ZWEI

Gewiss ist der Bayer ein Mensch, der sich gern vom Nichtbayern abgrenzt. Meist aber hat er Mitleid mit Letzterem: Was kann jemand schon dafür, in Hamburg-Blankenese oder Düsseldorf-Oberkassel das Licht der Welt erblickt zu haben? Das ist in den Augen des Bayern genauso schicksalhaftes Pech, wie wenn man dazu gezwungen wird, im falschen Glauben aufzuwachsen. Der Bayer ist natürlich und von Haus aus Katholik. Von Geburt an (wenn nicht schon vorher) weiß er, dass der Gott der Katholiken der Beste ist, denn er hat die Lederhose – auf bairisch auch »Krachlederne« genannt – und die Weißwurst erschaffen, samt süßem Senf. Zwar nicht direkt aus Adams Rippe, aber trotzdem.

Trotz dieses Wissensvorsprungs ist der Bayer ein toleranter und guter Mensch, weshalb er in seinem Land viele Fremdenzimmer bereithält – andernorts Gästezimmer genannt, was eine lächerliche Beschönigung darstellt, der gegenüber sich der Bayer aus Gottesfurcht und Ehrlichkeit verschließt. Diese Zimmer dienen jedenfalls dem Zweck, Andersgläubigen oder aus der Ferne Stammenden eine Herberge zu bieten.

Weil der Bayer aber von seinem Gott dazu verdonnert wurde, bereits auf Erden zu leiden, um dann im Himmelreich die Sau herauslassen zu können, tritt er jenen aus der Fremde kommenden Kreaturen zwar meist grantig, aber duldsam entgegen. Für den Bayern ist es kein Zufall, dass die Begriffe »Tourist« und »Terrorist« sich nur durch wenige Buchstaben voneinander unterscheiden. Und doch lässt der Bayer in einer Situation Fünfe gerade sein: wenn es um die Monarchie geht. Denn das Königliche ist etwas, das über der Religion und sogar über dem Makel des Fremdseins thront.

Dass dies eine unumstößliche Wahrheit ist, davon konnte sich jeder überzeugen, der sich in diesem ereignisreichen Sommer rund zwei Wochen vor dem großen Seefest in der Nähe des Hotels mit dem Schlösschen aufhielt: Einen vergleichbaren Menschenauflauf, verursacht durch die Ankunft wichtiger Persönlichkeiten, hatte es an dem Bergsee seit 1822 nicht mehr gegeben, als König Max I. Joseph Zar Alexander I. von Russland und Kaiser Franz I. von Österreich empfangen hatte.

Nicht nur die örtlichen Alphornbläser und Goaßlschnalzer hatten vor dem Hotel, in dem der Emir plante seinen Sommer zu verbringen, Position bezogen, sondern auch der Bürgermeister samt komplettem Gemeinderat, die amtierende bayerische Bierkönigin, der berühmte Schlagersänger Johann »Hanni« Hirlwimmer, der aus der Region stammende Gleitschirmweltmeister Heribert Kohlhammer und nicht zuletzt die hohen Tiere der bayerischen Politik und Verwaltung: der bayerische Ministerpräsident, der Polizeipräsident von Oberbayern sowie ein allseits bekannter Minister, der als bissiger Rhetoriker galt und den sein überdimensionales Selbstbewusstsein dazu zwang, jede Gelegenheit wahrzunehmen, seine Weltwichtigkeit zur Schau zu stellen.

Auch der Leiter der Polizeidienststelle des Tals, Kurt Nonnenmacher, konnte an diesem Tag dem Besuch des Emirs etwas abgewinnen, stand er doch inmitten all der wichtigen Honoratioren und zudem nur wenige Meter von der Bierkönigin entfernt, deren Brüste sich gesund und drall aus dem offenherzigen Dekolleté in die Sonne reckten.

Der ganze Weg vom See unten bis hinauf zum Hotel war gesäumt von Bürgern des Tals, die zum großen Teil in Tracht erschienen waren. Anne Loop und Sepp Kastner hatten sich vor dem Hotelgebäude postiert, in dem die Tagungsräume und der Spa-Bereich untergebracht waren. Von dieser leicht erhöhten Stelle aus hielten sie Blickkontakt mit ihren Kollegen, von denen zwei an der Einfahrt zum Hotelgelände, zwei bei den Honoratioren und zwei unten am kleinen Barockschlösschen Wache schoben. Weitere Polizeibeamte sicherten den Weg, auf dem der Scheich und sein Gefolge kommen würden, zwei hatten sich zudem im Wald oberhalb des Hotelkomplexes verschanzt. Man konnte nie wissen.

Die Uhr der Klosterkirche hatte gerade elf geschlagen. Der Scheich, der aus München anreiste, müsste also jeden Augenblick da sein. Leises Gemurmel stieg von der Menge auf, und die aufgeregten Blasmusiker durchpusteten zum hundertsten Mal ihre Instrumente, was Nonnenmacher kurz an seinen letzten Besuch des Elefantenhauses im Münchner Tierpark erinnerte. Doch er erlaubte seinen Gedanken nur kurz abzuschweifen, was auch notwendig war, denn der Polizeipräsident von Oberbayern hatte ihm gerade etwas ins Ohr geflüstert.

»Was?«, fragte Nonnenmacher und erntete prompt einen empörten Blick seines Vorgesetzten.

»Ich sagte, dass diese junge Kollegin Loop auf mich einen äußerst patenten Eindruck macht.«

Nonnenmacher nickte nur, das Thema war ihm gewissermaßen »wurscht«, der Polizeipräsident aber fuhr fort: »Dienstlich und menschlich top und auch optisch eine Augenweide, wie ich finde.«

»Ja?«, fragte Nonnenmacher und runzelte zweifelnd die Stirn. »Finden Sie?«

»Absolut, Herr Nonnenmacher, absolut. Die müssen Sie fördern. Aus der wird noch einmal was.« Der Polizeipräsident zögerte. »Ich frage mich nur, an wen mich die Dame erinnert. Ist es Mireille Mathieu? Die hatte auch solch sinnliche Lippen, aber natürlich eine völlig andere Frisur in einer völlig anderen Zeit. Oder doch eher die Uschi Obermaier?« Er sinnierte. »Ja, das Wilde, das aus ihren Augen strahlt, das ist vielleicht doch eher die Obermaier. Ja, ja, ganz die Obermaier. Was meinen Sie?«

Nonnenmacher zuckte unwillig mit den Schultern und scharrte mit der Spitze seiner blank gewichsten Dienstschuhe über den Asphalt. »Kann schon sein. Jedenfalls macht die mir die halbe Dienststelle verrückt.«

»Ja, das kann ich mir vorstellen. Das kann ich mir leibhaftig vorstellen. Die würde auch bei uns im Präsidium einiges auf den Kopf stellen, gerade die jüngeren Kollegen würden vermutlich Hormonschübe verspüren.« Er dachte einen Augenblick nach, dann fuhr er enthusiastisch fort: »War es nicht auch sie, die vor zwei Jahren diesen Milliardärs-Fall aufgeklärt hat?«

Jetzt plusterte Nonnenmacher sich auf: »Ja, also, das war halt unsere Dienststelle, genauer gesagt unsere Ermittlergruppe, zu der wo neben der Frau Kollegin auch noch der Polizeiobermeister Kastner Sepp und meine Wenigkeit gehören.«

»Aber PHM Loop hatte doch die Idee mit den Schuhen des Täters, war das nicht so? Hat sie ihn nicht anhand seiner Schuhe überführt?«

»Ja, das war schon so«, grummelte Nonnenmacher. »Aber wissen’S, Herr Präsident, man muss schon die Kirche im Dorf lassen: Dass mir hier derartige Ermittlungserfolge vorweisen können, hat mit unserem Teamgeist zum tun, gell. Das ist bei uns genau wie bei der Fußball-Nationalmannschaft.«

Der Polizeipräsident von Oberbayern nickte zustimmend. Er war mit Nonnenmacher zufrieden und freute sich doch gleichzeitig über seine Entscheidung, diese Frau Loop zur offiziellen Ansprechperson des Scheichs gemacht zu haben. Und das nicht nur, weil sie des Englischen mächtig war. Dann ging plötzlich ein Raunen durch die Reihen der Schaulustigen. Denn von der Stadt her kommend schoben sich nun etliche schwarze Limousinen den Berg hinauf, begleitet von mehreren Polizeibeamten, die neben den Fahrzeugen herliefen, was dem Geschehen noch mehr Wichtigkeit verlieh. Spontan begannen die Menschen zu klatschen. Nonnenmacher, jetzt doch etwas nervös geworden, weil ihn die Szenerie an die Bilder des Kennedy-Attentats erinnerte, fragte den Polizeipräsidenten: »Sie wissen auch nicht, in welchem Kraftfahrzeug der Scheich sitzt, oder?«

»Nein. Aber die Limousinen sind alle gepanzert und die Scheiben verdunkelt, da passiert gar nichts, Nonnenmacher, gar nichts«, beruhigte ihn der Polizeipräsident.

Der erste Wagen hatte bereits vor der Honoratiorengruppe haltgemacht, aber ihm folgten immer mehr Luxuslimousinen des gleichen bayerischen Autoherstellers. Fassungslos hatte Nonnenmacher insgesamt neun gezählt. In der Zwischenzeit hatten die Goaßlschnalzer ihre Arbeit aufgenommen und ließen zum Telfer Schützenmarsch ihre aus Nylonschnüren und Hanfstricken bestehenden Musikinstrumente in Überschallgeschwindigkeit knallen. Dann standen die zehn Limousinen still. Aber niemand stieg aus. Der bayerische Ministerpräsident versuchte seine aufkeimende Unsicherheit wegzulächeln – was hatte er in seinem Leben nicht schon alles weggelächelt! Der Bürgermeister und der Minister mit dem dümmlichen Gesicht tauschten hektisch Worte, und die Goaßlschnalzer schnalzten. Nach einer bangen Minute, die allen Anwesenden wie eine Ewigkeit vorkam, nahm sich der Ministerpräsident ein Herz und trat an die Fahrertür des ersten Wagens heran. Der dunkelhäutige Chauffeur bedeutete ihm jedoch durch die Scheibe, auf die andere Seite des Autos, zur Beifahrertür, zu gehen. Das schusssichere Panzerglasfenster ging einen Spalt weit auf.

»What is?«, fragte Bayerns höchster Politiker verunsichert.

