»Na ja, hilf mir weiterhin, und wahrscheinlich triffst du selbst noch einen. Allerdings ist der vielleicht nicht das, was du erwartest.«

Ich erzählte ihm von Trsiel. Seine Augenbrauen gingen nach oben.

»Nach allem, was ich gehört habe, sind die meisten davon . . .unirdischer«, sagte er.

»Vielleicht betont er das Menschliche, um mir einen Gefallen zu tun.«

Ich sah zum Fenster hinüber. Während ich erzählt hatte, war aus dem Morgengrauen Tagesanbruch geworden. Ich brachte meine Geschichte zu Ende und versprach, bei der nächsten Gelegenheit zurückzukommen.

Ich traf Jaime in ihrer Wohnung an; sie war früher wach, als ich erwartet hätte. Sie saß auf dem Wohnzimmerfußboden vor dem Fernseher und folgte den Anweisungen eines PilatesVideos. Im Augenblick saß sie auf dem Hintern, die Beine mit gekreuzten Knöcheln in der Luft.

»Herrgott«, sagte ich. »Ich bin seit drei Jahren tot, und dieser Mist lebt immer noch?«

Jaime kippte nach hinten um, die Beine immer noch in einer Position verschraubt, die wirklich verdammt unbequem aussah.

Sie sah zu mir auf, und ihre Augen wurden schmal.

»Dabei fällt mir ein«, sagte ich. »Etwas, das ich gestern zu fragen vergessen habe «

»Wie man sich einem Nekro nähert, ohne ihn zu Tode zu erschrecken?«

»Äh, okay.« Ich setzte mich auf die Armlehne des Sofas, während sie ihre Gliedmaßen entknotete. »Klingt vielleicht selbstverständlich, ist es aber nicht. Ich kann nicht vorher anrufen.

Kann nicht klopfen. Kann nicht mal laut gehen. Ich könnte singen . . . nein, das würde den Leuten auch Angst machen.

Wie wäre es mit diesem berühmten diskreten Hüsteln? Man liest dauernd davon, aber ausprobiert habe ich es noch nie.«

»Mach ein Geräusch. Einfach irgendein Geräusch, wenn möglich nicht direkt an meinem Ohr.«

»Ich habe das Überraschungsmoment immer gemocht, aber ich werde es probieren.« Ich ging zum Fernseher hinüber und schnitt eine Grimasse. »Ich glaub’s einfach nicht, dass es diesen Mist immer noch gibt. Schläfst du darüber nicht ein?«

»Es ist entspannend. Löst die Verspannungen auf. Hält mich in Form.«

»Kickboxen kann das auch. Und ist nützlicher. Wenn sich irgendein Typ in einer dunklen Straße auf dich stürzt, was machst du dann gehst du in den Lotussitz?«

»Der Lotussitz hat mit Pilates nichts zu tun. Das ist « Sie schüttelte den Kopf, schaltete das Band ab und griff nach ihrer Wasserflasche. »Was brauchst du, Eve? Du bist ja wahrscheinlich nicht hier, um meinen persönlichen Trainer zu geben.«

»Ich brauche Informationen für den nächsten Teil des Auftrags. Ich muss die letzte Partnerin der Nixe finden.«

Jaime nickte langsam. »Okay. Sie ist also tot?«

»Wahrscheinlich nicht. Dieses Mal brauche ich deine Hände, nicht dein nekromantisches Knowhow. Die Internetprovider sind im Jenseits wirklich dünn gesät.«

»Ich soll also nachsehen und eine Verdächtige finden «

Ich schüttelte den Kopf. »Nur nachsehen und ausdrucken; die Kriterien gebe ich dir. Dann müssten wir quitt sein für den HeimsucherAusschaltJob von gestern, und danach handeln wir die Bezahlung je nach Anlass aus.«

»Für so was wie dies hier brauchst du mich nicht zu bezahlen.

Betrachte es als eine Investition in mein Karma.«

»Oh nein. Keine Schulden, das ist ein Grundsatz von mir.«

Jaime studierte mich einen Moment lang und nickte dann.

»Okay. Was willst du also von dieser letzten Partnerin? Dir alles über die Nixe erzählen lassen?«

Ich rutschte auf die Sofakissen. »Es ist ein bisschen mystischer. Die früheren Wirte behalten eine Verbindung zu der Nixe. Sie sehen sie und was sie treibt, solches Zeug. Und diese Bilder können über einen Engel an mich weitergegeben werden.«

Sie hörte mitten im Schluck auf, ihr Wasser zu trinken, und runzelte die Stirn. »Über einen was?«

»Yeah, genau so hab ich auch reagiert. Dämonen, damit komme ich klar. Aber Engel?«

»Du bist nicht mehr zu verstehen«, sagte Jaime; ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. »Verdammte kosmische Zensur.«

Ich sah sie fragend an, während sie die Flasche zuschraubte.

»So nenne ich es«, sagte sie. »Wenn Geister über Dinge reden, die ich nicht wissen darf, höre ich nur noch abgerissene Worte

wie bei einem Funkgerät mit schlechtem Empfang.«

»Ach so, stimmt ja. Nekros dürfen nicht nach dem Jenseits fragen. Ich nehme mal an, bei Engeln gilt etwas Ähnliches.«

»Du bist schon wieder weg.« Sie zog sich ein Tanktop über den Kopf und trug Deodorant auf.

»Was, wenn ich es buchstabiere?«, fragte ich.

Jaime zog sich eine Bluse an. »Das hab ich noch nie probiert.

Du könntest aber Ärger kriegen.«

»Wäre ja nicht das erste Mal. E n g e l.«

»Nichts. Nicht ein einziger Buchstabe.«

»Hey, wie wär’s mit Scharade?« Ich stand auf und beschrieb mit den Händen Flügel und einen Heiligenschein.

»Ist ja unheimlich«, sagte Jaime. »Du bist einen Moment lang einfach verschwunden. Weg.«

»Verdammt, die sind gut.«

Sie lachte. »Ich wünschte, mein Spamfilter würde annähernd so gut funktionieren.«

»Na ja, ist ja nicht so wichtig. Apropos Spamfilter, wir werden einen Computer brauchen. Du hast bestimmt einen?«

»Ja. Es gibt da nur ein Problem.« Sie sah auf die Uhr. »Ich hab heute Abend eine Show in Milwaukee, und ich muss mir am Vormittag noch das Theater dort ansehen. Aber am Nachmittag habe ich frei, wenn du also mitkommen oder dich dort mit mir treffen willst . . . «

»Ich komme mit.« Dann bestand wenigstens nicht die Gefahr, dass sie es sich anders überlegte. »Wir können ja in ein Internetcafé gehen. Oder eine Bibliothek, aber du wirst dich nicht dabei erwischen lassen wollen, dass du so was recherchierst.«

Sie zog sich eine Jeans an. »Landesweit bekannte Spiritistinnen dürfen sogar das. Wenn ich Morde recherchiere, glauben die Leute, ich mache es aus beruflichen Gründen.« Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Das Problem ist, wenn der falsche Mensch mich sieht, steht es am nächsten Tag in allen Boulevardzeitungen. Und dann klingelt das Telefon den ganzen Tag, und die Leute wollen, dass ich die Mörder ihrer Angehörigen finde . . . «

»Und von der Sorte Ärger kriegst du auch so schon genug.«

Sie antwortete mit einem abrupten Nicken, ohne aufzusehen.

»Ich glaube, wir kommen auch ohne Internetrecherche aus.«

Sie wühlte in ihrer Handtasche und holte ihr Handy heraus.

»Direktverbindung zu einer vertrauenswürdigen Journalistin.«

Ich gab Jaime meine Liste der Anhaltspunkte für die möglichen Partnerinnen der Nixe. Sie notierte sie und rief die Nummer auf, und ich wusste auf die Sekunde genau, wann jemand ans Telefon ging ich merkte es an dem Ausdruck, halb Entzücken, halb panisches Entsetzen, der über Jaimes Gesicht glitt.

»Uh, äh, JerJeremy«, stammelte sie. »Ich bin’s Jaime. Jaime Vegas, aus dem, äh « Ein kurzes, verlegenes Auflachen. »Ja.

Okay, ich dachte bloß, nur für den Fall, dass du die Stimme nicht erkennst nein, nein, aber du hättest es ja vergessen haben können seit dem letzten Ratstreffen . . . oh, halt, das war erst letzten Monat, stimmt’s?«

Sobald Jaime das Wort »Ratstreffen« aussprach, wusste ich, mit wem sie telefonierte.

Jeremy Danvers, Alpha des Werwolfsrudels. Ich hatte den Mann nie getroffen. Hatte erst nach meinem Tod von ihm gehört. Aber Savannah verbrachte ihre Sommerferien mit den Werwölfen, und inzwischen kannte ich die Mitglieder des Rudels. Jeremy war so weit vom stereotypen Werwolfschlä

ger entfernt, wie man nur sein konnte. Er tolerierte es nicht nur, dass meine Tochter ihm zwischen den Füßen herumlief, er schenkte ihr seine Aufmerksamkeit, hörte sich ihre Probleme an und half ihr mit ihrer Malerei. Savannah betete ihn an. Und nach der zehennagelkrümmenden Vorstellung zu urteilen, die ich da gerade mitbekam, war sie nicht die Einzige.

»Also, äh, okay, ich wollte eigentlich mit Elena sprechen«, bekam Jaime schließlich heraus. »Ist sie da?«

Kurze Pause.

»Oh, hmm, ja, ich habe ihre Handynummer, natürlich kann ich sie « Nervöses Auflachen. »Wenn sie mit Clayton unterwegs ist, kann es warten. Sollte es wohl besser. Nicht, dass er naja, du weißt schon «

Eine Pause. Ein hohes Lachen.

Jaime schloss die Augen; ihre Lippen formten eine unhörbare Obszönität. Es gibt nur eins, das noch schlimmer ist, als sich aufzuführen wie ein Idiot es zu merken und nichts dagegen tun zu können.

»Also störe ich sie lieber nicht, wenn ich mir seinen guten Willen erhalten will na ja, immer vorausgesetzt, den habe ich, natürlich kann man das nie sagen bei ihm « Sie holte tief Luft, kniff die Augen zusammen und schüttelte sich. »Jedenfalls, ich lasse dich in Frieden und rufe Elena später an. Ich wollte sie einfach bitten, etwas in Newswire nachzusehen «

Pause.

»Nein, schon älter. Na ja, neuer älter. Morde. Nicht die Sorte Nachrichten, die du liest «

Wieder eine Pause. Wieder ein Lachen, bei dem sich mir das Rückgrat krümmte.

»Oh, natürlich. Also genau das, was du liest. Schon um ein Auge auf diese brutalen wölfischen Morde zu haben äh, nicht, dass Werwölfe brutal oder, äh « Ein tiefer Atemzug. »Ich beschreib’s dir kurz.«

Zehn Minuten später hatte Jaime ein mit Fällen beschriebenes Blatt einige komplett mitsamt der Namen, die meisten mit Schauplätzen oder zusätzlichen Details, die das weitere Recherchieren sehr einfach machen würden.

»Wow«, sagte sie. »Du bist unglaublich ich meine, dein Gedächtnis ist nicht, dass du selbst nicht Oh, da ist jemand an der Tür. Danke für die Unterstützung. Ich weiß es zu schätzen.

Weiß es wirklich, wirklich «

Sie zuckte zusammen, und ich sah, wie sie sich buchstäblich auf die Zunge biss. Sie brachte das Gespräch hastig zu Ende; dann sackte sie nach vorn und murmelte etwas vor sich hin.

»Du solltest ihn wirklich fragen, ob ihr nicht irgendwas zusammen unternehmen wollt«, sagte ich.

Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Kommt nicht in Frage.«

»Erzähl mir jetzt bitte nicht, dass du glaubst, der Mann sollte den ersten Schritt tun. Das wäre dermaßen «

»Glaub mir, ich habe kein Problem damit, die Initiative zu ergreifen. Es ist nur, er Jeremy ist einfach nicht der Typ, zu dem man hingeht und sagt: ›Hey, gehen wir doch irgendwo ein Bier trinken.‹«

»Du könntest es versuchen.«

Sie musste es erwogen haben, nach dem entsetzten Blick zu urteilen, den ich in ihren Augen sah. Sie griff nach oben, zog sich die Spange aus dem Haar und drehte die Haare um ihre Hand, während sie zum Spiegel ging. Nichts ist schmerzlicher als eine Schwärmerei. Ich erinnere mich an meine letzte. Greg Madison. Tiefe Grübchen und ein Lachen, das mein Herz zum Flattern brachte. Himmeldonnerwetter, das hatte weh getan.

Natürlich war ich damals vierzehn gewesen und nicht vierzig.

Aber ich nehme an, Vernarrtheit ist Vernarrtheit, egal in welchem Alter, und vielleicht ist es noch schlimmer, wenn man alt genug ist, um die Symptome zu erkennen, sich der eigenen Reaktionen zu schämen und trotzdem nicht in der Lage zu sein, etwas dagegen zu tun.

13

Jaimes Fahrer saß unten im Auto und wartete auf sie.Mein erster Gedanke war: »Wow, sie hat einen Chauffeur.« Aber als wir hinter der schallgedämpften, getönten Scheibe auf dem Rücksitz saßen, versicherte sie mir, dass der Fahrer von ihrer Produktionsgesellschaft bezahlt wurde und nur zu dem Zweck geschickt worden war, sie zu ihrer Show zu fahren. Jaime selbst besaß kein Auto, aber Milwaukee lag keine zwei Stunden Fahrt von Chicago entfernt, es wäre also sinnlos gewesen zu fliegen. Der Chauffeur war sozusagen ein Bonus und gehörte zu dem Luxus, der einem geboten wird, wenn man fast berühmt ist.

