18

Käfer zupfte die Bettdecke zurecht und beschloss, die Leier ein andermal wieder zu schlagen. Doch wohin mit dieser jungen Nacht? Er ging zurück in die Küche. Da war noch eine Ahnung von Speck und Ei in der Luft, und die Stille hatte viel zu erzählen. Käfer mochte solche Räume. In München war er oft in der Redaktion geblieben, wenn die anderen gegangen waren, hatte schweigend Sätze zu Ende geredet und Gedanken an Gedanken geknüpft. So manche Antwort, vordem verschüttet von verbalem Gerümpel, lag dann einfach da, Bruchstücke fügten sich zu Bildern.

Und auch jetzt gestand sich Daniel Käfer ein, dass er sehr gerne allein hier saß. Noch kurz zuvor hatte er diesen schändlichen Morpheus zum Teufel gewünscht, weil er Sabine so gebieterisch in seine Arme zog. Aber hier in der Küche konnte er ungestört Erinnerungen nachhängen, sie ausschmücken, mit neuen Farben malen. Es war ihm gestattet, sündhaften Fantasien nachzuhängen, begehrlichen Visionen und maßlosen Plänen. Sogar ein kleiner Seitensprung war widerspruchslos geduldet. Käfer erhitzte Wasser, goss Tee auf, fügte nicht wenig Rum und Zucker hinzu und dachte an Christine Köberl. Ob der Sepp wusste, was er an seiner Frau hatte? Oh doch, das wusste er. Die zwei waren ein Liebespaar. Doch diese merkwürdige Angst vor dem Aschermittwoch, der Wunsch, darüber zu reden, die Scheu davor, etwas dabei zu verraten, und dann noch Gerüchte und Geschwätz … Käfer spürte Unbehagen in sich aufsteigen. Der Mittwoch sollte ja auch ein konkretes Gespräch mit Bruno Puntigam bringen, und ob das Ergebnis ein erfreuliches sein würde, war neuerdings nicht mehr so gewiss. Ja, und die gemeinsame Arbeit mit Sabine war dann fürs Erste beendet. Penthouse in Hamburg statt Bauernhaus in Sarstein. Käfer trank die Tasse leer. Plötzlich fühlte er sich in dieser Küche allein gelassen und fehl am Platze.

Also gut, dann eben ein Abendspaziergang, eine Ehrenrunde sozusagen für diesen bemerkenswerten Tag. Von sentimentalem Trotz ergriffen, schlüpfte Käfer in Sabines Parka und trat vor das Haus. Die Nacht war sternenklar, eisig kalt, doch windstill. Hier in Sarstein war alles ruhig, keine Spur von Narrentreiben. Sogar das nahe Gasthaus Zum Ech blieb Montag geschlossen, weil Anna wie auch ihr Vater im Fasching Besseres zu tun hatte, als sich um Gäste zu kümmern. Käfer brachte den zum Hotel Wasnerin ansteigenden Weg hinter sich, atmete ein wenig schneller und spürte die Kälte nicht mehr. Auch die schlechte Laune war verflogen. Er hatte Lust darauf, noch irgendetwas zu erleben und ging entschlossen auf die kleine Stadt zu.

Nach einer guten halben Stunde war er am Ziel. Die Trommelweiber hatten wohl längst ihren Umzug beendet, doch nach wie vor waren Maschkera-Gruppen unterwegs. Daniel Käfer zog von Lokal zu Lokal. Er verfolgte mit angemessener Heiterkeit die Versuche einer Maurerpartie, mit Mörtel und Kelle Damenkosmetik zu betreiben, entkam mit knapper Not dem Zangenangriff animiert kreischender Hetären, wurde genötigt, mit kühnen Alpinisten auf einem Schneehaufen im Kurpark den Gipfelsieg zu feiern und konnte nur mit Mühe eine Kochtopf-bewehrte Kannibalen-Gruppe von seiner Ungenießbarkeit überzeugen.

