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Wrongs Darker Than Death or Night

Leia ging den ganzen Weg zurück zu dem Treppenabschnitt über dem siebenten Stockwerk. Sie setzte sich ganz oben hin, damit sie das Leichenhaus unter ihr weder sehen noch riechen konnte.

Sie versuchte sich auf das Krachen der Schusswaffe vorzubereiten. Trotzdem zuckte sie zusammen, als der scharfe Knall der Glock durchs Treppenhaus hallte. Die kahlen Wände warfen ihn zurück.

Kurz darauf kam Jim, die Pistole noch in der Hand, die Treppe hinab.

»Wir müssen hier raus«, sagte er. »T’Poc hat mich vor Matt gewarnt. Sie weiß zwar nicht, was mit ihm nicht stimmt, aber ich möchte den Typ nicht in der Nähe meiner Schwester haben.«

»Schön«, sagte Leia, »aber wie kommen wir an denen vorbei?«

Sie deutete in Richtung Ausgang. Die Tür schepperte unter den Schlägen der Zombies auf der anderen Seite.

»Was sind die denn so gereizt?«, fragte Jim.

»Der Lärm deiner Ein-Mann-Schlacht hat sie angelockt. Vielleicht kannst du eine Möglichkeit austüfteln, sie uns vom Hals zu schaffen.«

Jim ging ans Ende der Treppe, nahm die Axt wieder an sich und schlurfte zu Leia zurück. Er legte die mit Glibber bedeckte Waffe zu seinen Füßen ab und nahm neben ihr Platz.

Jim fühlte sich unsäglich müde. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich Unterstützung. Zu töten und wegzulaufen – das war einfach. Darum konnten Leia und er sich kümmern. Aber wozu würde es führen? Gab es einen Ausweg aus diesem Chaos? Er wäre gern intelligenter gewesen. Er wünschte sich, er hätte Kontakt zu jemandem wie Dr. Sandoval, dem Exobiologen aus Harvard. Vielleicht kannte der eine Zombieschwäche, die man ausnutzen konnte.

Aber das war Quatsch.

Ich denke noch immer wie ein Trekkie, dachte Jim ergrimmt. Ich suche noch immer nach einer Silberkugel, um das Problem zu lösen, bevor der Nachspann abläuft. Sandoval ist höchstwahrscheinlich längst tot. Und ein Eierkopf aus dem Elfenbeinturm wäre ohnehin wenig hilfreich. Er würde uns nur bremsen.

»Geht’s dir gut?« Leia riss ihn aus seinen Träumen.

»Ich versuche mir einen Plan auszudenken.«

Eine Minute schlich vorbei.

Schließlich fragte sie: »Ist das nur ein Trick, um mich alleinzulassen?«

Jim zwang sich ein müdes Lächeln ab.

»Ich bin wirklich froh, dass du hier bist«, sagte er. »Viel froher, als dir wahrscheinlich klar ist. Wie fühlst du dich?«

»Ich bin noch ganz. Warum?«

»Beim ersten Mal ist es immer schlimm«, sagte Jim. »Das Töten.«

»Wer sagt denn, dass ich noch nie jemanden getötet habe?«

Jims überraschter Gesichtsausdruck ließ Leia lächeln.

»Ich scherze nur. Außerdem glaube ich, dass das, was wir hier machen, kein richtiges Töten ist. Wie kann man denn etwas töten, das längst tot ist?«

»Hast du auch wieder Recht«, sagte Jim.

»Ich hab das Gefühl, dass es für dich aber nicht das erste Mal ist«, sagte Leia. »Wie verkraftest du so was?«

Jim holte tief Luft, als hätte er vor, eine längere Rede zu halten. Doch dann schien er sich im letzten Moment eines Besseren zu besinnen.

»Bei den Scharfschützen in der Armee gibt’s ’ne alte Redensart«, sagte er. »Das Einzige, was ich spüre, wenn ich den Abzug betätige, ist der Rückstoß.«

»Ich nehme an, du bist nicht sehr mitteilsam.«

»Glaub mir, was da drüben passiert ist, kann man nur begreifen, wenn man dabei war. Solange du noch an keiner Schlacht teilgenommen und Menschen vor dir hast sterben sehen …«

Er beendete den Satz nicht. Er schaute Leia in die Augen.