»Who are you?«, fragte der Mann, der auf dem Beifahrersitz saß.

»I am«, sagte der Ministerpräsident und suchte nach dem richtigen Wort, das ihm in der Aufregung auf Englisch nicht einfiel, »I am, I am … se, also der, ja der bayerische minister president halt.«

Der Mann auf dem Beifahrersitz sah ihn verständnislos an, weshalb der Politiker noch einmal ansetzte: »I am … ach wissen’S, äh … you know, I am a kind of … King of Bavaria, ja so kann man das schon sagen«, kurz schaute er sich um, ob jemand in der Nähe stand, der das gehört haben konnte, da war aber niemand.

»I see«, antwortete der Beifahrer und musterte den King of Bavaria mit einem eher spöttischen Blick.

»Why are you not coming out of the cars«, wollte der Ministerpräsident jetzt wissen. »We wait for you. Und zwar schon länger, Zement.«

»What is that shooting«, wollte jetzt der Araber wissen. Und fügte mit leichter Verzweiflung in der Stimme an: »We hear shooting.«

»Shooting?«, fragte der Ministerpräsident erstaunt. »Hier schießt doch niemand!« Er sah sich um. Dann fiel sein Blick auf die Goaßlschnalzer, und er lachte in seiner bäuerlich herzlichen Art, die die Menschen an ihm so schätzten, laut los: »No, no – not shooting. It is Goaßlschnalzing. It is music. Bavarian music. Especially for you. Wait!« Schnell rief er den Bürgermeister herbei, flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin der Bürgermeister zum Chef der Goaßlschnalzer eilte, um diesem etwas zuzuflüstern, und kurz darauf hörte das Knallen auf, das für arabische Ohren offensichtlich wie todbringendes Maschinengewehr-Trommelfeuer geklungen hatte.

Sofort sprangen die Insassen des ersten Fahrzeugs, die allesamt elegante dunkle Anzüge und Krawatten trugen, aus dem Wagen und begaben sich zum zweiten Fahrzeug, dessen hintere Seitentüren sie schwungvoll öffneten. Es war ein Mann mit weißem Turban, der dem Gefährt entstieg und den wegen seiner machtvollen Ausstrahlung und seines schwarzen Barts sofort alle Anwesenden als den Emir des reichen Wüstenstaates Ada Bhai erkannten. Der Ministerpräsident ging auf den in ein weites weißes Gewand gekleideten Mann zu und verbeugte sich tief. Der Scheich nickte freundlich und winkte einen Mann heran, der demselben Wagen entstiegen war wie er. Auch aus den anderen Fahrzeugen schälten sich nun arabisch aussehende Personen, die Männer entweder in Anzüge oder in traditionelle arabische Kleidung gewandet, die Frauen allesamt in eleganten, weiten Stoffkleidern. Die Gesichter der Damen waren verhüllt.

»Welcome«, sagte der bayerische Ministerpräsident jetzt und spielte mit Freude sein absolut für jedes Gelände taugliches Englisch aus, »welcome to the most beautiful sea in ganz Bavaria.«

»Thank you«, erwiderte der arabische König. »We are happy to be here.« Dabei rollte er das »r« auf eine Art und Weise, dass es gerade auch für Liebhaber der bayerischen Sprache eine wahre Freude war. Dann deutete er auf den Mann, den er vorher zu sich herangewinkt hatte. »This is my cousin and assistant, Mr. Aladdin Bassam bin Suhail. He speaks German.«

Der Ministerpräsident verbeugte sich auch vor dem Cousin des Königs und sagte: »Welcome too – ach so, ich Depp, Sie können ja Deutsch. Also, auch Ihnen, Herr Aladdin, ein herzliches Willkommen.«

»Danke, Herr Präsident«, erwiderte der Cousin des Königs in beinahe akzentfreiem Deutsch. »Aladdin ist zwar mein Vorname, aber Sie können mich gern so nennen.«

»Ja, das lässt sich ja gut an«, meinte der Ministerpräsident begeistert. »Ich bin der Horst.« Den irritierten Blick des arabischen Adeligen nahm er dabei vor lauter Begeisterung gar nicht wahr. Stattdessen fuhr er fort: »So, so, dann haben Sie also Angst gehabt vor unseren Goaßlschnalzern?«

»Wie meinen Sie?«, fragte der Assistent des Emirs.

»Die Goaßlschnalzer«, meinte der Ministerpräsident und deutete mit einer lässigen Handbewegung auf die Männer mit den Peitschen, »die haben Sie das Fürchten gelehrt, gell! Dabei ist das eine Tradition bei uns« – und zum Emir gewandt – »Goaßlschnalzing is tradischn, you know. Nix shooting oder so. Fürs shooting haben mir die Gebirgsschützen.«

Erschrocken fragte Aladdin Bassam bin Suhail: »Wer wird hier schießen?«

»Na, Schmarren«, beruhigte ihn der Ministerpräsident. »Die Gebirgsschützen sind heut’ nicht da. Die präsentier’ ich euch ein andermal. Das sind schon auch g’standene Mannsbilder. Die haben in der Vergangenheit unser Land schon oft verteidigt. Aber warum seid’s so ängstlich? Hier in Bavaria passiert euch gar nichts, wir passen schon auf euch auf, da könnt’s Gift drauf nehmen.«

»Sie müssen verstehen, wir müssen seit den Unruhen in Nordafrika sehr vorsichtig sein«, erklärte Aladdin Bassam bin Suhail. »Die arabische Welt befindet sich im Umbruch. Auch in unserem Land gibt es Untertanen, die nicht zu schätzen wissen, wie sehr sich Emir Raschid bin Suhail und sein gesamtes Kabinett für sie einsetzen.«

»Ja, das Problem kenne ich«, meinte der Ministerpräsident jovial. »Das ist bei uns genauso. Der Bürger erkennt oftmals überhaupt nicht, was man für ihn alles auf die Beine stellt. Aber die Goaßlschnalzer sind einfach bloß Musiker. Die machen eine zünftige Musi und haben Spaß daran. Sei have only fun. More not.«

»Very exotic«, murmelte jetzt der Emir mit Blick auf die Männer mit den Peitschen. »I love Bavaria.«

»Ich too!«, lachte der bayerische Ministerpräsident, seine Backen ganz rot vor freudiger Erregung. »Dann«, er ließ den Blick über die Köpfe seiner Untertanen hinwegschweifen, die noch immer bis in die Stadt hinunter Spalier standen, »schlag’ ich vor, gehen wir hinein.« Just in dem Moment, in dem sich der hohe Politiker mit seinen arabischen Gästen in Bewegung setzte, stimmten die Alphornbläser ein Lied an, das auch für arabische Ohren nicht bedrohlich klang, weshalb die königliche Familie von Ada Bhai ganz entspannt folgte.

Der Bürgermeister, die Bierkönigin, der Gleitschirmweltmeister, der Schlagersänger und Kurt Nonnenmacher blieben auf dem Platz vor dem Hotel zurück, während die Araber sich mit den anderen Honoratioren in den Barocksaal begaben, wo sie ein fürstliches Menü erwartete.

So weit hätte alles seinen normalen bayerisch-gemütlichen Gang gehen können. Doch als Kurt Nonnenmacher am nächsten Morgen beim Frühstück die örtliche Zeitung studierte, traf ihn fast der Schlag: Auf der Seite mit den Anzeigen stach unter den werblichen Informationen der örtlichen Handwerker und Geschäftsleute, Gastronomen und Eventerfinder eine besonders große hervor. Nonnenmacher las den Text einmal – schaute kurz zum Fenster hinaus auf den Kurpark, wo sich bereits ein paar Touristen herumtrieben –, las den Text noch einmal, schüttelte den Kopf, las ein drittes Mal und brummte: »Unglaublich. Damit ist das Ende Bayerns besiegelt.«

Seinen Kaffee ließ der Dienststellenleiter unberührt stehen, sogar die Streichwurstbrezen, die ihm seine Frau wie immer liebevoll geschmiert hatte, blieb angebissen auf dem Teller zurück, als er hastig das Haus verließ. Das »Willst nicht wenigstens noch Zähne putzen?« und das kurz darauf folgende »Ein frisches Taschentuch, du brauchst ein frisches …!« der Gattin hörte er schon nicht mehr, das ratlose Zucken ihrer Schultern sah er nicht mehr. Doch als Frau Nonnenmacher die aufgeschlagene Seite der Zeitung erblickte, wusste sie sofort, was ihren Mann so tief bewegt hatte.

Aus der Sicht einer emanzipierten Frau, als die sie sich durchaus fühlte, haftete dem Inhalt der Anzeige jedoch nicht nur Negatives an.

Auch Sepp Kastner hatte an diesem Morgen die Zeitung studiert, und auch ihn hatte die Lektüre nicht kaltgelassen. Allerdings sah Kastner angesichts dessen, was sich da ankündigte, weniger die bayerische Kultur in Gefahr als vielmehr seine eigenen Pläne. Kastner schwitzte vor Angst, obwohl die Sommersonne das Tal an diesem Morgen noch gar nicht richtig aufgeheizt hatte. Sein eigentlich noch recht harmloser Kommentar: »O Scheiße« ließ seine Mutter, die ihm, hasenzähnig an einem Kartoffelbrot mit Margarine kauend, gegenübersaß, beinahe das Gleichgewicht verlieren.

Anne Loop hatte morgens keine Muße zum Zeitunglesen, sie war Langschläferin, eine Eigenschaft, die mit dem Morgenprogramm einer alleinerziehenden Mutter nur schlecht zu vereinbaren war. Ihre Tochter Lisa aber war bereits so selbstständig, dass sie sich allein um ihr Frühstücksmarmeladenbrot kümmerte, während Anne Kaffee und Kakao zubereitete. Lisa hatte das Verschwinden ihres Ersatzvaters noch nicht so richtig verarbeitet, daher fragte sie vorsichtig: »Mama, kommt Bernhard nicht wieder?«

»Ich glaube nicht.«

Das Kind nahm einen Schluck aus der Tasse und zupfte nachdenklich an den Ärmeln seiner Strickjacke herum. »Warum ist Bernhard weg?«

»Er hat eine neue Freundin.«

»Wer ist die?«, fragte Lisa jetzt und tupfte mit ihrem Zeigefinger auf die Marmelade ihres Brots.

»Weiß nicht«, log Anne.

»Wohnt der jetzt bei der?«

»Nein, er wohnt auf dem Campingplatz«, stöhnte Anne beinahe.