„Daniel! Her da mit dir!“

Käfer war gerade dabei, im Gasthaus Zur Sonne ein Bier an der Schank zu trinken, als er Maria Schlömmers Stimme hörte. Er schaute sich suchend um und erblickte die Bäuerin in einer Runde von altmodischen Ringern in gestreiften Trikots, mächtige Schnurrbärte vor den Gesichtern, das Haar mit Pomade nachhaltig fixiert. Merkwürdigerweise intonierten die starken Männer soeben ein Kärntner Volkslied. Als Käfer zum Tisch kam, setzten sie zu einem inbrünstigen Schlussakkord an und rückten enger zusammen, damit er einen Sessel neben den von Maria zwängen konnte. „Das ist er!“, sagte sie triumphierend und fügte erklärend hinzu: „Ich hab alles von dir erzählt, Daniel. Und natürlich vom Henning.“

„Wirklich alles?“

„Ein bissl mehr. Die da vertragen was.“ Die Turner nickten synchron und stimmten ein weiteres Lied an, nicht minder betörend als das vorherige. „Je größer der Rausch, desto mehr Gefühl.“ Maria hob ihr Glas. „Wo treibt’s dich noch hin heute?“

„Bald einmal nach Haus, denk ich, war ein langer Tag.“ Käfer kämpfte mit erhobener Stimme gegen den Chorgesang an. „Und du?“

„Bis ich halt ins Bett find. Muss ja nicht das eigene sein.“

„Maria!“

„Ist was?“

„Aber nein. Ich geh dann wieder.“

Käfer atmete auf, als er die frische Winterluft spürte. Auf der Straße war es relativ ruhig. Gemächlich ging er weiter. Er bog in das steil ansteigende Riemergässchen ein, wo er Anna zuletzt gesehen hatte, erreichte den Chlumetzkyplatz und schaute vor dem wuchtigen Gebäude des Kammerhofes zum kleinen Turm hinauf, in dem er doch tatsächlich Licht sah. Entweder machte der von ihm sehr geschätzte Redakteur der Alpenpost Überstunden oder er kam nach eigenen närrischen Umtrieben erst jetzt zum Arbeiten. Dann führte ihn sein nächtlicher Spaziergang hinunter zur Grundlseer Traun und weiter zur Pfarrkirche. Vor dem Gasthaus Zur Traube blieb er stehen. In den Fenstern war Licht, Käfer hörte ein paar wehmütige Takte Faschingsmarsch und schaute neugierig durch das Tor. Der Raum dahinter war bis zum Gewölbe hinauf mit einem wahren Gebirge von Trommeln gefüllt. Käfer empfand sich als Eindringling und wollte schon wieder gehen, als er seinen Namen hörte. Ein Trommelweib ohne Maske stand in der Tür zur Gaststube und forderte ihn mit einer knappen Kopfbewegung auf einzutreten.

„Sie kennen mich?“

„Wer nicht? Kommen S’ nur weiter. Der Hubert ist auch wieder da.“

Jetzt sah sich Käfer einer unüberschaubaren Menge von Trommelweibern gegenüber. Das ganze weitläufige Wirtshaus war voll von wohlig ermatteten, weiß gekleideten Gestalten, die keine Masken mehr trugen. Sie aßen und tranken gemächlich, ließen hin und wieder ihren würdevollen Rausch in die Musik gleiten, elegisch oder hitzig improvisierend und dann doch wieder in schwergefügter Ordnung und Harmonie.

Käfer stand an der Schank und sah Hubert Schlömmer auf sich zukommen, der sein Kostüm ja am frühen Nachmittag abgelegt hatte. „Grüß dich, Hubert. Ich bin direkt erleichtert, nicht als einziger Zivilist hier zu stehen.“

„Wir haben noch einen.“ Schlömmer zeigte auf eine entfernte Ecke des Saales. Erst jetzt bemerkte Käfer, dass dort eine rundliche Gestalt saß und offenbar schlief: altmodisch gekleidet, mit einem spitzen Hut auf dem Kopf.