Wir verbrachten den Nachmittag in der Businesslounge des Hotels. Leute kamen und gingen, blieben gerade lange genug, um ihre EMails abzurufen oder ein Fax zu schicken. Einer dagegen hielt sich länger in der Lounge auf, ein Typ Anfang dreißig, der wohl erwartete, sein teurer Anzug und das Hotel, das ihm seine Firma bezahlte, würden Jaime beeindrucken. Als die verstohlenen Blicke von ihr ausblieben, ging er zu einer modernen Version des Hereinschleppens von frisch erlegtem Wild über er versuchte ihre Aufmerksamkeit mit Hilfe seiner Computerkenntnisse zu erregen.

Sie versicherte ihm, ganz gut zurechtzukommen, aber er bot trotzdem mehrmals seine Unterstützung an, in der Hoffnung, sie würde sich hoffnungslos im Netz verwickeln, er würde ihr zu Hilfe kommen und daraufhin vielleicht mit einer Einladung in ihr Hotelzimmer und stundenlangem akrobatischem Sex mit einer umwerfenden flammenhaarigen Fremden belohnt werden. Hey, auf der Leserbriefseite von Penthouse passiert so was dauernd, und sie würden dort niemals etwas abdrucken, das nicht stimmt.

Irgendwann entkam Jaime mit der üblichen gemurmelten »Nur schnell aufs Klo«Entschuldigung. In ihrem Hotelzimmer nahm sie eine Rolle Klebeband und tapezierte die Wände mit den Ausdrucken der Fälle, die sie gefunden hatte, damit ich sie lesen konnte. Es waren über hundert Seiten und dreiundzwanzig Morde, von denen manche nach unserer Nixe klangen, andere dagegen Morde innerhalb einer Familie zu sein schienen, an denen irgendetwas ungewöhnlich schien.

Als sie fertig war, sah Jaime auf die Uhr.

»Ich sollte in zwanzig Minuten in der Maske sein.«

»Geh nur.« Ich sah mich um. »Das hier ist doch wunderbar.«

»Solange das Zimmermädchen nicht reinkommt.« Sie musterte die Wände und schauderte. »Nicht mal die Ausrede, dass ich eine ShowbizSpiritistin bin, reicht als Begründung für das hier.«

»Viel Glück«, sagte ich. »Oder heißt das Hals und Beinbruch?«

Sie lächelte matt. »Manchmal hätte ich gar nichts gegen einen Knochenbruch direkt vor der Show.« Ihre Augen trübten sich, aber sie war mit einem Lidschlag darüber hinweg. »Dir auch viel Glück. Wenn du irgendwas brauchst, komm ins Theater.«

Sie zögerte. »Aber wenn du wirklich vorbeikommst «

»Sei unauffällig. Ich werde es mir jetzt merken.«

Sie murmelte etwas, griff nach ihrer Handtasche und ging.

Ich verbrachte die nächste Stunde damit, die Blätter an der ersten Wand durchzulesen. In Gedanken legte ich zwei Listen an, eine mit naheliegenden und eine mit möglichen Verdächtigen. Es waren auch solche dabei, die ganz offensichtlich nicht in Frage kamen. Die Hure, die eher aus Versehen einen Freier umgebracht und ausgeraubt hatte und dann feststellte, dass Raubmord lukrativer war, als auf den Strich zu gehen; das halbwüchsige Mädchen, das im Umkleideraum der Cheerleadergruppe eine Bombe zündete und den Reportern hinterher erzählte, die Miststücke hätten bloß gekriegt, was sie verdienten. Frauen wie diese brauchten die Ermutigung der Nixe nicht.

Auch Frauen, die ihre Verbrechen unter dem Einfluss von Drogen oder Alkohol begangen hatten, konnte ich ausschließen.

Die Nixe suchte sich ihre Partnerinnen nach klaren Kriterien aus Frauen an der Schwelle zum Mord, die nur noch einen kleinen Schubs brauchten.

Ein leises Pfeifen hinter mir. »Du hast ja wirklich zu tun.«

Kristof trat näher und musterte die mit Computerausdrucken beklebte Wand. »Ich dachte, vielleicht kannst du beim Recherchieren etwas Hilfe brauchen, also habe ich mal eben meine Bluthundnase aufgesetzt.«

Ich lächelte. »Bei so was bist du wirklich gut, weißt du. Ein bisschen beängstigend.«

»Wenn ich etwas finden will, finde ich es.« Kristof wandte sich wieder der Wand zu. »Wo soll ich anfangen?«

Ich zögerte, dann zeigte ich ihm eine Stelle und nannte ihm meine Kriterien.

»Ich suche die raus, die draufpassen«, sagte er. »Dann kannst du sie ansehen und die Feinauswahl treffen.«

Je mehr ich las, desto mehr wünschte ich mir, diesen Teil meiner Aufgabe hinter mir zu haben. Ich habe keine Probleme mit Gewalt. Wenn eine Hexe in der paranormalen Welt Macht haben will, muss sie die Schwarzen Künste beherrschen. Paige versuchte dies gerade zu ändern, und ich wünschte ihr jeden denkbaren Erfolg dabei. Aber als ich in ihrem Alter gewesen war, hatte ich nur zwei Möglichkeiten gesehen: eine schwarze Hexe zu werden oder zu akzeptieren, dass meine Kräfte zu kaum mehr taugten als dazu, mit einer Formel die Tür abzuschließen und mich dahinter zu verstecken.

Also war ich dem Beispiel Dutzender anderer junger Hexen gefolgt und hatte den Zirkel verlassen. Oder war aus ihm hinausgeworfen worden, je nach Standpunkt. Kaum draußen, hatte ich mich damit befasst, machtvollere Magie zu lernen, und das bedeutete Magierformeln und gelegentlich auch eine Schwarzmarktformel, die ich meistern konnte. Um stärker zu werden, musste ich tief in die paranormale Unterwelt abtauchen und mir den Respekt von Leuten erzwingen, die nur Gewalt respektierten. Gewalt wurde zu einem Werkzeug, das ich mit kaum mehr Bedenken benutzte, als wenn ich eine Machete eingesetzt hätte, um mir einen Weg durch den Dschungel zu bahnen.

Aber was ich auf diesen Ausdrucken an Gewalttätigkeit fand, hatte nichts mit dem Ausschalten von Feinden oder dem.

Kampf ums Überleben zu tun. Da waren Hass und Eifersucht und Feigheit und all das Zeug, das ich im Hirn dieses kranken Schweins in der Todeszelle gesehen hatte. Je mehr ich las, desto besser erinnerte ich mich daran, wie es gewesen war, in seinem Kopf zu stecken, und desto schneller wollte ich es hinter mich bringen.

Kristof sah oder spürte mein Unbehagen. Aber er sagte nichts kein »Alles in Ordnung?« oder, noch schlimmer,

»Komm, lass mich das machen«. Er sah nur gelegentlich zu mir herüber; er wusste, wenn ich darüber reden oder es beenden wollte, würde ich es sagen.

An der letzten Wand hatte ich meine persönliche Grenze schließlich erreicht, den Artikel, bei dem mein Hirn brüllte, dass es jetzt genug hatte. Die Schlagzeile lautete MODERNE MEDEA MASSAKRIERT KLEINKINDER. Die flotte Alliteration machte mich fast so wütend wie der Inhalt selbst. Ich sah die Journalistin geradezu vor mir, wie sie an ihrem Schreibtisch saß, ohne eine Reaktion auf das unvorstellbare Verbrechen zu zeigen, aber stolz auf sich, weil sie auch noch eine klassische Anspielung im Titel untergebracht hatte.

Auch ich wusste, wer Medea gewesen war, und wie ich erwartet hatte, ging es in dem Artikel um eine Frau, die ihre Kinder ermordet hatte, um ihren Mann zu bestrafen. Sie hatte drei Kleinkinder, alle unter fünf, in der Badewanne ertränkt und dann in ihre Betten gelegt. Als der Mann nach Hause kam, ging er zu ihnen hinein, um sie zu küssen, wie er es immer tat, und fand sie kalt und tot. Sein Verbrechen? Untreue. Das der Kinder? Keins. Opfer einer Racheaktion, die kein denkbares Verbrechen gerechtfertigt hätte.

Kristof kam herüber und las über meine Schulter hinweg die Schlagzeile. Er legte mir die Hand auf die Hüfte, und ich lehnte mich sekundenlang an ihn, bevor ich mich losmachte.

»Wahrscheinlich muss man einfach hoffen, dass es für so was eine Sonderhölle gibt«, sagte ich.

»Ich bin mir ziemlich sicher, es gibt eine.«

Ich hätte nichts dagegen gehabt, den Fall auf die »Nein«

Liste zu setzen und nie wieder daran denken zu müssen. Aber ein Zitat von einer Freundin der Familie in den letzten Zeilen machte mir das unmöglich. Es war die Sorte von Aussage, die ganz normale Leute machen, wenn ihnen plötzlich ein Mikrofon unter die Nase gehalten wird. Die Sorte, die sie dann wieder und wieder in den Nachrichten hören und bei der sie jedes Mal am liebsten schreien würden: »So habe ich das nicht gemeint!«

Die Freundin hatte zugegeben, dass Sullivan ihrem untreuen Mann fürchterliche Rache geschworen hatte. Warum also war niemand zur Polizei gegangen? »Wir hätten nie gedacht, dass sie die Traute hat, es wirklich zu machen.«

Ich sah über die Schulter zu Kristof hin und stellte fest, dass sein Mund schmaler wurde, als er die Zeilen las.

»Die sollte dann wohl ganz oben auf die Liste«, sagte ich.

»Ganz entschieden. Ich habe hier noch ein, zwei mögliche Fälle.«

Als wir fertig waren, hatte ich eine Liste von sechs möglichen Morden und dazu drei sehr wahrscheinliche Kandidatinnen.

»Ich glaube, um Medea kümmere ich mich als Erste«, sagte ich.

»Alle drei sind im Gefängnis, und ich habe die Codes für ihre Städte.«

»Hättest du gern, dass ich mitkomme?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Dann bitte doch Jaime, herauszufinden, wo genau diese Medea sich befindet, und ich suche dann die Gefängnisse der beiden anderen.«

»Danke.«

Wir verabredeten uns für später bei mir zu Hause, und ich ging, um Jaime zu suchen.

14

Ich traf Jaime im Foyer, als sie gerade von ihrer Show zurück kam. Die Computerlounge hatte rund um die Uhr geöffnet, und sie fand die genaue Lage des Gefängnisses sofort. Ich prägte sie mir ein und machte mich auf den Weg.

Mein Code brachte mich nur bis auf fünfzehn Meilen an Amanda Sullivans Gefängnis heran, den Rest musste ich laufen.

Den größten Teil der Strecke joggte ich. Ich wollte meine Muskeln strecken und das Gefühl von Klaustrophobie abschütteln, und das war nicht einmal der einzige Grund für meine Eile.

Die Parzen hatten etwas davon gesagt, dass die Nixe etwa alle zwei Jahre zuschlug, was in mir die Illusion ausgelöst hatte, ich hätte reichlich Zeit. Aber diese Artikel aus dem Netz hatten mir eines schmerzlich klargemacht: Dieser Durchschnittswert bedeutete nicht, dass sie nicht gerade jetzt irgendwo da draußen ihre nächste Partnerin gefunden hatte.

Als ich das Gefängnis erreichte, war es Morgen. Ich nahm den Besuchereingang, schwänzte aber die Sicherheitskontrolle. Ich glitt durch den Metalldetektor, an den beiden Frauen ganz vorn in der Warteschlange vorbei. Beide waren älter als ich, eine Ende vierzig, eine jenseits der fünfzig, und die Mütter von Gefängnisinsassen, das sah ich ihnen an.

Die Ältere stand mit erhobenem Kinn, trotzig, überzeugt, dass jemand einen furchtbaren Fehler gemacht hatte, dass ihr Kind unschuldig war und jemand anderes für diese juristische Farce bezahlen würde. Die Jüngere hielt den Kopf gesenkt, antwortete mit einem höflichen Murmeln auf die Fragen der Wachleute, erwiderte aber ihre Blicke nicht. Schuldgefühle

sie war eine Mutter, die sich selbst die Schuld dafür gab, dass ihr Kind im Gefängnis saß, die nicht wusste, was sie falsch gemacht hatte, aber überzeugt war, dass es irgendetwas gewesen sein musste.

Ich betrat das Wartezimmer, eine fensterlose, graue Höhle, die niemandem die Illusion vermittelte, willkommen zu sein.

Schäbige Stühle mit roten Kunststoffpolstern sprenkelten den Raum wie eine Masernepidemie; sie sahen aus wie eine Spende, die irgendeine wohltätige Einrichtung dankend abgelehnt hatte, und auch die Besucher rührten sie nicht an.

Ich kam an Ehegatten, Liebhabern, Eltern und Freunden vorbei, die darauf warteten, dass man sie einließ. In der Ecke bei der Kabine des Wachmanns stand eine dicht gedrängte Gruppe von Leuten im Collegealter, größtenteils Männer; ihre möglichst auffällig getragenen Abzeichen kennzeichneten sie als Exkursion von einer Polizeischule. Ich ging an den Möchtegernpolizisten vorbei, durch die Tür, die ihnen noch versperrt war, und fand mich in einem einstöckigen Zellenblock wieder. Die ersten Zellen, an denen ich vorbeikam, waren leer, obwohl sie offenbar bewohnt wurden ich sah eine über einer Stuhllehne hängende Bluse und ein Taschenbuch, das offen auf einem Bett lag. Die Bewohnerinnen mussten draußen sein und irgendetwas tun Arbeitsdienst oder Therapie oder was auch immer. Ich hoffte sehr, Sullivan irgendwo zu sehen, schon weil ich ihr nicht gönnte, jemals wieder ein Leben jenseits von Gittern führen zu dürfen.