»Cool, auf dem Campingplatz!« Lisa kiekste. »Wieso denn auf dem Campingplatz?«

»Wenn ich das wüsste«, erwiderte Anne ratlos.

Dann war es eine Weile lang still, bis Lisa fortfuhr: »Mama?«

»Mmh?«

»Bist du jetzt traurig?«

»Ja«, sagte Anne. »Und du?«

»Ich auch.« Lisa dachte nach. »Aber nur ein bisschen.«

»Wieso nur ein bisschen?«

»Weil wir sicher einen Neuen finden.«

Anne sah ihre Tochter voller Zweifel an. Die fuhr fort: »Aber nicht den Sepp, gell, Mama, den nicht.«

»Wieso denn nicht?«

»Der ist zu doof für dich.«

»Aber der ist doch nett.«

»Aber doof. Wenn einer doof ist, kann man sich nicht in den ver…« Das Mädchen zögerte, steckte seinen Finger in den Kakao, leckte daran. »…knallen.«

»Du meinst verlieben?«, fragte Anne nach.

Lisa schwieg, ihr Gesichtsausdruck spiegelte ihre plötzliche Verlegenheit wider.

»Was ist denn das eigentlich genau, ›verlieben‹?« Sie sah ihre Mutter an. »Was verknallen ist, weiß ich, weil der Ben ist in die Emilie verknallt. Aber verlieben?«

»Was ist denn Verknalltsein?«, erkundigte sich Anne neugierig.

»Also beim Ben ist das so, dass er die Emilie in der Pause immer ärgert.« Sie überlegte. »Außerdem hat er ihr schon mal ein Fußballbild geschenkt. Und er schaut sie immer so doof an.«

Anne hatte aufmerksam zugehört. Jetzt sagte sie, jedes Wort fein abwägend: »Wenn man verliebt ist, dann ist das erst so, als hätte einen jemand gepiekst. Dann fühlt man so was wie Fieber oder man meint, dass man einen Schwarm Schmetterlinge verschluckt hat. Wenn man lange verliebt ist, dann fühlt sich das an wie die warme Sonne an einem Sommerabend, weißt du, wenn sie nicht mehr so heiß brennt, aber dafür viel tiefer in die Haut eindringt. Wenn dieses Gefühl nie aufhört, egal, ob die Sonne scheint oder nicht, dann ist man verliebt.«

Lisa war fasziniert. Mit verträumtem Gesichtsausdruck sagte sie: »Ich glaube, ich war noch nie verliebt.«

Anne Loop erreichte den gelben Zweckbau, in dem ihre Polizeidienststelle untergebracht war, erst einige Minuten nach offiziellem Dienstbeginn. Umso überraschter war sie, in dem Büro, das sie sich mit Sepp Kastner teilte, keinen Sepp Kastner vorzufinden. Sie hängte ihre Uniformjacke an den dafür vorgesehenen Haken und warf einen Blick auf den Wachdienstplan für die Familie des Emirs. Aber Kastner war nicht für die Vormittagsschicht eingetragen. Also ging Anne hinüber zu Nonnenmachers Zimmer. Die Tür war angelehnt, und Anne trat ohne zu klopfen ein. Die Luft war stickig. Nonnenmacher saß auf seinem Platz und Sepp Kastner auf dem für Besucher vorgesehenen Stuhl. Anne fühlte sich bei ihrem Anblick an den bayerischen Himmel vor einem sommerlichen Hagelschauer erinnert.

»Ja was ist denn hier los?«, fragte Anne überrascht.

Keiner der beiden antwortete. Dafür rumorte Nonnenmachers Magen. Der Dienststellenleiter riss die Schublade seines Schreibtischs auf, holte eine hellblaue Plastikbox hervor, wuchtete den Deckel herunter und schaufelte sich mit einem Löffel den restlichen Milchreis von gestern in den bartumwachsenen Mund, die Streichwurstbrezen lag ja zu Hause. Anne warf Kastner einen fragenden Blick zu, was dieser mit den leise gesprochenen Worten »Hast’ nicht die Zeitung gelesen?« quittierte.

»Nein, wieso? Ist was passiert?«

»Das kann man so sagen«, erwiderte Nonnenmacher mit vollem Mund, sodass die Reiskörner nur so durch die Atmosphäre flogen. »Früher hat man gesagt, ›die Türken kommen‹. Die sind jetzt aber schon alle da, sogar einen Dönerstand haben mir schon. Es ist zum Kotzen.«

»Du, der Döner schmeckt fei gar nicht schlecht, also wenn’st du den vom Lindenplatz meinst«, warf Kastner ein.

»Ach was!«, schimpfte Nonnenmacher. »Da ess’ ich ja lieber einen vegetarischen Wurschtsalat.« Das »v« von »vegetarisch« sprach er wie ein »f«. Doch seine Tirade war noch nicht zu Ende: »Es ist wirklich ein Kreuz mit den Islamisten. Wo das noch hinführt: Allein in München gibt’s vierzig Moscheen. Sogar in Penzberg gibt’s eine, und das, obwohl Penzberg schon im dreizehnten Jahrhundert zum Kloster Benediktbeuern gehört hat.« Er verharrte kurz und donnerte dann los: »Das ist ein katholisches Kloster! – Und ein Türke ist Vorsitzender von einer der drei größten deutschen Parteien …«

»Stimmt ja gar nicht«, unterbrach Anne Loop ihren Chef. »Der Cem ist Deutscher.«

»So so«, tönte der Inspektionschef. »Schaut aus wie ein Türke, heißt wie ein Türke, will aber ein Deutscher sein. Da stimmt doch was nicht!«

»Da hat die Anne fei recht«, mischte sich Kastner in das Gespräch ein. »Der Cem ist wirklich Deutscher. Nur seine Eltern, die sind Türken. Aber da kann der Cem ja nix dafür.«

»Aber irgendwas wird es schon zum bedeuten haben, wenn so was in Deutschland geht, mein’ jedenfalls ich. Kennt’s ihr einen Deutschen, der wo in der Türkei Vorsitzender von einer großen Partei ist? Gibt’s in Istanbul vierzig katholische Kirchen?«

»Zumindest gibt es dort ein christliches Kloster aus dem zehnten Jahrhundert«, wandte Anne ein.

»Ist es in Ordnung, wenn ein Araber die Löwen kauft?« – Nonnenmacher meinte den zweiten großen Münchner Fußballverein neben dem FC Bayern. »Und jetzt kommt auch noch so ein Bazi von einem Scheich daher und will uns unsere Weibersleut’ wegheiraten.« Er zögerte kurz und schob dann, in affektiertem Ton, hinterher: »Für seinen Harem. Harem, Harem, Harem, wenn ich das schon höre! Bayerische Madln in einem Scheichsharem. Unzucht ist das, und zwar mindestens hoch drei!«

Anne sah ihren Chef verständnislos an, weshalb Sepp Kastner, der den fragenden Blick bemerkt hatte, erläuterte: »Heute ist in der Zeitung eine Anzeige drin, in der der Scheich, den mir bewachen sollen, bekannt gibt, dass er so eine Art Frauen-Casting durchführen will. Der sucht eine neue Haremsdame.« Zu Nonnenmacher gewandt sagte Kastner dann: »Kurt, gib bitte mal den Artikel her.« Anne nahm das Blatt und las:

 

TRAUMHOCHZEIT –
TAUSENDUNDEINE NACHT

Mach mit beim Casting! Heirate einen König!

Wie bekannt ist, verbringt Emir Raschid bin Suhail derzeit seinen Sommerurlaub in diesem schönen Tal. Dies ist kein Zufall. Denn der König von Ada Bhai liebt Bayern und seine Menschen. Deshalb befindet er sich derzeit auf Brautschau. Er möchte seinen Harem um mindestens eine neue Frau erweitern. Aus diesem Grund lädt Seine Eminenz Raschid bin Suhail alle Frauen, die zwischen 18 und 24 Jahre alt sind, dazu ein, sich zu bewerben.

 

Das erwartet die Gewinnerinnen:
1. Der Emir macht sie zu seiner Ehefrau.
2. Sie bekommen eine exzellente Ausbildung mit Universitätsabschluss, schließlich werden sie zukünftige Prinzenmütter.
3. Eine bayerische Immobilie im Wert von mehreren Millionen und viele andere Zuwendungen.

 

Anne las ferner, dass die Bewerberinnen sich verschiedenen Prüfungen zu unterziehen hätten, unter anderem in Disziplinen wie Singen, Tanzen, Nähen, Sticken und Massage.

»Das ist ein Scherz!«, rief sie aus, nachdem sie den Text gelesen hatte.

Dass es durchaus ernst gemeint war, wurde den drei Ermittlern in den kommenden Tagen nur allzu deutlich vor Augen geführt. Denn ganz gleich, wohin man kam, in die Metzgerei, die Wirtschaft oder die Tankstelle, überall waren der Scheich und sein Casting die beherrschenden Themen. Praktisch zu jeder Tageszeit standen fortan junge Frauen vor dem Hotel, die sich in Schale geworfen hatten, um sich als Haremsfrau zu bewerben. Sogar Einträge in Gipfelbüchern erinnerten an das aufregendste Ereignis am See, seit der Bergwiesen-Hochzeit einer gewissen Giulia und dem Goldmedaillengewinn der hübschen jungen Riesenslalomfahrerin bei den Olympischen Spielen:

Gipfelbuch Wallberg (1722 Meter):

Herrlicher Tag. Bin mit Susi hier rauf. Stylen unsere Bodys für den Scheich. Yes We King! Hermine K.