„Der Schiller. Rauschig.“

„Also hat er doch noch irgendwie Frieden geschlossen mit euch Trommelweibern? Und was ist das für ein Kostüm?“

„Keine Ahnung.“

Schlömmer wandte sich ab und ging zu seinem Tisch zurück. Vielleicht brachte ihn die Nähe Daniel Käfers in Verlegenheit.

Nach und nach machte sich die Ermattung am Ende eines harten Tages ja bemerkbar. Immer mehr Trommelweiber brachen zum Heimweg auf, doch eine Handvoll blieb und würde wohl noch lange bleiben. Auch Käfer wollte gehen. Zuvor aber trat er noch auf Schiller zu und betrachtete ihn nachdenklich. Der schlafende Mann machte einen merkwürdig starren Eindruck. Käfer gab ihm einen leisen Stoß. „He, Herr Schiller! Aufwachen, es ist Zeit zum Schlafengehen!“ Dann sah er Hubert Schlömmer neben sich, der dem Reglosen eine leichte Ohrfeige gab. Keine Reaktion. „Auweh. Der hat zu viel erwischt.“

„Alkoholvergiftung, Hubert? Ja …, aber dann muss ein Arzt her!“

Schlömmer zuckte mit den Schultern. Eines der Trommelweiber holte ein Handy hervor und begann zu telefonieren. Erst ein paar vergebliche Anrufe, dann ein Nicken. „Der Dr. Fischer kommt. Freud hat er keine.“

Es dauerte kaum zehn Minuten, bis der Arzt eintraf. Er warf einen kurzen Blick auf Schiller. Dann zog er ihm Jacke und Hemd aus, bettete ihn in Seitenlage auf den Boden. „Nasses Handtuch!“ Nach ein paar Minuten richtete er sich auf. „So. Wach ist er. Zucker und Puls passt. Ich geb ihm noch eine Injektion für den Kreislauf. Ins Spital muss er nicht, glaub ich. Und die brauchen jedes Bett. Aber allein sollte man ihn nicht lassen. Es gibt ja Zimmer in der Traube. Kann jemand bei ihm bleiben?“

„Ja, ich, meinetwegen!“

„Das nenn ich wahre Freundschaft, Herr Käfer. Reden S’ ihm gut zu. Er wird zittern und nervös sein. Und beim Erbrechen sollt er halt nicht ersticken. Vielleicht hat er Halluzinationen. Sie wissen ja: weiße Mäuse oder andere herzige Viecher. Wenn Sie den Eindruck haben, dass es nicht besser, sondern schlechter wird mit ihm, rufen Sie mich an. Dann muss er ja doch zur Entgiftung. Alles klar?“

Käfer nickte, der Arzt ging eilig davon.

Zwei Trommelweiber trugen Schiller einen Stock höher und legten ihn aufs Bett. Er redete wirr und litt offenbar Höllenqualen. Daniel Käfer tat, was er konnte, umsorgte seinen Schützling, versuchte ihn zu beruhigen, erzählte ihm lange Geschichten und verbarg so gut es ging seine Angst. Gegen Mitternacht bemerkte Käfer, dass Schillers Augenlider schwer wurden. Er atmete gleichmäßiger, und als er endlich einschlief, schien er entspannt zu sein. Käfer legte sich auf das Bett neben ihm, blieb aber lange wach.

Er musste dann doch geschlafen haben. Eine nasskalte Hand berührte seine Wange. „Herr Käfer!“ Er schaute in Schillers blasses Gesicht. Schweiß stand auf der Stirn.

