Das Schmale Land
Zwei Nervenenden berührten sich im oberen Hirnbereich Erns, und er gelangte zu Bewußtsein, nahm Dunkelheit wahr und spürte Enge. Es war ein recht unangenehmes Gefühl. Er streckte die Glieder, berührte die Eischale und stieß überall auf Widerstand. Abgesehen von einer Richtung. Er trat wiederholt zu, und nach einer Weile schaffte er es, einen Riß entstehen zu lassen. Daraufhin war das Empfinden der Enge nicht mehr ganz so beklemmend. Ern wand sich hin und her, kratzte über die Membran und zerrte daran. Und plötzlich machte er eine Erfahrung, die ihm ganz und gar nicht behagte: Er fühlte Nässe, eine Körperflüssigkeit, die nicht von ihm stammte. Das andere Wesen strebte ihm entgegen, tastete nach ihm. Ern wich zurück, und aus einem Reflex heraus schlug er auf die fremden Greifwerkzeuge ein, die ihm erschreckend stark und massiv erschienen.
Eine Periode der Passivität folgte. Beide Wesen begegneten sich mit Haß und Abscheu: Einerseits ähnelten sie sich zwar, doch andererseits unterschieden sie sich voneinander. Und es dauerte nicht lange, bis zwischen den kleinen Geschöpfen eine heftige Auseinandersetzung begann, wobei sie fast unhörbare quiekende Schreie von sich gaben.
Schließlich gelang es Ern, seinen Gegner zu erdrosseln. Als er versuchte, sich von ihm zu lösen, stellte er fest, daß sich in der Zwischenzeit einige Gewebekonglomerate miteinander verbunden hatten: Aus zwei Wesen war eins geworden. Ern erweiterte sein physisches Selbst, wuchs und verschmolz mit dem besiegten Individuum.
Eine Zeitlang ruhte sich Ern aus und erforschte die Sphäre seines Bewußtseins. Das Gefühl der Enge kehrte zurück. Er trat und stemmte sich der Schale entgegen, und ein zweiter Riß entstand, größer als der erste.
Ern kroch durch klebrigen Schleim, und grelles Licht verdrängte die Finsternis. Seine Welt verwandelte sich in eine beängstigend trockene Leere. Von oben erklang ein lautes Krächzen: Ein riesenhaftes Wesen flog auf ihn zu. Ern duckte sich und entging zwei nach ihm schnappenden Klauen. Rasch kroch er los, schob sich über harten Untergrund, rutschte, erreichte kühles Wasser und tauchte.
Er war nicht allein. Überall in seiner Nähe sah Ern vage Schemen. Manche von ihnen ähnelten ihm: bleiche, glotzäugige Sprotten mit schmalen Köpfen, auf denen dünner Flaum wuchs. Andere Gestalten hingegen waren größer, hatten längere und dickere Arme und Beine, einen steiferen und dichteren Schädelkamm, eine festere und silbergrau glänzende Haut. Ern bewegte sich und testete seine eigenen Arme und Beine. Er schwamm, vorsichtig erst, um zu lernen, dann kraftvoller und geschickter. Ein Gefühl des Hungers entstand in ihm, und er aß: Larven, kleine Knollenknoten an Schilfwurz und andere Dinge.
Und so begann die Kindheit Erns. Nach und nach lernte er die Wasserwelt kennen. Die Dauer dieses Prozesses ließ sich nicht bestimmen, denn in jenem Kosmos gab es keine Basis für ein Messen der Zeit. Es existierte keine regelmäßige Aufeinanderfolge von Licht und Dunkelheit, und der Wandel beschränkte sich auf das Wachstum Erns. Die einzigen außergewöhnlichen Ereignisse in den Watten bestanden aus Tragödien. Ein zu verspieltes Wasserkind, das sich von seiner Ausgelassenheit dazu hinreißen ließ, zu weit ins Meer hinauszuschwimmen, mochte in eine starke Strömung geraten und über die Sturmgrenze hinausgetragen werden. Ab und zu geschah es, daß die Knochenvögel einige besonders kleine Kinder fingen, die an der Oberfläche planschten. Am schrecklichsten jedoch war der Oger, der in den Sumpftiefen lauerte: ein gräßliches Ungeheuer mit langen Armen, einem flachen Gesicht und vier beinernen Auswölbungen auf dem Schädel. Einmal wäre ihm Ern fast zum Opfer gefallen. Der Oger versteckte sich unter den Wurzeln des Morastkrautes und sauste ihm plötzlich entgegen. Ern trat Wasser und schwamm eilig davon, und das Monstrum war so dicht hinter ihm, daß seine Krallen kurz über das eine Bein des Wasserkindes kratzten. Der Oger verfolgte ihn und gab dabei ein gurgelndes Brummen von sich. Kurz darauf wandte er sich jäh zur Seite, schnappte einen Spielkameraden Erns und sank auf den Grund herab, um seine Beute zu verschlingen.
Nachdem Ern groß genug geworden war, um den Raubvögeln zu trotzen, hielt er sich immer häufiger an der Oberfläche auf, schnupperte Luft und bewunderte die Weite, die sich seinen Blicken offenbarte – obgleich er kaum etwas von dem verstand, was er sah. Der Himmel bestand aus grauem trüben Dunst und schien nur weiter draußen über dem Meer etwas heller zu sein. Er veränderte sich nie, abgesehen von kurzen Regenschauern und einigen Wolkenfetzen, die ein auflebender Wind dahinwehte. Ganz in der Nähe erstreckte sich der Sumpf: tiefe Morastzonen, Sandbänke und kleine Inseln, auf denen die fast farblosen Stengel von Schilf und Riedgras wuchsen, überaus zart wirkende schwarze Büsche und Sträucher, einige spindeldürre Dendriten. Jenseits davon begann die Zone der Dunkelheit. Wenn Ern in die andere Richtung blickte, übers Meer hinweg, so sah er in einiger Entfernung eine hohe Barriere aus Wolken und Regen, eine diffuse Masse, die ab und zu von zuckenden Blitzen erhellt wurde. Die Wand der Finsternis und der Sturmwall verliefen parallel zueinander und begrenzten die Welt Erns.
Die größeren Wasserkinder spielten gern an der Oberfläche. Es gab zwei verschiedene Arten. Das typische Individuum war schlank und geschmeidig, hatte einen schmalen knochigen Kopf, einen einzelnen Schädelkamm und vorquellende Augen. Sein Temperament war wechselhaft: Es neigte zu jähem Zorn, und oftmals kam es zu plötzlichen Streitereien, die meistens ebenso rasch zu Ende gingen, wie sie entstanden. Der geschlechtliche Unterschied ließ sich nicht verkennen: Die eine Hälfte aller Wasserkinder war männlich, die andere weiblich.
