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Ihr Vater sieht die Mutter an, als würde sie eine fremde Sprache sprechen. Sie werden es noch einmal miteinander versuchen, ein letztes Mal, wie schon so oft. Er hat seit zwei Tagen nichts getrunken, und seine Tochter merkt, wie schwer ihm das fällt. Er hat Mühe, sich eine Zigarette anzuzünden, so sehr zittern seine Hände. Die Worte scheinen sich ihm zu widersetzen, niemand versteht, was er sagen will, und ihre Mutter benimmt sich, als verschaffe seine Schwäche ihr einen Vorteil. Das ist ein Trick, höhnt sie, will an seinen Gesinnungswandel nicht glauben, nach ihren Worten bleibt ein Säufer immer ein Säufer. Die frühe Herbstsonne fällt hell durch das Fenster und zeigt erbarmungslos das hagere Gesicht ihres Vaters. Seine Augen glänzen wie im Fieber, er gleicht einem ruhelosen, in der Falle sitzenden Wolfsschakal.
Am Abend knallt die Tür ins Schloss. Er ist verschwunden und mit ihm auch die Perlenkette der Mutter. Doch das bemerkt die Mutter erst später und verflucht Gott, der sich doch vorher gnädig gezeigt und das Drecksvieh verjagt hatte. Gott muss für einiges herhalten, die Mutter fleht ihn an, erbittet Schutz vor all den Plagen, die sie heimsuchen, verlangt, dass Gott ihren Mann bestraft, den Drecksparasiten, der sich auf ihre Kosten ein fettes Leben macht. Die größte Strafe aber, die Gott ihr gesandt hat, sind ihre Kinder. Womit hab ich das verdient, o Gott, schreit sie nach Luft ringend. Ihre Tochter hat das Gefühl, gäbe es wirklich einen Gott, würde sie ihn mit diesem keifenden Geschrei in die Flucht treiben.
Am nächsten Morgen läuft ihr Vater wieder laut krakeelend durch die Wohnung; mit dem entrückten Blick eines Betrunkenen bleibt er vor seiner Tochter stehen, sein Zeigefinger kreist wild durch die Luft, und immer wieder sagt er: Ich als Mensch bitte um Ruhe. Irgendwann fällt er aufs Sofa und schläft sofort schnarchend ein.
Als sie aus der Schule kommt, sitzen die Mutter und der Vater fröhlich vor dem Fernseher. Sie muss in die Kneipe laufen, hin und her, und so viele Bierflaschen schleppen, wie sie tragen kann. Doch gegen Mitternacht spürt sie den aufsteigenden Groll im Zimmer. Die Stimmen ihrer Eltern werden mit jedem Wort gereizter, der Atem der Mutter klingt wild, du Versager, schreit sie, Bankrotteur, mieser, dreckiger Wurm, und ihre Tochter kneift schnell das linke Auge zusammen, dann das rechte, und schon liegt die Mutter auf dem Boden, der Vater kniet über ihr und würgt sie, würgt die Mutter so sehr, bis ihre Augen hervortreten. Sie selbst kann sich nicht von der Stelle bewegen, betrachtet alles ganz genau; auch als die Mutter wieder Luft bekommt und um Hilfe ruft, kann sie sich nicht rühren, in ihr ist alles ganz still. Sie hat diese Prügeleien schon oft erlebt, und immer wartet sie, bis nur noch die zerrissenen Schluchzer der Mutter erklingen, die laut ins Schloss fallende Tür, die Schritte des Vaters auf der Treppe. Das Zimmer ist dann voller Schatten, sie sitzt neben der verprügelten Mutter, streichelt sie und hat Schuldgefühle, weil sie kein Mitleid mit ihr empfindet. Sie möchte nicht herzlos sein, doch während sie tröstende Worte murmelt, empfindet sie nichts, nicht einmal Angst.
Die Talente ihres Vaters sind vielfältig. Er kann zeichnen, schreiben, er schafft dreißig Bierflaschen an einem Abend, er kann lustige Geschichten erzählen, wenn ihm danach ist, und er scheint eine große Wirkung auf Frauen zu haben.
