anderen ein Zeichen, die sich sofort daran machten, die Leiche der Seehundfrau durch den Spiegel zu zerren. Er folgte ihnen und drehte sich noch einmal zu mir um:

»Du!« herrschte er mich an. »Du wirst mit niemand darüber sprechen. Mit niemand!«

Ich legte schützend die Arme um meinen Oberkörper.

»Und versuch nur nicht, mit irgendwelchen Geschichten Eindruck zu schinden«, fuhr er verächtlich fort. »Du hast Glück, daß du noch am Leben bist.« Er durchschritt hinter den letzten Morlocks den Spiegel, der sofort verschwand. Auf dem Teppich war Blut, ein paar Zentimeter vor meinen Fußspitzen. Ich bückte mich nieder und tauchte die Fingerspitzen hinein; dann faßte ich ohne einen ersichtlichen Grund an mein Gesicht.

»… komm zu dir«, sagte meine Mutter. Ich wandte mich ihnen zu, den Wachsfiguren, die nichts mitbekommen hatten.

»Wer, zum Teufel, hat die Vorhänge zugezogen«, brüllte mein Väter, und an meine Adresse: »Ich habe dir oft genug erklärt, daß ich deine Tricks nicht dulde, kleines Fräulein, und nur mit Rücksicht auf deine Mutter …«

»Oh, Ben, sie hat Nasenbluten«, rief meine Mutter.

Später erzählten sie mir, daß ich in Ohnmacht gefallen sei.

 

Ich blieb einige Tage im Bett wegen des Nasenblutens, aber dann durfte ich wieder aufstehen. Meine Eltern meinten, ich hätte Anämie. Sie berichteten ebenfalls, sie hätten am Morgen unsere Mieterin zum Bahnhof gebracht und gewartet, bis sie in den Zug gestiegen sei: schlaksig, groß, mit zotteligen Haaren, eine seltsame Gestalt wie ein Storch, angetan in einem langen, schwarzen Gewand, und ihre ganzen Besitztümer waren in einem kleinen Koffer verstaut. »Sie ist wieder zum Zirkus«, sagte meine Mutter. Nichts war in ihrem Zimmer geblieben, nichts auf dem Dachboden, was ihr gehört hatte, keine Reflektion im Fenster, an dem sie gestanden hatte, im hellen Licht vor dem schwarzen Hintergrund, nichts in der Küche und nichts im Country Club, nur unkrautüberwucherte Tennisplätze. Joe hat sich nie mehr bei uns zu Hause blicken lassen. Eine Woche vor Schulanfang blätterte ich durch alle meine Bücher, angefangen von der ZEITMASCHINE bis zum GRÜNEN HUT. Dann ging ich nach unten und durchsuchte jedes Buch im Haus. Ich fand nichts. Ich wurde zu einer Party eingeladen, aber meine Mutter ließ mich nicht hingehen. Um das Haus herum wuchsen Kornblumen. Betty besuchte mich einmal und langweilte sich.

Gegen Ende des Sommers beschloß ich eines Nachmittags, als der Wind vom Dach bis zum Keller und durch alle Ritzen wehte, als meine Eltern im Hof saßen, unsere nächsten Nachbarn zum Schwimmen gegangen waren und alles ringsum still und verschlafen wirkte – bis auf einen Rasenmäher, der ein paar Häuser weiter dröhnte –, alle meine Schuhe anzuprobieren und auszusortieren. Ich tat es vor dem hohen Spiegel, der an der Innentür meines Kleiderschrankes befestigt war. Dazwischen war ich in das eine oder andere meiner Winterkleider geschlüpft und legte gerade eines in eine Schachtel unten im Schrank, als ich zufällig seitlich zur Schranktür hinsah.

Sie stand im Spiegel. Der ganze Hintergrund war schwarz, wie Samt. Sie trug etwas Schwarz-Silbriges, halb um sie drapiert, so daß die andere Hälfte nackt erschien, und vor ihrem Gesicht waren Linien, die es aufteilten wie ein Spinnennetz. Sie hatte nur ein Auge. Die Höhle des erloschenen Auges strömte weiß blitzende Lichträder aus, wie bengalisches Feuer. Sie sagte:

»Hast du dir jemals gewünscht, noch einmal als kleines Kind anzufangen und alles anders zu machen? Deine Fehler zu überwinden?«

Ich brachte kein Wort heraus.