Im Gegensatz dazu stand eine Minderheit: die Wasserkinder, die zwei Schädelkämme besaßen. Sie waren größer, wiesen breitere Köpfe und weniger vorstehende Augen auf und zeichneten sich durch ein ruhigeres Wesen aus. Ihre geschlechtlichen Eigenheiten ließen sich nicht ohne weiteres bestimmen, und mit Mißbilligung begegneten sie den Possen der Wasserkinder, die nur einen Schädelkamm hatten.
Ern ordnete sich der letzteren Gruppe zu, obwohl das Wachstum seines Kamms noch nicht abgeschlossen war. Er glaubte jedoch, breiter und stämmiger zu sein als die anderen. Seine sexuelle Entwicklung schritt nur langsam voran, aber er zweifelte nicht daran, männlichen Geschlechts zu sein.
Die ältesten Kinder beider Gruppen beherrschten den Umgang mit einigen Mitteilungsfragmenten – Überlieferungen aus grauer Vorzeit. Als es soweit war, lernte Ern die Sprache, und anschließend fand er Gefallen an langen Diskussionen, bei denen es um Vorgänge in der Welt der Watten ging. Die Sturmgrenze mit dem unablässigen Leuchten der Blitze erwies sich immer als interessant, doch die Aufmerksamkeit der Wasserkinder galt in erster Linie dem Sumpf und dem höheren Terrain jenseits davon. Aufgrund der alten und von der Sprache übermittelten Traditionen wußten sie alle, daß dort ihr Schicksal auf sie wartete, in der Welt der ›Anderen‹.
Gelegentlich konnten sie die ›Anderen‹ dabei beobachten, wie sie im Uferschlamm nach Plattfischen suchten oder die Schilfzonen durchstreiften und sich dabei auf eine Weise verhielten, die sehr sonderbar anmutete. Wenn das geschah, regten sich eigentümliche Gefühle in den Wasserkindern, und sie tauchten sofort. Nur die wagemutigsten Einkammigen blieben weiterhin an der Oberfläche (sie schwammen so, daß nur ihre Augen aus dem Wasser ragten) und beobachteten die seltsamen Aktivitäten an Land.
Das Erscheinen von Anderen führte bei den Wasserkindern jedesmal zu angeregten Gesprächen. Die Einkammigen behaupteten, daß sie schließlich alle zu Anderen heranwüchsen und eines Tages die Watten verlassen und in die Welt der Trockenheit wechseln würden. Und das sei, meinten sie, sei ein Segen, ein Grund zum Frohlocken. Die Zweikammigen aber waren skeptischer. Sie räumten durchaus eine solche Möglichkeit ein – immerhin wußten alle, daß sich ihr Schicksal irgendwann auf dem Land erfüllte. Doch was dann? Die Überlieferungen der Traditionen boten ihnen keine weiteren Hinweise an, und deshalb konnte man nur spekulieren.
Schließlich ergab sich für Ern die Möglichkeit, die Anderen mit eigenen Augen zu betrachten. Er war gerade dabei, auf dem Grund nach Krustentieren zu suchen, als er ein lautes und rhythmisches Platschen vernahm. Als er aufsah, fiel sein Blick auf drei große und lange Gestalten: prächtige Wesen! Sie schwammen kraftvoll und anmutig, und sie wirkten so beeindruckend, daß vermutlich selbst der Oger keinen Angriff gewagt hätte! Ern folgte ihnen in sicherem Abstand und überlegte, ob er es wagen sollte, sich ihnen zu nähern und zu zeigen. Sicher wäre es höchst interessant gewesen, mit jenen Anderen zu sprechen und von dem Leben auf dem Land zu erfahren… Die Fremden verharrten, beobachteten einige spielende Wasserkinder und deuteten hierhin und dorthin, während die Kinder innehielten und verwundert zu ihnen emporstarrten. Und da kam es zu einem erschreckenden Zwischenfall.
Das größte der zweikammigen Wasserkinder war Zim der Namensgeber, ein Wesen, das als klug und weise galt. Zims Vorrecht bestand darin, seinen Artgenossen Namen zu verleihen, und von diesem Privileg hatte er auch Ern gegenüber Gebrauch gemacht. Zim bemerkte die Anderen zunächst nicht, als er heranschwamm. Die Fremden deuteten auf ihn, gaben dumpfe und guttural klingende Schreie von sich und tauchten. Zim erstarrte, als er sie kommen sah, und er zögerte kurz und sauste dann fort. Die Anderen verfolgten ihn, jagten hin und her und hatten ganz offensichtlich die Absicht, ihn einzufangen. Zim schien vor Angst völlig außer sich zu sein, denn er entfernte sich von den Watten; nach einer Weile wurde er von der Strömung erfaßt und fortgetragen, in Richtung der Sturmgrenze.
Die Anderen gestikulierten zornig und enttäuscht und schwammen zurück. Ihre Arme und Beine durchteilten das Wasser und bewegten sich so kraftvoll und wuchtig, daß Gischt spritzte.
Fasziniert und neugierig folgte Ern. Durch einen seichten Priel glitt er, und schließlich verharrte er vor einem Strand aus dichtem Morast. Die Anderen wateten an Land und schritten durch das hohe Riedgras davon. Ern ließ sich treiben, und in seinem Innern herrschte ein Durcheinander aus widerstreitenden Empfindungen. Er fragte sich verblüfft, wieso derart prächtige Geschöpfe Zim den Namensgeber in den sicheren Tod gejagt hatten. Das Land war recht nahe, und in dem festen Morast zeigten sich die Fußspuren der Fremden. Wohin führten sie? Und welche Wunder harrten jenseits des Grases auf Entdeckung? Ern wagte sich noch weiter vor, streckte die Beine und versuchte zu gehen. Die entsprechenden Gliedmaßen fühlten sich schwach an und knickten immer wieder ein. Ern mußte sich ganz auf sein Bemühen konzentrieren, um einen Fuß vor den anderen setzen zu können. Sein Leib wurde nun nicht mehr vom Wasser getragen, und er kam sich schwerfällig und ungelenk vor. Vom Schilf her ertönte ein erschrockenes Kreischen. Plötzlich bewegten sich die Beine Erns von ganz allein, und mit langen Sprüngen setzte er über den Strand hinweg. Er kehrte ins Wasser zurück und schwamm so schnell wie möglich durch den Priel. Andere folgten ihm, und die Fluten schienen plötzlich zu brodeln. Ern wich zur einen Seite aus und versteckte sich hinter einer Ansammlung aus verfaulendem Riedgras. Die Anderen stürzten durch den schmalen Kanal, wateten wütend durch das seichte Wasser jenseits davon und suchten eine Zeitlang ergebnislos.
Ern hielt sich weiterhin verborgen. Nach einer Weile kehrten die Anderen zurück und kamen nahe an Erns Versteck vorbei – so nahe, daß er ihre glitzernden Augen und das gelbe Innere der Mundhöhlen sehen konnte, wenn sie nach Luft schnappten. Mit ihren hageren Gestalten, runden Köpfen und dem einen Flaumkamm darauf ähnelte sie weder Ern noch Zim, sondern eher den einkammigen Wasserkindern. Sie gehörten nicht zu seiner Art! Er war kein Anderer! Ern zitterte vor Aufregung und Enttäuschung, als er in die Watten zurückschwamm.
