»WIDERLICH« WAR DAS Wort, das nach seinem Empfinden den Rest der Kreuzfahrt am besten beschrieben hätte, obwohl es sich dabei um eine Untertreibung handelte. Die Ostsee hatte glatt wie ein Spiegel dagelegen, aber die äußere Ruhe wurde zur Genüge von dem Orkan wettgemacht, der in ihn gefahren war. Der jedes einzelne Gefühl mit sich fortriss, das er fest verankert in einem endgültig gefassten Beschluss geglaubt hatte. Alles, was er gefühlt, gewollt, sich erträumt hatte. Alles war plötzlich ein einziger Wirrwarr, in dem sich nichts mehr dort befand, wo es hingehörte.
Während der längsten halben Stunde seines Lebens hatte sie eingeschlossen im Bad gesessen, bevor sie herausstürzte, rasend vor Wut ihre Sachen packte und ohne ein Wort die Tür der Luxuskabine hinter sich zuknallte.
Er selbst war sitzen geblieben, wo er saß, und hatte durch die Luke auf die immer spärlicheren Schären geschaut und beobachtet, wie Stockholm und sein Zuhause außer Reichweite verschwanden. Nach einigen Stunden war er hinuntergegangen zur Rezeption und hatte die Rückfahrt auf diesen Abend verlegt. Sie hatte dasselbe getan, wie er erfuhr. Er hatte jedoch keine Ahnung, wo sie sich während der verbleibenden Fahrt aufhielt.
In Abo war er auf eine andere Fähre umgestiegen, und als wäre es eine Strafe, wurde ihm eine fensterlose Kabine auf dem unteren Deck unter der Wasseroberfläche zugeteilt, und darin hatte er seine Isolation fortgesetzt. Kurz nach Mitternacht wurde fordernd an die Kabinentür geklopft. Sie war betrunken, beschimpfte ihn wie eine Furie, benutzte alle hässlichen Wörter, die er jemals gehört hatte, und als er sich nicht verteidigte, ging ihr die Luft aus. Weinend sank sie auf dem Kabinenboden zusammen. Er war nicht in der Lage, sie zu trösten, ihm wollte um keinen Preis etwas einfallen, das er ihr hätte sagen können. Und als sie seine vollkommene Unfähigkeit erkannte, mit den Ereignissen umzugehen, wurde ihre Wut wieder zum Leben erweckt, mit einem neuen Schwall von Schimpfwörtern verschwand sie türenschlagend aus der Kabine und ließ ihn allein zwischen den engen Wänden zurück, von denen ihre Worte widerhallten. Ihm wurde klar, dass er jedes von ihnen verdient hatte, er blieb in ihrer Mitte sitzen und verbrachte die folgenden Stunden mit Selbstkritik, bis er es nicht mehr aushielt. Denn auch er war betrogen worden. Ein Richter hätte sich auf seine Seite stellen und die Strafe, die ihm für sein Verhalten gegenüber Linda gebührte, und das Mitleid, das er verdient hatte, weil Eva ihm so etwas antat, miteinander verrechnen müssen.
Alles wäre so viel einfacher gewesen, wenn es nur Schwarz und Weiß gegeben hätte. Der Balanceakt, zu dem er gezwungen sein würde. Der irrsinnige Wunsch, sie ohne eigene Schuld einfach anzuklagen, sie stumm zu machen vor schlechtem Gewissen und ihr jede Möglichkeit zu rauben, sich zu verteidigen. Sie zwingen, ihre Niedertracht zuzugeben, und ihr dadurch endlich die Macht entreißen. Ihr überlegen sein.
Stattdessen würde er untertänigst versuchen müssen, ihre Liebe zurückzugewinnen, sie zu erweichen, sie schmeichlerisch dazu zu überreden, bei ihm zu bleiben. Er würde seine Worte mit Bedacht wählen müssen und durfte ihr nicht die geringste Chance geben, ihr eigenes Vergehen zu schmälern, indem sie die Schuld auf ihn lud. Weil er keinen Deut besser gewesen war.
Wie viel einfacher wäre es gewesen, wenn er von Anfang an die Wahrheit gesagt hätte. Wenn er seine heimliche Liebe oder Leidenschaft oder was immer das war, was er fühlte oder gefühlt hatte, gestanden hätte. Dann hätten sie an dem Punkt beginnen können, den sie jetzt erreichen mussten, alle Karten offen auf dem Tisch. Nun war es zu spät. Nun würde das Geständnis, dass er gelogen hatte, ihn tief in den Erdboden stampfen, und von dort aus würde er ihr nie wieder ebenbürtig werden. Auch wenn sie ihm das Gleiche angetan hatte, würde ihre Wortgewalt in Kürze alles, was wahr und richtig war, auf ihre Seite ziehen.