»Ich bin nicht wie du«, fuhr sie fort, »aber mir ist der Gedanke gekommen, und nun bin ich vierhundertfünfzig Jahre zurück in die Vergangenheit gegangen. Aber es gibt nichts zu sagen. Man kann einfach keine Ratschläge erteilen. Das ist schade, aber ganz natürlich, zweifellos.«

»Oh, bitte«, flüsterte ich. »Bleib noch!« Sie stemmte einen Fuß auf den unteren Spiegelrahmen, als wäre er eine Türschwelle. Die silberne Sandalette, die sie zum Ball im Country Club getragen hatte, stand fast in meinem Zimmer; mit breitem Absatz, flach, abgeschabt, häßlich wie die Sünde. Neue Haarrisse zogen sich über ihr Gesicht und die nackte Haut und schmückten sie wie ein Schleier. Dann trat sie mit einem amüsierten Kopfschütteln zurück; das kaputte Auge verdunkelte sich, schwoll an, explodierte in Lichtblitzen und erlosch, und erschien nun als leere Augenhöhle, schaurig, erschreckend und fürchterlich.

»Tja«, sagte sie, »meine Großmutter dachte, sie würde etwas Hartes auf eine Welt bringen, die sanft und dumm, aber nett wäre, und nun ist sie dumm und nicht sehr nett, und das Harte ist zu hart und das Weiche zu weich, und meine Urgroßmutter – die den Orden gegründet hat – ist tot. Nicht, daß es wichtig wäre. Nichts endet, verstehst du. Alles geht weiter und weiter.«

»Aber Sie können nichts sehen!« quetschte ich heraus. Sie drückte an die Schläfe, und das Auge funkelte wieder.

»Bizarr«, sagte sie. »Interessant. Attraktiv. Stockblind und doppelt so gut. Ich erzähl dir, was auf meinen Zeichnungen ist.«

»Aber Sie dürfen ..; Sie können …«, stammelte ich.

»Die erste«, berichtete sie, und Haarstriche krochen über ihren ganzen Körper, »zeigt einen Eloi, der die Munter-Munterkeit erlebt; ein glatzköpfiger, fetter Mann in einer Toga, mit einem Lätzchen mit Rüschen, einem Sonnenhut und komischen Schuhen. Er hält eine Kristallkugel im Schoß, von der Drähte zu seinen Augen, seiner Nase, seinen Ohren, seiner Zunge und seinem Kopf führen, genau wie bei euren Lampen. Das ist ein Eloi mit der Munter-Munterkeit.«

Ich fing zu weinen an.

»Die nächste«, fuhr sie fort, »zeigt einen Morlock bei der Arbeit, und das bin ich; ich halte einen Schädel wie Hamlet, aber wenn man genauer hinsieht, merkt man, daß es die Erdkugel ist, auf der merkwürdige Gebilde aus den Meeren und den eisbedeckten Polkappen herausragen, und die voller Menschen ist. Viel zu voll. Es gibt auch zu viele Welten.«

»Bitte, hören Sie auf«, rief ich aus.

»Sie schubsen einander weg«, erzählte sie weiter, »und einige stürzen in das Meer. Das ist schade, aber ganz natürlich, zweifellos. Und wenn man diese Eloi ganz genau betrachtet, dann sieht man, daß jeder von ihnen seine Kristallkugel festhält, oder hinter einer sich bewegenden Maschine herrennt, die schneller ist als er, oder einen anderen Eloi auf einem Bildschirm bewundert, der klüger ist und faszinierend aussieht, und dann erkennt man, daß diese Frauen und Männer unter ihrem Fett in Wirklichkeit schreien, schreien und sterben. Und auf meiner dritten Zeichnung, in einem sehr kleinen Format, ist ein Goldfischglas voller Leuten in Schwarz. Dahinter ist ein kleineres Goldfischglas voller Leuten in Schwarz, das hinter dem ersten Goldfischglas herjagt, und hinter dem zweiten ist ein drittes, das dem zweiten nachsetzt, und so weiter, oder vielleicht wechseln sie sich auch ab, das wäre wirtschaftlicher. Oder vielleicht bin ich nur verbittert, weil ich mein Auge verloren habe. Das ist mein persönliches Problem.«