Nach diesem Erlebnis änderte sich alles. Die unbekümmerte Unschuld des alten Lebens gehörte der Vergangenheit an. Ern verspürte nun ein diffuses Unbehagen und sah sich außerstande dazu, Gefallen an den Dingen zu finden, die ihn zuvor erfreut hatten. Es fiel ihm schwer, die Aufmerksamkeit vom Ufer abzuwenden, und er beobachtete die einkammigen Kinder, seine früheren Spielkameraden, aus einer neuen Perspektive: Sie erschienen ihm plötzlich fremd, wie Wesen, die nichts mit ihm gemeinsam hatten. Und die Einkammigen wiederum brachten den größeren und massigeren Wasserkindern Argwohn entgegen und schwammen erschrocken fort, wenn sich ihnen Ern oder einer der anderen näherte.
Ern wurde immer niedergeschlagener und mürrischer. Die alten Freunde existierten nicht mehr, und es gab keinen Ersatz für sie. Noch zweimal schwammen die Anderen durch das seichte Wasser der Watten, aber alle zweikammigen Kinder, unter ihnen auch Ern, versteckten sich unter Riedblättern. Daraufhin schien die Fremden das Interesse zu verlieren, und eine Zeitlang verlief das Leben in den gewohnten Bahnen. Doch es deuteten sich Veränderungen an. Das Ufer weckte immer mehr Faszination: Was befand sich jenseits der Sandbänke und kleinen Inseln, zwischen ihnen und der Finsteren Wand? Wo lebten die Anderen, in was für einer Wunderwelt? Ern entschloß sich dazu, durch die größte Sumpftiefe zu schwimmen, und er unterdrückte seine Furcht vor dem Oger und hielt die ganze Zeit über aufmerksam Ausschau. Zu beiden Seiten ragten Inseln aus dem Wasser, und farbloses Gras wuchs auf ihnen. Hier und dort sah er schwarze Krüppelbäume oder Ansammlungen von Dornenbüschen: Sie waren so zerbrechlich, daß eine Berührung genügte, um die Zweige zu Boden fallen zu lassen. Kurz darauf verbreiterte sich der Priel und führte in eine kleine Bucht, deren Wasser die Gräue des Himmels reflektierte. Ern durchquerte sie und gelangte in einen Kanal aus schwarzem Schleim.
Weiter wagte er sich nicht vor. Wenn ihm jemand oder etwas gefolgt war, saß er in der Falle. Und in diesem Augenblick sah er ein sonderbares gelbes Wesen, das über ihm schwebte. Hunderte von Schuppen klirrten. Das Geschöpf erspähte Ern und stimmte ein lautes Geheul an. Etwas weiter entfernt erklangen andere Stimmen – die von Anderen. Ern wirbelte herum und schwamm den Weg zurück, den er gekommen war, während der Klirrvogel über ihm dahinsegelte. Er bekam es mit der Angst zu tun, tauchte und schwamm, so rasch er konnte. Nach einiger Zeit wandte er sich zur Seite und kehrte vorsichtig an die Oberfläche zurück.
Der gelbe Vogel kreiste über der Stelle, an der Ern getaucht war, und aus seinem weithin hallenden Heulen war ein dumpfes, enttäuschtes Gurren geworden.
Erleichtert wandte sich Ern wieder den Watten zu. In einem Punkt hatte er nun keine Zweifel mehr: Wenn er jemals das Land aufsuchen wollte, mußte er lernen zu gehen. Erns Artgenossen, unter ihnen selbst die Zweikammigen, beobachteten ihn verwirrt, als er sich durch den Schlamm auf die nächste Insel schob und inmitten des hohen Grases seine Beine ausprobierte. Es klappte recht gut, und es dauerte nicht lange, bis sich Ern ohne Schwierigkeiten auf dem festen Untergrund bewegen konnte. Allerdings wagte er es noch nicht, das Land jenseits der Inseln aufzusuchen. Statt dessen schwamm er an der Küste entlang, zwischen der Sturmgrenze rechts und dem Ufer links von ihm. Er schwamm und schwamm, weiter als jemals zuvor.
Der Sturmwall veränderte sich nicht: ein Vorhang aus Regen und dichtem Dunst, in dem ständig Blitze aufflammten. Mit der Finsteren Wand verhielt es sich ähnlich: Am Horizont bestand sie aus lichtloser Schwärze, und nach oben hin erhellte sie sich allmählich, bis sie mit dem Grau des Firmaments verschmolz. Zwischen den beiden Barrieren schien sich das schmale Land bis in endlose Ferne zu erstrecken. Ern sah andere Sümpfe und Riedinseln, Sandbänke und Ansammlungen von scharfkantigen Felsen. Schließlich wich die Küste zurück, in Richtung der Finsteren Wand, und dadurch entstand eine trichterförmige Bucht, in die sich die kühlen Wasser eines Flusses ergossen. Ern näherte sich dem Ufer, schob sich auf den Kies und richtete sich auf seinen nach wie vor zitternden Beinen auf. Jenseits der Bucht folgten weitere Sümpfe und Inseln, bis hin zum Horizont und vermutlich auch darüber hinaus. Nirgends erblickte er ein lebendes Wesen. Allein stand Ern auf dem Kiesstreifen, eine graue und massige Gestalt, die auf noch immer unsicheren Beinen schwankte und sich neugierig umsah. Das Wasser der Bucht war sehr kalt, die Strömung stark. Ern entschied, seine Reise nicht weiter fortzusetzen. Er glitt wieder ins Meer und machte sich auf den Rückweg.
Als er die vertrauten Watten erreichte, ging er seiner alten Routine nach: Auf dem Grund suchte er nach Krustentieren; er verhöhnte den Oger, schwamm gelegentlich an die Oberfläche, um wachsam nach Anderen Ausschau zu halten. Und auf den Inseln und Sandbänken übte er sich darin, auf festem Untergrund zu gehen. Während eines Aufenthaltes an Land bot sich ihm ein ungewöhnlicher Anblick dar: Er bemerkte eine Frau, die Eier in den Schlamm legte. Ern hielt sich im dichten Gras verborgen und sah fasziniert zu. Die Frau war nicht ganz so groß wie die Männer und wirkte auch nicht so knochig, doch der Schädelkamm offenbarte eine ebenso starke Ausprägung. Sie trug ein Tuch, das aus dunkelrotem gewobenen Stoff bestand: das erste Kleidungsstück, das Ern zu Gesicht bekam. Und er fragte sich, wie das tägliche Leben der Anderen beschaffen sein mochte.