Nicht einmal, um unter einer heißen texanischen Sonne Steine zu klopfen.

Hie und da sah ich tatsächlich jemanden in einer Zelle vielleicht bekam die Frau Besuch oder musste zur Strafe drinnen bleiben. Ich hatte das Ende des Blocks fast erreicht, als ich hinter mir ein plötzliches Kichern hörte. Ich drehte mich um und entdeckte eine kleine Gestalt, die sich zwischen den Stäben einer Zelle hindurchquetschte. Sie sah aus wie ein kleiner Junge.

Das Kind rannte den Gang entlang davon. Dann blieb es stehen und sah in die Zellen zu beiden Seiten hinein. Es war ein dunkelhaariger, dunkelhäutiger, kleiner Junge in Kleidern, die auf eine Art geflickt und wieder geflickt worden waren, wie man es seit der Massenproduktion billiger Kleidung kaum noch sah. Sein Hemd war von einem zu Grau verwaschenen Blau und mehrere Größen zu groß, und Flicken bedeckten die Ellenbogen ebenso wie die Knie der zu kurzen Hosen, die auf Wadenhöhe endeten. Er war barfuß.

Ich ging leise näher heran und blieb ein paar Schritte von ihm entfernt stehen, um ihn nicht zu erschrecken. Und ja, ich war mir fast sicher, dass ich ihn hätte erschrecken können. Er musste ein Geist sein. Dabei . . . nun ja, es ergab keinen Sinn.

Die Kleidung des Jungen war seit einem Jahrhundert aus der Mode, aber die höheren Mächte sind nicht so grausam, dass sie eine Seele die Ewigkeit im Körper eines Kindes verbringen lie

ßen. Junge Geister werden erwachsen, bevor der Alterungsprozess stockt. Und wenn die Parzen Eltern für kindliche Geister suchten, dann wählten sie sorgfältig aus unter denjenigen, die sich im Leben vergeblich nach Kindern gesehnt hatten, oder denjenigen, die gern noch mehr gehabt hätten, bevor die Natur ihnen die Möglichkeit dazu nahm. Kindliche Geister sind glücklicherweise selten genug, so dass die Parzen wählerisch sein können, und sie würden kaum jemanden auswählen, der ein Kind in einem Gefängnis herumlaufen ließ.

Ich versuchte es mit einem diskreten Husten, wie ich es Jaime versprochen hatte. Der Junge bemerkte mich nicht. Stattdessen ging er zur nächsten Zellentür, sah ins Innere und lächelte. Dann drehte er sich und schob sich seitwärts durch die Gitterstäbe er benahm sich, als sei das Metall eine Barriere, aber als sein Zeh auf einen Stab traf, glitt er hindurch wie der jedes anderen Geistes. Ich ging leise näher heran, bis ich in die Zelle hineinsehen konnte. Auf dem Bett lag eine junge Frau, nicht älter als zwanzig, mit vor Fieber brennenden Augen.

Der Junge trat neben sie und öffnete die Hand. Auf seiner Handfläche lag eine winzige blaue Feder. Er streckte sie der kranken Frau hin, aber diese stöhnte nur. Ein Stirnrunzeln glitt über sein dünnes Gesicht, doch es dauerte nur eine Sekunde, bis sein strahlendes Lächeln zurückkehrte. Er beugte sich vor und legte die Feder auf ihr Kopfkissen, berührte ihre Wange, ging auf Zehenspitzen zurück zu der Gittertür und schob sich hindurch.

Als er herauskam, ging ich in die Hocke, so dass unsere Augen auf gleicher Höhe waren. Er sah mich und legte fragend den Kopf zur Seite.

»Hallo, du«, sagte ich. »Das war eine hübsche Feder. Wo hast du die gefunden?«

Er grinste, teilte mir mit einer Handbewegung mit, dass ich ihm folgen sollte, und schoss davon.

»Warte«, rief ich ihm nach. »Ich habe nicht gemeint «

Er verschwand in einem Nebengang. Ich folgte ihm. Medea konnte warten.

Als ich um die Ecke bog, stand der Junge vor einer Tür und sprang vor Ungeduld von einem Fuß auf den anderen. Bevor ich etwas sagen konnte, griff er nach der Klinke und tat so, als öffnete er die Tür. Sie rührte sich nicht, aber er verhielt sich, als hätte sie es getan, und schoss durch die imaginäre Öffnung.

Die Tür führte in einen kurzen Gang mit Regalen voller Putzmittel an den Wänden. Am Ende des Ganges war eine Falltür in den Boden eingelassen. Auch hier tat der Junge wieder so, als öffnete er sie.

»Ich weiß nicht, ob du das tun «

Er verschwand nach unten. Ich ging auf alle viere und schob die Beine durch den Boden. Solche Manöver sind desorientierend ebenso wie auf den Fußböden der Menschenwelt zu gehen und auf ihren Stühlen zu sitzen. Es klingt einfach, bis man sich klarmacht, dass diese Böden und Möbel in meiner Dimension nicht existieren. Solange wir sie als wirkliche Gegenstände behandeln, können wir sie auch so gebrauchen, zumindest so weit, dass wir nicht durchfallen. Und so packte ich die Kanten der Falltür und ließ mich vorsichtig hinunter, obwohl ich unter den Fingern nichts spürte.

Als meine Füße durch die geschlossene Luke verschwanden, sprach ich eine Lichtformel. Die stärkeren Formeln waren in der Menschenwelt reine Glückssache, aber auf die Grundformeln konnte ich mich verlassen. Unter der Falltür befand sich eine halbverrottete Leiter, die unter dem geringsten Gewicht zusammenbrechen würde. Aber glücklicherweise habe ich dieser Tage kein Gewicht mehr, und so setzte ich den Fuß auf die oberste Sprosse und kletterte hinunter.

Ich landete in einem winzigen, dunklen Raum, der nach Abwasser stank. An einer Wand sah ich eine vernagelte Holztür.

Als ich auf sie zutrat, bohrte sich etwas in meine Fußsohle, und ich fuhr zusammen. Meine Lichtformel zeigte mir eine kleine grüne Kugel, halb im Dreck des Bodens vergraben. Ich bückte mich und hob sie auf. Eine Murmel. Jadegrün, die gläserne Oberfläche mit Kratzern bedeckt. Ich drehte sie in der Hand und lächelte. Eine Geistermurmel. Ich steckte sie in die Tasche und ging durch die Tür.

Dahinter lag ein Gang mit schweren Holztüren auf einer Seite, eisenbeschlagen und solide bis auf einen Schlitz auf Augenhöhe, der mit einer Eisenklappe abgedeckt war. Ich hatte es bis zur dritten Tür geschafft, als ich jemanden weinen hörte.

Das Geräusch kam hinter der Tür hervor. Ich ging hindurch und stand in einem winzigen Raum, leer bis auf eine modrige Matratze auf dem Fußboden, die halb von einer mottenzerfressenen Decke bedeckt war. Aber das Weinen hörte ich immer noch. Es schien von allen Seiten zu kommen, als seien es die Wände selbst, die schluchzten.

»Es war nicht so gemeint, es war nicht so gemeint«, flüsterte eine Stimme.

»Wer ist da?«, fragte ich, während ich die Quelle der Stimme zu finden versuchte. »Bist du das, Liebes? Du hast doch gar nichts «

»Es tut mir so leid, so leid « Eine entschieden weibliche Stimme, unterbrochen von krampfhaften Schluchzern.

»Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, gegrüßet « Ein Schluchzen. »Ich weiß weiß es nicht mehr. Gegrüßet seist du «

»Hallo? Alles in Ordnung, ich will dir nichts tun.«

Die einzige Antwort war ein leises Klacken, bei dem mir die Murmel in meiner Tasche einfiel.

»Gegrüßet seist du, Maria«, flüsterte die Stimme. »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade.«

Rosenkranzperlen. Das Klicken, mit dem jemand die Perlen eines Rosenkranzes abzählte. In der Ferne knallte eine Tür.

Die Stimme keuchte und brach mitten im Wort ab. Schritte hallten im Gang die schweren Schritte gestiefelter Füße, und sie kamen näher. Die Stimme stieß ein leises Wimmern aus, und dann erfüllte ein neues Geräusch den Raum, ein stetes Klopfen, das leiser war als die Schritte und immer schneller wurde. Das ängstliche Hämmern eines Herzens.

»Heilige Maria, Mutter Gottes «

Das Gebet war kaum lauter als ihr Atmen, kaum mehr als ein Flüstern.

Die Schritte hielten vor der Zellentür inne. Ein Rasseln von Schlüsseln. Ein Wimmern, das klang, als stiege es von dem Boden vor meinen Füßen auf. Ein Schlüssel kreischte im Schloss.

»Nein, nein, nein, nein!«

Die Türangeln quietschten, und ich hörte, wie eine Tür aufging, aber die Tür vor mir blieb geschlossen. Die Frau stieß einen Schrei aus, bei dem ich vor Schreck fast an die Decke ging.

Ich fuhr herum, aber ich war immer noch allein. Zu meinen Füßen hörte ich das panische Scharren, mit dem jemand über den Fußboden kroch.

»Gegrüßet seist du, Maria, voll der «

Ein Lachen, das ihr Gebet übertönte. Die Tür knallte zu. Die Frau schrie. Dann hallte ein Schlag durch den Raum, so laut, dass ich taumelte, als habe er mir gegolten. Wieder ein Schrei ein entsetzlicher Schrei voller Wut und Angst.

Und dann war alles still.

Ich sah mich um und wartete auf das nächste geisterhafte Geräusch. Aber ich hörte nur das leise Kratzen winziger Klauen

eine Ratte in der Wand.

Langsam ging ich hinaus in den Gang. Der Junge stand direkt vor der Zelle. Ich fuhr zusammen und stieß einen unwillkürlichen Fluch aus. Er winkte mir zu und rannte weiter. Ich zögerte und versuchte mich zu orientieren, dann folgte ich ihm.

15

E rführte mich in einen weiteren Raum, indem es nach Moder und abgestandener Luft roch. Hier hatte er zwischen zwei Kistenstapeln seine Schätze versteckt eine Handvoll Murmeln, farbige Steine, Federn, eine himmelblaue Blechtasse und ein handgenähtes Stofftier, das entweder ein Hund oder ein Elefant war.

»Ich glaube, da fehlt was«, sagte ich, während ich neben dem Haufen in die Hocke ging und die grüne Murmel aus der Tasche zog. Der Junge stieß ein wortloses Quieken aus und legte die Arme um mich. Nach einem Augenblick der Überraschung nahm ich ihn ebenfalls in die Arme.

»Wie heißt du?«, fragte ich.

Er sah mich nur an, lächelte und nickte.

Ich zeigte auf mich. »Ich bin Eve. Und du bist . . . ?«

Das Lächeln wurde noch ein paar Watt strahlender, aber auch diesmal antwortete er nur mit einem Nicken.

»Ich helfe dir, hier rauszukommen. Ich bringe dich an einen schöneren Ort. Würde dir das gefallen?«

Er nickte, immer noch lächelnd. Wenn ich ihn gefragt hätte, ob er mit mir zum Hundeschlittenfahren nach Sibirien kommen wollte, hätte er ebenso reagiert ohne die geringste Ahnung, wovon ich redete, aber vollkommen einverstanden mit allem, das ich vorschlug.

»Wir gehen bald, Liebes«, versicherte ich. »Ich muss vorher nur etwas erledigen. Jemanden finden.« Ich machte eine Pause.

»Vielleicht kannst du helfen?«

Er nickte heftig, und dieses Mal wusste ich, dass er mich verstanden hatte. Aber als ich Amanda Sullivan beschrieb, wurden seine Augen dunkel vor Enttäuschung. Jemanden zu finden war etwas, das er verstand, eine verbale Beschreibung zu verstehen war zu viel verlangt.

Ich dachte an den Zeitungsartikel, den ich gelesen hatte, und versuchte, ihn zu materialisieren. Nichts geschah. Aber ich ließ mich nicht entmutigen. Meine Kräfte mochten vielleicht auf dieser Seite schwach sein, aber in meiner eigenen Dimension war ich stark. Ich teleportierte mich in die Geisterwelt, beschwor den Artikel mit dem Foto herauf und kam damit zurück.

»Das ist die Frau, die ich suche.«

Er stieß einen kleinen Schrei aus und vergrub das Gesicht an meiner Schulter. Ich fühlte, wie sein kleiner, dünner Körper zitterte. Er wusste oder spürte , was Sullivan getan hatte.

Minutenlang hielt ich ihn im Arm und murmelte tröstende Worte. Als er endlich zu zittern aufhörte, schob ich das Foto in die Tasche.

»Vergiss sie«, sagte ich. »Wir «

Er packte meine Hand und zerrte daran, sein tränennasses Gesicht wirkte entschlossen. Ich folgte ihm.

Er führte mich zurück durch den unterirdischen Zellenblock, durch die Falltür, das oberirdische Gefängnis und ein paar Türen in eine kleinere, schwerer bewachte Abteilung. Hier waren alle Zellen belegt. Und in der Letzten davon saß Amanda Sullivan und las das Ladies’ Home Journal.