Eva hatte etwas an sich, das ihn sich überflüssig fühlen ließ. Sie war so wahnsinnig stark. Es war, als hätten Widerstände eine entgegengesetzte Wirkung auf sie, verglichen mit dem, was sie mit anderen Menschen anstellten. Sie reagierte nicht normal. Widerstände waren für sie Grund und Triebkraft, noch stärker zu werden. Auf irgendeine unergründliche Weise gelang es ihr immer, eine Krise in eine Möglichkeit zu verwandeln. Und er stand stumm daneben und spürte, dass sie ihn nicht brauchte, dass sie alle Probleme auf eigene Faust löste, ohne Anspruch auf seine Hilfe zu erheben und seine Unterstützung zu benötigen. Stück für Stück hatte sie ihm die Verantwortung abgenommen, und am Ende hatte er selbst nicht mehr gewusst, was er konnte. Mein Gott, er durfte noch nicht einmal seine eigenen Fensterkuverts öffnen!
Mit Linda war alles anders gewesen. Sie hatte offen zugegeben, dass sie ihn brauchte, es war einfach phantastisch, sich unentbehrlich vorzukommen. Endlich hatte er sich gefühlt wie ein Mann. Ohne Umschweife hatte sie zugegeben, dass es Dinge gab, die sie nicht konnte oder beherrschte, und im Unterschied zu Eva schämte sie sich nicht dafür. Im Gegenteil, sie bediente sich dieser Dinge, um ihm näher zu kommen, um sie abhängiger voneinander zu machen, sie dienten dazu, eine notwendige Zweisamkeit zu schaffen. Und er hatte ihre Zusammengehörigkeit genossen. In seinen Tagträumen hatte er sich vorgestellt, wie anders das Leben mit ihr sein würde. Wie anders er sein würde. Nun begriff er, wie naiv er gewesen, wie einfach ihm alles erschienen war, solange es sich nur um Phantasien handelte. Er hatte gedacht, er könnte Eva aus seinem Leben und seiner Zukunft herausschneiden, wie eine alte Warze, gegen die man endlich etwas unternahm. Alles würde aufgeräumt und sauber und voller Möglichkeiten sein. Ein unbefleckter Neuanfang, der unbeeinflusst war von allem Vorangegangenen, allen Entscheidungen, die er einmal getroffen hatte. Nun begriff er mit vernichtender Deutlichkeit, dass es niemals so werden konnte, dass sie für immer zusammengehörten, ob sie wollten oder nicht. Die Entscheidungen, die er einmal getroffen hatte, würden ihn durchs ganze Leben begleiten, Axel war eine der Konsequenzen. Er hatte nur die Vorteile gesehen, hatte vergessen, sich Axel und Eva mit einem anderen Mann vorzustellen, einem Mann, der im Übrigen genauso viel Zeit mit Axel verbringen würde wie er selbst. Der den heranwachsenden Axel mitprägen würde. Nachdem er den Idioten gesehen hatte, um den es ging, war der Gedanke umso unerträglicher.
Aber unerträglich war auch der Gedanke, Linda zu verlieren.
Oder von Eva verlassen zu werden.
Oder nie von ihr geliebt worden zu sein.
Verfluchte Scheiße.
Er brauchte Zeit. Zeit, zu verstehen, was eigentlich geschah.
Was er eigentlich wollte.
Er stand auf und griff nach dem Kabinenschlüssel. Er musste sie suchen. Ob es aus Rücksicht war oder weil die Wände ihn zu ersticken drohten, wusste er nicht. Er bekam ihre Kabinennummer in der Rezeption, aber keine Antwort, als er anklopfte. An ihr Handy ging sie auch nicht. Systematisch durchforstete er die Bars und Restaurants des Schiffs. Was wollte er von ihr? Er wusste es nicht. Wusste nur, dass er mit ihr reden musste. Dass er einen Versuch unternehmen musste, es ihr verständlich zu machen. Sie befand sich in keiner der blinkenden Diskotheken und auch nicht in den von Karaokegebrüll erfüllten Bars. Vor einem großen Panoramafenster blieb er stehen, er hatte die Orientierung verloren. In der pechschwarzen Dunkelheit hinter der Scheibe war nicht einmal die Fahrtrichtung zu erkennen, ob er in der Nähe des Bugs oder des Hecks war. Er fand einen Übersichtsplan und ging zurück zu ihrer Kabine. Diesmal öffnete sie, blinzelte ins scharfe Licht auf dem Gang. Sagte kein Wort. Ließ nur die Tür offen stehen und trat zurück in das dunkle Innere. Er atmete tief durch, bevor er ihr folgte, wusste noch immer nicht, was er sagen wollte. Dann schloss er die Tür hinter sich und blieb im Dunkeln stehen.
»Mach nicht das Licht an.«
Er hörte ihre Stimme einige Meter entfernt und zog die Hand zurück, die automatisch die Wand nach einem Lichtschalter abgesucht hatte.
»Ich sehe nichts.«
Sie antwortete nicht. Er hörte, wie ein Glas auf einen Tisch gestellt wurde. Ein schwacher Lichtschein von der Luke begann sich in der Dunkelheit abzuzeichnen, und kurz drauf erschienen die Konturen eines Stuhls. Er blieb stehen, um seine Augen noch ein wenig zu gewöhnen. Wollte nicht riskieren, über irgendetwas zu stolpern. Ihm musste unbedingt etwas zu sagen einfallen.