Eine Zeitlang war die Frau beschäftigt. Als sie ging und verschwand, verließ Ern das Gras, um sich die Eier anzusehen. Eine Schicht Schlamm und einige darüber ausgebreitete Blätter und Halme sollten sie vor den Knochenvögeln schützen. Insgesamt befanden sich neun Eier im Nest, und Lehm trennte sie voneinander.
Dies, dachte Ern, ist also der Ursprung der Wasserkinder. Er erinnerte sich an seine eigene Geburt. Offenbar war er aus einem solchen Ei geschlüpft. Ern rührte die kleinen Objekte nicht an, strich vorsichtig den Schlamm zurück und legte auch die Blätter und Halme wieder aus, bevor er ins Wasser glitt.
Die Zeit verstrich. Die Anderen erschienen nicht noch einmal. Es verwunderte Ern, daß sie jetzt nicht mehr den Tätigkeiten nachgingen, die ihnen noch vor einer Weile so wichtig gewesen waren, aber andererseits handelte es sich dabei ohnehin um eine Angelegenheit, die sich seinem Verständnis entzog.
Bald darauf entstand erneut Unruhe in ihm. In dieser Hinsicht schien er einzigartig zu sein: Keiner seiner Artgenossen hatte sich jemals so weit von den Watten entfernt. Einmal mehr brach Ern auf und schwamm an der Küste entlang, diesmal in die andere Richtung. Er durchquerte die Sumpftiefe, in der der Oger lebte, und das Ungeheuer starrte zu ihm auf und gab ein drohendes Gurgeln von sich. Ern setzte seinen Weg rasch fort – obgleich er wußte, daß er nun eine Größe erreicht hatte, die selbst jenem Monstrum Respekt gebot.
Die Küste auf dieser Seite der Watten war interessanter und abwechslungsreicher als die andere. Er stieß auf drei recht große Inseln mit unterschiedlichen Gewächsen: schwarze Krüppelbäume, lange Stengel mit Bündeln aus rosafarbenen und weißen Blättern, von dunklen fingerartigen Fäden überzogen, glänzende Stämme mit Lamellen, deren oberste Abschnitte vorgewölbt waren und grauen Knospen Platz machten. Dann gab es keine Inseln mehr, und die Küste stieg ohne vorgelagerte Sandbänke aus dem Meer. Ern schwamm ganz nahe ans Ufer heran, um die starken Strömungen zu meiden, und nach einer Weile sah er einen ins Wasser ragenden Kiesstreifen. Er schob sich an Land und blickte sich um. Schirmbäume bildeten ein kleines Gehölz, und der Boden stieg sanft an. Dicht hinter diesem Bereich neigte er sich jäh in die Höhe und wurde zu einer steilen Klippenwand, auf der Ern ganz oben schwarzes und graues Dickicht erkannte. Noch niemals zuvor in seinem Leben hatte er etwas so Erhabenes gesehen.
Er kehrte ins Meer zurück und schwamm weiter. Die Landschaft veränderte sich erneut und wurde flach und sumpfig. Er passierte ein Konglomerat aus schwarzem Schleim, auf dem sich Hunderte von gelbgrünen Fibrillen gebildet hatten, und er achtete sorgfältig darauf, ihnen nicht zu nahe zu kommen. Etwas später vernahm er ein pulsierendes Zischen, und als er übers Meer blickte, sah er einen riesigen weißen Wurm, der durchs Wasser glitt. Ern schwamm ganz leise weiter, und der Wurm kam vorbei, ohne ihn zu bemerken. Ern hielt nicht inne. Er bewegte Arme und Beine und trieb dahin, bis er schließlich eine Bucht entdeckte, die der anderen ähnelte. Auch in diesem Fall schien das Wasser bis direkt an die Finstere Wand heranzureichen. Er kroch auf den Strand, und sein Blick schweifte über eine öde Landschaft, die nur graubraunen Flecken einen Lebensraum bot. Der Fluß, der in die Bucht mündete, schien noch breiter zu sein als der, den er bei seiner ersten Reise entdeckt hatte. Ab und zu trug die starke Strömung Eisbrocken herbei. Ein kalter Wind wehte in Richtung der Sturmgrenze, und seine Böen peitschten das Wasser, ließen Gischt dahinsprühen. Das andere und weit entfernte Ufer des Flusses schien ebenso beschaffen zu sein. Das schmale Land erstreckte sich weiter, wie endlos zwischen den Barrieren des Sturms und der Dunkelheit.
Ern machte kehrt und schwamm zu den Watten zurück. Er war nicht ganz mit seiner Entdeckungsreise zufrieden. Er hatte Wunder gesehen, von denen seine Artgenossen nichts ahnten, doch was lehrten sie ihn? Nichts. Nach wie vor gab es keine Antworten auf seine Fragen.
Es kam zu Veränderungen – sie ließen sich inzwischen nicht mehr übersehen. Die ganze Generation Erns lebte an der Oberfläche und atmete Luft. In den anderen Wasserkindern schien sich nun zumindest ein Teil der Neugier zu regen, die Ern nicht zur Ruhe kommen ließ, und immer wieder blickten sie in Richtung Land. Darüber hinaus kam es zu einer weitergehenden geschlechtlichen Differenzierung. Gelegentlich erfolgten sexuelle Spielereien, und die Zweikammigen mit ihren unterentwickelten Organen wandten sich voller Abscheu von solchen Dingen ab. Es bildeten sich sowohl soziale als auch physische Unterschiede heraus, und Spott und Herabwürdigungen wurden immer häufiger. Gelegentlich kam es auch zu regelrechten Kämpfen, die jedoch nie lange dauerten. Ern glaubte, daß er zu den Zweikammigen gehörte. Aber als er einmal seinen Kopf untersuchte, mußte er die Feststellung machen, daß er nur kleine Buckel und Mulden aufwies – ein Umstand, der ihn in Verlegenheit brachte.
Zwar herrschte allgemein das Gefühl einer drohenden Gefahr, doch das Erscheinen der Anderen überraschte die Wasserkinder trotzdem.
Insgesamt zweihundert wateten heran, schwammen durch die Sumpftiefen und riegelten die Watten ab. Ern und einige weitere krochen sofort auf eine Insel und versteckten sich im hohen Gras. Ihre Artgenossen jedoch sausten aufgeregt umher. Die Anderen riefen laut und schlugen mit den Händen aufs Wasser. Auf diese Weise gelang es ihnen, die Kinder durch den Priel und auf den getrockneten Schlamm zu treiben. Dort machten sie sich daran, sie zu untersuchen und eine Auswahl zu treffen: Die größten Exemplare wurden von den kleineren getrennt, die daraufhin in die Watten zurückkehren durften. Und auf die zweikammigen Wasserkinder reagierten die Anderen mit begeisterten Rufen.
Bald darauf war die Auslese beendet. Man teilte die gefangenen Wasserkinder in einzelne Gruppen ein und schickte sie über den Strand. Diejenigen, die noch zu schwach waren, um selbst gehen zu können, wurden getragen.