Ich stand auf. Ich war ihr so nahe, daß ich sie hätte berühren können. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und blickte auf mich hinab; dann sagte sie sanft: »Mein Liebes, ich hätte dich gern mitgenommen, aber das ist unmöglich. Es tut mir sehr leid.« Zum erstenmal wirkte sie ernsthaft und zärtlich, und so verschwand sie hinter einem Funkenregen.

Ich schaute mein Ebenbild an. Ich hatte mir vor kurzem ganz heimlich die Uniform der Transzeitlichen Militärbehörde geschneidert, wie ich sie mir vorstellte: ein schwarzer Überwurf über einem knappen, langärmeligen Pullover und schwarzen Strumpfhosen. Die Strumpfhosen stammten von einem Stück, bei dem ich in der Oberschule mitgespielt hatte, und den Rest hatte ich aus dem Futter eines alten Wintermantels geschnitten. Das trug ich auch an jenem Nachmittag. Ich hatte eine metallene Brennschere an einer um die Hüfte geschlungenen Schnur befestigt. Ich stellte ein Bein auf den Boden des Schranks, und ein Mädchen in einem etwas zerlumpten schwarzen Anzug starrte mir entgegen. Es schaute sich um und durchwühlte den ganzen Raum nach den Zeichnungen, nach Notizen, nach einem Spritzer silberner Farbe, irgendeinem Hinweis. Dann ließ sie sich auf mein Bett sinken. Sie weinte nicht. Sie sagte zu mir: »Du siehst idiotisch aus.« Jemand mähte draußen den Rasen, wahrscheinlich mein Vater. Meine Mutter war bestimmt beim Unkrautjäten, zupfte dürre Blätter aus, beschnitt Triebe; sie fand immer neue Beschäftigungen. Eines Tages würde ich zum Zirkus gehen, zum Mond reisen, ein Buch schreiben. Schließlich hatte ich mitgeholfen, einen Mann umzubringen. Ich war jemand. Es war alles Unsinn. Ich knüpfte die Brennschere ab und legte sie auf das Bett. Dann zog ich mich aus, schlüpfte in meine Marinebluse und den Rock und knäulte das Kostüm zu einem Haufen. Während ich zur Tür schritt, warf ich einen letzten Blick auf mich im Spiegel und auf die merkwürdige Ansammlung alter Kleider. Einen Moment lang bewegte sich etwas im Spiegel, oder ich bildete es mir ein, etwas schräg hinter mir, etwas Bedrohliches, halb Blindes, etwas, das langsam wie ein Schatten pulsierte und vielleicht winzige Silberflocken hinterließ wie der Schatten eines Schattens oder einige achtlos verlorene Münzen, etwas Glitzerndes, etwas, was jemand aus Versehen am Rand des Blickfeldes in den Staub und die Spinnweben des Speichers fallen ließ. Ich sehnte es mit aller Macht herbei, mit geballten Fäusten. Ich weinte fast, so sehr wünschte ich, etwas möge aus dem Spiegel kommen und mich totschlagen. Wenn ich schon niemand haben durfte, der mich beschützte, dann sollte es ein Monstrum, ein Schreckgespenst, eine Mutation, eine gefährliche Krankheit sein, irgend etwas Derartiges! Irgend etwas, das mich nach unten begleitete, damit ich nicht allein war.

Nichts erschien. Nichts Gutes, nichts Böses. Ich hörte das Dröhnen des Rasenmähers. Ich mußte dem roten Gesicht meines Vaters entgegentreten, seine Herzkrankheit, seine Launen und gräßlichen Anweisungen über mich ergehen lassen. Ich mußte das eingefrorene Lächeln meiner Mutter ertragen, mit dem sie mich von irgendeinem Beet herauf bedenken würde, immer auf den Knien, und die Worte, die noch vor der Frage kamen: »Ach, die arme Frau. Ach, die arme Frau.«

Und ganz allein.

Keine Geschichten mehr.