»Wie geht es dir?«
Auch diesmal antwortete sie nicht.
Lange stand er schweigend da. Er hatte die Initiative übernommen, aber er wusste nicht, mit welchen Worten er es ihr erklären sollte.
»Hast du etwas zu trinken?«
»Nein.«
Er hörte sie wieder nach dem Glas greifen und ein paar Schlucke trinken.
Das hier würde alles andere als einfach werden.
»Linda, ich ...«
Er hatte jetzt Herzklopfen. Er fühlte so viel, und nichts davon konnte er erklären. Sie war doch sein engster Freund gewesen. Sie hatte ihn so gut verstanden. Mit ihr ging es ihm so gut. Sie hatte ihm den Mut verliehen, mutig zu sein.
Er hörte, wie sie ihre Position änderte. Vielleicht setzte sie sich auf.
»Was willst du?«
Drei Worte.
Jedes für sich allein oder in einem anderen Zusammenhang vollkommen ungefährlich. Ganz ohne innewohnende Schwere. Bloß die Frage, was er wollte. Wie er leben wollte.
In diesem Augenblick stellten sie einen Angriff auf sein gesamtes Dasein dar. Nun musste er die Entscheidung treffen, mit der er bis ans Ende seiner Tage zu leben haben würde. Die ihn in die Zukunft führen würde, die er aus freiem Willen, hier und jetzt, wählen konnte. Jetzt war die Gelegenheit. Oder nicht? Genau das wusste er nicht mehr, hatte er überhaupt eine Wahl? Es machte das Ganze so schwierig. Dass er nichts mehr wusste. Vielleicht war dies hier seine einzige Alternative? Vielleicht war die Entscheidung schon gefällt worden, über seinen Kopf hinweg.
Von Eva.
Wieder einmal.
Scheiße.
Linda musste doch begreifen, dass sich alles verändert hatte. Dass das Ganze nicht mehr so einfach war. Sie konnte nicht von ihm verlangen, dass er eine so wichtige Entscheidung traf, ohne dass er darüber nachdenken oder herausfinden durfte, wie die Dinge lagen.
»Wenn du sowieso nichts zu sagen hast, gehst du besser.«
In ihrer Stimme war eine Kälte, die ihm Angst machte. Er war dabei, alles zu verlieren. Sowohl als auch. Das, was er besaß, und das, was er sich erträumt hatte. Was sollte er dann machen? Wenn er allein zurückblieb?
»Bitte, können wir nicht das Licht anmachen, damit ich dich sehe?«
»Warum willst du mich sehen? Du willst mich ja doch nicht haben.«
Er spürte seine Wut aufsteigen. Meine Güte, war sie bedauernswert! Da lag sie und konnte einem Leid tun und unternahm nicht die geringste Anstrengung, ihn zu verstehen, ihm entgegenzukommen.
»Ich will nur eine Antwort auf meine Frage. Das ist alles, was ich verlange, und es geht genauso gut im Dunkeln. Was willst du eigentlich?«
Jetzt sah er ihre Konturen. Sie saß auf dem Bett. Einzelkabine wie seine.
»Das ist nicht so einfach!«
»Was ist nicht einfach?«
»Es ist ja alles anders.«
»Was ist anders?«
Nun war auch der Boden zu erkennen, und er ging zu dem Stuhl, nahm ihre Jacke, die über der Rückenlehne hing, und legte sie sich auf den Schoß, während er sich setzte.
Er seufzte schwer.
»Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.«
»Versuch es.«
Scheiße.
Scheiße, Scheiße, Scheiße.
»Es ist ja nicht so, dass sich meine Gefühle für dich verändert haben, so ist es nicht.«
Sie saß stumm da. Aus dieser Perspektive war es schwieriger, ihre Konturen zu erkennen. Vielleicht war es ja leichter, das zu sagen, was er sagen musste, wenn er sie dabei nicht sah.
»Es ist so ein merkwürdiges Gefühl ..., ich weiß, es klingt seltsam, aber ... Eva und ich haben ja fast fünfzehn Jahre zusammengelebt. Auch wenn ich sie nicht liebe, so ... kann ich einfach nicht fassen, dass sie ein ganzes Jahr lang einen anderen gehabt hat. Ich fühle mich so verdammt verarscht.«
Die Dunkelheit war auf seiner Seite. Er brauchte sie nicht anzusehen, seine Scham nicht zu zeigen. Und er wollte ihre Fragen und Vorwürfe nicht hören. Er wollte ihre Unterstützung. Ihr Verständnis.
»Ich habe es dir nicht erzählt. Ich glaube, ich habe es niemandem erzählt, nicht einmal Eva. Es ist lange her, ich war erst zwanzig, daheim in Katrineholm, bevor ich nach Stockholm zog.«
Wie er geliebt hatte. Bedingungslos und bis zum Wahnsinn. Zumindest hatte er das geglaubt. Zwanzig Jahre alt und unbeschwert. Alles neu, alles zum ersten Mal. Ungestört. Grenzenlos.