Der ganze Vorgang faszinierte Ern, und er sah aus sicherer Entfernung zu. Als die Anderen und die Wasserkinder fort waren, verließ er das Meer, begab sich an Land und sah seinen Artgenossen nach. Was sollte er jetzt tun? In die Watten zurückkehren? Das alte Leben erschien ihm langweilig und uninteressant. Andererseits jedoch brachte er nicht den Mut auf, sich den Anderen zu zeigen. Es handelte sich nur um einkammige Geschöpfe, um grobe Wesen, die zu unberechenbarem Verhalten neigten. Was sonst? Ern drehte den Kopf, und sein Blick wechselte zwischen Wasser und Land hin und her. Schließlich verabschiedete er sich innerlich von seiner Jugend und nahm sich nicht ohne eine gewisse Melancholie vor, fortan auf dem Land zu leben.
Er ging einige Schritte weit in die Richtung, in der die anderen Wasserkinder verschwunden waren, und dann blieb er stehen und lauschte.
Nichts, nur Stille.
Vorsichtig wanderte er weiter, jederzeit dazu bereit, ins Dickicht zu springen und sich dort zu verstecken. Der Untergrund wurde härter und trockener, und das hohe Riedgras wich schwarzen und duftenden Zykadeen. Weiter oben neigten sich dünne, zerbrechlich aussehende Weidenruten hin und her; ihre Blätter waren mit Gas erfüllt und hatten somit genug Auftrieb, um nicht zu Boden zu sinken. Ern folgte dem Verlauf des Pfades, und er bewegte sich vorsichtig und behutsam, blieb immer häufiger stehen, um zu horchen. Was mochte geschehen, wenn er den Anderen begegnete? Würden sie ihn töten? Ern zögerte und blickte sogar in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Er hatte die Entscheidung bereits getroffen. Und so ging er weiter.
Ein Geräusch, das seinen Ursprung nicht allzuweit vor ihm hatte. Sofort wandte sich Ern von dem Weg ab und verbarg sich hinter einem kleinen Hügel.
Niemand kam. Nach einer Weile setzte sich Ern wieder in Bewegung und schlich an den Zykadeen vorbei, bis er durch die schwarzen Palmwedel das Dorf der Anderen sah: ein Wunder, geschaffen von genialem Geschick! In der Nähe standen große Behälter mit Nahrungsmitteln, und etwas weiter entfernt sah Ern Dutzende von Hütten und Ställen, die Dächer mit Stroh und Binse gedeckt. Stangen lagen dort bereit, Seile, und außerdem gab es Töpfe mit Farbstoffen und Fett. Gelbe Klirrvögel hockten auf den Giebeln und krächzten und läuteten und klapperten dauernd vor sich hin. An die großen Behälter und die Hütten und Ställe schloß sich ein freier Platz an, in dessen Mitte sich ein Podest befand, auf dem gerade irgendeine Zeremonie stattfand. Vier Männer standen auf der Plattform, und Girlanden aus miteinander verbundenen Blättern waren um ihre Körper geschlungen. Begleitet wurden sie von vier Frauen, die dunkelrote Tücher samt hoher und mit Klirrvogel-Federn geschmückter Hüte trugen. Neben dem Podest hockten die einkammigen Wasserkinder auf dem Boden
– eine jämmerlich aussehende, einheitliche graue Masse, die einzelnen Individuen nur durch das gelegentliche Funkeln in einem Auge oder das Sträuben eines Schädelkamms zu erkennen.
Nacheinander wurden die Wasserkinder zu den vier Männern auf der Plattform emporgereicht, die sie dann sorgfältig untersuchten. Die meisten männlichen Exemplare wurden abgelehnt und zurückgesetzt. In der Regel war unter zehn Individuen eins, das man aussortierte, durch einen kräftigen Schlag mit einem steinernen Hammer tötete und anschließend mit dem Gesicht zur Sturmgrenze hinstellte. Die weiblichen Wasserkinder wurden auf die andere Seite des Podestes geschickt, wo die vier menschlichen Frauen warteten, die ebenfalls eine Untersuchung durchführten. Mit großer Aufmerksamkeit betrachteten sie jedes einzelne der zitternden Mädchen. Etwa die Hälfte überantworteten sie einer anderen Frau, die sie in einen nahen Pferch brachte. Etwa eins von fünf erhielt einen langen weißen Strich auf den Kopf und wurde dann in das Gehege geführt, in dem die Zweikammigen gefangen waren. Die anderen starben unter den Hieben des Steinhammers. Und die Leichen ordnete man so, daß sich die gebrochenen Blicke auf die Finstere Wand richteten…
Das kreischende Heulen eines Klirrvogels erklang, und Ern erschrak und floh in Richtung der Büsche. Das geflügelte Geschöpf folgte ihm und krächzte laut. Andere stürmten los, schnitten Ern den Weg ab, jagten ihn eine Zeitlang hin und her und fingen ihn dann ein. Sie schleppten ihn ins Dorf und warfen ihn triumphierend auf die Plattform, während die Zuschauer überraschte und aufgeregte Schreie von sich gaben. Die vier Priester – oder worin auch immer ihre Funktion bestehen mochte – traten auf Ern zu, um ihn zu untersuchen. Weitere Laute des Erstaunens erklangen, und kurz darauf traten die mit Blättergirlanden geschmückten Gestalten verwirrt zurück, berieten sich mit brummenden Stimmen und gaben den Priesterinnen ein Zeichen. Irgend jemand brachte den steinernen Hammer – doch er zerschmetterte nicht den Schädel Erns. Einer der Zuschauer sprang aufs Podest und richtete hastig einige Worte an die Männer und Frauen. Eine zweite und noch sorgfältigere Untersuchung begann, die diesmal insbesondere dem Kopf Erns galt. Dann holte einer der Männer ein Messer hervor, und ein anderer hielt den Schädel Erns fest. Die Klinge schnitt zweimal durch den Knochen, erst links vom zentralen Buckel, dann rechts – wodurch zwei fast parallel zueinander verlaufende Linien entstanden. Orangefarbenes Blut tropfte ins Gesicht Erns, und der Schmerz ließ ihn erstarren. Eine der Frauen kam mit einer abscheulich stinkenden Substanz herbei, die sie auf die Wunden strich. Im Anschluß daran traten alle Anderen zurück, unterhielten sich leise und warfen ihm immer wieder nachdenkliche Blicke zu. Ern sah sie aus weit aufgerissenen Augen an, und die pochende Pein in seinem Schädel machte ihn fast wahnsinnig.
Kurz darauf führte man ihn in Richtung eines Verschlages und stieß ihn hinein. Riegel wurden vor den Zugang geschoben und mit Lederriemen festgezurrt.