Ich drehte mich zu dem Jungen um. »Schon okay«, sagte ich.

»Sie kann dir nichts tun.«

Ein langsames Lächeln, dann ein Nicken. Er schoss nach vorn, um mich kurz und heftig zu umarmen, dann rannte er davon, den Gang entlang zurück.

»Nein«, schrie ich ihm nach. »Komm «

Eine Hand packte mich am Arm. Ich drehte mich um und sah Trsiel.

»Der Junge«, sagte ich. »Er ist ein Geist.«

»George.«

»Kennst du ihn?«

»Seine Mutter war in diesem Gefängnis. Er ist hier geboren worden und fünf Jahre später hier gestorben. Pocken.«

»Er hat hier gelebt?«

»Als George zur Welt kam, war der Gefängnisarzt zu Hause und machte sich nicht die Mühe zu kommen. Die Nabelschnur war um seinen Hals gewickelt. Die Frau, mit der seine Mutter die Zelle teilte, hat ihn gerettet, aber sein Gehirn hatte bereits Schaden genommen.«

»Und niemand wollte ihn«, murmelte ich.

Trsiel nickte. »Also durfte er hierbleiben, bei seiner Mutter.«

»Aber warum ist er noch hier? Sollte ihn nicht jemand «

»Retten? Wir haben es versucht, aber er ist immer wieder hierher zurückgekehrt.«

»Weil er nur dies kennt. Und er ist hier glücklich.« Ich dachte daran, wie der Junge so getan hatte, als öffnete er Türen. »Er weiß nicht, dass er tot ist.«

»Gibt es einen Grund, ihn aufzuklären?«

Ich schüttelte langsam den Kopf. »Wahrscheinlich nicht.«

»Dies« Trsiel wies mit einer Geste auf das Gebäude, in dem wir standen »wird nicht ewig stehen. Wenn sie es abreißen oder aufgeben, holen wir das Kind und reinkarnieren es. In solchen Fällen ist das das Beste.«

»Und bis dahin ist es das Beste, ihn hierzulassen.« Ich schüttelte den Gedanken an den Jungen ab und drehte mich zu Amanda Sullivan um. »Das da ist meine Kandidatin Nummer eins.«

Als Trsiel zu ihr hinübersah, flammten seine Augen auf. Die Finger seiner rechten Hand bogen sich, als wollten sie sich um etwas schließen . . . etwas wie einen Schwertgriff.

»Gute Wahl«, sagte er.

»Das kannst du jetzt schon sehen?«

»Ich sehe genug, um zu wissen, dass sie eine gute Wahl ist.

Mehr als das würde Konzentration erfordern.« Er sah mich an.

»Ich könnte dies für dich erledigen.«

»Es ist mein Job.« Ich streckte die Hand aus. »Bringen wir es hinter uns.«

Eine Collage von Bildern jagte vorbei, zu schnell, als dass ich etwas hätte erkennen können, und es wurde dunkel. Ich wartete mit wachsender Ungeduld.

Eine Stimme trieb mir ans Ohr. »Ich will ihm weh tun. So wie er mir.«

Es gibt viele Arten, diesen Satz zu sagen, viele emotionale Schattierungen, die meisten davon wütend. Das leidenschaftliche Aufflammen, das später bereut wird, die kalte Entschlossenheit puren Hasses.

Aber hier hörte ich nur das weinerliche Maulen eines verzogenen Kindes, das zu einer verzogenen Frau herangewachsen war, ohne jemals zu begreifen, dass die Welt ihm kein perfektes Leben schuldete.

Eine zweite Stimme antwortete, ein Flüstern, das anstieg und absank wie ein sanft schaukelndes Ruderboot. »Wie würdest du das tun?«

»Ich weiß nicht.« Der Schmollton war unverkennbar. »Sag’s mir.«

»Nein . . . sag du es mir.«

»Ich will, dass es weh tut. Bezahlen soll er.« Eine Pause. »Er liebt mich nicht mehr. Das hat er mir gesagt.«

»Und was willst du unternehmen?«

»Ihm das wegnehmen, was er liebt.« Ein plötzlicher Zug von selbstzufriedenem Stolz, als habe sie sich selbst mit ihrer Klarsichtigkeit überrascht.

»Was ist das?«

»Die Kinder.«

»Warum tust du es dann nicht?«

Ich wartete angespannt, wartete auf den offenkundigen Grund und das plötzliche Erschrecken darüber, dass ihr der Gedanke überhaupt gekommen war.

»Ich habe Angst«, sagte sie.

»Angst wovor?«

»Dass sie es rausfinden.«

Ich fauchte und warf mich gegen die Wand aus Dunkelheit, die mich umgab.

Die Stimmen verstummten. Ich stand in einem kleinen Raum. Ich summte vor mich hin und rieb etwas in den Händen

ich hielt einen Waschlappen in einer Hand, ein Stück Seife in der anderen. Ein Platschen und ein entzückter Kreischer. Ich blickte auf und sah drei kleine Kinder in einer Badewanne sitzen.

Ich versuchte mein Bewusstsein von Sullivans loszureißen, und das Bild wurde dunkel.

Hass strömte durch mich hindurch. Nicht mein eigener Hass auf sie, sondern ihr Hass auf jemand anderen. Ich war wieder in Amanda Sullivan, und die Nixe war fort.

Weg, das Miststück! Sie hat mich im Stich gelassen. Hat mich alleingelassen. Sie hat versprochen, ich würde nicht erwischt werden. Versprochen, versprochen . . .

Ringsum wurde es hell. Die Litanei von Schuldzuweisungen und Selbstmitleid kreiste immer noch in meinem Kopf.

Vor mir saß ein sympathisch aussehender Mann im Anzug.

»Diese Stimme . . . «, sagte er; seine eigene Stimme war ein ruhiger Bariton. »Erzählen Sie mir mehr darüber.«

»Sie hat gesagt, ich soll es tun. Sie hat mich dazu gebracht.«

Die Augen des Mannes musterten Sullivan durchdringend; er glaubte ihr keine Sekunde lang. »Sind Sie sicher?«

»Natürlich. Sie hat mir gesagt, ich soll es tun.«

»Aber der Polizei gegenüber haben Sie gesagt, sie hätte Sie ermutigt. Das ist nicht das Gleiche.«

»Meine Kinder waren tot. Tot! Und ich hab das falsche Wort verwendet, dann zeigen Sie mich doch an dafür. Ich war so am Boden zerstört.« Ein routiniert klingender Schluchzer. »Meine Welt . . . in Trümmern.«

»Durch Ihre eigene Schuld.«

»Nein! Sie hat es getan. Sie . . . Es war ihre Idee.«

»Sie haben gesagt, es wäre Ihre Idee gewesen. Dass Sie darauf gekommen sind «

»Nein!« Sullivan sprang auf. »Bin ich nicht! Es war ihre Idee!

Ganz allein ihre!«

Wieder wurde es dunkel. Weitere Szenen jagten vorbei. Die abgelehnte Freilassung auf Kaution, die Anhörung, bei der ein Versuch der Verteidigung, Unzurechnungsfähigkeit geltend zu machen, abgeschmettert worden war, zwei Attacken von Mitgefangenen, die sie ebenso sehr hatten bestraft sehen wollen wie ich selbst. Dann war es zu Ende.

Trsiel ließ meine Hand los.

»Nichts«, sagte er. »Die Nixe ist wieder übergetreten.«

»Uh?«

»Sie ist in die Geisterwelt zurückgekehrt, wahrscheinlich unmittelbar nach der Tat. Solange sie dort ist, bleibt die Verbindung zwischen ihr und dieser Partnerin unterbrochen.«

»Und wenn wir sie umbringen?«

Jetzt war Trsiel mit dem »Uh?« an der Reihe, wobei er es nur durch ein verwirrtes Stirnrunzeln ausdrückte.

»Wenn wir Sullivan umbringen, geht sie in die Geisterwelt und tut sich dort wieder mit der Nixe zusammen.«

Er runzelte immer noch die Stirn.

»Was denn?«, fragte ich. »Meinst du, es würde nicht funktionieren?«

»Ja nun, ich bin mir nicht sicher, ob es tatsächlich funktionieren würde, aber ich bin noch bei der ersten Hälfte dieser Maßnahme.«

»Sie umbringen? Oh bitte. Komm mir nicht mit irgendwelchem Blödsinn darüber, die menschliche Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen zu lassen. Sie hat ihre Kinder umgebracht. Für so was ist das große Schwert doch da, oder? Um der Gerechtigkeit Genüge zu tun?«

»Ja sicher, aber «

»Du willst es nicht tun? Lass mich. Ich tu’s mit Vergnügen.«

Sekundenlang starrte er mich einfach nur an. Dann schüttelte er scharf den Kopf.

»Wir können es nicht tun. Selbst wenn sie tot wäre, ist nicht sicher «

»Und? Versuchen kann man’s ja. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass es nicht klappt.«

»Nein, Eve. Es geht nicht.«

Ich ging zu der Gittertür hinüber und starrte hindurch. »Ihr Leben ist also mehr wert als das der nächsten Opfer dieser Nixe? Dieses mörderische Miststück umzubringen wäre falsch, stimmt’s? Scheiß drauf. Weißt du was, du hast mich gewarnt.

Du hast deine Aufgabe erfüllt. Wie wär’s, wenn du jetzt zu deiner Wolke zurückfliegst oder wo ihr Typen eben eure Freizeit verbringt, und ich erledige meine Aufgabe.«

»Das kannst du nicht.«

»Ich kann ihre Gedanken nicht lesen. Weiß ich. Und in ihre Dimension folgen kann ich ihr auch nicht. Das ist deine Sache.

Ich liefere sie euch einfach nur an.«

»Wie? In der Menschenwelt kannst du nichts bewirken. Ich verstehe, dass du die Nixe daran hindern willst, weitere Opfer zu finden, aber solange sie in der Geisterwelt ist, kann sie niemandem schaden. Wir müssen nur warten, bis sie wieder auftaucht «

»Dann sitzen wir also einfach rum und tun gar nichts?«

Sein Blick hielt meinen fest. »Dies ist schon früher passiert und wird wieder passieren. Alle ihre Verfolger hatten dieses Problem. Bevor sie nicht aus der Geisterdimension zurückkommt, ist sie unauffindbar. Wir müssen nur ein Auge auf sie halten.« Er deutete auf Sullivan. »Wenn die Nixe zurückkommt, wird sie es wissen.«

»Was treibt sie?«

Er musterte Sullivan stirnrunzelnd.

»Nein, nicht die. Die Nixe. Du sagst, sie tritt ständig über.

Um was zu tun?«

Er zuckte die Achseln. »Wir wissen es nicht.«

»Solltet ihr es nicht wissen? Sie wird ja kaum Urlaub machen.

Irgendwas tut sie da drüben.«

»Es ist nicht wichtig. Sie kann dort niemanden umbringen «

»Ja, ja. Das habe ich kapiert. Sieh mal, wenn du Däumchen drehen und auf sie warten willst, nur zu. Du hast gesagt, sie ist in meiner Geisterdimension?«

Er nickte. »Nachdem sie in Gestalt einer Hexe gestorben ist, gilt sie als paranormaler «

»Gut. Dann gehe ich sie jetzt suchen. Wenn ich dich brauche, melde ich mich.«

Seine Lippen wurden zu einer harten Linie. Aber bevor er etwas sagen konnte, verschwand ich. Ich brauchte einen Partner, mit dem ich arbeiten konnte.

Cleveland 1938

Agnes Miller war eine Fanatikerin. Außerdem war sie wahnsinnig. Letzteres, überlegte die Nixe, schien häufig eine Vorbedingung für Ersteres zu sein. Oder möglicherweise auch eine unvermeidliche Folge.

»Ich brauche dich«, sagte Agnes.

Die Nixe schüttelte ihre philosophische Stimmung ab und sah durch Agnes’ Augen. Sie standen neben einer verfallenen Mauer und sahen auf einen Mann hinab, der schlafend zu ihren Füßen lag, eine zerfetzte Decke bis unters Kinn gezogen.

»Gute Wahl«, sagte die Nixe.

Agnes antwortete nicht. In ihren Augen war die Nixe ein Werkzeug, keine Partnerin der einzige Makel einer ansonsten vollkommenen Beziehung. Dafür allerdings war es ein erheblicher Makel, und die Nixe wurde zusehends frustrierter

»Ich bin so weit«, sagte Agnes.

Sie stand über dem schlafenden Landstreicher, das Beil erhoben wie eine Guillotine. Geköpft zu werden war gar keine so üble Todesart. Die Nixe wusste das aus eigener Erfahrung, weshalb sie auch versucht hatte, Agnes zu anderen Methoden zu überreden, aber

»Ich bin so weit«, wiederholte Agnes.

»Ja, ja.« Die Nixe konzentrierte sich darauf, ihre dämonische Kraft in Agnes’ Arme fließen zu lassen. Mehr brauchte die Frau auch gar nicht von ihr. Was die Entschlossenheit anging von der hatte sie selbst mehr als genug.

Die Klinge jagte abwärts, und der Kopf des Landstreichers rollte zur Seite, die Augen immer noch geschlossen. Er war nicht einmal aufgewacht. Was sollte daran amüsant sein? Aber das war einer der Gründe, weshalb Agnes auf Enthauptungen bestand es war ein schneller und gnädiger Tod.

Agnes begann die Leiche zu bearbeiten.

»Diesmal werden sie hinsehen müssen«, flüsterte sie.