»Da war ein Mädchen, sie hieß Maria. Sie war ein Jahr jünger als ich. Wir zogen gemeinsam in eine kleine Einzimmerwohnung mitten in der Stadt, nach dem Abitur. Ich war sehr verliebt in sie ...«
Der Preis war hoch gewesen. Er hatte alles aufs Spiel gesetzt, ohne sich eine Sekunde lang sicher zu fühlen. Von Anfang an hatte ein Ungleichgewicht geherrscht, er hatte mehr geliebt als sie, in jedem wachen Augenblick hatte er darum gekämpft, seine Balance wieder zu finden. Jeden Tag die lähmende Angst, sie zu verlieren, eine Angst, die zuletzt sein gesamtes Dasein beherrschte. Und er hatte guten Grund gehabt. Nie war es ihm gelungen, Vertrauen zu ihr zu fassen, obwohl sie beteuerte, dass alles war, wie es sein sollte. Sie hatte ihn in einer falschen Sicherheit gewiegt, auf die er schließlich vertrauen musste, weil er keine andere Wahl hatte. Bis sein Verdacht von anderen bestätigt wurde.
»Sie hat mich hintergangen. Irgendwie hatte ich es die ganze Zeit geahnt, aber sie versicherte mir immer, dass es nicht so war. Doch am Ende gab sie zu, dass sie einen anderen kennen gelernt hatte.«
Nie mehr wieder soll mir jemand so wehtun. Mich so hinters Licht führen. Ich werde nie wieder jemanden so nah an mich heranlassen.
Zwanzig Jahre her, und die Wunde war noch immer nicht verheilt. Sein Versprechen hatte er gehalten. Bis er Linda traf. Sie hatte ihn gezwungen, es zu wagen.
Nun hatte Eva alles sabotiert, indem sie die Wunde wieder aufriss.
Er hörte sie trinken. Erahnte ihre Bewegungen im Dunkeln.
»Ich habe nur eine einzige Frage. Was willst du?«
Er schloss die Augen.
Antwortete ehrlich.
»Ich weiß es nicht.«
»Dann will ich, dass du gehst.«
»Linda, bitte.«
»Ich weiß, was ich will, das weiß ich schon lange und habe es dir gesagt. Du hast mir auch gesagt, was du willst, aber jetzt wird mir klar, dass du es überhaupt nicht ernst gemeint hast.«
»Habe ich doch.«
»Nein, hast du nicht!«
»Doch, das habe ich, es ist nur so, dass sich alles verändert hat.«
»Na dann. Dann war es eben nicht mehr als das. Du erfährst, dass deine Frau mit einem anderen zusammen ist, und schon sind wir beide nichts mehr wert. Pfui Teufel!«
Sie legte sich wieder auf das Bett.
»Linda, darum geht es nicht.«
»Was, zum Teufel, hat sich so verdammt verändert? Wenn es nicht deine Gefühle für mich sind. Vor wenigen Tagen haben wir uns gemeinsam eine Wohnung angesehen.«
Gib mir ein Jahr auf einer einsamen Insel.
Und alle Wahlmöglichkeiten.
»Kannst du nicht auf mich warten?«
»Worauf soll ich warten? Dass du herausfindest, ob du sie zurückbekommst oder nicht?«
»Nein!«
»Worauf soll ich dann warten? Dass du dich entscheidest, ob ich als Ersatz tauge oder nicht?«
»Hör auf, Linda. Ich habe bloß das Gefühl, dass alles viel zu schnell geht. Meine Reaktion beweist mir ja, dass ich ...«
Diesmal unterbrach er sich selbst. Was hatte ihm seine Reaktion eigentlich bewiesen?
»Dass du im Grunde deine Frau liebst?«
»Nein, so ist es nicht. Das tue ich wirklich nicht.«
Oder?
»Das ist es nicht. Ich merke nur, dass ich ... noch nicht bereit bin, es wäre dir gegenüber nicht fair ...«
Wenn er sich nur in Luft hätte auflösen können!
»Ich bin einfach noch nicht so weit. Es wäre dir gegenüber nicht fair, wenn wir ein gemeinsames Leben anfangen würden, während ich so empfinde.«
»Und da meinst du also, ich sollte zu Hause sitzen und auf dich warten. Falls du jemals so weit bist.«
»Für dich ist alles so viel einfacher. Du gehst ja kein Risiko ein.«
Sie setzte sich wieder auf.