Gipfelbuch Leonhardstein (1452 Meter):

Lieber Gott, lass mich beim Scheichcasting gewinnen. Ich gebe alles dafür, Hand aufs Herz. Lilli Moser

Gipfelbuch Hirschberg (1670 Meter):

Ich bin ein Mädel vom See, hol mich hier raus (aus’m Tal), Scheich Raschid.
I love Bayern, aber Arabien too. Maike

Anders als in den Gipfelbüchern, in denen das Scheichs-Casting durchwegs positiv kommentiert wurde, baute sich an den Stammtischen der Seegemeinden eine gewaltige Unwetterfront auf. Kein Tag verging, an dem man sich nicht das Maul darüber zerriss. Der gängigen und öffentlich geäußerten Meinung nach war es ein Unding, dass im Tal plötzlich – wenn auch nur von einem einzelnen Araber – ganz offiziell die Vielweiberei gelebt werden sollte. Väter fürchteten um die Unschuld ihrer Töchter, Großväter um ihre Enkelinnen, und insgesamt rückte man das Harems-Casting in die Nähe von Zwangsprostitution und Menschenhandel. All jene, die sich der katholischen Kirche besonders verbunden fühlten, riefen gar den Glaubensnotstand aus. Der Pfarrer brachte in seiner sonntäglichen Predigt den Gedanken auf, die Einwohner der Seegemeinden könnten zu Fuß zu einer Pilgerreise nach Rom aufbrechen, um den zum Glück bayerischen Papst über den Einfall des Osmanentums in die Alpenwelt zu unterrichten und ihn um seine päpstliche Hilfe zu ersuchen. Da der Gottesdienst jedoch hauptsächlich von ältlichen Jungfrauen besucht wurde, die nicht mehr gut zu Fuß waren, fand dieser kühne Vorschlag insgesamt wenig Widerhall. Natürlich gab es aber auch den ein oder anderen Stammtischbruder, der sich eine Partnerschaft mit mehreren Personen weiblichen Geschlechts für sein eigenes Leben durchaus vorstellen konnte. Denn, das begriffen die bayerischen Männer schnell: Die legitime Verbindung mit mehreren Ehefrauen hatte auch Vorteile. Schätzungen eines Mitarbeiters der Gemeindeverwaltung zufolge hatte jeder fünfte männliche Seebewohner über fünfundzwanzig Jahren schon mindestens einmal eine außereheliche Affäre gewagt. Und bei jedem dreizehnten im Tal geborenen Kind handelte es sich um eines, so der Experte aus der kommunalen Datenverwaltung, das nicht von dem stammte, den die Mutter zum Vater nach Aktenlage gemacht hatte. Bei manchen Kindern, darüber war man sich an den Stammtischen einig, sah man das Auseinanderklaffen von Erzeugertum und Vaterschaft auf den ersten Blick. »Do brauchst koa Brillen net« (norddeutsch: Da brauchste keine Brille für) war ein beliebter Ausruf in diesem Zusammenhang. Bei anderen konnte man es lediglich vermuten.

Insgesamt war man sich aber einig, dass das schon immer so gewesen war, jedenfalls seit der Zeit der römischen Besatzung. Später, als die Empfängnisverhütung sich noch immer auf das Ausspülen der weiblichen Organe nach dem Verkehr mit kaltem Seewasser beschränkt hatte, hatten gerade auf den Bauernhöfen häufig die hübschesten Mägde Kinder auf die Welt gebracht, die dem Bauern erstaunlich ähnlich sahen. Überraschenderweise war man trotz dieser Umstände den damit verbundenen Konflikten meist friedlich Herr geworden. Doch heute war mit der Ära eines Boris Becker und eines Arnold Schwarzenegger eine neue Zeit angebrochen. Es war ein Jammer: Plötzlich konnte jeder Hanswurst und jede Tussnelde mithilfe eines heimlich in Auftrag gegebenen Gentests herausfinden, ob die eigenen Kinder vom Nachbarn oder vielleicht doch von dem braun gebrannten Skilehrer aus Bottrop, der den Winter über im Tal zugebracht hatte, abstammten. Und die Bayern, die noch immer nach dem fröhlichen Motto »Laptop und Lederhose« ihres verspannten Ex-Ministerpräsidenten lebten, machten Gebrauch von den Fortschritten der Wissenschaft; mit der Folge, dass – so die Schätzung des erwähnten Zahlenmagiers aus dem örtlichen Einwohnermeldeamt – bereits ein gutes Dutzend Familien zwischen Kogelkopf, Ostiner Berg, Riederstein und Wallberg durch einen heimlich angestellten DNA-Beweis zerstört worden waren. Denn wenn ein bayerischer Mann erfuhr, dass seine Frau mit einem anderen intim geworden war, kannte er in aller Regel kein Pardon, pfiff sogar auf den jahrelang zuverlässig zubereiteten Schweinsbraten und den liebevoll gesalzenen Radi und reichte die Scheidung ein.

War es da nicht besser, wie es der Araber handhabte? Legal mit mehreren Frauen schlafen zu dürfen, bot doch Riesenvorteile, jedenfalls auf den ersten Blick. Und die Frauen schön zu verschleiern und ständig unter Beobachtung zu halten, sodass andere Männer nicht an sie herankamen, konnte auch nicht schaden. Allerdings wurden diese wagemutigen Gedanken, die etliche Männer an vielen Stammtischen teilten, nur unter vorgehaltener Hand und wenn keine Frau in der Nähe war ausgesprochen. Die arabische Methode war in Bayern einfach noch nicht salonfähig.

Aber, und dies ist keine spezifisch bayerische Weisheit: Wo Neues Einzug hält, gibt es auch neue Gefahren.

Zwei Tage, nachdem der Emir von Ada Bhai die Anzeige geschaltet hatte, belauschte ein Tourist aus Husum in einem Biergarten folgendes Gespräch:

Mann mit Trachtenhut, ein großes Stück Biergulasch im Mund: »Das hat der sich fein ausgedacht, der Scheichs-Bazi.«

Mann in rotem Monteursoverall: »Was?«

Mann mit Hut, schmatzend: »Das mit dem Casting.«

Monteur: »Ja.«

Mann mit Hut, jetzt Blaukraut in den Mund schaufelnd: »Uns die Frauen wegheiraten!« Noch ein Löffel Blaukraut. »Der muss aufpassen.« Riesiges Stück Gulasch, tropfend.

Monteur, das halbe Bierglas in einem Zug leer trinkend: »Renate, bringst mir noch ein Helles, ich hab’ einen Saudurst.« Trinkt den Rest leer.

Mann mit Hut, jetzt drohend: »Der lebt gefährlich.«

Monteur zu Mann mit Hut: »Wer jetzt?« Zur Bedienung: »Wo bleibt das Bier?!«

Mann mit Hut: »Der Scheich, der elendige.«

Monteur: »Renate, ich hab’ einen Saudurst.«

Mann mit Hut: »An sich ein Fall für die Gebirgsschützen.«

Monteur: »Warum?«

Mann mit Hut: »Attentat. Mehr sag’ ich nicht.«

Der Kurgast aus Husum war erschüttert. Da er sich erst zum zweiten Mal in Bayern aufhielt, fiel es ihm alles andere als leicht, das süddeutsche Gemüt in all seinen schillernden Facetten zu begreifen. War er nun gerade Zeuge eines handfesten Attentatsplanes geworden, also der Vorbereitung eines Verbrechens, oder handelte es sich hier um harmloses Stammtischgeschwätz? Zweifellos war von einem Anschlag die Rede gewesen. Auch hatte keiner der beiden Bayern gelacht, Ironie konnte daher ausgeschlossen werden. Als bedrohlich empfand der Urlauber zudem, dass von einer Vereinigung die Rede war, die es im nur vierzehn Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Husum nicht gab: Gebirgsschützen. Hierbei irritierte den hellwachen Husumer weniger der erste Teil des Wortes als vielmehr der zweite: Schützen.

Zurück im Hotel, stürzte sich der Nordfriese sofort auf seinen Laptop, loggte sich ins kabellose lokale Computernetz ein und recherchierte. Bei den Gebirgsschützen dieses idyllischen Bergtals handelte es sich offensichtlich um eine Art Landwehr, die wohl im siebzehnten Jahrhundert entstanden war. Ihre erste große Tat datierte auf das Jahr 1632: Sechsunddreißig schwedische Reiter waren in das direkt am See liegende Kloster eingedrungen, um Waffen zu rauben. Doch den Gebirgsschützen gelang es, die Schweden in die Flucht zu schlagen beziehungsweise an Ort und Stelle zu liquidieren. Aber auch später, so las der Husumer Gast mit jetzt hochrotem Kopf, waren die hiesigen Gebirgsschützen keiner gewalttätigen Auseinandersetzung aus dem Weg gegangen, wenn es um die Verteidigung bayerischer Kultur und Lebensart gegangen war: Sowohl in der Sendlinger Mordweihnacht 1705 als auch im Österreichischen Erbfolgekrieg fünfunddreißig Jahre später schonten sie kein Menschenleben. Ihren letzten offiziellen Kampfeinsatz bestritten sie, so fand der Tourist heraus, unter Graf Arco im Jahr 1809. Zu jener Zeit, in der sich Bayern das benachbarte Tirol einverleibt hatte, stiftete der Freiheitskämpfer Andreas Hofer seine Landsleute dazu an, sich gegen die Besatzer zu wehren. Die Gebirgsschützen hielten dagegen. Hingerichtet wurde Hofer dann aber nicht von den schießwütigen Helden vom Bergsee, sondern vom Henker des französischen Kaisers, der damals Napoleon hieß. Allmählich dämmerte dem Feriengast von der Nordseeküste, dass der Bayer einem Menschenschlag angehörte, mit dem nicht zu spaßen war. Er ging zur Polizei.

»Guten Tag, mein Name ist Jobst Lappöhn«, erklärte der Husumer dem diensthabenden Beamten in Anne Loops Polizeidienststelle.

»Ja gut, da kann ich auch nix machen«, erwiderte der Beamte, dessen Nerven wie bei allen polizeilichen Mitarbeitern der Inspektion seit der Anwesenheit der Araber im Tal blanklagen.

»Sollen Sie ja auch gar nicht«, erwiderte Herr Lappöhn aus Nordfriesland freundlich. »Ich möchte gerne eine vertrauliche Mitteilung machen.«

»Und?«, fragte der Beamte.

»Es geht um den Besuch des Emirs von Ada Bhai. Es gibt Subjekte hier im Tal, die ein Attentat auf ihn planen.«

Plötzlich war der eben noch so mürrische Polizist hellwach: »Ein Attentat? Warten’S, ich lass Sie rein.« Er drückte den Türöffner, und Jobst Lappöhn betrat das Innere der Inspektion.

Wenige Minuten später saß er bei Anne Loop und Sepp Kastner im Dienstzimmer und berichtete von dem Gespräch, das er belauscht hatte. Kastner machte sich Notizen.

»Und wie sahen die beiden Männer aus?«, fragte Anne den Urlauber.

»Der eine trug so einen Arbeitsoverall, wie ihn beispielsweise Automechaniker verwenden; der andere hatte so eine bayerische Jacke mit grünem Krägelchen an, und auf dem Kopf trug er einen Seppelhut.«

»Einen was?«, fragte Kastner entsetzt.