»Ich habe es dir schon mal gesagt wenn du willst, dass sie hinsehen, darfst du nicht immer nur Landstreicher und kleine Kriminelle töten, Agnes. Wenn du dir ein nettes Mädchen aus reicher Familie aussuchtest die Tochter des Bürgermeisters vielleicht oder des «

»Darum geht es aber nicht«, schnappte Agnes, »es geht um dies «

Ihre Geste umschrieb die schwärende Wunde der Landschaft am Cuyahoga River. Hochöfen und Hütten kauerten dort wie qualmspuckende Ungeheuer. Der Schwefelgestank war so stark, dass die Nixe wusste, sie würde ihn noch tagelang an Agnes riechen, lange nachdem diese in ihr kleines Haus zurückgekehrt war und sich den Dreck von Kingsbury Run von der Haut geschrubbt hatte.

»Es ist eine Schande«, sagte Agnes mit einer Handbewegung zu den verrosteten Baracken von Hobotown hinüber. »Eine nationale Schande. Sie kommen von überall her und hoffen auf Arbeit. Sie verlassen ihre Heimat, ihre Familien, weil sie eine Stelle wollen, hart arbeiten, ihren Lebensunterhalt verdienen, etwas zur Gesellschaft beitragen. Und wie behandelt die Gesellschaft sie? Erzählt ihnen, es gäbe keine Stellen. Tritt ihr Selbstwertgefühl in den Dreck. Und wenn sie dann zu gedemütigt sind, um jemals nach Hause zurückzukehren, lässt sie sie in dieser . . . Hölle leben.«

Die Nixe setzte zu einer Antwort an, aber Agnes hatte sich in Fahrt geredet und ihre Zuhörerin vollkommen vergessen.

»Unter Bedingungen, die für keinen Hund gut genug wären, und im Schatten von dem da.« Sie zeigte zu einem fernen, im Mondlicht glitzernden Wolkenkratzer hinüber, und ihr Mund verzog sich vor Verachtung. »Einem Denkmal der amerikanischen Gier, das diesen armen Seelen vorführen soll, was sie niemals haben werden.«

Die Nixe wartete einen Augenblick, um sicher zu sein, dass Agnes mit ihrer Tirade fertig war. »Aber sie umzubringen scheint daran nichts zu ändern.«

»Es wird etwas ändern. Bald werden die Blinden sehen.

Selbst dieser arrogante Junge wird verstehen.«

Die Nixe fragte nicht, wer der arrogante Junge war sie hatte keine Lust, sich einen weiteren Monolog über die Unfähigkeit von Eliot Ness anzuhören, über den neuen jungen Polizeichef, der gerade mit den Spielhöllen und Mafiabanden aufräumte, gegen den umgehenden Serienmörder aber machtlos zu sein schien.

»Sechs enthauptete Opfer«, wütete Agnes. »Aber sehen sie eine Verbindung? Oha, wir scheinen eine Welle von Enthauptungen in der Stadt zu haben!«

»Allmählich merken sie etwas«, sagte die Nixe. »Artikel in jeder großen Zeitung. Die Angst breitet sich aus.«

»Und wird sich weiter ausbreiten. Eine Welle der Angst soll die Stadt reinigen.«

Die Nixe lächelte. Immerhin schon besser.

»Der Zorn Gottes soll über sie kommen «

»Agnes? Es wird bald hell.«

»Oh?« Agnes sah zum Himmel auf. »Ja, richtig. Danke.«

Die Nixe verlieh Agnes die Kraft, die Leiche des Landstreichers in zwei Hälften zu teilen.

»Darf ich einen Vorschlag machen?«

Ein abruptes Nicken, als Agnes die Beine abzusägen begann.

»Wirf die Teile in den Fluss. Irgendjemand wird sie treiben sehen. Aber versteck den Kopf.« Sie überlegte. »Und die Hände auch. Dann werden sie den Fluss absuchen müssen, und das wird Aufmerksamkeit erregen.«

Agnes hielt inne und starrte in die Nacht hinaus; dann nickte sie. »Ja, das werde ich tun. Danke.«

»Ich helfe gern.«

Der wahnsinnige Schlächter von Kingsbury Run. Agnes hasste den Namen, den die Presse ihr gegeben hatte. Die Nixe stimmte zu er war wirklich etwas krude. Wahnsinnig? Ja. Aber Schlächter das ging zu weit. Agnes hatte eine medizinische Ausbildung; spätestens bei der Autopsie hätten sie das merken müssen.

Tatsächlich hatten mehrere Leute spekuliert, dass der Mörder Mediziner war, aber die Öffentlichkeit zog die Vorstellung von einem rasenden Fanatiker mit blutigem Hackebeil vor. Und wenn ihnen das mehr Angst machte, würde die Nixe sich nicht beschweren.

Wenn sie durch Agnes’ Krankenhaus gingen, schwelgte die Nixe in den Angstgefühlen, die in der Luft hingen. In einer Ecke flüsterten zwei Wohnsitzlose etwas von einem Schatten, den sie aus der Erde hatten aufsteigen sehen, das Fleischermesser in der Hand. Zwei jüngere Männer in Arbeitsstiefeln tauschten

»geheime« Details über die Verstümmelungen aus und versuchten sich gegenseitig zu überbieten, während eine junge Mutter ihren Kindern die Ohren zuhielt, ihre Augen waren dunkel vor Furcht.

Agnes selbst merkte nichts von dem Chaos, das sie verursachte, sie dachte nur an ihre Aufgaben. Heilte die Leute am Tag, ermordete sie in der Nacht. Natürlich wäre es noch besser gewesen, wenn Agnes das Ironische der Angelegenheit hätte sehen können, statt das Töten mit der Begeisterung eines Fabrikarbeiters zu erledigen, der eine ZwölfStundenSchicht einlegen muss. Die Nixe hatte gehofft, sie bekehren zu können, ihr etwas von der Freude an Tod und Kummer und Chaos zu vermitteln, aber inzwischen wusste sie, es würde nicht dazu kommen.

Wenn sie weiter drängte, würde sie zum ersten Mal von einer lebenden Partnerin verstoßen werden. Und das würde sie nicht riskieren dafür waren hier noch zu viele Schwelgereien zu erwarten.

Agnes suchte gerade nach ihrem dreizehnten Opfer jedenfalls hoffte die Nixe dies. Man hatte den enthaupteten Mann und die Frau schließlich doch noch gefunden, die Leichen, die Agnes in der East Ninth Street hinterlassen hatte, und zum ersten Mal herrschte wirkliche Panik in der Stadt. Für die Nixe war offensichtlich, was Agnes jetzt tun sollte. Wieder zuschlagen, den nächsten Mord noch entsetzlicher gestalten. Aber Agnes sah die Dinge anders. Jetzt, nachdem man aufmerksam geworden war, wollte sie abwarten, ob die Stadt ihre Botschaft verstanden hatte. Sie hatten sich seit zwei Tagen über die Frage gestritten, und schließlich hatte die Nixe Agnes zu diesem Spaziergang überreden können.

Als sie die Straße entlanggingen, sah die Nixe eine Gestalt durch den Schatten gleiten.

»Da drüben«, sagte sie. »Links. Was ist das?«

Agnes’ Blick flog so schnell hinüber, dass die Nixe noch ein Flackern auffing.

Seit zwei Tagen hatte sie Agnes jetzt erklärt, dass jemand sie verfolgte. Der Verfolger hielt sich im Schatten, aber die Nixe hatte festgestellt, dass er selbst keinen Schatten warf, und das konnte nur eins bedeuten er war ein Geist. Wahrscheinlich ein Engel. Sie hatte schon einmal mit einem zu tun gehabt und war ohne weiteres mit ihm fertig geworden, aber sie war nicht dumm genug, die Bedrohung zu ignorieren.

Es war ein Engel gewesen, der sie seinerzeit in diese paranormale Höllendimension geschleudert hatte, in der sie zwei Jahrhunderte verbracht hatte. Es konnte wieder geschehen. Als QuasiDämonin war sie für die verdammten Richterschwerter unverletzlich gewesen, aber seit sie einmal menschliche Gestalt angenommen hatte, hatte sie diesen Schutz verloren.

Agnes hatte ihre Warnungen mit einem Gleichmut abgetan, der die Nixe mit wortloser Rage erfüllte. Solange es dem Verfolger nicht um sie selbst ging, interessierte er Agnes nicht. Die Nixe sah ihre Vermutung bestätigt, dass sie für Agnes nicht mehr sonderlich wichtig war.

Agnes suchte sich einen Weg eine mit Müll übersäte Straße hinunter, als sie stehen blieb und die Luft einsog.

»Rauch«, murmelte die Nixe. »Irgendwas brennt hier.«

Agnes rannte stolpernd weiter. Als sie um die nächste Ecke bogen, wurde der Himmel orange. In der Ferne stiegen Flammen in den Nachthimmel.

»Nein«, flüsterte Agnes. »Nein.«

Sie stürzte weiter. Hobotown stand in Flammen. Feuerwehrautos waren bereits ringsum aufgestellt, doch die Feuerwehrmänner standen einfach da, lehnten sich auf ihre Schaufeln, saßen auf umgedrehten Eimern und sahen zu, wie die Barackenstadt brannte.

Die Nixe horchte auf die Schreie der Sterbenden. Es gab doch nichts Besseres, als lebendig zu verbrennen. Aber sie konnte nichts als die Rufe und das Lachen der Polizisten und Feuerwehrleute ausmachen. Irgendwann fing sie schließlich einen willkommenen Laut auf ein Schluchzen. Dort hinten wurden Männer in eine Reihe von Polizeitransportern verfrachtet.

Während sie noch hinübersah, kam ein junger Mann in einem langen Mantel hinter der Reihe von Autos hervor. Eliot Ness

die Nixe kannte ihn von den Zeitungsartikeln, über denen Agnes brütete.

»Abfackeln bis auf die Grundmauern«, sagte er. »Wenn sie keinen Ort zum Zurückkommen mehr haben, ist das Problem gelöst.«

»Nein«, flüsterte Agnes.

Sie taumelte. Die Nixe spürte einen scharfen Schmerz. Agnes krallte die Hände in die Brust, keuchte und sank zu Boden.

»Nein!«, rief die Nixe. »Steh auf!«

Agnes lag auf dem Rücken, ihr Mund öffnete und schloss sich, ihre Augen waren aufgerissen, sahen aber nichts mehr.

Die Nixe heulte auf vor Frustration, während ihr Geist sich bereits von Agnes zu lösen begann. Aber sie konnte sich nicht endgültig losreißen. Agnes starb, und die Nixe war gefangen, an Agnes’ irdische Gestalt gebunden. Sie kämpfte, und dann trat eine Gestalt durch die Wand des Gebäudes neben ihnen.

Ein dunkler, attraktiver Mann.

»Nein!«, kreischte sie. »Ich gehe nicht!«

Der Mann blieb stehen, legte den Kopf zur Seite, studierte ihr Gesicht. Als sie ihm in die Augen sah, wurde ihr schlagartig klar, dass er kein Engel war.

Er kam näher und ging neben ihrer Geistgestalt in die Hocke.

»Du scheinst ein Problem zu haben, meine Schöne«, sagte er auf Bulgarisch.

Die Nixe fauchte und versuchte sich frei zu winden.

»Ich bin geschickt worden, um dich einzufangen«, sagte er.

»Und man hat mir eine schöne Belohnung versprochen. Ich brauche nichts weiter zu tun, als den Engel zu rufen, mit dem ich zusammenarbeite, und es ist vorbei.« Er lächelte. »Es sei denn, du kannst mir ein besseres Angebot machen.« Er setzte sich ganz auf den Boden. »Sie scheint zum Sterben eine ganze Weile zu brauchen. Sollen wir uns währenddessen über meine Bedingungen unterhalten?«

16

I ch verspürte einen Stich von schlechtem Gewissen, weil ich das Gefängnis verlassen hatte, ohne mich von dem kleinen Jungen zu verabschieden. Jetzt war es zu spät, aber ich würde zurückkommen, wenn alles erledigt war.

Ich traf Kristof bei mir zu Hause an und erzählte ihm, was passiert war.

»Warum bringt man sie nicht einfach um?«, fragte er, als mein Bericht zu Ende war.

Ich warf die Hände in die Luft. »Genau! Wieso ist das anderen Leuten eigentlich nicht so klar wie uns?«

Er legte die Füße auf die Ottomane, eine Haaresbreite von meinen entfernt. »Diese Janah hat gesagt, du sollst die letzte Partnerin finden. Ist das die Einzige, die dir nützen kann?«

»Nein, ich glaube, das war bloß, weil sie am einfachsten zu finden ist. Bei den anderen weiß ich nicht mal, ob sie noch am Leben . . . « Mein Kopf fuhr hoch, unsere Augen trafen sich.

»Ich verstehe. Ich könnte mir auch eine suchen, die schon übergetreten ist, und herausfinden, ob sie jetzt, nach ihrem Tod, noch eine Verbindung zu der Nixe hat. Dazu muss ich mit den Parzen reden, mir einen Besucherausweis für die entsprechende Höllendimension geben lassen . . . « Ich sah ihn an. »Willst du mitkommen?«

Er lächelte. »Ich dachte schon, du würdest nie fragen.«

Die Parzen schlugen meine Bitte um einen Besucherpass kurzerhand ab, versprachen aber immerhin, mir eine verlässliche Kontaktperson zu besorgen. Das allerdings würde eine Weile dauern, und so lange würde ich mich gedulden müssen.

Und damit schickten sie uns nach Hause.

