23
Manchmal muss sie einfach so lachen, über nichts, genauso abrupt kann ihre Stimmung in Zorn umschlagen. Ihr Strichkörper hat winzige Hügel bekommen, zwei geschwollene Brustwarzen, die sie misstrauisch beäugt, ihr Hamster ist mit dunklem Flaum bedeckt, ihre Füße erscheinen ihr riesig. Sie hat das Gefühl, anders zu riechen als sonst. Als sie einmal nach der Schule bei Conny im Garten sitzt, glaubt sie zu bemerken, dass Bernd sie anstarrt. Er fragt sie, ob sie noch einmal seine Indianerposter sehen will. Sie folgt ihm die Treppe hinauf, betrachtet Winnetou und Old Shatterhand an den Wänden, spürt ihn hinter sich stehen und atmen. Er legt sacht seine Hände auf ihre Schultern, dann zieht er sie auf sein Bett und küsst sie.
Auf dem Weg zurück ins Kinderheim fühlt sie sich verstört, sie kann es nicht glauben, dass der schönste Junge im Ort sie gemeint hat mit seinen Küssen. Warum hat er sie geküsst? Ist er in sie verliebt? Sie beschließt, verliebt zu sein. Abends bittet sie Radatte, ihr noch einmal die Kussprüfung abzunehmen. Eigentlich findet sie Küssen langweilig, nach einiger Übung bekommt sie eine Zwei minus.
Das nächste Mal beginnt Bernd nach ihrer Brust zu tasten, sie wehrt sich, von Scham überwältigt, dass er die Socken in ihrem BH fühlen könnte. Er darf alles, nur ihrer Brust darf er nicht zu nahe kommen. Er geht behutsam vor, küsst sie vorsichtig auf Schultern und Hals, seine Hand ist vor allem an einem Punkt interessiert, und der sitzt zwischen ihren Beinen. Diese Berührungen scheinen ihm besondere Freude zu bereiten, und wird sie nicht wenigstens dort wie alle anderen Mädchen beschaffen sein?
Sie ist nun wirklich verliebt, hat alle Symptome, von denen Mui und Conny ihr berichtet haben: Sie bekommt kaum Luft, und sie lässt die letzte Begegnung wie einen Film immer wieder in ihrem Kopf ablaufen. Aber sie fühlt noch etwas anderes, Angst, dass sich alles als ein Irrtum herausstellt, als ein böser Scherz, denn es bleibt ihr nach wie vor ein Rätsel, warum sich Bernd ausgerechnet mit ihr abgibt.
Er geht mit ihr im Wald spazieren, und sie spürt weder die warme Luft, noch nimmt sie etwas anderes wahr, sie ist nur darauf bedacht, alles richtig zu machen. Sie ist noch nie mit einem Jungen spazieren gegangen. Sie bemüht sich, ihm nicht ihr Profil zu zeigen, sie findet ihre Nase zu groß. Deshalb sieht sie ihn dauernd an, und bald schmerzt ihr der Nacken. Bernd hat eine Decke dabei, auf einer Lichtung breitet er sie aus. Er küsst sie sofort, diesmal anders als sonst, kräftiger, nicht so zärtlich. Aus der Ferne ertönt das Geschnatter der Gänse, doch eigentlich ist sie viel zu weit von der Farm entfernt, um es hören zu können, der Wind muss von Südwest kommen, denkt sie, obwohl sie doch gar nichts von Windrichtungen versteht. Sie zieht sich selbst die Hosen aus, damit er die Trainingshose darunter nicht bemerkt. Dann liegt sie regungslos da, blinzelt in den Himmel, sie kann Federwolken erkennen, eine Wolke ähnelt einem Schaf, einem Schafsbock mit schneckenförmig gedrehten Hörnern, vielleicht ist es eher ein Mufflon, denkt sie, oder ein Steppenschaf, und sie glaubt sich zu erinnern, dass die Weibchen nur kurze Hörner besitzen, wenn überhaupt.
Als sie aufstehen, fliegen Vögel mit lauten Rufen durch die Abendluft. Wir haben Fortschritte gemacht, sagt Bernd, das nächste Mal klappt es bestimmt. Sie hat keine Ahnung, ob sie überhaupt will, dass irgendetwas klappt, doch sie nickt, versucht ein Lächeln. Auf ihrer Haut glüht ein unbehaglicher Funkenregen, sie schämt sich, einerseits möchte sie ihm alle seine Wünsche erfüllen, doch will sie auch keine von denen sein, die es gleich machen.
