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Im Kinderheim benimmt sie sich anders als in der Schule, wilder und aufsässiger. Radatte ist die Zielscheibe ihres Spottes. Sie äfft ihren sächsischen Akzent nach und macht sich lustig über ihre tranige Art, über ihr Muttermal. Ihrem Hohngelächter setzt Radatte ihr übliches verschlafenes Schweigen entgegen, und wenn Radatte doch einmal wütend wird, hat sie sich längst in Sicherheit gebracht. Von Weitem ruft sie: Radatte, Radattengewitter, du bist fett wie ein Zwitter. Dabei mag sie Radatte, doch sie ist wie getrieben, manchmal hört sie ihre Spottrufe, als kämen sie von jemand anderem.

Sie hat sich angewöhnt, nachmittags mit ein paar Mädchen ins nächste Städtchen zu laufen, um dort in den Geschäften klauen zu gehen. Inzwischen ist sie zur Meisterdiebin aufgestiegen, sie schafft es sogar, mit einer Verkäuferin zu reden und gleichzeitig mehrere Schlager-Süßtafeln zu stehlen. Die anderen Mädchen bewundern sie dafür, gleichzeitig fürchten sie auch ihre Wutausbrüche, wenn sie sich wieder einmal unfähig anstellen. Sie zeigt ihnen genau, wie es geht: Sie schlendert durch die Regalreihen, und während sie in der einen Hand eine Tüte Bonbons begutachtet, mit einem Gesicht, als würde sie nachdenken, schiebt die andere Hand das Diebesgut unter den Pullover oder in den Hosenbund. Sie hat schon zehn Tafeln Schokolade auf einmal geklaut und dazu noch eine Packung Präser mitgehen lassen, nur weil sie neben der Kasse lagen. Die sogenannten Gummifuffziger haben sie dann auf der Straße aufgeblasen und durch die Luft wirbeln lassen.

Doch als sie einmal zurück ins Heim kommen, müde, von der Hitze ausgelaugt, erwartet sie Herr Nissen gemeinsam mit seiner Frau bereits vor der Tür. Ihm sei zu Ohren gekommen, dass sie sich am sozialistischen Eigentum vergriffen hätten, dies sagt er wortwörtlich. Die anderen Mädchen sehen sie an. Vielleicht hätte sie nicht laut loslachen sollen, das passiert ihr in letzter Zeit öfter, und aus irgendeinem Grund hat sie mit der Ohrfeige gerechnet. Sie weicht aus, und so geht die Hand des Heimleiters ins Leere, was ihn sehr verärgert. Er räuspert sich und rotzt auf den Boden. Dann geht er auf sie los, doch seine Schläge sind seltsam kraftlos, weibisch, denkt sie, ihr Dauerlächeln scheint ihn zu reizen, er kann nicht aufhören, sie mit seinen schlaffen Patschhänden zu drangsalieren. Er lacht unangenehm, als er endlich die Hände bei sich behält. Seine Frau steht neben ihm und schaut zu.

Die Mädchen sind schockiert, finden die Sache skandalös, doch sie winkt nur ab, das ist die sozialistische Strafe für Diebstahl, sagt sie, wusstet ihr das nicht?

Sie fragt sich selbst, warum es ihr so wenig ausmacht, eine Antwort findet sie nicht; ein paar Schläge, denkt sie, na und, alles halb so wild, sie hat das Gefühl, als wäre nicht sie gemeint. Natürlich hasst sie den Heimleiter, noch mehr aber hasst sie seine feige Frau.

Als sie einmal keine Lust hat, in die Schule zu gehen, weil sie sich sicher ist, in der Mathearbeit eine Fünf zu schreiben, täuscht sie eine Bauchschmerzattacke so gut vor, dass eine Erzieherin den Krankenwagen ruft. Es überrascht sie, dass selbst die Ärzte darauf hereinfallen und ihren Blinddarm für entzündet erklären. Kurz darauf liegt sie auf dem OP – Tisch und starrt schläfrig in das grelle Licht über sich. Die Stimme der Schwester verhallt, und während sie ein riesiges Schachbrett auf sich zukommen sieht, durchfährt sie ein heftiger Schmerz. Ihr Mund aber bleibt geschlossen, sie kann nicht schreien, nicht einmal mit den Augen zwinkern, das Schachbrett nimmt Geschwindigkeit auf, stürzt hinab und zieht sie mit in die Tiefe.