»Na ja, so einen Seppelhut«, meinte der Urlauber ernst.

»Also, wenn Sie sich über uns lustig machen wollen, dann sind Sie bei uns falsch«, sagte Kastner; seine Miene hatte sich schlagartig verfinstert.

Der Kurgast war verunsichert: »Wieso sollte ich das tun wollen? Ich möchte mich nur nicht strafbar machen. Ich habe mich informiert: Laut Paragraf 138 Absatz 1 Nummer 5 Strafgesetzbuch kann schließlich jeder mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren belegt werden, wenn er von dem Vorhaben oder der Ausführung eines Mordes hört und nicht rechtzeitig Anzeige erstattet. Dieses Gesetz gilt doch auch in Bayern, oder etwa nicht?«

Auch Anne Loop irritierte das Verhalten ihres Kollegen. »Was ist denn mit dir, Seppi?«, fragte sie vorsichtig.

Kastner antwortete mit der Stimme eines Großinquisitors: »Jetzt wiederholen’S bitte noch einmal Ihre Personenbeschreibung.«

Verunsichert, aber doch deutlich und gut verständlich, wiederholte der Nordfriese seine Aussage: »Der eine Verdächtige trug einen Arbeitsoverall, der andere einen Seppelhut.«

»Se-ppel-hut!«, schrie Kastner. »Seppelhut!« Er schnappte nach Luft. »Ja, sagen Sie mal, wo sind mir denn hier? Meinen Sie, dass das hier ein Kasperltheater ist oder was? Sie, mein Lieber, das ist hier die Polizei, die wo für den kompletten See plus Zusatzgemeinden und Pipapo zuständig ist. Das sind dreißigtausend Menschenleben, die wo mir hier zum schützen haben, und Sie kommen mir mit einem Seppelhut daher!«

Sepp Kastner donnerte die Faust auf den Tisch. Dann fragte er leiser, beinahe zynisch: »Hatte der andere, also der mit dem Overall, vielleicht auch eine Kasperlmütze auf, ha? Und war womöglich auch noch so ein grünes Krokodil in dem Biergarten? Am Ende eines, das wo bellt und Wasti heißt?«

»Also Sepp, jetzt übertreib mal nicht so«, versuchte Anne Loop auf ihren Kollegen einzuwirken. »Uns ist doch völlig klar, was Herr Lappöhn mit der Bezeichnung ›Seppelhut‹ meint, auch wenn dir diese Bezeichnung für einen Hut vielleicht nicht gefällt.«

»Nicht gefällt?« Kastners Stimme überschlug sich. »Herr Lappöhn, das ist ein Hut, ein stinknormaler Hut. Meinetwegen können Sie auch Trachtenhut sagen oder Jagerhut oder weiß der Teufel was, aber bitte nie wieder dieses andere Wort. Das ist eine Beleidigung!«

Jobst Lappöhn schwieg und starrte betreten auf seine Hände.

»Wenn du dich jetzt ein wenig beruhigt hast«, ergriff Anne das Wort, »dann können wir vielleicht weitermachen. Was hatte der Herr mit dem Trachtenhut außerdem an?«

Völlig verunsichert stammelte der Nordfriese nun: »Die bayerische Jacke hatte ich ja bereits erwähnt. Außerdem trug er eine Hose, die – ich bin mir da nicht sicher, und ich möchte Ihnen, Herr Wachtmeister …«

»… Polizeiobermeister«, Kastner stöhnte auf. »Wachtmeister, das gibt’s nur mehr beim Räuber Hotzenplotz.«

»Entschuldigung, Herr Polizeiobermeister«, sagte der Urlauber unterwürfig.

»Er trug also eine Hose«, sprang Anne dem Zeugen zur Seite.

»Ja, so eine aus Leder.« Unsicher suchte er Annes Blick.

Sie kam ihm zu Hilfe: »Eine Krachlederne?«

»Ja«, bestätigte der Nordfriese unendlich erleichtert und fügte hastig hinzu: »Und solche Stirnbänder für die Beine.«

Sepp Kastner fiel der Stift aus der Hand, er lehnte sich zurück, schaute mit leerem Blick zum Fenster hinaus, betrachtete wieder den Norddeutschen, schüttelte den Kopf, grimassierte und sprang schließlich auf, um in schnellen Schritten zur Tür zu eilen, sie aufzureißen und sie hinter sich zuzudonnern.

Anne und der Flachländer hörten ihn noch »Stirnbänder für die Beine!« brüllen, »Stirnbänder für die Beine!«.

»Die nennt man Wadenstrümpfe oder Loferl, Herr Lappöhn, das sollten Sie sich vielleicht merken, falls Sie noch öfter in Bayern Urlaub machen wollen.«

Trotz des Ansturms durch die einheimischen Frauen erwies sich die Bewachung des Hotels als wenig problematisch. Die Dienstpläne, die Anne gemeinsam mit Sepp Kastner entworfen und dann um des dienststelleninternen Friedens willen von Kurt Nonnenmacher hatte überprüfen und genehmigen lassen, garantierten, dass die Sicherheit der königlichen Familie aus Arabien rund um die Uhr gewährleistet war. Natürlich schob auch Anne persönlich Wachdienst. Allerdings hatte sie sich die Freiheit herausgenommen, nur tagsüber Präsenz zu zeigen, damit sie die Abende gemeinsam mit Lisa verbringen konnte und damit sie nachts zu Hause war.

Im Großen und Ganzen schien das Mädchen das plötzliche Verschwinden Bernhards, der immerhin in den vergangenen Jahren seine wichtigste männliche Bezugsperson gewesen war, gut zu verkraften. Jedenfalls fragte Lisa nie mehr nach ihm. Und auch Anne war überrascht, wie leicht es ihr fiel, ihren langjährigen Lebenspartner und alles, was mit ihm zusammenhing, aus ihren Gedanken zu verbannen. War die Beziehung mit dem psychisch angeschlagenen Mann für sie doch vor allem eine Belastung gewesen?

Eines Abends, Lisa war bereits im Bett, und Anne hatte es sich mit einem Buch auf dem Sofa gemütlich gemacht, konnte sie jedoch nicht verhindern, dass er sich in ihre Gedanken stahl und sie vom Lesen abhielt. Weil sie es ohnehin schon länger vorgehabt hatte, nahm Anne nun das Telefon zur Hand und wählte seine Nummer. Während sie dem Tuten lauschte, spürte sie, wie sie immer aufgeregter wurde. Nachdem es etwa zwölf Mal getutet hatte, ertönte Bernhards Stimme, die den Anrufer aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. Anne drückte sofort auf die rote Hörertaste: aufgelegt.

Nachdenklich betrachtete sie ihre Hände. Sie waren vom Sommer auf dem Land schon leicht gebräunt, feine Äderchen zeichneten sich unter der Haut ab, vereinzelt waren auch Pigmentflecken zu erkennen. Ich bin jetzt vierunddreißig, dachte Anne, habe ein Kind, bei dessen Erziehung mir keiner hilft, und mein Freund hat mich verlassen. Aber vierunddreißig ist kein Alter. Ich will und ich werde mich wieder verlieben. Unwillkürlich musste sie bei diesem Gedanken lächeln.

Dann klingelte das Telefon. Auf dem Display erkannte sie Bernhards Nummer. Dennoch meldete sie sich mit »Anne Loop«.

»Hallo, Anne, ich bin’s«, sagte ihr Ex.

»Wer?«, stellte sie sich unwissend.

»Bernhard«, meinte dieser, es klang ein wenig genervt. »Ich habe deine Nummer auf meinem Handy gesehen. Du hast doch gerade eben angerufen.«

Anne schwieg. Es entstand eine längere Pause.

»Also, was wolltest du?«

»Geht’s dir gut?«

»Geht schon«, erwiderte er. »Nur mit der Doktorarbeit komme ich nicht so richtig voran.«

Anne verdrehte die Augen. Wenigstens damit musste sie sich nun nicht mehr herumschlagen.

»Das mit dem Campingplatz war eine gute Entscheidung. Hier ist immer alles in Bewegung. Leute kommen, Leute gehen.« Dann fuhr er zögerlicher fort: »Aber … du fehlst mir.« Er schwieg. Wieder entstand eine Pause. Doch Anne sah auch jetzt keine Veranlassung, diese zu füllen. Bernhard unternahm einen weiteren Anlauf: »Sollen wir … sollen wir … uns nicht mal wieder treffen?«

Ohne nachzudenken, sagte Anne: »Nö.« So kurz und knapp hatte sie es eigentlich gar nicht aussprechen wollen, aber ihre Worte hatten sich einfach verselbstständigt.

»Nö?«, fragte Bernhard überrascht.

»Nö!«, wiederholte Anne, jetzt noch ganz ruhig. »Du hast gesagt, du brauchst eine Auszeit. Du hast dich für eine Affäre mit deiner Therapeutin entschieden.« Jetzt wurde Annes Stimme lauter, und ihre Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. »Du hast mich hier mit Lisa allein gelassen, was schon aus organisatorischen Gründen total rücksichtslos war; von dem, was du damit bei mir emotional angerichtet hast, wollen wir jetzt mal gar nicht sprechen. Und jetzt …« Sie stockte und stoppte.

Warum brach dies alles nun so plötzlich aus ihr heraus?

Sie wollte nicht mit Bernhard abrechnen, das hatte sie sich jedenfalls vorgenommen. Aber genau das tat sie jetzt gerade. Wie konnte sie nur so unsouverän sein? Fuck. Und Bernhard schien betroffen zu sein, jedenfalls sagte er nichts.

Dann hörte Anne ein leises: »Es tut mir leid.« Und wenig später fragte Bernhard: »Wie geht es Lisa?«

»Gut, sie vermisst dich … NICHT!« Anne erschrak. Schon wieder war sie sich entglitten. Sie fing sich und sagte: »Ich meine, ich bin froh, dass sie die Situation anscheinend ganz gut verarbeitet. Sie fragt jedenfalls nur selten nach dir, und ich habe den Eindruck, dass sie nicht leidet.«

»Gut«, meinte Bernhard. Anne konnte nicht heraushören, ob er nun beleidigt oder traurig war oder ob er es wirklich gut fand, dass Lisa ihn nicht vermisste. Wieder entstand eine längere Pause, während der Anne glaubte, durch das Telefon ein Geräusch zu hören, als ob ein Schrank geschlossen würde.