Als wir in meinen altmodischen Korbschaukelstühlen auf der Veranda saßen, sagte ich zu Kris: »Die Parzen und Trsiel glauben, es ginge hier einfach darum, Spuren nachzugehen.

Aber wenn man seine Beute fangen will, muss man sie verstehen.«

»Du willst die Nixe besser verstehen lernen?«

»Genau. Ich will mit jemandem reden nicht mit einer Partnerin, sondern mit jemandem, der sonst noch da war und gesehen hat, was passiert ist. Jemand, der bereit ist, mit mir zu reden. Einem Opfer vielleicht . . . «

»Aber außer in Filmen verraten die wenigsten Killer ihrem Opfer ihre Beweggründe. Die Frauen, die die Parzen dir gezeigt haben, hatten beide männliche Partner. Der Erste davon ist noch am Leben, der andere ist vor etwa zehn Jahren im Gefängnis gestorben. Nach dem, was ich noch weiß, haben er und seine Frau nicht gerade ein Bild der ehelichen Harmonie geboten. Nachdem sein Urteil verlesen worden war, mussten sie ihn rausschleifen, während er sie verfluchte.«

Ich grinste. »Vielleicht hätte er also gar nichts dagegen, sich mit ein paar unschmeichelhaften Geschichten zu revanchieren?«

»Hoffen wir’s.«

Jaime hob ihre Augenmaske an, um mich zu mustern. »Der erste freie Abend seit zwei Wochen, und du willst, dass ich ihn auf einem Friedhof fünfhundert Meilen von hier entfernt verbringe?«

Ich ließ mich in den Sessel fallen und zog die Füße hoch.

»Lassen wir den Besuch dort also, machen wir die Fernversion des Rituals.«

»Du meinst die, die meine Kräfte für eine Woche erschöpfen und mich drei Tage völlig lahmlegen wird? Selbst wenn ich dazu Lust hätte was ich nicht habe , die Fernversion funktioniert nicht bei Leuten, die nicht in einer normalen Jenseitsdimension stecken.«

»Na ja, es gibt ja noch eine Alternative.«

»Gut.«

»Wir könnten den Geist von Amanda Sullivans fünfjähriger Tochter kontaktieren, sie fragen, ob sie an Mommy irgendwas Merkwürdiges bemerkt hat, bevor sie ertränkt wurde.«

Jaime stierte mich wütend an, dann nahm sie die Maske ab und schleuderte sie quer durchs Zimmer. »Ich gehe packen.«

Ich brauchte selbst etwa zwei Stunden, um den Friedhof zu erreichen ich teleportierte mich so nahe heran, wie ich konnte, und legte den Rest der Strecke zu Fuß zurück. Während ich dort auf Jaime wartete, brachte ich eine Markierung an und sah rasch in Portland bei Savannah vorbei. Sie war in der Schule und brütete über einer Mathematikarbeit. Mathe war noch nie ihr bestes Fach gewesen, und ich hing eine Weile herum und versuchte ihr die Antworten telepathisch zu übermitteln, aber es ist leider eine Tatsache, dass Mathe auch mein bestes Fach nicht war. Hätte ich Erfolg gehabt, hätte ich ihr wahrscheinlich eine Fünf beschert, und so gab ich ihr nur einen VielGlückKuss und kehrte auf den Friedhof zurück. Die Nacht war klar und dank des Dreiviertelmondes, der am Himmel stand, nicht einmal sonderlich dunkel. Ich setzte mich auf einen Grabstein und wartete. Es war eins dieser Doppelgräber für ein Ehepaar nur dass die Frau noch nicht tot war; auf ihrer Hälfte standen nur der Name und das Geburtsdatum. Einigermaßen unheimlich, wenn Sie mich fragen.

Der Mann war vor zwanzig Jahren gestorben, und jedes Mal, wenn sie zur Grabpflege vorbeikam, sah sie ihren Namen auf diesem Grabstein, den leeren Fleck, der nur darauf wartete, mit ihrem Sterbedatum gefüllt zu werden. Da rede noch einer von memento mori.

Na ja, immerhin hatte sie überhaupt ein Grab. Mich hatte man irgendwo in einem Wald in Maine verscharrt. Was andererseits wieder den Vorteil hat, dass ich für die Nekromanten schwer zu finden bin.

Um Punkt Mitternacht flankte eine in einen Umhang gehüllte Gestalt über die Mauer. Okay, es war vielleicht eher gegen halb eins, sie trug einen langen Mantel statt eines Umhangs, und sie fiel eher über die Mauer, als dass sie gesprungen wäre, aber ich versuche dies hier atmosphärisch zu gestalten, okay?

Jaime entdeckte mich und kam mit wehendem Mantel zu mir herüber. Darunter trug sie einen schwarzen Overall, was eine fabelhafte Verkleidung gewesen wäre . . . wäre da nicht das flammend rote Haar gewesen, das selbst bei diesem Licht noch leuchtete wie eine Fackel.

»Ooh, toller Mantel«, sagte ich, als sie näher kam. »Ist das Lammnappa?« Ich sah an mir hinunter. TShirt und Jeans.

»Hm. Zu schäbig für den Anlass, wie üblich.«

»Ich glaube nicht, dass du dir Gedanken zu machen brauchst, jemand könnte dich sehen. Außer er ist ein Geist.«

»Aber das ist ja gerade das Problem. Wenn unser Geist mich so sieht, weiß er sofort, dass ich auch einer bin. Geben wir ihm besser keine Anhaltspunkte.«

Ich schloss die Augen und wechselte meine Kleidung gegen ein rein schwarzes Outfit aus Rollkragenpullover, enge Jeans, kurze Motorradjacke und kniehohe Stiefel. Wenn man sich schon auf einem Friedhof herumdrücken muss, kann man dabei wenigstens gut aussehen. Und so, als hätte man dort etwas zu erledigen.

17

Ich führte Jaime zu Robin MacKenzies Grab, das ich zuvor schon identifiziert hatte, und wartete, während sie ihre Gerätschaften aufbaute und dann eine geschlagene Stunde damit verbrachte, MacKenzie herauszulocken. Die Parzen und ihre Kollegen halten die unerfreulicheren Bereiche des Jenseits normalerweise unter Verschluss. Irgendwann spuckte die Hölle ihn schließlich aus und uns vor die Füße. Er schwitzte und zitterte, und es dauerte eine weitere Viertelstunde, bis er sich so weit erholt hatte, dass wir mit den Fragen anfangen konnten.

Die Höllendimension schien den Mann etwas strapaziert zu haben. Was mir für ihn wirklich, wirklich leid tat.

Um sicher zu gehen, dass wir den Richtigen hatten, fragten wir ihn nach dem Namen seiner Frau. Und an der Art, wie er die Antwort knurrte, wussten wir, dass wir wirklich mit Robin MacKenzie sprachen.

Er konnte sich nicht weiter aufrichten als auf die Ellenbogen.

»Ist sie tot?«, fragte er, seine Stimme war heiser, als gebrauchte er sie nicht oft. »Bitte sagt mir, dass sie tot ist.«

»Ist sie«, antwortete ich.

Seine Zunge glitt über die aufgesprungenen Lippen, seine Augen flackerten. »Hat sie gelitten?«

»Dazu kommen wir noch«, sagte ich. »Du scheinst mit deiner Frau nicht sehr glücklich gewesen zu sein.«

»Wisst ihr, was die mit mir gemacht hat?«

»Nein, aber du wirst es uns sicher gleich erzählen.«

»Es war ihre Idee alles. Alles, was wir getan haben. Aber als sie uns erwischt haben, hat sie einen Deal mit denen gemacht.

Hat ihnen erzählt, dass sie eigentlich eins von den Opfern war.

Die unterdrückte Frau, die gezwungen wurde, mitzuspielen.

Und die haben es ihr abgekauft. Die haben es ihr abgekauft!«

»Natürlich haben sie das. Niemand will glauben, dass eine Frau zu so was in der Lage ist.«

Er richtete sich auf. »Genau! Und dabei war es auf den Aufnahmen zu sehen, wie sie lacht und mich anspornt.«

»Sie hat dich drangekriegt«, sagte ich. »Aber ich bin hier, um dir eine Chance auf eine zweite Runde zu geben. Also, deine Frau ist tot, okay? Aber sie ist nicht in der Hölle.«

»Was?«

»Eine schwer wiegende Ungerechtigkeit, ich weiß. Aber du kannst das ändern.«

»Ich soll euch beweisen, dass sie es getan hat? Ich könnte «

»Nein, das wissen wir schon. Aber wir brauchen Einzelheiten, um vor Gericht darlegen zu können, wie ihr Geisteszustand «

»Geisteszustand? Sie war total verdreht. Daneben. Total besessen von diesem schottischen Miststück «

»Welchem schottischen Miststück?«

»Suzanne Simmons. Hat damals in den Sechzigern ein paar Mädchen umgebracht.«

Das klang vertraut. »Diese Simmons hatte sie einen Partner?«

»Yeah, ihren Mann oder Freund oder so. Sie haben also diese Mädchen umgebracht und sie dann draußen in der Pampa verscharrt.«

»Und Cheri war an dieser Geschichte interessiert?«

»Interessiert? Besessen war sie davon. Hat nicht mehr davon aufgehört. Sie hatte es immer mit diesem Mist, Serienmördern und so. Damit hatten wir es alle beide. Aber dann hat sie plötzlich nur noch von dieser schottischen Frau geredet, mir dauernd von ihr erzählt. Es war unheimlich. Ich hab schon fast gedacht, sie wäre so eine Art Reinkarnation von dieser Suzanne Simmons, aber ich hab’s nachgeprüft, und die Simmons war noch am Leben.«

»Dann hat Cheri also über ihre Morde geredet.«

»Und geredet und geredet. Sie hatte es dauernd davon, dass diese Simmons den Schlüssel gefunden hatte. So hat sie’s genannt. Den Schlüssel. Wir sollten aufhören, rumzuspielen drüber zu reden, es uns auszumalen und es wirklich machen.«

»Jemanden umbringen.«

»Nur, dass wir sie nicht einfach umbringen durften, wir mussten es auf eine bestimmte Art tun.«

»So wie Suzanne Simmons?«

»Nein, das war ja das Komische dran. Was wir da machen sollten, hatte überhaupt nichts mit Simmons zu tun. Sie hatte diese Anweisungen «

»Anweisungen?«

»Yeah. Anweisungen. Wie aus einem Handbuch. Zuerst waren es Sachen, über die wir schon geredet hatten. Aber dann ist es immer abgedrehter geworden, und ich habe gesagt, wenn wir das machen, erwischen sie uns. Aber sie hat gesagt, es gehörte zu einem Plan und wir wären geschützt.«

»Wie Suzanne Simmons, die Gefängnis auf Lebenszeit bekommen hat.«

»Hey, ich bin nicht dumm. Cheri hat gesagt, bei Simmons wäre etwas schiefgegangen und es wäre seither in Ordnung gebracht worden.«

»Hm.« Ich musterte ihn von oben bis unten. »Sehr gründlich in Ordnung gebracht. Was war das für ein Schlüssel?«

»Oh, mystischer Dreck. Zauberkraft und ewiges Leben. Und toller Sex.« Er machte eine Pause. »Damit hat sie immerhin recht gehabt. Der Sex war verdammt gut.«

Ich dachte an die Szene aus meiner Vision das Mädchen, das nach seiner Mutter schrie , und meine Hände ballten sich zu Fäusten. Jaime warf mir einen warnenden Blick zu, aber ich brauchte ihn nicht. MacKenzie lieferte, also hatte ich keine Entschuldigung, die Antworten aus ihm herauszuprügeln.

Noch nicht.

»Nachdem Cheri damit angefangen hatte wie lang hat es gedauert, bis ihr getötet habt?«

»Sie wollte gleich anfangen, aber ich hab sie zurückgehalten.

Ich habe versucht, ihr Vernunft beizubringen.«

»Uhoh.«

Sein Kopf fuhr hoch, er starrte mich wütend an. »Doch. Ich habe gesagt, das geht zu weit. Ich wollte einfach ein bisschen Spaß mit den Mädchen.«

Meine Nägel gruben sich in die Handflächen. »Sie vergewaltigen, meinst du.«

»Ja. Aber ein Killer bin ich nicht. Sie hat sich drauf eingelassen, aber hinterher hat sie gesagt, jetzt können wir das Mädchen nicht einfach gehen lassen. Und damit hatte sie ja auch nicht unrecht.«

Jaime legte mir eine Hand auf den Arm. Spüren konnte ich es nicht, aber ich verstand die Bedeutung und verkniff mir das Fauchen.

Bevor ich die nächste Frage stellen konnte, begann MacKenzie plötzlich zu verblassen. Jaime flüsterte eine Beschwörung, und er war wieder da.

»Sie holen ihn zurück, Eve«, murmelte Jaime.

»Eine letzte Frage.« Ich ging auf MacKenzie zu, bis ich über ihm aufragte. »Gefällt es dir da, wo du gerade bist? Ist es hübsch dort?«

»Wwas? Soll das ein Witz sein? Weißt du, wo ich bin? Die Ketten dich an einen Felsen in der Wüste und schicken Bussarde, die dir das Fleisch von den Knochen picken? Das würde ich nämlich machen. Genaugenommen, ich glaube, das werde ich ihnen vorschlagen, weil du nämlich genauso sehr ein mörderisches Stück Dreck bist wie deine Frau.«

MacKenzie wich zurück. »Nein, das hast du falsch verstanden. Ich habe nie «

»Oh, und weil wir’s gerade von deiner Frau haben. Ich bin sicher, sie kriegt ihre Belohnung irgendwann, aber erst mal habe ich dich angelogen. Sie leidet nicht. Sie ist nicht mal tot.