Als sie aufwacht, ist ihr kotzübel, sie hat großen Durst und verflucht sich für ihre dämliche Ausrede. Sie liegt in einem großen Saal mit zwölf Betten. Sie stöhnt laut, verlangt etwas zu trinken. Sie darf zunächst kaum Flüssigkeit zu sich nehmen, erklärt ihr die Schwester, ehe sie einige Tropfen aus einem nassen Waschlappen in ihren Mund fallen lässt. Die nächsten Tage verträumt sie zwischen Fiebermessen, Hunger, Durst und Langeweile, sie hat nicht einmal ein Buch dabei.

Eine neue Patientin wird frisch aus dem OP in den Saal gerollt. Als sie wach wird, setzt sie sich sofort auf und sagt laut vernehmbar: Grüß Gott, alle miteinander, ich bin die Marianna. Die anderen Frauen tauschen Blicke aus, eine solche Begrüßung sind sie nicht gewohnt. Sie grüßen so leise zurück, als würde Honecker, der natürlich auch hier von den Wänden lächelt, sonst vor Schreck aus dem Bilderrahmen fallen. Marianna ist über dreißig, unter ihrem dunklen Haar schimmert hell die Kopfhaut hervor, sie trägt ein langärmeliges weißes Nachthemd. Als der Arzt sie untersuchen will, ziert sie sich wie ein junges Mädchen, lacht auf eine glucksende, schamhafte Art. Sie geht schon am ersten Tag allein auf die Toilette. Vor der Nachtruhe spricht Marianna laut ein Gebet.

Einmal kommt Marianna zu ihr ans Bett. Die Bibel kann Halt geben, sagt sie, während sich rote Flecke auf ihren Wangen ausbreiten, und der Herr ist für alle gestorben. Als Marianna dann gefühlvoll zu singen beginnt, hofft sie, dass niemand glaubt, ihr würde so etwas gefallen.

Ihr werden die Fäden gezogen, die Narbe auf ihrem Bauch ist groß und hässlich. Sie fährt mit dem Bus ins Kinderheim, eine Bibel und die Adresse von Marianna in der Tasche.

Die Sonne steht hoch und brennt. Oft haben sie ganze Tage hitzefrei. Sie ist dazu übergegangen, den BH mit Socken auszustopfen, unter ihren langen Hosen trägt sie selbst bei der größten Hitze immer noch eine Trainingshose. Sie hat sich daran gewöhnt zu schwitzen.

Im Garten wird ein kleines Schwimmbad gebaut, sechs mal sechs Meter groß, die Patenbrigade aus den Buntgarnwerken hilft dabei. Die Männerstimmen schallen laut durch die Luft, vermischen sich mit dem aufgeregten Geschnatter aus der Gänsefarm. Sie liegt auf dem Sofa im Gruppenraum und kann nicht aufhören, in diesem Buch zu lesen, Geliebte Söhne von Howard Spring, noch nie hat eine Geschichte sie derart erschüttert. Es geht um Liebe, die Liebe eines Vaters zu seinem Sohn. Als sie den Roman beendet hat, ist sie so überwältigt und ergriffen, dass sie heult. Sie will Howard Spring danken, sie will ihm schreiben. Es gibt also jemanden auf der Welt, der sie versteht, obwohl er sie gar nicht kennt.

Als Mui das Buch ausgelesen hat, geben sie einander das Versprechen, ihre Kinder nach den Romanfiguren zu benennen, Maeve soll die Tochter heißen, Oliver der Sohn. Mui findet heraus, dass Howard Spring schon tot ist, sie trauern um ihn, mit dem Schwur, ihn niemals zu vergessen.

Das Schwimmbad wird eingeweiht, es sind fast vierzig Grad im Schatten, doch sie geht nicht ins Wasser. Sie hat keine Lust, dass die Jungs bei ihrem Anblick vor Lachen brüllen.

Die Tage scheinen wie eingeschlafen, sie sitzt auf einer Bank im Schatten und versucht ein Gedicht für die Schule zu lernen:

Und schleppen sie in den dunklen Wald.
Und zwölfmal knallt es und widerhallt.
Da liegen sie mit erloschenem Blick,
jeder drei Nahschüsse im Genick,
John Schehr und Genossen.