Als er wieder einmal seit Tagen verschwunden ist, schickt die Mutter sie los, um den Saufbold zu suchen, und sie soll sich nicht ohne ihn nach Hause wagen. Sie läuft bis zum Einbruch der Dämmerung durch die Straßen, klappert die Kneipen ab und findet ihn schließlich im Parkcafé. Er sitzt neben einer Frau, die ihre Hände über seine gelegt hat. Die Fingernägel der Frau sind rot lackiert, und ihr knallroter Mund ist wie ein Herz geformt. Der Vater bringt sie zum Lachen, und sie meint, ihr Lachen zu hören, ein perlendes Lachen, wie aus den alten Filmen, die Montagabend im Fernsehen laufen. Ihr fröstelt, es ist kühl und windig, doch sie kann den Blick nicht von ihrem Vater abwenden, er sieht anders aus als die anderen Männer im Café, abenteuerlicher. Er trägt ein grünes Hemd, das einem Armeehemd ähnelt, sein dunkles Haar ist von weißen Strähnen durchzogen, und als er das Bierglas austrinkt, bewegt sich sein Adamsapfel so heftig, als wolle er ihm aus dem Hals springen. Beim Reden wirft er die Arme in die Luft, und sie kann sich vorstellen, was er erzählt: Geschichten aus seinem Leben. Die Frau neben ihm zeigt sich beeindruckt, flüstert ihm etwas ins Ohr, und der Vater lächelt auf eine traurige Art, wie sie es noch nie bei ihm gesehen hat, und plötzlich ist sie beunruhigt. Wer ist dieser Mann, fragt sie sich, und was hat er mit ihr zu tun? Warum ist sie hier? Sie will nicht vor dem Fenster stehen und diesen Mann beobachten, doch was will sie dann? Am liebsten möchte sie ihr Leben mit zwei, drei großen Sprüngen hinter sich lassen und in einem ihr unbekannten Universum landen. Ein Windstoß fährt ihr in die Glieder, sie versucht das Frösteln abzuschütteln, geht zur Tür und betritt den Gastraum. Sie bewegt sich durch die abgestandene Luft, als müsse sie diese durchstoßen, bleibt vor dem Tisch stehen und wartet. Sie räuspert sich, spürt, wie sie rot wird. Obwohl der Vater sie längst bemerkt hat, spricht er weiter mit der Frau, als wäre seine Tochter gar nicht da. Die Frau beugt sich zu ihm, scheint ihm mit leiser Stimme eine Frage zu stellen, dann blickt sie zu ihr hoch. Er schüttelt den Kopf und winkt nach dem Kellner. Sie kommt sich vor, als wäre sie nackt und ihre Haut aus lauter Lügen zusammengesetzt, und sie wächst in ihre Scham hinein, akzeptiert, dass sie die Tochter dieses Mannes ist.
Vater, sagt sie und grinst.
Ihr Vater hebt seinen Arm, als müsse er etwas abwehren, dann schließt er die Hand und ballt sie zur Faust.
Es ist still geworden um sie herum. Ihr Vater lässt den Arm sinken und sagt: Na, sieh mal einer an. Doch statt seine Tochter mit einem Feuerwerk aus Flüchen zu bedenken, wie sie es erwartet hat, lächelt er, steht auf und bleibt leicht schwankend vor ihr stehen.
Gehen wir, sagt er leise und berührt mit seiner Hand ihren Ellenbogen.
Die Frau ruft ihnen etwas hinterher, doch es bringt ihren Vater nicht dazu, sich umzudrehen. Sie spürt Stolz in sich aufsteigen, diesmal hat sie es geschafft, er kommt mit ihr nach Hause. Auf der Straße stemmen sie sich gemeinsam gegen den Wind, ihr Vater seufzt, als hätten ihn die Worte im Stich gelassen. Er hält den Kopf gesenkt, sie hat sich bei ihm untergehakt. Vor ihrem Haus bleibt er stehen, sucht etwas in seinen Hosentaschen, dann setzt er ein besorgtes Gesicht auf.
Meine Brieftasche, flüstert er, hab meine Brieftasche, mein ganzes Geld im Café vergessen.
Ich hol es dir, flüstert sie, du kannst hier warten.
Nein, sagt er. Es ist zu spät.
Ich wäre ganz schnell wieder da, verspricht sie, mit einem Flehen in ihrer Stimme.
Er schlägt mit der flachen Hand gegen die Haustür, und ohne sie anzusehen, sagt er: Geh hoch, ich komme nach. Er versucht, mit einem Stoßseufzer seine Lüge abzumildern: Denkst du, mir macht das Spaß? Dann verschwindet er im Dunkel der Straße.