»Was war das?«

»Die Tür zu meinem Campingwagen«, antwortete Bernhard.

»Du bist nicht allein?«, fragte Anne.

»Marion ist bei mir.«

»Marion.«

»Meine … Therapeutin.«

Anne sah auf die Uhr, es war kurz nach neun: »Die Sache läuft noch?« Anne wunderte sich über den verharmlosenden Begriff »Sache«, den sie für Bernhards miese Affäre gewählt hatte.

Bernhard presste ein verlegenes »Ja« heraus.

»Und du möchtest uns besuchen kommen?«, fragte Anne weiter.

»Ja«, antwortete Bernhard erneut.

»Und was versprichst du dir davon?« Anne konnte nicht verhindern, dass sie dabei angriffslustig klang.

Bernhard klang etwas verzweifelt, als er antwortete: »Du weißt doch, dass ich kein berechnender Mensch bin. Ich verspreche mir gar nichts davon, oder jedenfalls habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Ich würde euch halt gerne mal wieder sehen. Mehr nicht. Aber jetzt muss ich aufhören.«

»Wegen der …«, sie tat so, als müsste sie in ihrer Erinnerung nach dem Namen der anderen suchen, und fand sich großartig, als sie »Marianne« sagte.

Bernhard korrigierte den falschen Namen nicht, er sagte nur: »Ja.«

Nachdem Anne aufgelegt hatte, kullerte eine einzelne Träne über ihre Wange zum Mund hinunter. Anne fing den Tropfen mit ihrer Zunge auf. Er schmeckte salzig.

Die begehrteste Aufgabe für die Beamten, die das Hotel bewachten, war, über das Gelände zu patrouillieren. Angesichts des trocken-heißen Sommerwetters fanden die eingeteilten Polizisten es beinahe so schön wie spazieren zu gehen. Selbst wenn sich auf den weitläufigen Außenanlagen des Hotels nichts ereignete, so war es doch nie langweilig, denn hier hatte man beinahe von überall aus einen fabelhaften Blick auf das tiefblaue Wasser, die Berge und die Häuser der Seegemeinden.

»Gefällt’s dir denn jetzt eigentlich bei uns?«, fragte Sepp Kastner seine Kollegin, die aus dem Rheinland stammte. Er und Anne standen gerade auf der Terrasse vor dem zum Hotel gehörenden Schlösschen und schauten zum Sonnenbichl hinüber. Anne nickte.

»Ich glaub’, dem Scheich gefällt’s auch«, meinte Kastner. »Hast’ schon gehört: Die ganzen Frauen, die der dabei hat, das sind alles seine.« Anne zeigte keine Reaktion. »Ich hab’ gedacht, dass vielleicht eine von dem Cousin ist, aber nix, alle von ihm! Weißt’, wie viele das sind?« Sepp Kastner hob seine rechte Hand, alle Finger reckten sich in den bayerisch-blauen Himmel. »Fünf«, meinte er anerkennend. »Ein Mann, fünf Frauen, Wahnsinn.« Anne konzentrierte sich auf ein sehr großes Segelboot, das vom Malerwinkel her kommend eine Furche ins Wasser schnitt, gerade passierte es die Engstelle an der Überfahrt. »Und jetzt will der noch mehr. Ein Frauen-Nimmersatt, ein Lustmolch, so ein Ölscheich.«

»Sag nicht Ölscheich, Sepp, sag Emir. Das klingt höflicher.«

»Trotzdem ein Gierbolzen, also jedenfalls was Frauen angeht. Da könnt’ ja jeder daherkommen!« Einen Augenblick lang hing er seinen Gedanken nach. »Meine Nachbarin will sich auch bewerben. Die macht jetzt im Garten immer so Hüftbewegungen, ich glaub’, das soll Bauchtanz sein. Schaut ziemlich bescheuert aus, weil die ist so dick. Aber ich glaub’, die Öl… ah, die Emirs …«

»Ein Emir, Sepp, viele Emire«, unterbrach ihn Anne.

»Die Emire«, meinte Kastner, »die stehen auf dicke Frauen. Ich ja nicht so.« Er betrachtete Anne von der Seite. »Mir gefällt das schon besser, so wie du ausschaust.«

»Ich glaube, Sepp«, erwiderte Anne, ohne auf das Kompliment einzugehen, »dass man auch in arabischen Ländern schlanke Frauen schätzt. Die Frau des Emirs von Katar zum Beispiel hat eine Topfigur. Obendrein ist sie gebildet und fördert die Wissenschaft. Sogar mit der Technischen Uni in München kooperiert sie. Und du brauchst auch nicht zu glauben, dass diese Scheichs nur reich und dumm sind. Der von Katar zum Beispiel hat in England an der Königlichen Militärakademie studiert. Die sind top ausgebildet, Sepp – was man von unseren Politikern nicht immer sagen kann …«

»Also unser bayerischer Ministerpräsident hat auch einen Ehrendoktor.«

»Aber nur einen ukrainischen, Sepp«, wandte Anne ein.

»Das ist immer noch besser als wie der gefälschte von dem Adligen aus Franken. Außerdem kommt unser Ministerpräsident von ganz unten. Der hat sich hochgearbeitet wie unsereins. Hundertprozentig weiß der besser, was das Volk denkt, als wie ein Ölscheich.«

»Würdest du dich eigentlich auch für das Casting beim Scheich bewerben, wenn du nicht zu alt wärst?«, fragte er dann geradeheraus.

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete Anne schnell.

»Warum nicht?«

»Weil ich an die …«, Anne zögerte, »… an die Liebe glaube. Und darum geht es bei so einem Casting ja wohl eher nicht.«

»Der Scheich wird sich schon auch in die Frau verlieben, die wo er sich da auswählt«, meinte Kastner. »Bei dem Haufen Frauen, der wo da kommt, wird schon ein Reh dabei sein, das ihm gefällt.«

»Und die Frauen, was ist mit denen?«

»Vielleicht fällt denen das Verlieben ja leichter, wenn der Mann reich und großzügig ist.« Kastner zögerte kurz, griff dann in seine Hosentasche und hielt Anne ein Hustenbonbon hin: »Magst du eins?« Anne nahm das Geschenk an. »Ich habe mal gelesen«, fuhr Kastner fort, »dass Frauen sich eh nicht auf den ersten Blick verlieben, sondern erst nach einiger Zeit.« Anne sah ihn an und hob spöttisch die Augenbrauen, was ihr Kollege ignorierte. »Ich sag’ immer: Steter Tropfen höhlt den Stein.«

Anne wusste nicht, weshalb, aber irgendwie machte ihr diese Aussage Angst.

 

 

Auf dem Zonenhof der Hippie-Mädchen hatte sich die Stimmung seit dem Eintreffen des Anwaltsschreibens grundlegend verändert. Lustlos bewirtschafteten die Amazonen ihre Felder, niemand machte mehr Party, und die Gespräche beschränkten sich auf das Notwendigste. Die Bio-Bäuerinnen hatten sogar das Interesse daran verloren, arglose Männer zu vernaschen. Immerhin hatte Pauline eine Arbeitsgruppe gegründet, die nach Möglichkeiten suchen sollte, den Rauswurf aus dem Gutshof zu verhindern.

Auch hatten die Hippie-Mädchen sich bemüht, mit dem Eigentümer des Hofs in Verhandlung zu treten, doch der weigerte sich strikt, mit ihnen auch nur zu sprechen. Also hatten sie Kontakt mit der Anwaltskanzlei ihres Verpächters aufgenommen und ihn zu einer Unterredung eingeladen.

Eines Tages fuhr dann tatsächlich ein Jurist aus dem nahe gelegenen Leipzig in seinem Bentley vor. Im Vorfeld hatte Pauline allen Mitbewohnerinnen aufgetragen, sich möglichst verführerisch zu kleiden, um den Anwalt mit dem Reiz ihrer Weiblichkeit zu ihren Gunsten zu beeinflussen.

Pauline selbst hatte sich nur ein dünnes Batikkleidchen übergeworfen, ihr kurzes blondes Haar schaute unter einem Seidenstirnband hervor. Auf Unterwäsche und Schuhe hatte sie ganz verzichtet. Dafür glänzte an einer ihrer Fesseln ein Silberkettchen, an dem – das konnte man jedoch nur sehen, wenn man dem Schmuckstück sehr nahe kam – ein silberner Anhänger in Form eines Marihuanablatts hing. Auch die anderen Mädchen sahen aus, als hätte man sie direkt aus Woodstock eingeflogen. Entgegen den üblichen Gepflogenheiten führte Pauline den Anwalt nicht in den großen Speisesaal mit dem Kamin, sondern in ihr eigenes Zimmer, das mit einem diwanartigen Bett und einer Sitzecke mit niedrigem Tischchen und Stühlen eingerichtet war.

Bereits als der Anwalt, der sich seinem Aussehen nach kurz vor der Pensionierung befand, ausstieg, erkannte Pauline mit Freude an Herrn Drostes Blick, dass er offensichtlich nicht homosexuell war.

Wohlwollend ließ der Anwalt seine Augen über die im Beet vor dem Haus arbeitenden Mädchen gleiten, die, wie ihm schien, allesamt eher luftig gekleidet waren. Manche sahen auf und winkten ihm zu. Es war eine köstliche Inszenierung. Am Eingang legte Madleen ihm einen Blumenkranz um den Hals. War das hier Hawaii? Droste wehrte sich nicht. Gänzlich unberührt nahm er auch hin, dass Pauline ihn in ihrem Zimmer bat, an dem niedrigen Tischchen Platz zu nehmen. Erst als Pauline während des nun folgenden Gesprächs alle paar Sekunden ihre nach Kokosmilch duftenden Beine von einer Seite auf die andere schlug und er mit ein bisschen Phantasie – welche Droste zweifellos hatte – die Weiblichkeit zwischen den Beinen der sächsischen Amazone erahnen konnte, begann seine Konzentration auf juristische Sachfragen zu schwächeln.

»Cool, dass sie gekommen sind«, eröffnete Pauline Malmkrog das Gespräch. »Sie sind ja viel jünger, als ich gedacht habe.«

Der Anwalt räusperte sich. Pauline, deren Augen leuchteten wie eine Südseelagune in der Nachmittagssonne, suchte seinen Blick. »Wollen Sie eine Tasse Damiana?«

»Damiana?«, fragte der Anwalt, der seine Stimme wiedergefunden hatte.