Ern beobachtete den Rest der Zeremonie. Man zerteilte die Leichen, briet das Fleisch und verspeiste es feierlich. Die mit den weißen Kennzeichnungsstreifen versehenen Mädchen wurden zu den Zweikammigen geführt, denen sich Ern bis dahin zugehörig gefühlt hatte. Warum werde ich nicht ebenfalls zu ihnen gebracht? überlegte Ern. Warum war er zunächst mit dem steinernen Hammer bedroht und dann mit dem Messer verwundet worden? Er hielt das alles für ein geheimnisvolles Rätsel.
Man geleitete sowohl die Mädchen als auch die zweikammigen Kinder fort von dem Dorf und in den Busch. Die anderen Mädchen wurden zu Mitgliedern der Gemeinschaft. Die männlichen Kinder hingegen erhielten eine förmlichere Einweisung. Jeder Mann nahm einen der Jungen unter seine Obhut und unterwarf ihn einer strengen Disziplin. Lektionen über angemessenes Betragen schlossen sich an, über die Kunst, Knoten zu knüpfen und mit Waffen umzugehen. Man unterwies sie auch in der Sprache, dem Tanz und der Bedeutung verschiedener Schreie.
Ern wurde die ganze Zeit über weitgehend ignoriert. Er bekam nicht regelmäßig zu essen, nur dann, wenn sich eine Gelegenheit ergab. Er wußte nicht, wie lange er in dem Verschlag gefangen war, denn der statisch graue Himmel gab ihm keine chronometrische Bemessungsgrundlage. Außerdem war seinem Denken die Vorstellung von einer Zeit als Aufeinanderfolge einzelner Ereignisse fremd. Es gelang ihm nur dadurch, der Apathie zu entgegnen, indem er seine Aufmerksamkeit auf die Vorgänge in anderen Pferchen und Verschlägen richtete, in denen Einkammige die Sprache und Verhaltensweise der Anderen lernten. Ern begriff die Bedeutung der verbalen Symbole viel eher als die unterrichteten Schüler. Er und seine zweikammigen Gefährten hatten sich mit Fragmenten davon verständigt, als sie noch frei und glücklich gewesen waren.
Irgendwann verheilten die beiden Schnitte im Schädel Erns, und zurück blieben zwei lange Narben. Außerdem sprossen ihm nun auch die fedrigen schwarzen Reifekämme und bedeckten seinen ganzen Kopf mit weichem Flaum.
Seine früheren Artgenossen und Gefährten schenkten ihm jetzt keine Beachtung mehr. Sie hatten sich bereits an die Routinen des Dorfes gewöhnt, und das alte Leben in den Watten existierte nur noch als eine vage Erinnerung. Ern beobachtete, wie sie an seinem Verschlag vorbeigingen, und sie erschienen ihm dabei immer fremder. Sie waren schlank, agil und geschmeidig, offenbarten die elegante Anmut von Eidechsen. Ern hingegen hatte einen breiteren Kopf und einen wesentlich massigeren und schwereren Körper, der sich nicht mit der Zartheit der anderen messen konnte. Seine dickere Haut zeichnete sich durch ein dunkleres Grau aus. Inzwischen war er fast so groß wie die Männer, wenn auch keineswegs so kräftig und flink. Wenn sich die Notwendigkeit ergab, konnten sie sich verblüffend schnell bewegen.
Einige Male wurde Ern so wütend, daß er versuchte, aus seinem Pferch auszubrechen, doch man stieß ihn jedesmal mit einer langen Stange zurück, und daraufhin gab er entsprechende Bemühungen auf. Er wurde immer mürrischer und verdrießlicher. In den Verschlägen zu beiden Seiten fanden jetzt nur noch Kopulationen statt, für die er kaum Interesse aufbringen konnte.
Schließlich dann schob man die Riegel zurück. Ern stürmte sofort los und hoffte, seine Gegner überraschen und in die Freiheit zurückkehren zu können. Aber ein Mann hielt ihn fest, und ein anderer schlang ein Seil um seinen Leib. Ohne irgendeine Art von Zeremonie führte man ihn aus dem Dorf.
Die Männer ließen durch nichts erkennen, was sie beabsichtigten. Im Laufschritt brachten sie Ern durch das schwarze Dickicht, und sie wandten sich in die Richtung, die er als ›meerlinks‹ bezeichnete, was bedeutete, daß sich der Ozean links von ihm befand. Der Pfad führte landeinwärts, an kahlen Hügeln vorbei und durch morastige Senken, in denen dichte schwarze Dendriten wucherten.
Voraus wuchsen Dutzende von Schirmbäumen, und sie hatten eine beeindruckende Größe erreicht: Jeder Stamm war so dick wie der Leib eines Mannes, und jedes einzelne der riesigen Blätter hätte ausgereicht, gleich sechs Verschläge von der Art zu bedecken, in der Ern gefangen gewesen war.
Jemand hatte hier gearbeitet. Einige Bäume waren gefällt und die Stämme geglättet und nebeneinander aufgereiht worden. Die auseinandergeschnittenen Blätter bildeten hohe Stapel. Komplex erscheinende Gestelle sicherten die Stämme, und ihre Konstruktion deutete auf große Sorgfalt hin. Ern fragte sich, wer jene präzise Arbeit geleistet hatte. Die Anderen, deren Werke im Vergleich dazu eher primitiv wirkten, kamen dafür gewiß nicht in Frage.
Der Pfad setzte sich fort und führte durch den Wald: ein schnurgerader Weg, gesäumt von zwei parallel verlaufenden Linien aus weißen Steinen. Und dabei handelte es sich um eine technische Leistung, die nach der Einschätzung Erns die Fähigkeiten der Anderen weit überstieg.
Die Männer wurden immer unruhiger und nervöser. Ern versuchte zurückzubleiben, denn er war sicher, daß das, was seine Begleiter mit ihm beabsichtigten, nicht zu seinem Vorteil gereichte, aber seine Taktik blieb ohne Erfolg: Man zerrte ihn einfach weiter.
Kurz darauf wandte sich der Pfad jäh zur Seite, und die Männer brachten Ern durch eine weite Mulde, in der hier und dort schwarzbraune Zykadeen wuchsen. Daran schloß sich weiches und weißes Moos an, und in der Mitte dieses Bereiches befand sich ein prächtiges Dorf. Die Männer verharrten im Schatten, gaben verächtlich klingende Geräusche von sich und vollführten herabwürdigende Gesten. Offenbar waren sie neidisch, dachte Ern, denn das Dorf auf der Wiese sah weitaus herrlicher aus als das, aus dem sie kamen. Er sah insgesamt acht völlig gerade Hüttenreihen, und die Gebäude bestanden aus geschickt zugeschnittenem Holz. Blaue, kastanienbraune und schwarze Farbmuster verzierten die Gebäude oder verliehen ihnen eine symbolische Bedeutung. An den Meerlinks-und Meerrechtsenden des breiten Mittelweges erhoben sich größere Häuser, und die spitz zulaufenden Dächer waren, wie auch im Falle der Hütten, mit Biotitplatten gedeckt. Ern bemerkte, daß sich nirgends Unordnung zeigte, und er entdeckte nicht einen einzigen Müllhaufen. Im Gegensatz zur Siedlung der Anderen zeichnete sich dieses Dorf durch auffallende Sauberkeit aus. Jenseits davon ragte die steile Klippenwand in die Höhe, die Ern bereits während seiner Entdeckungsreise entlang der Küste gesehen hatte.