„Gut, dass Sie wach sind. Ist es sehr schlimm?“

„Ich lebe, alles andere ist nicht wichtig. Wie soll ich Ihnen danken?“

„Darüber reden wir später.“ Käfer rollte sich vom Bett und ging zum Fenster. „Die Nacht ist bald vorbei. Wie ist es denn so weit gekommen mit Ihnen?“

Schillers Augenlider flatterten. Er wich Käfers Blick aus und zeigte auf den spitzen Hut, der neben dem Bett auf dem Boden lag. „Josef Fröhlich, der Hofnarr …“

„Geht es Ihnen wieder schlechter?“

„Nein …, ich wollte nur erklären. Fröhlich war ein Ausseer des 17. Jahrhunderts. Gelernter Müller, dann Spaßmacher und Taschenspieler auf Jahrmärkten und endlich kurzweiliger Rat am Hof des Kurfürsten von Sachsen in Dresden. Solche Hofnarren waren nicht gering zu achten. Sie wirkten nicht nur als Spaßmacher und Zauberer, sondern auch als Ratgeber und Kritiker. Fröhlich ist ein wohlhabender Mann geworden, seiner Ausseer Heimat stets verbunden.“

„Wie schön für ihn. Daher also die Maske?“

„Daher die Maske und daher der Suff.“

„Ich verstehe nicht.“

„Fröhlich war ein verdienstvoller und glücklicher Narr. Ich bin sein trauriges, nutzloses Zerrbild. In seiner Maske wollte ich mich wenigstens stilvoll zu Tode trinken, Herr Käfer – und gleichzeitig hoffte ich, dran gehindert zu werden, feig wie ich bin.“

„Können Sie die Wahrheit ertragen, Herr Schiller?“

„Es kann nicht schlimmer kommen.“

„Sie sind ein blöder, rücksichtsloser Egoist.“

„Ach ja?“

„Sie können Ihr Selbstmitleid und Ihren Weltschmerz inszenieren, wie Sie wollen. Aber nicht auf Kosten anderer.“

„Wie verstehe ich das?“

„Ich kenne Menschen, die Sie schätzen, sogar mögen. Und es werden noch einige mehr sein, die ich nicht kenne. Wer zum Teufel gibt Ihnen das Recht, diesen Menschen weh zu tun?“ Käfer, unausgeschlafen und schlecht gelaunt, war ziemlich laut geworden. Schiller schwieg betroffen.

„Kann ich Sie unbesorgt allein lassen, Sie Narr? Hier ist die Telefonnummer von Dr. Fischer – für alle Fälle.“

Schiller griff mit zitternder Hand nach dem Papier.

„Na dann, guten Morgen, Herr Schiller!“

„Herr Käfer!“

„Was denn schon wieder?“

„Es ist ein guter Morgen.“

Als Daniel Käfer endlich Sarstein erreicht hatte, war es Tag. Müde trat er ins Haus, wollte nach oben gehen, stutzte aber, als er Gelächter aus der Küche vernahm – ein wohl bekanntes Gelächter. Er öffnete die Tür. Hubert Schlömmer und Sabine saßen am Küchentisch, hatten gefüllte Schnapsgläser vor sich stehen und Spielkarten in den Händen. Noch befremdlicher war allerdings der Hut auf Sabines Kopf, offenbar Hubert Schlömmers Zweit-Hut. Käfer ging – von beiden unbemerkt – einen Schritt näher. „Störe ich?“

Sabine erschrak kurz, tippte dann aber lässig gegen die Hutkrempe. „Hallo, Daniel! Lustige Nacht gehabt, wie? Setz dich doch zu uns.“ Sie hob ihr Glas und trank einen kleinen Schluck. „Der Hubert hat sich ganz lieb bei mir entschuldigt, fast wortreich für seine Verhältnisse. Und das feiern wir jetzt mit einer Art Strip-Poker. Du kannst beruhigt sein, Daniel. Wie du siehst, bin ich am Gewinnen.“

„So, bist du?“ Käfer lächelte frostig. „Ich geh jetzt ins Bett. Und du kommst mit.“

„Warum? Ich bin ausgeschlafen!“

„Sicherheitsverwahrung.“