»Ich riskiere nichts? Ich bin eine Kindergärtnerin, die mit dem Vater von einem meiner Kinder zusammen ist! Was glaubst du, was mit mir passiert, wenn es herauskommt? Na? Und diese E-Mails, die jemand verschickt hat? Was meinst du, was es für ein Gefühl ist, wenn sich jemand Zugang zu deinem Computer verschafft, deine privaten Briefe durchsucht und einen davon mit deinem Absender verschickt? Begreifst du denn nicht, dass irgendwer Bescheid weiß? Der uns gesehen hat. Und mich zu bestrafen versucht.«
»Eva war es nicht. Ich weiß, dass du das glaubst, aber so ist sie nicht. Was, zum Teufel, hätte sie davon? Sie müsste doch zufrieden sein. Jetzt hat sie freie Hand.«
Linda blieb stumm, und er sah sie den Kopf schütteln. Wie sie vor Abscheu langsam den Kopf hin und her drehte.
Abscheu vor ihm.
»Du solltest dich hören. Hör dir an, was du sagst. Der arme kleine verlassene Henrik. Der kann einem aber Leid tun!«
Schweigend saß er da.
Er hatte sie verloren.
Sie stand auf und öffnete die Kabinentür. Das scharfe Licht der Neonröhren auf dem Gang blendete ihn. Von ihr war nur eine Silhouette übrig.
»Du wirst nie so weit sein, Henrik. An deiner Stelle würde ich meine Zukunft dazu nutzen herauszufinden, wer ich bin und was ich eigentlich mit meinem Leben anfangen will. Danach kannst du rausgehen und andere in deine Pläne verwickeln.«
Er schluckte. Der Kloß, der in seinem Hals steckte und schmerzte, wollte nicht verschwinden.
»Geh jetzt.«
Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so nervös gewesen war. Der gigantische Strauß Rosen neben ihm auf dem Beifahrersitz sah plötzlich grotesk aus, wie eine alberne Requisite in einem noch alberneren Film. Es war kurz nach zehn am Vormittag, und er war dankbar, dass er einen Tag allein zu Hause vor sich hatte, um sich zu sammeln, bevor sie von der Arbeit kam. Er hatte nicht angerufen und mitgeteilt, dass er einen Tag früher zurückkommen würde.
Er war jetzt ganz in der Nähe. In der Nähe seines Zuhauses. Und er hatte sich nie so weit weg gefühlt. Er fluchte über einen schlecht geparkten alten Mazda, der halb in die Fahrbahn ragte und kurz vor der Rechtskurve stand, an der ihre Straße begann. Im nächsten Augenblick sah er sein Zuhause. Ihr Auto stand in der Einfahrt.
Warum war sie nicht in der Firma?
Und dann der nächste Gedanke.
Vielleicht war sie nicht allein da drin. Vielleicht hatte sie die Gelegenheit genutzt, ihren Liebhaber mit nach Hause zu bringen, während er endlich einige Tage aus dem Weg war, um ihm ihr schönes Haus zu zeigen, vorzuweisen, was sie an materiellen Gütern zu bieten hatte. Der Gedanke widerte ihn in ähnlich hohem Grade an, wie er ihn erschreckte. Jetzt war er allein, und die beiden waren zu zweit. Und er war derjenige, der das Haus würde verlassen müssen, sie hatte die Mittel, ihn auszubezahlen. Und dann würde dieses Schwein in sein Haus einziehen und die Früchte all der Arbeit und der Schinderei genießen, die er hineingesteckt hatte, bis es fertig war. Verdammter Mist. Sie war doch so verständnisvoll gewesen. Hatte gefunden, er solle ein paar Tage wegfahren und nachdenken. Ich kümmere mich hier so lange um alles, das ist vollkommen in Ordnung, die Hauptsache ist doch, dass es dir wieder besser geht. Ich bin hier, wenn du mich brauchst, das werde ich immer sein. Vielleicht konnte ich es manchmal nicht so gut zeigen, aber ich will versuchen, mich zu bessern.
Wie war es möglich, so kalt und berechnend zu sein, nur um ihn ein paar Tage loszuwerden, damit sie in Ruhe mit ihrem Liebhaber ficken konnte? Wer war sie eigentlich, die Frau, mit der er fast fünfzehn Jahre zusammengelebt hatte? Kannte er sie überhaupt?
Und die Reise, die sie gebucht hatte. Und der Champagner. Alles nur, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen? Er öffnete die Fahrertür, nahm die Rosen und stieg aus. Falls sie ihn durch ein Fenster gesehen hatte, konnte er jetzt schlecht umkehren. Doch was sollte er machen, wenn der andere im Haus war?
Er beeilte sich nicht, als er den Schlüssel ins Schloss steckte. Machte so viel Lärm, wie er konnte, um den beiden Zeit zu geben, das zu unterbrechen, womit sie womöglich gerade beschäftigt waren, ein Schlafzimmerdrama war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Er stellte seine Reisetasche im Flur ab und sah sich nach fremden Schuhen, Jacken und Mänteln um, ohne welche entdecken zu können.
Ihre Stimme aus dem oberen Stockwerk.
»Hallo?«
Instinktiv versteckte er den Strauß hinter seinem Rücken.
»Ich bin es nur.«
Ihre Schritte da oben, und dann waren ihre Füße, Beine und schließlich ihre ganze Person auf halber Treppe sichtbar, wo sie stehen blieb. Der Ausdruck in ihrem Gesicht war schwer zu deuten, vielleicht erstaunt, vielleicht verärgert.