Sie lebt eigentlich ganz gut von dieser millionenschweren Lebensversicherung, die sie vor dem Prozess auf deinen Namen abgeschlossen hat.«

»Was?« Er sprang auf. »Nein. Absolut unmöglich. Ich habe nie was unterschrieben «

»Ein Wort, Robin. Urkundenfälschung.« Ich beugte mich über die Verbene in Jaimes Räucherschale. »Oh, und noch ein Wort.«

Ich blies ihm den aufsteigenden Rauch ins Gesicht und lächelte ihn an. »Arschloch.«

Robin MacKenzie stürzte ins Geisterreich zurück; sein Geschrei hallte noch über den Friedhof, nachdem er bereits verschwunden war.

»Na, dem hast du deine Meinung ziemlich deutlich gemacht«, bemerkte Jaime. »Hoffen wir nur, dass du ihn nicht noch mal brauchst.«

»Werde ich nicht.«

Ich verabschiedete mich von Jaime und sah zu, wie sie zu ihrem Mietwagen ging. Als sie fort war, hörte ich hinter mir jemanden applaudieren.

Ich drehte mich um und sah Kristof an einem Grabstein lehnen.

»Gute Vorstellung«, sagte er. »Ihm vorzulügen, dass seine Frau noch lebt, war gut. Aber das mit der Versicherung? Geradezu inspiriert.«

»Ein bisschen viel Klischee, meinst du nicht?«

»Hat doch funktioniert, oder? Ein paar zusätzliche Scheite für sein privates Höllenfeuer.« Er winkte mich neben sich auf den Grabstein. »Deine Nixe hat dieser Cheri also sowohl ein Vorbild als auch eine Gebrauchsanweisung geliefert. Wieder ein Pärchen, das Teenager umbringt, aber mit genug Veränderungen im Vorgehen, um die Sache für die Nixe interessant zu machen.«

»Nicht einfach nur interessant. Cheri hat ihrem Mann erzählt, bei Suzanne Simmons wäre etwas schiefgegangen, aber das Problem wäre behoben worden.«

»Sie verfeinert also ihre Methoden. Und sie ist von Simmons über Cheri MacKenzie zu Amanda Sullivan gezogen, wahrscheinlich mit noch ein paar Stationen dazwischen.«

»Sullivan war ein Lückenbüßer«, sagte ich. »Die Nixe ist eben lang genug geblieben, um ihr bei dem Mord an ihren Kindern zu helfen. Dann hat sie dafür gesorgt, dass sie erwischt wurde. Was die Ausbeute an Chaos angeht, da verhält sich Cheri MacKenzie zu Amanda Sullivan wie ein Essen im Steakhaus zu einem Hamburger.«

»FastfoodMord.«

Ich setzte mich auf. »Das ist es! Wenn man richtig Hunger hat, dann nimmt man, was gerade kommt, ganz gleich, wie es schmeckt. Die Nixe will nicht einfach nur Chaos, sie braucht es. Warum hätte sie sonst «

Ein bläulicher Nebel trieb heran. Bevor ich mich auch nur wappnen konnte, hatten die Sucher mich wieder nach unten gesaugt.

18

Ich stand vor einem schmucklosen, rechteckigen Haus, zweistöckig, weiß verkleidet und mit dunklen Läden.

»Sieht mir nicht nach dem Thronsaal aus«, murmelte ich.

»Ganz entschieden nicht.«

Ein Geräusch ließ mich zusammenfahren, dann sah ich Kristof neben mir stehen.

»Was ich hier mache?« Er zuckte die Achseln. »Weiß ich auch nicht. Entweder haben die Sucher mich aus Versehen mit hergeholt, oder die Parzen wollen, dass ich helfe.«

Wir sahen uns um. Die Sonne war noch kaum über den Horizont gestiegen, aber Mutter Natur hatte den Schalter kräftig aufgedreht das Licht brannte schon jetzt; bis zum Mittag würden tropische Temperaturen herrschen. Ich sah wieder zu dem Haus hin. Alle Läden waren geschlossen. Klimaanlage?

Hinter mir trabte ein Pferd vor einem Buggy vorbei. Okay, wahrscheinlich keine Klimaanlage.

»Spätes neunzehntes Jahrhundert«, sagte Kris. »Kennst du eine Jenseitsregion, die so aussieht?«

»Boston . . . aber dies sieht nicht aus wie Boston. Und im Jenseits ist es niemals so warm.«

Auf der anderen Straßenseite öffnete sich eine Tür. Ein Mann in Anzughose und einem langärmligen weißen Hemd kam rasch heraus, einen Hut und eine schwarze Tasche in der Hand.

Er hatte grau durchzogenes Haar, eine hohe Stirn und einen schmalen Schnurrbart, der in die Koteletten überging. Er trat auf die Straße hinaus, überquerte sie, ohne einen Blick nach rechts oder links zu werfen . . . und ging geradewegs durch mich hindurch.

»Okay«, sagte ich. »Wenn er ein Geist ist, wie hat er das gemacht?«

Der Mann öffnete das Gartentor des Hauses, vor dem wir standen, stieg die paar Stufen vor der Haustür hinauf und klopfte. Ein zweiter Mann öffnete die Tür. Er war groß und dünn, hatte weißes Haar und einen weißen Bart und trug trotz der Hitze einen schwarzen Anzug mit zugeknöpftem Jackett. Er begrüßte den jüngeren Mann kurz angebunden und mürrisch.

»Ich wollte nur schnell vorbeisehen und fragen, ob es Ihrer Familie bessergeht«, sagte der Nachbar.

»Bessergeht?«

»Ja, Ihre Frau ist vorhin vorbeigekommen und hat gesagt, Sie alle hätten vor Magenschmerzen nicht schlafen können. Sie dachte, vielleicht hätte Ihnen jemand etwas ins Essen getan «

»Ins Essen? Das ist ja lächerlich. Abby würde nie behaupten «

»Oh, Sie wissen doch, wie Frauen sind. Manchmal machen sie sich einfach Sorgen. Mir schien bei ihr alles in Ordnung zu sein «

»Es ist alles in Ordnung«, sagte der Mann. »Bei uns allen.

Und wenn Sie vorhaben, uns diesen Besuch in Rechnung zu stellen «

»Also hören Sie, Andrew, Sie wissen doch, ich würde nie «

»Das will ich auch hoffen«, sagte Andrew und schlug die Tür zu.

Der Arzt schüttelte den Kopf, hängte sich seine Tasche um, machte kehrt und ging zum zweiten Mal durch mich hindurch.

Ich bemerkte eine Bewegung hinter einem der Fenster im Erdgeschoss eine junge Frau war dabei, die Scheiben zu putzen. Ihr Gesicht war rot vor Anstrengung und Hitze. Ihrem schlichten Kleid und der Größe des Hauses nach musste sie ein Dienstmädchen sein.

»Mach doch das Fenster ein Stück auf«, sagte ich. »Du hast Rechte, Mädchen. Niemand sollte das bei dieser Hitze machen müssen.«

Die Augen der jungen Frau wurden rund. Sie ließ ihren Lappen fallen und verschwand.

»Mist!«, murmelte ich. »Hätte ich das nicht sagen dürfen?«

Eine Tür knallte. Wir folgten dem Geräusch bis zur Rückseite des Hauses, wo wir das Dienstmädchen dabei antrafen, wie es sich im Garten erbrach.

»Die lassen sie Fenster putzen, wenn es ihr so schlechtgeht?«, sagte ich. »Gibt es da eigentlich keine Arbeitsschutzvorschriften?«

»Nicht im wirklichen neunzehnten Jahrhundert«, sagte Kris,

»und ich habe den Verdacht, da sind wir gerade.«

Bevor ich antworten konnte, fragte eine Stimme: »Ist dir wieder schlecht geworden, Bridget?«

Eine zweite, ebenso schlicht gekleidete junge Frau beugte sich aus der Tür.

»Das kommt davon, dass du jeden Morgen diese Eimer hinaustragen musst. Davon würde wirklich jedem Menschen schlecht werden. Und er könnte sich ein Wasserklosett leisten, aber er ist einfach zu knauserig.«

Bridget stöhnte und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Es sind nicht die Eimer. Es war das Essen gestern Abend. Ich habe ihm gesagt, der Hammeleintopf ist nicht mehr gut. Aber er hat gesagt «

»Bridget?« Ein unansehnlicher Klops von einer Frau mittleren Alters erschien auf der Hintertreppe. »Bridget! Was treibst du da draußen den ganzen Tag schwatzen? Ich will die Fenster sauber haben.«

»Ja, Ma’am.«

Bridget nahm das mitfühlende Nicken ihrer Kollegin zur Kenntnis und schleppte sich wieder ins Haus. Kristof und ich folgten ihr durch die Küche und ein Zimmer mit einem Sofa, mehreren Sesseln und einem Kamin. Der Hausherr Andrew schien sich gerade zu verabschieden; er nickte seiner Frau und einer rundgesichtigen, dunkelhaarigen jungen Frau auf dem Sofa zu und verschwand in Richtung Vordertür. Ihm schien der verdorbene Eintopf jedenfalls nichts angehabt zu haben.

Nebenan, in einer förmlicheren, eleganteren Version des Raums, den wir gerade verlassen hatten, griff Bridget nach ihrem Lappen und machte sich wieder an die Arbeit. Im Wohnzimmer beschäftigte sich die jüngere Frau war sie die Tochter des Hauses? mit ihrer Tapisseriestickerei, während die ältere, von der Andrew als Abby gesprochen hatte, eine Tischdecke auszuschütteln begann.

Die junge Frau war entschieden alt genug, um verheiratet zu sein, aber ich sah keinen Ring an ihrer Hand. Sie hielt den Kopf gesenkt und hatte die Schultern nach vorn gezogen, die Haltung einer Frau, die daran gewöhnt war, sich vor der Welt zu verstecken. Ihr hellblaues Kleid war schon zu oft gewaschen worden; gegen das dunkle Sofa wirkte sie wie ausgeblichen.

Aber trotz der scheinbaren Zaghaftigkeit führte sie die Nadel mit raschen, selbstsicheren Stichen.

Abby war inzwischen dazu übergegangen, die Uhr auf dem Kaminsims abzustauben. Die beiden Frauen wechselten bei der Arbeit kein einziges Wort, nicht einmal einen Blick, als sei jede von ihnen allein im Zimmer. Nach einer Weile verschwand Abby in den Vorraum, und ich hörte ihre Schuhe eine Treppe hinaufklicken. Die jüngere Frau hob den Kopf und lauschte auf die Schritte, und zu meiner Verblüffung sah ich in ihrem Blick jetzt die gleiche kühle Selbstsicherheit, mit der sie zuvor die Nadel geführt hatte.

»Okay, das hier führt zu nichts«, sagte ich. »Vielleicht hätte ich Andrew folgen sollen.«

Der Blick der jungen Frau hob sich unvermittelt, und einen Sekundenbruchteil lang trafen sich unsere Augen, dann sah sie wieder auf ihre Handarbeit hinunter.

»Hey«, sagte ich. »Hast du gesehen «

Bridget kam durchs Wohnzimmer gerannt und stürzte in die Küche hinaus; die Hintertür knallte, und Sekunden später hörte ich, wie sie sich draußen erneut erbrach. Die Frau auf dem Sofa hob den Kopf und sah zur Decke hinauf, wo ich Abbys Schritte herumhasten hörte. Dann stand sie auf, legte die Stickarbeit zur Seite und ging in den Vorraum hinaus.

»Ich schwör’s, gerade eben hat sie mich angesehen«, sagte ich zu Kristof, bevor wir ihr hinterherliefen.

Ich sah noch, wie die junge Frau die Haustür von innen verriegelte, bevor sie sich umdrehte und die Treppe hinaufzusteigen begann.

»Hey!«, rief ich hinter ihr her. »Warte!«

Sie blieb nicht stehen. Oben angekommen, ging sie den Flur entlang und durch eine offene Tür in ein Zimmer, in dem Abby gerade das Bett machte. Ein Paar Männerhosen hing über einem Stuhl, und Rasierzeug lag auf der Kommode neben einer Waschschüssel, in der Seifenschaum und Bartstoppeln schwammen. Auf dem Fußboden stand ein offener Koffer.

»Mach dich nützlich und schütte das Wasser weg, Lizzie«, sagte Abby.

Die jüngere Frau Lizzie rührte sich nicht von der Stelle.

»Ich habe gestern Abend gehört, wie Onkel John mit Vater geredet hat.«

»Hast du am Schlüsselloch gelauscht?«, fragte Abby.

»Ich hörte, Vater will sein Testament ändern.«

»Das ist seine Sache. Nicht deine.«

»Aber es ist meine Sache, oder nicht? Glaubst du, Emma und ich wüssten nicht, was du treibst? Erst überredest du Vater, deine Schwester in dem Haus an der Fourth Street wohnen zu lassen, dann lässt du dir das Eigentum an diesem Haus übertragen, und jetzt ein neues Testament.«

»Ich weiß nichts von einem neuen Testament«, sagte Abby.

Lizzie ging durchs Zimmer und sah zum Fenster hinaus, der Frau, die wohl ihre Stiefmutter sein musste, den Rücken zugewandt. »Es gibt also kein neues Testament?«

»Nein. Wenn dein Vater eins geschrieben hätte, hätte er mir davon erzählt.«

Lizzie nickte, ging zur Kommode und griff nach der Waschschüssel. Was auch immer da gerade in ihr aufgeflammt war, es schien wieder erloschen zu sein. Wir kehrten ins Erdgeschoss zurück, wo Bridget gerade einen Eimer mit schmutzigem Fensterputzwasser nach draußen schleppte. Ich sah zu, wie sie das Wasser dazu verwendete, das Erbrochene von vorhin wegzuspülen; dann ging sie zur Pumpe und füllte den Eimer nach.