Während der nächsten Tage versucht er es immer wieder, sie sieht ihm seine Verzweiflung an, doch sie kann ihm nicht helfen. Dann übergibt Conny ihr den Brief. Armes Rippchen, sagt sie. In dem Brief schreibt Bernd, dass es ihm leidtue und dass er ein Schwein sei. Natürlich schreibt er auch: Es ist aus. Sie hat es erwartet. Sie ist nur überrascht, dass er meint, er sei ein Schwein. Sie versteht kein Wort, eigentlich versteht sie gar nichts.
In den nächsten Tagen kann sie nichts essen. Ihr Nacken schmerzt vor Anspannung, doch der restliche Körper ist von einer großen Schlaffheit befallen, als wäre ihr das stützende Skelett abhanden gekommen. Sie geht in die kleine Kirche auf dem Friedhof und betet, sie wünscht sich ihn verzweifelt herbei. Sie will ihn nur wiedersehen, weiter nichts.
Wochenlang regnet es, Herbststürme fegen über die Felder. Das Wetter passt zu ihrer Stimmung: Auch sie würde am liebsten tobsüchtig durch die Felder jagen und die Bäume peitschen. Die Mädchen im Heim haben unter ihrer Laune zu leiden. Ihre Stimme hat einen unduldsamen Ton angenommen. Es hat den Anschein, als würden die anderen sie meiden, und das macht sie noch zorniger.
Als Radatte ihr einmal erzählt, sie habe Bernd auf der Straße gesehen, piekt sie ihr in jäher Wut mit dem Zeigefinger in eine ihrer Brüste, was ihr eine Ohrfeige einbringt. Als hätte sie nur auf diese Ohrfeige gewartet, rempelt sie Radatte an, du bist tot, schreit sie, schreit sich in ihre Wut herein, packt halb blind mit beiden Händen Radattes Haare, kann nicht aufhören zu schlagen. Radatte hat überrascht und abwehrend die Hände erhoben, die anderen Mädchen stehen erschrocken um sie herum, doch keine wagt einzugreifen.
Ein Mädchen, das sie an ihren Bruder Alex erinnert, muss täglich ihr Bett machen und das Zimmer aufräumen. Das Mädchen wird Puppi gerufen, sie hat ein schielendes Auge, das sie versucht, mit ihrem lockigen Haar zu verdecken. Puppi kann ihr nichts recht machen, denn sie entdeckt immer einen Fehler, und weil das so ist, wird sie von ihr bestraft. Puppi wehrt sich nie, sie weint nur lautlos, wenn sie die zwei Kopfkissen links und rechts auf Hüfthöhe halten muss, und wehe, die Kissen sinken. Dann wird Puppi von ihr verprügelt oder bekommt eine andere Strafe, sie ist da sehr fantasievoll. Sie dreht ihr die Arme auf den Rücken und führt sie in eine Ecke. Bei Vollmond muss sie auf die Knie und heulen wie ein Wolf, manchmal hält auch die Stehlampe her, die Puppi anheulen muss, bis sie heiser ist oder die anderen Mädchen ihre Nachtruhe einfordern.
Warum wehrt sich niemand gegen sie? Sogar Mui weicht vor ihr zurück, und sie ist keine, die sich einschüchtern lässt. Sie möchte so nicht sein, empfindet Abscheu vor sich selbst. Ein roher Zorn scheint in ihr zu toben, ein Zorn, der ihr wie ein wildes, gefährliches Tier vorkommt. Manchmal attackiert sie die Luft mit den Fäusten oder sie schreit unter ihrem Federbett.
Wenn die Mädchen abends im Bett liegen und flüstern, ist sie darauf bedacht, alles wiedergutzumachen. Sie erfindet Geschichten, entwirft Mui und Radatte eine wundervolle Zukunft, sie dichtet die Nationalhymne um, versucht die anderen zum Lachen zu bringen. Doch meistens endet es mit einer weinerlichen Selbstanklage, ich hab es nicht so gemeint, sagt sie, und sollte ich sterben, werde ich am Tag meines Todes in euren Träumen erscheinen, wenn ihr von einem Hasen träumt, der Purzelbäume schlägt, dann wisst ihr, dass ich tot bin.