»Ich dachte, du wolltest nicht vor morgen Abend kommen.«
»Ich weiß. Ich habe mich anders entschieden.«
Er schluckte den Impuls hinunter, sie zu fragen, ob sie allein war, dabei wollte er es unbedingt wissen.
Sie blieben stehen und betrachteten einander, keiner von beiden bereit zum nächsten Schritt. Der Blumenstrauß brannte in seiner Hand, plötzlich so peinlich, dass er am liebsten rückwärts wieder hinausgegangen wäre und ihn entsorgt hätte, bevor er entdeckt wurde.
Es war ihm unmöglich herauszufinden, was er fühlte, als er sie sah. Nur der Wunsch, in aller Ruhe die Treppe hinaufsteigen zu können, auf das Sofa zu sinken und alles sein zu lassen wie immer. Entscheiden, wer Axel vom Kindergarten abholen sollte, ohne Magenschmerzen dorthin fahren und dann wie an einem ganz gewöhnlichen Dienstag zu Abend essen. Fragen, wie es dem Kind ginge, sich erkundigen, ob jemand angerufen hätte und wo seine Post läge. Ob sie sich einen Film ausleihen wollten. Aber zwischen ihnen türmte sich ein Berg. Und er hatte keine Ahnung, wie er den überwinden sollte. Was ihn dahinter erwartete.
»Wieso bist du nicht bei der Arbeit?«
Es war nicht seine Absicht gewesen, die Frage wie eine Schnüffelei klingen zu lassen, aber er hörte selbst, wie vorwurfsvoll sein Ton war. Und es war mehr als deutlich, dass sie nach einer passenden Antwort suchte, weil es keine gab.
»Ich hatte ein wenig Halsweh.«
Als sie das sagte, war sie schon wieder auf dem Weg nach oben, ohne ihn anzusehen. Er wusste, dass sie log. Als sie außer Sichtweite war, legte er den Strauß ab und zog sich schnell die Jacke aus, betrachtete sich im Garderobenspiegel und fuhr mit den Fingern durch sein Haar. Er konnte sich nicht erinnern, wann er ihr zuletzt Blumen gekauft hatte. Falls er es jemals getan hatte. Aber wenn ihm gelingen sollte, was er sich vorgenommen hatte, musste er seine Schamgefühle überwinden. Er hatte nur ein Ziel, doch in seinem Innern fochten die Gefühle untereinander einen Kampf aus. Wut, Angst, Verwirrung, Entschlossenheit.
Er nahm die Rosen und ging die Treppe hinauf.
Sie stand am Küchentisch und sammelte Papier ein. Ein Taschenrechner und ein Stift. Der Ordner, den sie vom Makler bekommen hatten, in dem sie alle Rechnungen und Kreditunterlagen aufbewahrte, die das Haus betrafen.
Wieder die Angst. Stärker als die Wut.
»Was tust du?«
Bevor sie antworten konnte, entdeckte sie den blutroten Rosenstrauß. Stand schweigend da und starrte ihn an, als versuchte sie zu erkennen, worum es sich handelte. Schließlich, nach einer quälend langen Pause, in der er nur das Klopfen seines eigenen Herzens vernahm, gelang es ihr endlich, den Gegenstand zu identifizieren.
»Hast du Blumen bekommen?«
»Nein, die sind für dich.«
Er reichte ihr den Strauß, aber sie blieb stehen, wo sie stand. Nicht die Andeutung einer Reaktion. Alles leer. Kein Ansatz, auf ihn zuzukommen und die Blumen in Empfang zu nehmen. Durch ihre Gleichgültigkeit fühlte er sich plötzlich so lächerlich, dass er ihr am liebsten alle Vorwürfe direkt ins Gesicht geschleudert hätte. Er wollte diese falsche, kalte Maske zerbrechen, hinter der sie sich versteckte, und sie in die Knie zwingen. Damit sie gestand. Aber er musste sich klüger anstellen, wenn er mit dieser Sache fertig werden wollte.
Er schluckte.
»Soll ich sie ins Wasser stellen?«
Seine Worte brachten sie in Bewegung, sie ging zum Regal über dem Kühlschrank, in dem sie die Vasen aufbewahrte, zögerte kurz, als sie nicht hinaufreichte, kehrte zurück zum Küchentisch und holte einen Stuhl. Sie bedankte sich nicht, als er ihr den Strauß überreichte. Schaute ihn auch nicht an. Nahm ihm nur die Blumen aus den Händen, drehte sich um und ging zur Spüle. Er stand da und betrachtete ihren Rücken, als sie lange und umständlich die Rosenstiele abschnitt und in einer Vase arrangierte.