»Mein Wasser selber pumpen zu müssen . . . «, sagte ich. »Gott sei Dank bin ich im zwanzigsten Jahrhundert geboren.«

Kristof zuckte die Achseln. »In hundert Jahren werden sie wahrscheinlich darüber staunen, dass wir unser Essen selber gekocht haben.«

Als wir ins Haus zurückkehrten, hämmerte jemand an die Haustür. Bridget kam angerannt, um zu öffnen; ich hörte sie murmeln: »Verriegelt, mitten am Tag!« Als sie den Riegel endlich geöffnet hatte, flog die Tür so plötzlich auf, dass Bridget rückwärts auf dem Fußboden landete. Vom oberen Ende der Treppe kam ein Lachen.

»Das war ein hübscher Schubs«, rief Lizzie ins Erdgeschoss hinunter.

Andrew kam mit langen Schritten herein, gab Bridget seinen Hut und ging mit dem weißen Paket, das er unter dem Arm hatte, ins Wohnzimmer. Ich sah ihn einen Schlüssel vom Kaminsims nehmen. Lizzie erschien in der Tür, damit beschäftigt, einen aufgegangenen Haken an ihrem Kleid wieder zu schließen.

»Schon wieder zurück, Vater?«

Er grunzte etwas darüber, dass er sich nicht wohl fühlte, und ging dann durch die Küche zur Hintertreppe. Ich folgte ihm nach oben zu einem Treppenabsatz mit einer einzigen Tür, die offenbar zu seinem Schlafzimmer führte; er ging hinein, kam ohne sein Paket wieder heraus, schloss die Tür hinter sich ab und kehrte ins Erdgeschoss zurück.

»Wo ist Abby?«, fragte er seine Tochter, als er ins Wohnzimmer kam.

»Sie hat eine Nachricht von einer kranken Freundin bekommen und ist zu ihr gegangen.«

Andrew grunzte etwas; dann streckte er sich auf dem Sofa äus, ohne auch riur die Krawatte zu lockern, und schloss die Augen.

Nachricht? Kranke Freundin? Wann war denn das passiert?

Ja, Moment, wir waren ein paar Minuten lang draußen gewesen und hatten Bridget beobachtet. Aber Abby musste wirklich in aller Eile davongerannt sein.

Bridget kam mit einem Wassereimer herein und warf einen Blick auf Andrew; Lizzie scheuchte sie ins Esszimmer, und ich folgte ihnen. Bridget machte sich wieder ans Fensterputzen, während Lizzie ein Bügelbrett auseinanderklappte und Taschentücher zu bügeln begann. Ich bekam Fetzen ihrer Unterhaltung mit, aber viel mehr interessierte mich das mit der

»Nachricht« und der »kranken Freundin«.

Ich ließ die Frauen schwatzen, schaute kurz nach Andrew, der inzwischen schnarchte, und ging die Treppe hinauf. Ich sah Abby, sobald ich im Obergeschoss angekommen war. Sie war immer noch im Gästezimmer, und die Tür stand offen. Es sah aus, als sei sie auf die Knie gefallen und dann mit dem Gesicht voran vornübergesackt. Eine Blutlache umgab sie. Ihr Kopf und ihre Schultern waren . . . zerhackt, es gab kein anderes Wort dafür. Ich hatte Tote gesehen, und ich hatte gewaltsame Tode gesehen, aber jetzt spürte sogar ich ein Würgen in der Kehle.

»Herrgott«, fluchte ich. »Wie was ?«

Kristof schob sich an mir vorbei und musterte den Raum mit dem Blick eines Staatsanwalts. Als ich das Zimmer betrat, wäre ich fast auf ein Stück von Abbys Kopfhaut getreten. Ich wich aus und starrte auf die Leiche hinunter.

Gleich der erste Hieb musste sie getötet haben. Hätte er es nicht getan, hätte Abby geschrien, und Bridget oder ich selbst hätten es gehört. Aber der Mörder hatte nach dem ersten Hieb nicht abgelassen. Ich sah zehn, zwanzig, vielleicht noch mehr Wunden tiefe Wunden. Die Wut, die hinter diesem Mord gesteckt haben musste, die unbändige Rage . . . ich stand da und starrte auf den Körper hinunter, und ich konnte mir nicht einmal vorstellen, wie viel Hass hier am Werk gewesen sein musste.

»Wer?«, fragte ich, während ich mich nach Kristof umsah.

Als unsere Blicke sich trafen, war mir klar, dass die Antwort offensichtlich war. Vollkommen offensichtlich. Aber ich dachte daran, wie Lizzie oben an der Treppe gestanden und über Bridgets Kampf mit der Tür gelacht hatte, wie sie gelassen Taschentücher gebügelt hatte, während ihre Stiefmutter tot im Gästezimmer lag. Von einer solchen Rage zu solcher Ruhe innerhalb weniger Minuten es war unvorstellbar. Was für ein Ungeheuer . . .

Ich sah noch einmal zu Abby hinüber. Und als ich es tat, kam mir ein alberner kleiner Reim aus meiner Kinderzeit in den Sinn.

Lizzie Borden mit dem Beile

Hackt Mama in vierzig Teile.

Das Ergebnis freut sie sehr

»Oh, Mist!«, sagte ich und stürzte zur Treppe.

Ich nahm zwei Stufen auf einmal und sprang am Fuß der Treppe durch die geschlossene Tür.

Lizzie stand im Mantel ihres Vaters neben dem Sofa, auf dem Andrew schlief, den Rücken zu mir gewandt. Ich sah, wie sie ein blutiges Beil hob und es niedersausen ließ.

Bei Papa wird’s ein Teil mehr.

19

Wir standen da und starrten, während Lizzie Borden den Kopf ihres Vaters in Stücke hackte. Dann legte sie das Beil zur Seite. Ihre Augen schlossen sich, und ihr Körper wurde steif, während sie sich auf die Zehenspitzen hob.

Kristof stieß mich an.

»Sieh mal«, flüsterte er.

Dort auf dem Sofa lag Andrew Borden, unblutig und unversehrt, und las die Morgenzeitung. Lizzie war bis zur Verbindungstür zwischen Küche und Salon zurückgewichen. Einen Augenblick lang sah sie verwirrt aus; dann kam sie herein, ihre Stickarbeit in der Hand.

Jemand klingelte an der Tür.

»Wer ist das um diese Tageszeit?«, knurrte Andrew, während er die Zeitung auf den Fußboden warf.

»Ich gehe hin, Vater.«

»Nein. Geh deiner Mutter helfen.«

Lizzie nickte, legte die Handarbeit hin und verschwand in die Küche.

Im Vorraum riss Andrew die Haustür auf und bellte einen kurzen Gruß an den Mann hin, der dort stand der Arzt, den wir vorhin von draußen gesehen hatten.

»Ich wollte nur schnell vorbeisehen und fragen, ob es Ihrer Familie bessergeht«, sagte er gerade.

»Bessergeht?«

»Ja, Ihre Frau ist vorhin vorbeigekommen und hat gesagt, Sie alle hätten vor Magenschmerzen nicht schlafen können . . . «

»Es fängt von vorn an«, sagte ich. »Haben wir irgendwas verpasst? Spielen die Parzen mir das gleiche Stück noch mal vor?«

»Jemand spielt es noch einmal, aber ich glaube nicht, dass es deinetwegen passiert.«

Andrew kam ins Zimmer zurückgestürmt und fuhr Frau und Tochter gereizt an. Sekunden später rannte Bridget vorbei, die Hand auf den Mund gepresst. Ich wollte ihr folgen, aber Lizzie stand in der Tür und spähte in die Küche. Ich ging weiter

und prallte gegen sie, ein so harter Aufprall, dass ich zurücktorkelte.

»Sie ist real«, sagte ich über die Schulter zu Kristof.

Ohne auf seine Reaktion zu warten, ging ich quer durchs Zimmer und streckte den Arm nach Abby und Andrew aus.

Meine Hand glitt durch beide hindurch. Ich war es, die hier einen Körper hatte. Sie waren die Geister.

»Lizzie ist wirklich da«, sagte ich. »Aber nur sie.«

Kristof nickte, als sei er schon vor mir auf diese Erklärung gekommen.

»Aber dann müsste ich mit ihr reden können. Vorhin habe ich etwas in ihren Augen gesehen «

»Sie hat dich angesehen.«

»Ja, aber ich glaube, ich habe auch noch etwas von der Nixe gesehen. Lizzie Borden muss eine ihrer Partnerinnen gewesen sein. Offensichtlich wollen die Parzen, dass ich mit ihr rede, also «

Kristof legte mir eine Hand auf den Arm.

»Nichts überstürzen«, murmelte er. »Warte, bis sie sich wieder hingesetzt hat.«

Als Lizzie mit ihrer Stickerei wieder auf dem Sofa saß, ließ ich mich neben sie plumpsen.

»Ich weiß, dass du mich hören kannst«, sagte ich.

Sie stickte weiter, die Nadel glitt durch den Stoff und zog ein Rinnsal aus blauem Garn nach.

»Sieh mal «, begann ich.

»Warte«, sagte sie.

Sie sah zu ihrem Vater auf, der sich gerade das Jackett zurechtzog. »Einen guten Tag bei der Arbeit, Vater.«

Er antwortete mit einem abrupten Nicken und einem zweiten, das seiner Frau galt, dann verschwand er zur Haustür hinaus. Abby und Lizzie arbeiteten schweigend wie zuvor. Als Abby nach oben ging, glitt Lizzies Blick zu mir herüber. Mein Stichwort.

»Gut«, sagte ich. »Jetzt hör auf zu sticken.«

»Ich kann nicht.«

Ich sah zu Kristof hinüber. Er machte eine Handbewegung, die mir sagte, dass ich weitersprechen sollte.

»Ich muss mit dir reden.«

Sie sagte nichts, sondern arbeitete einfach weiter mit ihren raschen, sicheren Stichen.

»Sieh mal, ich werde mit dir reden, ganz gleich ob du jetzt «

»Beeil dich.«

»Warum? Du gehst ja nicht weg. Du bleibst hier und bringst deine Eltern wieder um.«

Ihre Wange zuckte; ihre Augen füllten sich mit Reue und Schuldbewusstsein einer Art, die Amanda Sullivan sich nicht einmal hätte vorstellen, geschweige denn selbst empfinden können.

»Das ist also deine Strafe«, sagte ich, und meine Stimme klang sanfter.

»Strafe?« Ein verwirrter Blick. »Es ist nur das, was ich verdiene.«

»Eine hausgemachte Hölle«, murmelte Kristof.

Ich sah zu ihm auf.

»Ich glaube, sie hat dies hier selbst geschaffen«, sagte er. »Sie hat sich ihre eigene Hölle gebaut und ist in ihr gefangen. Niemand braucht sie zu bestrafen. Sie tut es selbst.«

Lizzie war zu ihrer Tapisseriestickerei zurückgekehrt, ihr Gesicht war ausdruckslos. Sosehr ich mir wünschte, gleich mit den direkten Fragen loszulegen, ich musste vorsichtig sein. Die Parzen mussten Lizzie Borden als eine glaubwürdige Zeugin betrachtet haben, aber das hieß nicht, dass sie nicht versuchen konnte, mich zu täuschen oder mir das zu erzählen, was ich hören wollte.

»Bevor du . . . es getan hast«, begann ich, »ist da irgendwas passiert? Irgendwas Ungewöhnliches. Vielleicht hast du . . . etwas gehört.«

»Die Stimme, ja. Ich habe sie gehört.«

»Sie hat gesagt, du sollst sie töten.«

Sie hielt den Blick gesenkt. »Sie hat nicht gesagt, ich solle irgendetwas tun.«

»Sie hat dich ermutigt«, sagte ich, mir war Amanda Sullivans Geständnis eingefallen.

»Ja, sie hat mir Mut gemacht. Aber ich habe das Beil geführt.

Diese Finger «

Sie ballte die Hände, und die Nadel grub sich in ihre Handfläche. Als sie die Faust wieder öffnete, fiel ein einzelner Tropfen Blut auf die Stickerei. Sie sah wie gebannt zu, als er in den Stoff sickerte.

»Die Schuld gebührt mir«, sagte sie. »Ich hatte daran gedacht, davon geträumt sie zu töten. Kein Mann war jemals gut genug für meinen Vater. Diese Männer waren nicht vollkommen, das weiß ich. Aber sie wären gut zu mir gewesen und hätten mich aus diesem Haus fortgeholt. Nur, dass er mich nicht gehen lassen wollte. Und sie « Sie spuckte das Wort förmlich aus.

»Immer diese Intrigen. Erst hat sie ihrer Halbschwester das Haus zukommen lassen, das Emma und mir hätte gehören sollen «

Sie unterbrach sich und senkte wieder den Kopf.

»Keine Entschuldigungen. Es gibt keine Entschuldigung.«

»Vielleicht, aber ich verstehe, wie «

»Nein!« Ihr Blick fuhr hoch, mit einer Heftigkeit, die fast fanatisch war. »Es gibt keine Entschuldigung und keine Rechtfertigung. Du sollst Vater und Mutter ehren. Du sollst Vater und Mutter ehren.« Ihre Stimme sank zu einem Murmeln ab, als sie den Satz wiederholte.