»Unter den gegenwärtigen Umständen klingt es vermutlich dumm«, sagte er.

»Ja«, erwiderte Leia. »Aber ich verzeihe dir deine Dummheit, wenn du mir eine einfache Frage beantwortest: Wie kommt es, dass ein Soldat erster Klasse in einem Hotel dritter Klasse arbeitet?«

»Das ist ganz einfach.« Jim seufzte. »Zuerst geht man gleich nach der Highschool zum Militär und dreht zwei Runden in Afghanistan – beim zweiten Mal als Zugführer. Man wird mit hübschen Orden ausgezeichnet, was man absolut toll findet, doch dann führt die Verantwortung zu schlaflosen Nächten. Weil man nämlich trotz der Orden und der Uniform nur ein Zwanzigjähriger ist, der von nichts ’ne Ahnung hat. Und vielleicht fängt man dann am Abend vor einer Offensive an, Blut zu kotzen. Und vielleicht stecken sie einen dann ins Lazarett. Und während man auf dem Rücken liegt, statt mit seinem Zug übers Feld zu marschieren, gehen deine Untergebenen in ein Haus, das von Fallen nur so wimmelt. Und dabei sterben fünf Mann, und einer erblindet. Und wenn einen diese Nachricht im Lazarett erreicht, weiß man, dass man es hätte verhindern können. Man weiß, dass man die Falle gewittert hätte und ihr aus dem Weg gegangen wäre. Aber man war halt nicht dabei, weil man ja aufgrund einer Sache verhindert war, die sich dann als popeliges blutendes Magengeschwür erwiesen hat. Als ein Stressgeschwür, das entstanden ist, weil man sich davor fürchtet, man könnte seine Leute im Stich lassen. Ist das nicht ironisch?«

Jim tätschelte den Axtstiel.

»Also hab ich meine Dienstzeit abgerissen und bin gegangen. Ich will keine Verantwortung mehr tragen. Ich wollte nur einen Scheißzivilberuf, in dem ich auch mal was versieben kann, ohne dass es Konsequenzen hat. Das Botany Bay hat mir einen angeboten. Und bis gestern hatte ich ihn noch.«

»Heute Abend ist alles anders«, sagte Leia zustimmend. »Ich nehme an, die Geschichtsbücher werden nun umgeschrieben. Vorausgesetzt, wir leben noch lange genug, um welche zu brauchen.«

»Nun muss ich dich aber auch mal was fragen«, sagte Jim. »Was bringt eine intelligente und attraktive junge Frau dazu, ihre Wochenenden damit zu verbringen, sich als Carrie Fisher im vermutlich schlechtesten Teil der ersten Star Wars-Trilogie auszugeben?«

Leia lachte. »Willst du die kurze oder die lange Antwort hören?«

Jims Blick fiel auf die Tür der Feuertreppe. Sie bebte unter dem fortwährenden Ansturm der Zombies auf der anderen Seite. »Ich hab’s eigentlich nicht eilig, da rauszugehen«, sagte er.

Leia zog die Beine an und umschlang sie mit den Armen.

»Dann mache ich jetzt was, was ich nur selten tue«, sagte sie. »Ich werde dir vertrauen. Normalerweise behalte ich die Geschichte für mich, aber da wir wahrscheinlich vor Mitternacht lebendig gefressen werden, kann ich sie dir auch erzählen.«

»Das weiß ich zu schätzen«, sagte Jim.

Leia seufzte. Sie wiegte sich nervös auf den Stufen hin und her, dann fing sie an zu erzählen.

»Ich bin in der Nähe von Amarillo aufgewachsen. Ich war, bis ich elf wurde, ein ganz normales Kind. Dann beschloss mein Vater, meine Mutter und mich zu verlassen. Kennst du Springsteens Song Hungry Heart

»In dem er singt: Ich fuhr mal kurz weg und kam nie mehr zurück …

»Genau. Papa fuhr eines Tages zur Arbeit und kam am Abend nicht mehr nach Hause. Kannst du dir das vorstellen? Ich glaubte, er wäre tot. Ein paar Wochen später kriegten wir dann eine Postkarte aus San Diego. Er schrieb, er wäre fertig mit uns. Er hat es wörtlich geschrieben: Ich bin fertig mit euch. Wenn du willst, kann ich seinen ganzen Text aufsagen.«