Sie mag das Gedicht, es geht ihr leicht über die Lippen, »John Schehr und Genossen«, wenn es nach diesen Zeilen ginge, wäre sie längst Sozialistin geworden. Auch wenn sie am späten Abend mit Radatte aus dem Singeclub kommt und sie Sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst in den Sternenhimmel schleudern, ist ihr ganz patriotisch zumute. Es ist einfach, in den Liedern und Gedichten gerecht und ungerecht zu unterscheiden, doch im alltäglichen Leben sieht es anders aus.

Sie hat damit gerechnet, Marianna nicht anzutreffen. Doch als sie an ihrer Tür klingelt, öffnet Marianna ihr und scheint gar nicht verwundert, sie zu sehen. Sie machen einen Spaziergang, den See entlang. Die trockene Hitze knistert in der Luft, und Marianna will mit ihr über Gott sprechen. In der Mitte des Sees fahren Boote, sie hört das Lachen der Kinder und spürt ein Unbehagen in sich aufsteigen, Marianna muss doch wissen, wie es um sie steht. Doch Marianna kann nicht aufhören zu predigen, und sie fragt sich einmal mehr, für wen sie gehalten wird. Beim Abschied hält Marianna lange ihre Hand, umarmt sie mit einem Freudengluckser und sagt ihr, wo die Schlüssel zu ihrer Wohnung liegen.

Als sie Marianna das nächste Mal besuchen will, bleibt es still hinter der Tür. Sie findet den Schlüssel und betritt die Wohnung. Sie entdeckt nur ein Kreuz an der Wand, sonst sieht alles ganz weltlich aus, wie eine ganz normale Wohnung. Was hat sie sich vorgestellt? Ein Lager aus Stroh? Sie geht durch das Wohnzimmer, betrachtet die Bücher im Regal, der Kühlschrank in der Küche ist fast leer, sie trinkt einen Schluck Waldmeisterlimonade. Sie öffnet die Schubladen, entdeckt zwischen der Wäsche zwei Stück Lux-Seife und im Badschrank eine Flasche 4711. Sie setzt sich in einen Sessel, wartete eine Weile, Sonnenlicht glitzert auf den blank gebohnerten Dielen. Als sie die Wohnung verlässt, sind die Taschen ihrer Trainingshose ausgebeult, es ist anders als sonst, wenn sie etwas geklaut hat. Sie hat ihre Eltern bestohlen, sonst fällt ihr niemand ein; Kaufhallen und Geschäfte zählen nicht. Auf dem Rückweg beeilt sie sich. Im Heim wäscht sie den Westgeruch aus ihren Sachen. Die Seife und das Kölnischwasser schickt sie ihrer Mutter.

Die nächsten Tage verbringt sie wie im Fieber, immer in der Erwartung, dass Marianna auftaucht und sie zur Rede stellt. Als sie das Ganze schon fast vergessen hat, ruft Herr Nissen sie zu sich ins Heimleiterzimmer.

Ich hatte heute Besuch, sagt er.

Sie antwortet nicht.

Komischer Besuch, murmelt er. Nennt sich Seelsorgerin.

Sie schweigt noch immer, starrt die Wand an.

Du siehst aus, als hättest du Zahnschmerzen, sagt er.

Nein, sagt sie, hab ich nicht.

Ich hoffe, du fängst nicht an zu beten.

Seine Stimme kommt ihr merkwürdig vor, sie sieht ihn an, seine Mundwinkel zucken.

Du hast ’ne Seele bestohlen, sagt er, und dann lacht er los, sein ganzer Körper bebt. Eine Seele, lacht er, ist dir das klar?

Sie nickt, schämt sich für sein Lachen.

Na gut, sagt er und scheint plötzlich müde. Ich will dieses christliche Gesocks hier nicht noch einmal sehen. Er nimmt eine Zeitung vom Tisch. Du kannst gehen, sagt er.

Sie schließt die Tür leise hinter sich. Aus irgendeinem Grund ist sie enttäuscht. In Gedanken nennt sie Marianna jetzt auch nur noch die Seele. Sie schafft es sogar, ihr Schuld zuzuweisen. Hat die Seele sie nicht hinterrücks beim Heimleiter verpetzt? Warum ist sie nicht zu ihr gekommen? Sie hätte sich entschuldigen können. Die Seele hat sie verraten.

Das Mädchen: Roman
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