Samstags warten die großen Mädchen ungeduldig, dass die Nachtwache ihren letzten Rundgang macht. Frau Polcke ist alt und schwerhörig, sie haben nichts von ihr zu befürchten. Sie wissen, dass die alte Frau gegen zehn Uhr abends das letzte Mal kontrolliert, ob alle in ihren Zimmern sind, danach geht sie nach unten in den Gruppenraum und schläft am Tisch sitzend ein. Die Mädchen klettern den Blitzableiter herunter und springen vom Dach der Veranda auf den Boden. Sie laufen in den nächsten Ort, lachen laut, sind ausgelassen. Manchmal steht auch Conny mit ihrer blauen Schwalbe vor dem Heim, dann fahren sie gemeinsam mit fliegenden Haaren durch die kühle Nachtluft. Ihr Ziel ist die Diskothek, vor der Andy schon auf Conny wartet. Er geht früher los, täuscht die Nachtwache, indem er ein Geschöpf aus Handtüchern statt seiner unter der Decke im Bett platziert. Während Andy mit Conny knutscht, tanzt sie mit den anderen Mädchen. Natürlich haben sie das Tanzen vorher geprobt, sie hat eine Zwei minus bekommen. Als sie einmal von einem Jungen aufgefordert wird, spürt sie ihre Wangen rot werden. Doch als ein langsamer Tanz kommt und er sie anfassen will, lässt sie ihn einfach stehen und verlässt die Tanzfläche, obwohl Hey Jude von den Beatles gespielt wird.
Als sie in der Schule Kabale und Liebe für die Abschlussfeier einstudieren, erhält sie die Rolle der Lady Milford. Sie lernt ihren Text mit Hingabe, probt immer wieder vor dem Spiegel. Sie wünscht sich, Ferdinand wäre in sie verliebt und nicht in Luise, die natürlich von Conny gespielt wird. Ferdinand ist im wirklichen Leben ein Junge aus der Parallelklasse, der dem amerikanischen Sänger Dean Reed ähnelt, für den sie schon eine ganze Weile schwärmt. Statt seiner scheint sich der Sekretär Wurm für sie zu interessieren, ein Bauernjunge mit dunklen Haaren und einem melancholischen Gesicht, der in der Schule drei Reihen vor ihr sitzt. Sie hat Ludwig, der Ludi gerufen wird, nie attraktiv gefunden, aber nun, da sie für ihn in Frage kommt, betrachtet sie ihn genauer. Er hat breite Schultern, trägt Pullover mit Lederflicken am Ellbogen, und er wird von den anderen Schülern geachtet. Ludis Eltern besitzen einen eigenen Bauernhof, sie haben Pferde, Kühe und Hühner. Seine Küsse sind zaghaft, ganz anders als die von Bernd, und als er einmal zufällig ihren immer noch ausgestopften BH berührt, wird er rot. Sie fährt mit ihm auf dem Moped durch die Dörfer, nachts wartet er vor dem Heim auf sie, und wenn sie in der Disco zusammen tanzen, hält er die Augen geschlossen. Doch dann ist er von einem Tag auf den anderen verschwunden. Sie erfährt, dass er eine seltene Blutkrankheit hat und in die Charité nach Berlin gebracht wurde. Erst durch seine Abwesenheit spürt sie, dass sie ihn mag, glaubt sogar, in ihn verliebt zu sein.
Ludi bleibt lange fort. Es ist längst Winter, ein knochenkalter Winter, die Schule fällt oft aus, weil die Heizung defekt ist. Die Lehrer verschieben die Proben für das Theaterstück auf den Frühling.
Mit der Schulklasse fährt sie nach Dresden in die Gemäldegalerie. Sie versucht vor den Bildern zu stehen, als wäre sonst niemand da, sie versucht dem Gekreuzigten sein Leid nachzufühlen. Vor der Sixtinischen Madonna verharrt sie in Bewunderung, und doch misstraut sie diesem Eindruck, ihre Bewunderung erscheint ihr wie vor sich selbst gespielt. Es bleibt eine Irritation, die fortan wie ein Irrlicht in ihr aufflackert.
Sie leiht Conny ihr Lieblingsbuch, Geliebte Söhne. Doch jedes Mal, wenn sie nachfragt, erklärt Conny, sie sei noch nicht dazu gekommen, das Buch zu lesen. Sie wirft Conny vor, sich nur für Jungs zu interessieren, sie verlangt von ihr, das Buch zu lesen, sie stellt ihr ein Ultimatum. Obwohl Conny es dann zu lesen beginnt, reicht ihr das plötzlich nicht mehr aus.
An einem Abend geht sie mit ihr auf den Hof, um eine zu rauchen. Die Luft ist von Regenschlieren durchzogen, das Fenster von Bernd glänzt dunkel, er hat sich für drei Jahre bei der Armee verpflichtet, und doch versucht sie, sein Zimmer hinter dem Glas zu erkennen, bevor sie zu reden beginnt. Als könnte er sie hören, wählt sie ihre Sätze mit Bedacht. Sie klagt ihre Freundin der Oberflächlichkeit an. Sie steht mit verschränkten Armen vor ihr und beendet mit pathetischen Worten ihre Freundschaft. Als Conny etwas entgegnen will, winkt sie ab, es ist vorbei, sagt sie.