»Ja?« Pauline nahm zwei Tässchen von dem bereitstehenden japanischen Service, auf dem dicke Männer mit Zöpfen und riesigen Geschlechtsorganen im Liebesspiel mit zierlichen Geishas zu sehen waren, und schenkte ein.

»Damian ist doch der Schutzheilige der Apotheker«, stellte der Anwalt fest.

»Ja, deshalb ist dieser Tee ja auch so gesund«, versicherte Pauline lächelnd. »Die Pflanze hat eine gelbe Blüte und kommt ursprünglich aus Amerika. Sie wächst dort bevorzugt auf Klippen oder in höheren Lagen. Wir haben hier in unserem Paradies, aus dem Sie uns vertreiben wollen« – Pauline klimperte unschuldig mit den Wimpern –, »auch eine kleine Plantage angelegt.« Dass der Tee eine Libido steigernde Substanz enthielt, verschwieg sie geflissentlich. »Ich gebe Ihnen ein Päckchen für zu Hause mit.«

»Nun zur Sache, Frau Malmkrog«, sagte Droste ernst und nahm nichts ahnend einen Schluck von dem Damiana-Trunk. »Ich kann Ihnen da leider nicht entgegenkommen. Sie müssen hier raus. Die Verträge mit dem Investor sind unterschrieben. Immerhin haben Sie noch knapp sechs Monate Zeit.«

»Kommen Sie!«, sagte Pauline, ohne auf seine Ausführungen einzugehen, sprang auf und nahm selbstbewusst Herrn Drostes Hand. »Ich führe Sie mal über unseren Hof, damit Sie sehen, was wir hier in den letzten Jahren aufgebaut haben. Sie werden staunen.«

Droste ließ sich von der Entschlossenheit der zielstrebigen Blondine mitreißen und erhob sich. In seiner Hand spürte er die straffe, weiche Haut des Mädchens, dessen Duft ihn betörte. Er war hin und her gerissen. Einerseits war er peinlich berührt – was hätten seine Kollegen, seine Frau, seine erwachsenen Töchter gesagt, wenn sie ihn hier gesehen hätten, in dieser Räumlichkeit, die so ganz anders war als sein aufgeräumtes Anwaltsbüro? Andererseits ließen diese erfrischenden Mädchen mit ihrem zweifellos einnehmenden Lebensstil Erinnerungen an seine Studentenzeit wach werden. Für einen Moment wurde ihm bewusst, wie weit er sich von dem entfernt hatte, was er sich einst für sein Leben vorgenommen hatte. Um erfolgreich in seinem Beruf zu sein, hatte er sich anpassen müssen. Anfangs noch widerwillig, später dann, ohne es wahrzunehmen. Und darüber hatte er seine Lebenslust verloren. Als Droste diesen Gedanken fertig gedacht hatte, bemerkte er, dass seine große Männerhand noch immer in der kleinen, aber kräftigen Hand dieses zauberhaften vielleicht zwanzigjährigen Mädchens lag, das, aus welchem Grund auch immer, keine Unterwäsche trug. Oder hatte seine Phantasie ihm da etwas vorgegaukelt?

»Herr Droste, was ist mit Ihnen?«, erkundigte sich Pauline scheinbar besorgt und sah zu dem groß gewachsenen Juristen auf. Droste, noch immer leicht verwirrt, blickte das Mädchen an, sah hinüber zum Diwan, zu dem Tischchen mit dem obszönen Teeservice, zu den Tüchern an der Wand. Im Eck registrierte er eine Wasserpfeife, und da übernahm seine juristische Gehirnhälfte wieder die Kontrolle. Mit einem Ruck entzog er seine Hand der Verführung.

»Was hatten Sie eben gesagt?«

»Was mit Ihnen ist«, meinte Pauline energisch.

»Nein, davor.« Der Anwalt ließ sich wieder auf dem ihm zugedachten Stühlchen nieder.

»Keine Ahnung. Ist doch auch egal, Herr Rechtsanwalt. Kommen Sie, Sie kriegen mal eine Hofführung von mir, damit Sie sehen, was Sie zerstören, wenn Sie die Sache hier durchziehen.«

»Ach ja, das war es«, erwiderte der Anwalt, jetzt fast wieder Herr seiner Sinne. Erleichtert seufzte er auf. Er hatte schon führende Politiker und Wirtschaftsbosse in komplizierten Prozessen vertreten und wahrhaft brenzlige Situationen überstanden, aber das hier hatte eine andere, eine neue Qualität. »Jetzt setzen Sie sich mal wieder hin, mein Fräulein, ich brauche hier nämlich keine Führung über den Hof, weil – so schön das Ganze hier ist – es hat keine Überlebenschance. Wissen Sie, ich habe überhaupt nichts gegen biologische Landwirtschaft. Im Gegenteil: Meine Frau kauft auch manchmal im Bio-Supermarkt ein. Aber diese riesigen Flächen hier sind zu kostbar zum Rübenziehen.«

»Rübenziehen!«, stieß Pauline empört hervor. »Herr Droste, die Landwirtschaft ist die Grundlage unseres Lebens. Und wenn wir nicht komplett auf biologisch umsteigen, dann stirbt die Menschheit aus.«

»Wieso sollte die Menschheit deswegen aussterben?«, fragte der Anwalt. Er fand den Zusammenhang, den die junge Frau herstellte, verrückt.

»Weil wir alle unfruchtbar werden, wenn wir diesen ganzen gespritzten Dreck essen. Es gibt Studien, wonach jedes fünfte Liebespaar kein Kind bekommen kann, obwohl es das will. Das verursacht die Chemie in unseren Lebensmitteln!«

»So ein Blödsinn«, entgegnete Droste. »Außerdem habe ich ja, wie bereits angemerkt, gar nichts gegen biologische Landwirtschaft, nur eben nicht hier. Hier entsteht ein großes Investorenprojekt, das der Region viele Arbeitsplätze bescheren wird. Die Politik ist ganz auf meiner Seite.«

»Aber Herr Droste, sind Sie etwa auch ein Anhänger des Sankt-Florian-Prinzips? Es ist doch unser aller Leben! Es ist doch unsere Erde! Haben Sie Kinder?« Droste nickte. »Na sehen Sie: Was haben die von einem Hotelkomplex hier in der Pampa?«

»Was haben die von einer biologischen Landwirtschaft hier in der Pampa?«, stieß der Anwalt verächtlich hervor.

»Landwirtschaft ist Leben. Es geht nicht, dass wir alle wichtigen Lebensbereiche ins Ausland transferieren und bei uns nur noch Geldmaschinen betreiben. Das ist unnatürlich und gefährlich. Wir begeben uns in Abhängigkeiten von anderen Ländern, die wir nicht kontrollieren können.«

»Also, Frau Malmkrog. Ich bin nicht hier, um mit Ihnen über die Zukunft der Menschheit zu diskutieren. Das ist nicht mein Job. Ich bin hier, um die Modalitäten Ihres fristgemäßen Auszugs klarzumachen …«

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und ein offensichtlich frisch geduschtes Mädchen mit nassen langen Haaren, Brustwarzen wie Kirschkernen und perlenden Wassertropfen auf der Haut betrat Paulines Zimmer und flötete: »Hast du eben mal ein Handtuch für mich, Pauline? Habe gerade geduscht, aber da war …« Dann brach die Nackte ab und tat so, als erschrecke sie. »Huch, da ist ja wer!« Doch die Unbekleidete verließ keineswegs den Raum, sondern ging auf Droste zu, deutete einen höflichen Knicks an und hielt dem Anwalt die Hand hin. Dieser versuchte sich ganz auf das Gesicht des Mädchens zu konzentrieren, musste dann aber doch kurz nach unten blicken, um die ausgestreckte Hand der Amazone zu erwischen. Dabei streifte sein Blick unwillkürlich den Intimbereich der Nackten, der eine Tätowierung aufwies, die den Juristen die Augen aufreißen ließ.

»Sorry, nee, hab’ auch keins da«, erwiderte Pauline, ohne auch nur zu schmunzeln, und die Frischgeduschte wippte mit ihren perfekt geformten Hüften zurück in Richtung Tür. Droste sah ihr nachdenklich hinterher.

»Das war Sami.«

»Sami«, wiederholte Droste und führte gedankenverloren die Tasse mit den kopulierenden Japanern an die Lippen. Er fühlte sich berauscht.

»Also, Herr Droste«, Pauline übernahm nun wieder das Gespräch, »wir werden uns jetzt doch irgendwie einigen, mmh?« Pauline senkte den Blick nach unten auf ihre Knie, die etwa in Tischhöhe angewinkelt waren. Dann ließ sie ihre Hände wie nebenbei von den Knien über die Oberschenkel in Richtung ihrer Körpermitte gleiten. Anschließend richtete sie den Blick wieder auf das Gesicht des Anwalts. Doch der war wie hypnotisiert der Bewegung von Paulines Händen gefolgt, und sein Blick haftete auch weiterhin auf ihnen. Pauline ließ die Hände wieder auf die Knie sinken, und nachdem sie am Rand ihres kurzen Kleids angelangt waren, schob sie es etwas hoch. Droste spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Während er immer mehr von der zarten Haut, die Paulines Oberschenkelinnenseite bedeckte, sehen konnte, dachte er sorgenvoll an seine sechs Bypässe. Doch dann stoppte Pauline abrupt ihre Bewegung, schob das Kleid wieder nach vorn in Richtung der Knie und schüttelte ihren Oberkörper, als ob sie fröstelte. Dabei entwich ihr scheinbar zufällig ein leises Stöhnen. Der Rechtsanwalt riss seinen Blick vom Körper des Mädchens los, griff mit inzwischen hochrotem Kopf nach der Teetasse und nahm noch einen Schluck von dem Getränk namens Damiana.

Pauline ergriff nun wieder mit einem Augenaufschlag das Wort. »Herr Droste, jetzt geben Sie Ihrem …«, das Mädchen machte eine Kunstpause und blickte auf den Hosenladen des Juristen, »… Herzen einen Stoß und helfen Sie uns.« Wieder verharrte sie kurz. »Wir sind ein Biohof. Wir zeigen uns auch in Naturalien erkenntlich – wenn es sein muss.«

Der Anwalt stammelte ein »Ja, ja, ich muss mir das alles durch den Kopf gehen lassen. Also, vielen Dank. Da kann man vielleicht was machen« und verließ fluchtartig Zimmer, Haus und Hof.