Vielleicht hatte sie bereits einen Entschluss gefasst und schöpfte jetzt lediglich Kraft. Vielleicht würde sie sich bald umdrehen und sagen, wie es stand, dass sie sich entschieden hatte, während er fort war. Würde zugeben, dass sie einen anderen kennen gelernt hatte und nun mit ihm leben wollte. Er musste ihr zuvorkommen, musste ihr begreiflich machen, dass er bereit war, um das zu kämpfen, was sie hatten, dass er sich ändern würde, wenn sie ihm nur eine Chance gäbe. Er musste ihr verständlich machen, dass sich ihre Entscheidung auf die falschen Voraussetzungen gründete.
Er spürte plötzlich, dass er hätte weinen mögen, dass er am liebsten zu ihr gegangen wäre und ihr die Arme um den Hals gelegt hätte. Wollte sich ganz eng hinter sie stellen und ihr sagen, was los war. Ein für alle Mal die Lügen abwerfen und ihr wieder nah sein dürfen, ohne dass sie zwischen ihnen standen. Wann hatten sie aufgehört, miteinander zu reden? Hatten sie jemals solche Gespräche geführt, wie er und Linda es konnten? Warum war es mit ihr so leicht gewesen und mit Eva nicht, sie kannten sich doch seit fünfzehn Jahren? Sie wusste mehr über ihn als jeder andere. Er hielt es nicht länger aus, mit ihr entzweit zu sein. Sie teilten zu viele Erinnerungen. Und sie teilten Axel.
Bitte, Eva. Verzeih mir. Verzeih.
Es ging nicht. Übermenschliche Kräfte wären vonnöten gewesen, um diesem Wort Klang zu verleihen, um seine Untreue und seine Lügen zu gestehen, auch wenn Eva keinen Deut besser war. Es widerstrebte ihm, sich so zu entblößen, bevor er nicht wusste, wie sie reagieren würde, ob sie ihn abweisen würde oder nicht. Aber er musste versuchen, sich ihr anzunähern, die Zeit drängte, er musste an sie herankommen, bevor es zu spät war. Bevor sie sich umdrehte und ihren Entschluss aussprach.
»Ich hatte Sehnsucht nach dir.«
Sie drehte sich nicht um, aber ihre Hand verharrte auf halbem Weg zwischen Spülbecken und Vase. Er hörte, wie ungewohnt seine Worte klangen. Als ob sogar der Raum verblüfft wäre. Es war so lange her, dass etwas Ähnliches zwischen diesen Wänden gesagt worden war, und er überlegte selbst, ob es stimmte. War es Sehnsucht nach ihr, was er empfunden hatte? Im wahrsten Sinne des Wortes. Ja, das war es. Sehnsucht nach ihrer Loyalität.
»Während ich weg war, habe ich nachgedacht, wie du mir geraten hast, und ich würde dich gern um Entschuldigung bitten, weil ich in der letzten Zeit so mürrisch war. Und ich habe über die Islandreise nachgedacht, die du gebucht hast. Ich möchte wirklich gerne, dass wir beide dorthin fahren.«
Ihre Hand hatte den Weg vom Spülbecken bis zur Vase fortgesetzt.
»Die habe ich storniert.«
»Dann buchen wir eine neue. Ich kann das machen.«
Eifrig. An der Grenze zur Verzweiflung. Ein wilder Versuch, die feindlichen Linien zu durchbrechen, eine erste Antwort zu erringen, die ihm andeutete, wohin sie unterwegs waren. Und er verabscheute es, wieder einmal ihrem Willen, ihren Entscheidungen ausgeliefert zu sein. Innerhalb von einer Sekunde hatte er sich angepasst und war aller Tatkraft beraubt, die er im letzten halben Jahr an sich entdeckt hatte.
Das Telefon klingelte. Sie war schneller, obwohl er näher dran war. Er hatte gezögert, weil er fand, dass sie es klingeln lassen sollten.
»Eva.«
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, als sie hörte, wer es war. Als wäre sie beinahe ertappt worden.
»Ich bin noch nicht dazu gekommen, kann ich dich später zurückrufen?«
Wozu nicht gekommen?
»Gut, das mache ich. Bis dann.«
Sie legte auf.
»Wer war das?«
»Mein Vater.«
Log, ohne ihn dabei anzuschauen. Das war er gewesen. Der andere.
Irgendwie musste er aus seiner unterlegenen Position herauskommen. Er war derjenige, der in der letzten Zeit mürrisch gewesen war, sie würde sich weiterhin in aller Ruhe hinter ihrem Recht verstecken, die Verletzte und Unzugängliche zu mimen, vor der er zu Kreuze kriechen musste. Wie brachte er nur ein Geständnis aus ihr heraus? Er durfte ihr keine Vorwürfe machen, sonst wäre sie alarmiert und hätte einen guten Grund zurückzuschlagen, nein, er musste sie dazu bringen, sich selbst zu offenbaren.
Sie hatte sich wieder den Rosen zugewandt, obwohl sie bereits alle wohl geordnet in der Vase standen.
Er entschloss sich zu einem gewagten Vorstoß. Irgendeine Reaktion würde er schon bewirken.