Am Rande der Wiese standen sechs Pfähle, und die Männer banden Ern an dem ersten fest.
»Dies ist das Dorf der Zweier«, erklärte einer von ihnen. »Hier leben Leute wie du. Wenn du keine Schwierigkeiten bekommen willst, solltest du besser nicht verraten, daß wir dir den Kopf aufgeschnitten haben.«
Anschließend wichen sie zurück und verbargen sich inmitten eines Dickichts aus Wurmpflanzen. Ern spannte die Muskeln und versuchte, die Fesseln zu zerreißen. Ganz gleich, was die Anderen auch im Schilde führten: Bestimmt bedeutete es nichts Gutes für ihn.
Inzwischen waren die Dorfbewohner auf Ern aufmerksam geworden: Zehn Personen kamen über die Wiese heran. Vier prächtig aussehende Zweier führten die Gruppe, und sie schienen sich recht vorsichtig zu bewegen, obgleich sie andererseits eine stolzierende Gangart benutzten. Sechs junge Einer-Mädchen begleiteten sie, und in den Gewändern aus zusammengenähten Schirmbaumblättern wirkten sie erstaunlich elegant.
Anscheinend hatte man sie unterwiesen, denn sie schritten nicht mehr auf die sonst für sie typische elastische, federnde Art und Weise, sondern ahmten das Verhalten der Zweier nach. Ern beobachtete sie fasziniert. Die Zweier schienen Geschöpfe wie er selbst zu sein, waren stämmiger und massiger als die keilköpfigen Einer.
Die beiden Ersten Zweier schienen den gleichen Rang einzunehmen. Sie offenbarten erhabene Würde, und ihre Kleidung – gesäumte Tücher mit schwarzen, braunen und purpurnen Mustern, Stiefel, die aus einem grauen Material bestanden und Schnallen aufwiesen, durchbrochene Beinschienen aus Metall – wirkte wie eine Tracht. Der Zweier auf der Sturmwallseite trug einen Kamm aus glänzenden Metallspitzen, der neben ihm eine Doppelreihe aus langen schwarzen Federn. Die beiden Zweier hinter ihnen schienen ein Prestige zu genießen, das ein wenig geringer war. Sie trugen seltsam gefaltete Kappen, und in den Händen hielten sie Hellebarden, die dreimal so lang waren wie sie selbst groß. Dann kamen die Einer-Mädchen, und sie brachten Pakete mit. Ern erkannte sie als Angehörige seiner eigenen Generation wieder: Vermutlich handelte es sich um diejenigen, die man nach der Auswahlzeremonie fortgeführt hatte. Auf ihrer Haut zeigten sich dunkelrote und gelbe Farbstreifen, und sie trugen gelbe Mützen und Gewänder und Sandalen im gleichen Ton. Außerdem achteten sie darauf, sich mit der gezierten Steifbeinigkeit zu bewegen, die sich die Zweier zu eigen gemacht hatten.
Die ersten Zweier blieben zu beiden Seiten Erns stehen und musterten ihn mit feierlichem Ernst. Die Hellebardenträger bedachten ihn mit drohenden Blicken. Die Mädchen wirkten ein wenig befangen und unsicher. Verwirrt betrachteten die Zweier die beiden Narben auf dem Schädel Erns und gelangten zu einer ungewissen Schlußfolgerung: »Er ist zwar ein wenig zu groß und weist seltsame Kopfbuckel auf, doch er scheint gesund zu sein.«
Einer der Hellebardenträger lehnte seine lange Waffe an den nächsten Pfahl und band Ern los, der daraufhin überlegte, ob er die Gelegenheit nutzen und zu fliehen versuchen sollte. Der Zweier mit dem Kamm aus metallenen Spitzen sah ihn an und fragte:
»Kannst du sprechen?«
»Ja.«
»Du mußt antworten: ›Ja, Präzeptor der Sturmgewalt.‹ Das ist der richtige Titel.«
Ern fand diese Ermahnung ebenso sonderbar wie die Aufmachung der beiden Zweier. Er hielt es für angeraten, besondere Vorsicht walten zu lassen. Die Zweier wirkten zwar launisch und unberechenbar, aber ganz offensichtlich hatten sie nicht die Absicht, ihm irgend etwas anzutun. Die Mädchen legten die Pakete vor den Pfahl – vermutlich Gaben für die Einer-Männer.
»Und nun komm mit!« sagte der Zweier mit der Doppelreihe aus schwarzen Federn. »Achte darauf, wie du gehst! Schwing nicht die Arme hin und her. Du bist ein Zweier, ein wichtiges Individuum. Du mußt dich angemessen verhalten, so wie es die
Tradition verlangt.«
»Ja, Präzeptor der Sturmgewalt.«
»Du hast mich ›Präzeptor der Finsteren Kälte‹ zu nennen!«
Ern war völlig durcheinander und auch ziemlich besorgt, als man ihn über die Wiese aus weißem Moos führte. Der Weg wurde nun von zwei parallelen Linien aus schwarzen Steinen markiert und bestand aus dunklem Kies. Er teilte die Aue in zwei Hälften. Ern sah sich um und stellte fest, daß am Rande der Wiese große Fächerpalmen wuchsen. Die beiden Präzeptoren gingen voraus, dann folgten Ern, die zwei Hellebardenträger und schließlich die sechs Einer-Mädchen.
Der Pfad führte auf die Straße in der Mitte des Dorfes, und die wiederum endete an einem großen Platz, der mit hölzernen Fliesen ausgelegt war. Auf der Finsterwandseite erhob sich ein großer schwarzer Turm, auf dem sich eine Vorrichtung aus eigentümlichen schwarzen Objekten befand. Und Blitz-Symbole schmückten den weißen Turm auf der Sturmgrenzenseite. Weiter voraus hatte man ein langes zweistöckiges Gebäude errichtet. Dorthin wurde Ern geführt, und kurz darauf saß er in einer kleinen Kammer.