»Warum ist er gegangen?«

»Ich war da noch ein Kind. Ich dachte, es wäre meine Schuld. Und als ich schließlich den Mut aufbrachte, meine Mutter zu fragen, erfuhr ich, dass ich Recht hatte.«

»Wie das?«

»Ich war gar nicht sein Kind. Mein biologischer Vater und meine Mutter hatten es einmal miteinander getrieben. Mein angeblicher Vater kam dahinter und ist abgehauen. Ich nehme an, er wollte keine angebliche Tochter haben. Was zu schade war, weil seine angebliche Tochter ihn wirklich gut leiden konnte. Ich glaube sogar, ich hab ihn geliebt.«

»Was hast du dann gemacht?«

»Was konnte ich schon tun? Ich hab’s halt ertragen. Mama hat ein anderes Arschloch geheiratet, und das hat sie misshandelt. Sie wollte den Kerl aber nicht verlassen. Also habe ich eines Abends, als wir beim Essen saßen, seine Hand mit einem Messer an die Tischplatte genagelt. Die Sanitäter mussten die Klinge aus dem Holz ziehen. Das hatte eigentlich recht positive Folgen. Man hat mich in ein Internat gesteckt, das dreihundert Kilometer weit entfernt war. Danach ging es auf die Ohio-Staatsuniversität, wo ich einen vormedizinischen Abschluss gemacht habe. Und so kam ich in einem Prinzessin-Leia-Kostüm zu dieser Convention hier.«

»Warte, Moment mal«, sagte Jim. »Ich glaube, ich habe irgendwas verpasst.«

»Wie schon gesagt, ich habe vormedizinisch graduiert. Die meisten meiner normalen Collegegebühren waren von Stipendien abgedeckt. Aber wenn ich wirklich Ärztin werden will, brauche ich eine seriöse Bank. Also habe ich mich im letzten Sommer auf die Anzeige eines Videospielunternehmens beworben. Es brauchte jemanden, der auf einer Convention in Shorts und Sport-BH auftreten und eine dicke Waffenattrappe tragen kann. An dem Tag habe ich meine Berufung erkannt. Nun mache ich so was an fast jedem Wochenende.«

»Und so bist du zur Science Fiction gestoßen?«

»Nein, die habe ich auf normale Weise entdeckt. Du weißt doch. Andere Welten sind besser als diese hier.«

»Ja, weiß ich.« Jim seufzte. »Ich hab mir früher immer Star Trek angeschaut und davon geträumt, auf der Enterprise zu sein – eine halbe Galaxis von Mama und unserer armseligen Existenz entfernt; sozusagen von fast allem.«

»So war’s bei mir auch«, sagte Leia. »Bloß habe ich darüber fantasiert, eine halbe Galaxis von meiner Mutter und meinem Stiefvater weg zu sein; von Leuten umgeben, die wirklich anständig und ehrenwert sind und die nicht nur so tun, als wären sie es. Von Menschen, auf die ich mich verlassen kann, wenn ich mal in der Klemme sitze.«

»Wir passen so gut zusammen, als hätte sich jemand im Himmel unsere Begegnung ausgedacht. Kein Wunder, dass du nicht allein im elften Stock bleiben wolltest. Du hast gedacht, ich lass dich hängen.«

Ein eigenartiger Ausdruck huschte über Leias Gesicht.

»Eigentlich nicht«, sagte sie. »Ich hab nie geglaubt, dass du mich hängenlässt. Ich dachte nur, dass meine Chancen bei dir besser sind als beim letzten überlebenden Angehörigen des Rothemden-Clubs von West-Texas.«

Ein gespenstisches Ächzen aus dem Gang unterbrach ihre Diskussion.

»Wenn es auch an der Tatsache nichts ändert, dass wir in diesem Treppenhaus festsitzen«, sagte Leia.

Jims Miene erhellte sich plötzlich.

»Wir sitzen überhaupt nicht fest«, sagte er. »Mir ist gerade eingefallen, was wir tun müssen.«

»Siehst du«, sagte Leia. »Ich wusste doch, dass du mich nicht hängenlässt.«