»Ich soll dich übrigens von Janne grüßen.«
»Aha. Wie geht es ihnen denn?«
»Gut. Er hat gesagt, er hätte dich vor einer Weile in einem Bistro gesehen.«
»Aha.«
»Du hast ihn wohl nicht bemerkt. Er machte einen Scherz über das Frischfleisch, mit dem du dich verabredet hattest.«
»Frischfleisch?«
»Ja, du warst anscheinend mit einem jungen Kerl Mittag essen.«
»Daran kann ich mich nicht erinnern. Wann soll das gewesen sein?«
Sie nahm die Vase mit ins Wohnzimmer. Er folgte ihr.
»Vor einer Woche vielleicht. Ich weiß nicht genau.«
»Das kann ich nicht gewesen sein. Er muss sich getäuscht haben.«
Nicht aus der Ruhe zu bringen. Er kannte sie nicht. Hatte sie immer so gut lügen können? Vielleicht war es nicht das erste Mal, dass sie hinter seinem Rücken eine Affäre hatte, sie hatte in all den Jahren jede Gelegenheit dazu gehabt. Die vielen Geschäftsreisen und Überstunden. Auch wenn sie nicht mit ihm zu Mittag gegessen hatte, das Wort »Frischfleisch« hätte sie irritieren müssen. Dass ihr Geliebter zehn Jahre jünger war als sie.
Er merkte, dass seine Wut die Oberhand gewann, dass er sich bald nicht mehr zurückhalten könnte, sie an ihr auszulassen. Sie hatte die Vase auf den Wohnzimmertisch gestellt und richtete sie nun her, als hätten die Blumen an einer Symmetrieausstellung teilnehmen sollen.
Er drehte sich um und ging in Richtung Badezimmer, empfand ein starkes Bedürfnis, alles abzuduschen, was sich im Laufe des vergangenen Tages an ihn geklebt hatte.
Er kontrollierte das Badezimmerschränkchen. Keine vergessene Zahnbürste. Der Papierkorb war kürzlich geleert und mit einer neuen Plastiktüte versehen worden. In der Maschine lag Wäsche, und er öffnete die Luke, um sie aufzuhängen. Axels dunkelblauer Trainingsanzug, Evas schwarzer Pulli. Und ein schwarzer Stringtanga mit Spitze, den er noch nie gesehen hatte. Er hielt ihn mit spitzen Fingern in die Höhe, angeekelt beim Gedanken an ... Verflucht nochmal. So war sie also ausstaffiert, wenn sie ihren Hausfreund traf. Für ihn hatte sie sich natürlich nie so zurechtgemacht.
Er nahm zwei Wäscheklammern und hängte das Höschen auf den Trockenständer, damit sie es als Erstes erblickte, wenn sie das Badezimmer betrat. Merkte, dass er es entdeckt hatte. Und sich besorgt fragte, warum er es nicht kommentiert hatte.
Dann ging er wieder die Treppe hinauf und ins Schlafzimmer. Das Bett war gemacht und die Tagesdecke an ihrem Platz. Wie sollte er jemals wieder in diesem Bett schlafen?
Er zog die oberste Schublade der Kommode heraus, in der sie ihre Unterwäsche aufbewahrte, und wühlte zwischen ihren gewöhnlichen praktischen Unterhosen, mit dem sie ihn zu beehren pflegte. Dann fand er links zwischen ihren BHs noch ein unbekanntes Accessoire. Einen schwarzen, gepolsterten Spitzenbüstenhalter, den er auch noch nie gesehen hatte. Er hörte sie in der Küche klappern, hielt den BH hoch und wurde von dem Bild übermannt, das sie und der andere im Doppelbett hinter ihm abgaben, wie seine erregten Hände endlich den kleinen Haken aufbekamen, den er vor sich sah, und ihre Brüste entblößten. Er widerstand dem Impuls, geradewegs in die Küche zu rasen und ihn direkt in ihr selbstgefälliges Antlitz zu schleudern, zwang sich stattdessen zu einigen tiefen Atemzügen. Er wollte die Schublade gerade wieder hineinschieben, als er noch etwas entdeckte. Die Ecke von etwas Rotem. Ein abschließbares Tagebuch, doch der Schlüssel hing an einem silberfarbenen Draht von dem herz-chenförmigen Schloss. Ein Tagebuch? Seit wann beschäftigte sie sich mit so etwas? Die Geräusche aus der Küche versicherten ihm, dass sie noch immer dort war. Hastig öffnete er das Schloss mit dem kleinen Schlüssel und begann zu blättern. Rein und unbeschrieben. Kein Wort auf den weißen Seiten. Er wollte gerade wieder abschließen, als ihm etwas in die Hand fiel, und im selben Augenblick entdeckte er die handgeschriebenen Worte auf der Innenseite des Buchdeckels.
»Für meine Geliebte! Ich bin bei dir. Alles wird gut. Ein Buch, das du mit den Erinnerungen an all das Wunderbare füllen kannst, das auf uns wartet.«
Dann schaute er in seine Handfläche und wollte nicht glauben, was er da sah.
Mit einem hellblauen Faden zusammengehalten, lag da eine weizenblonde Locke von diesem Schwein.