Ein drittes Paar Zweier (es war höherrangiger als die Hellebardenträger, stand jedoch autoritätsmäßig unter den Präzeptoren) kümmerte sich um Ern. Die Titel lauteten ›Pädagoge der Sturmgewalt‹ und ›Pädagoge der FinsterenKälte‹. Man wusch ihn und rieb ihn mit Öl ein, und erneut stießen seine Schädelnarben auf allgemeine Verwunderung. Ern begann zu argwöhnen, daß die Einer einen Trick benutzt hatten: Um ihn an die Zweier zu verkaufen, täuschten sie mit den Schnitten einen doppelten Schädelkamm vor, der in Wirklichkeit gar nicht existierte. Vielleicht, so überlegte er, handelte es sich bei ihm nur um die exotische Sonderform eines Einers. Tatsächlich ähnelten seine Geschlechtsmerkmale eher denen der Einer und nicht so sehr den epizönischen – oder möglicherweise verkümmerten – Organen der Zweier. Diese Vermutungen nährten sein Unbehagen, und er war erleichtert, als ihm die Pädagogen eine Kappe brachten, die zur einen Hälfte aus silbrigen Metallschuppen und zur anderen aus glänzenden schwarzen Federn bestand. Dankbar bedeckte er
sich | damit | den | Kopf, | und | ein | an | der | Taille |
zusammengeschnürtes | Tuch | verbarg | seine | sexuellen | ||||
Besonderheiten. |
In Hinblick auf die Benutzung jener Kappe mußten spezielle Dinge beachtet werden – was übrigens auch auf die anderen Aspekte des Lebens im Zweier-Dorf zutraf. »Nach den Geboten der Tradition mußt du bei Aktivitäten, denen ein geringerer zeremonieller Status zukommt, so stehen, daß die schwarze Seite der Kappe der Nacht zugewandt ist und die silberne dem Chaos.
Wenn dir das aufgrund eines Rituals oder einer anderen Notwendigkeit unmöglich ist, so dreh die Mütze.«
Das war die einfachste und schlichteste aller Verhaltensregeln.
Die Pädagogen sahen sich immer wieder genötigt, Anstoß am Gebaren Erns zu nehmen.
»Du bist größer und ungelenker als die durchschnittlichen Schüler«, meinte der Pädagoge der Sturmgewalt. »Offenbar hat die Kopfverletzung deinen körperlichen Zustand beeinträchtigt.«
»Wir werden dich eingehend unterweisen«, kündigte der Pädagoge der Finsteren Kälte an. »Für den Augenblick solltest du davon ausgehen, daß in deinem Schädel nichts weiter als Leere herrscht.«
Ein Dutzend andere junge Zweier, unter anderem vier aus der Generation Erns, besuchten den Unterricht der Pädagogen. Da die Unterweisungen auf individueller Basis erfolgten, bekam Ern sie nur selten zu Gesicht. Er lernte emsig und nahm das Wissen so rasch in sich auf, daß ihn seine Lehrer einige Male lobten – wenn auch mit offensichtlichem Widerstreben. Als er in den Grundlagen bewandert war, machte man ihn mit Kosmologie und Religion vertraut. »Wir leben im Schmalen Land«, erklärte der Pädagoge der Sturmgewalt. »Es erstreckt sich endlos! Wie können wir uns in diesem Punkt so sicher sein? Weil wir wissen, daß die gegensätzlichen Prinzipien von Sturm und Finsterer Kälte göttlich und daher ewig sind. Aus diesem Grund muß das Schmale Land, das Gebiet des Zusammenstoßes, unendlich und ohne Grenzen sein.«
Ern wagte es, eine Frage zu stellen. »Was befindet sich hinter dem Sturmwall?«
»Es gibt kein ›Dahinter‹. Das STURM-CHAOS ist und fordert die Finsternis mit seinen Blitzen heraus. Dabei handelt es sich um das maskuline Prinzip. Die FINSTER-KÄLTE, das weibliche Prinzip, ist ebenfalls. Sie nimmt die Herausforderung an und erstickt das Feuer der Blitze. Wir Zweier vereinen beide Eigenschaften in uns. Wir sind im Gleichgewicht und daher Geschöpfe von ganz besonderer Art.«
Ern kam auf etwas zu sprechen, das ihn schon lange beschäftigte: »Legen die Zweier-Frauen keine Eier?«
»Es gibt weder Zweier-Frauen noch Zweier-Männer! Wir haben unsere Existenz einem doppelten göttlichen Schöpfungsakt zu verdanken; wir entstehen, wenn zwei Eier in einem Einer-Nest gleichzeitig aufbrechen und sich dabei berühren. Aufgrund der Wechselfolge handelt es sich dabei immer um einen männlichen und einen weiblichen Brütling. Daraus ergibt sich ein duales Individuum, eine neutrale und in sich selbst ruhende Person, was an dem doppelten Schädelkamm zu erkennen ist. Einer-Männer und Einer-Frauen sind unvollständige Geschöpfe und unterliegen für immer dem Zwang, sich zu paaren. Nur die Verschmelzung führt zu wirklichen Zweiern.«
Ern begriff, daß die Pädagogen nichts von neugierigen Fragen hielten, und aus diesem Grund schwieg er fortan, um keine unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen. Während der Unterweisungen war er noch größer geworden. Den Flaum der Reifenkämme konnte man nun nicht mehr übersehen, und außerdem hatten sich auch seine Geschlechtsorgane weiterentwickelt. Zum Glück konnte er das verbergen, mit Hilfe der Kappe und des Gewandes. In gewisser Weise unterschied er sich von den anderen Zweiern, und wenn die Pädagogen diesen Umstand entdeckten, mochten sie zumindest mit Verwirrung und Mißtrauen reagieren.
Auch andere Dinge plagten Ern – in erster Linie die Empfindungen, die der Anblick der versklavten Einer-Mädchen in ihm erweckte. Solche Verhaltensweisen waren unehrenhaft und schändlich! Sie standen den Zweiern nicht zu! Die Pädagogen wären bestimmt entsetzt gewesen, hätten sie von diesen Gedankengängen Erns Kenntnis erhalten. Doch wenn er nicht zu den Zweiern gehörte – zu wem dann?
Ern versuchte, mit seiner Verärgerung fertigzuwerden, indem er sich ganz auf das Studium konzentrierte. Er befaßte sich mit der Technologie der Zweier, die wie alle anderen Aspekte der Zweier-Gesellschaft mit formellen Dogmen erläutert wurde. Er erfuhr, wo man Erz finden konnte, wie man es schmolz und Eisen daraus gewann, wie man das Metall bearbeitete und härtete. Gelegentlich fragte sich Ern, auf welchen Ursprung jene Fähigkeiten zurückgingen: Immerhin stand der Empirismus als eine Denkweise im Gegensatz zur Dualen Tradition.
Während eines Vortrages kam Ern unvorsichtigerweise auf dieses Thema zu sprechen. Beide Pädagogen waren anwesend. Der Pädagoge der Sturmgewalt erwiderte mit scharfer Stimme, alles Wissen sei eine Ableitung aus den beiden Grundlegenden Prinzipien.
»Außerdem«, fügte der Pädagoge der Finsteren Kälte hinzu, »ist diese Frage bedeutungslos. Was ist, ist – und braucht deshalb nicht in Frage gestellt zu werden.«