Erst viel später wurde er sich bewusst, dass er noch immer diese alberne Blumenkette trug. Da befand er sich aber bereits in der Tiefgarage unterhalb des Gebäudes, das seine Kanzlei beherbergte, und Herr Dr. Burkow, dem die Arztpraxis im dritten Stock gehörte, hatte ihm schon ein freudiges »Aloha Hawaii!« zugerufen. Für den Rest des Tages gingen dem Leipziger Anwalt die Mädchen vom Zonenhof, insbesondere die glatten Innenseiten ihrer Schenkel und ihr verwirrender Duft, nicht mehr aus dem Kopf. Nachdem er auch das familiäre Abendessen in vollkommenem Schweigen absolviert hatte, knallte ihm seine verärgerte Gattin den doppelten Espresso derart wuchtig auf den Tisch, dass braune Tropfen aus der Tasse auf das blütenweiße Tischtuch regneten.

Nachdem der Anwalt das Gut verlassen hatte, hatten die Mädchen vom Zonenhof zunächst in aller Stille das Abendessen hinter sich gebracht. Keine von ihnen, nicht einmal die realistische Pauline, hatte damit gerechnet, dass der Jurist den von ihnen dargebotenen Verlockungen widerstehen würde. Das hatte es auf ihrem Hippie-Bauernhof wirklich noch nie gegeben, dass ein Mann sich nicht hatte verführen lassen.

»Anwälte sind einfach totale Vollspießer«, stellte eine der Amazonen trocken fest.

»Ich glaube, der kommt noch mal wieder«, meinte eine andere. »Den haben wir infiziert. Ich gebe ihm eine Inkubationszeit von drei Tagen. Dann kommt er und holt sich seine Packung Sex.«

»Hättest du echt mit dem geschlafen, Pauline?«, wollte nun eine andere wissen.

Pauline griff zu ihrem Rotweinglas und nahm einen Schluck daraus. »Ich weiß nicht. Sauber sah der ja schon aus. Der duscht bestimmt jeden Morgen. Und wenn wir damit unser Leben hier retten könnten? Einmal Sex mit einem alten Sack gegen die totale Freiheit, die grenzenlose Unabhängigkeit? Würde sich das nicht lohnen?« Sie blickte in die Runde. »Würdet ihr für Geld mit einem Fremden schlafen?«

»Kommt drauf an, wie viel es ist«, warf Madleen ein.

»Eine Million?«, schlug Pauline vor.

»Für eine Million würde ich mir das überlegen«, stellte Madleen fest.

»Für Geld würde ich’s nicht machen, aber um unsere Idee hier zu retten, würde ich’s schon tun«, meinte Sami, die am Nachmittag die Handtuchshow für den Anwalt aufgeführt hatte.

»Na also, dann wissen wir ja, wer mit ihm pennt, falls er noch mal wiederkommt«, lachte Pauline.

»Und was, wenn er das nicht tut?«, wollte ein jüngeres Mädchen wissen, wobei sie den Blick gesenkt hielt und nervös an ihrer Holzhalskette zupfte.

»Dann mieten wir uns woanders einen Hof. Hier gibt’s doch noch tausend andere heruntergekommene Gehöfte. Da finden wir schon was«, meinte Madleen.

»O Mann«, entfuhr es Pauline, »ich weiß nicht, ob ich noch mal die Power habe, so was wie hier aufzubauen. Und dann kommt am Ende wieder einer und baut ein Hotel. Das ist doch Scheiße.«

»Wir müssten uns selbst was kaufen!«, rief das Mädchen mit der Holzkette, das eben noch so bedrückt gewirkt hatte. »Dann kann uns niemand mehr rausschmeißen. Dann sind wir wirklich frei und unabhängig.«

»Und mit welchem Geld? Dafür braucht man mindestens eine Million!«

Tatsächlich kam Anwalt Droste nicht wieder auf den Zonenhof. Stattdessen erreichte die Mädchenkommune vier Tage später ein Einschreiben, das alle Hoffnungen zunichte machte. Darin konstatierte der Jurist erneut, dass der Investor an seinen Plänen festhalte und dass die Mädchen den Hof zur gesetzten Frist zu räumen hätten. Im Übrigen verbitte er sich weitere unsittliche Anträge, die seine Integrität als Rechtsanwalt und Vertreter der Eigentümerseite infrage stellten.

Es war die Energie der Verzweiflung, die die Mädchen dazu brachte, am Abend ein ausgelassenes Fest zu feiern.

Nachdem der Postbote am frühen Nachmittag den Hof verlassen hatte, bauten sie vor dem Haupthaus eine lange Tafel auf, trugen kistenweise Wein und Bier nach draußen, stellten alles, was sie an Essen in ihren Kühlschränken hatten, auf einen weiteren Tisch und nahmen die Wasserpfeifen in Betrieb. Bis die Sonne unterging, waren alle komplett berauscht, manche schliefen Arm in Arm im Beet, andere knutschten unter dem Tisch herum. Es war jetzt sowieso alles egal.

Als es kühler wurde, versammelten sich immer mehr der Amazonen im Haus. Der süßliche Duft von Marihuana und Räucherkerzen breitete sich in den Räumen aus. Aus der Küche drang indische Musik, drei Mädchen bemalten sich tanzend mit Fingerfarben. Im Wohnzimmer lief leise der Fernseher. Die meisten, die hier lagerten, waren völlig benommen von den Eskapaden des Nachmittags und Abends. Madleen und Pauline hatten sich auf der großen Liegefläche einen Platz gesichert und es sich zwischen den vielen bunten Kissen gemütlich gemacht. Madleen stierte auf den Bildschirm, auf dem gerade die Bilder einer Boulevardsendung zu sehen waren.

»Wer hat die Fernbedienung?«, fragte sie, nachdem die Schlagzeile einer auf der Mattscheibe gezeigten Zeitungsseite ihre Neugier erregt hatte. Dort stand:

 

GROSSES CASTING

Scheich schenkt Gewinnerin Gutshof in Bayern

 

»Mach mal lauter«, rief Madleen jetzt aufgeregt. Doch die anderen waren viel zu bekifft, um zu reagieren.

Madleen sprang auf und scannte den Raum. Wo war die gottverdammte Fernbedienung? Weil sie sie nicht fand, stellte sie sich ganz nah vor den Fernseher und verfolgte aufmerksam den Bericht.

Am nächsten Tag hatten die Mädchen vom Zonenhof einen Plan, der sich zwar kurios anhören mochte, aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Sie würden nach Bayern ziehen und beim Harems-Casting mitmachen. Alle siebenundzwanzig. Eine von ihnen würde siegen, und damit würden sie diesen Gutshof in Bayern gewinnen. Der Anwalt Droste konnte sie am Arsch lecken, der prüde Sack.

Doch weil Pauline neben all ihren Idealen doch auch Geschäftsfrau war, warf sie sich an einem der nächsten Tage in ein für ihre Verhältnisse konservatives Kostüm – allerdings mit sehr kurzem Rock – und fuhr nach Leipzig. Für die Rettung des Amazonenprojekts wollte sie noch einmal alles einsetzen, was ihr als Frau zur Verfügung stand.

Als sie vor dem Mahagonischreibtisch in Anwalt Drostes Büro stand, fragte sie kurz: »Sie erlauben doch«, öffnete die Riemchen ihrer hohen schwarzen Sandalen und ließ diese auf den Parkettboden plumpsen. »Ist einfach bequemer so«, flötete sie, zog ihre Beine hoch auf den Besuchersessel und setzte sich auf ihre Unterschenkel. Ihr Rock rutschte dabei bedenklich weit nach oben und eröffnete dem Anwalt einen großzügigen Blick auf ihre wohlgeformten Oberschenkel und noch weiter hinauf.

Binnen Sekunden war Drostes Souveränität beim Teufel. Während Pauline ihm im sachlichsten Ton der Welt erklärte, was sie wollte, ließ sie scheinbar zufällig immer wieder ihre angewinkelten Beine für wenige Zentimeter auseinanderkippen, um sie dann gleich wieder zusammenzudrücken. Pauline hatte nicht vor, mit Anwalt Droste zu schlafen. Aber ihr war im Gespräch mit den anderen klar geworden, dass sie für ihr Vorhaben in Bayern Startkapital brauchten. Droste sollte sie für den Auszug entschädigen – und zwar ordentlich. In den nächsten dreißig Minuten handelte Pauline einhunderttausend Euro Abfindung heraus. Ihre Aktion hatte sich gelohnt.

Fünf Tage später veranstalteten die Mädchen vom Zonenhof einen Hofflohmarkt, auf dem sie fast alle mobilen Gegenstände aus dem Haus verscherbelten, und legten sich einen ausrangierten Schulbus zu. Nach Abzug der Kosten für das Gefährt blieb den Amazonen ein Startkapital von zweiunddreißigtausend Euro für ihr Bayernabenteuer. Die Reise konnte losgehen. Dass keine von ihnen einen Busführerschein hatte, war den Mädchen schnuppe. Sie gingen davon aus, dass sie auf dem Weg nach Bayern schon nicht kontrolliert würden.

 

 

Kurt Nonnenmacher hatte es als gänzlich unter seiner Würde betrachtet, sich auch für den Hotelwachdienst einteilen zu lassen. Doch seit er wusste, dass sich dort wegen des Castings täglich die schönsten Frauen einfanden, übte der Ort eine geradezu magische Anziehungskraft auf ihn aus.

Mehrmals wöchentlich erfand der Polizeichef nunmehr hanebüchene Vorwände, um seine Mitarbeiter im Rahmen sogenannter »Routinebesuche zwecks dienstlicher Besprechung« auf dem Gelände aufzusuchen.

An einem dieser Tage waren Anne Loop und Sepp Kastner gerade dabei, den morgendlichen Ansturm an potenziellen Heiratskandidatinnen in einer langen Schlange zu ordnen, die sich vom Rezeptionsgebäude bis zum Parkplatz hinunter erstreckte, als der Dienststellenleiter aus seinem Streifenwagen stieg.

»So, passt alles?«, fragte er, als Anne gerade einer eigens aus Wien angereisten Zwanzigjährigen empfahl, sich doch eine warme Jacke aus dem Auto zu holen, weil es sicherlich drei Stunden dauern würde, ehe sie an die Reihe käme und die Morgenluft noch kühl war.

»Ja, bis auf einige Kleinigkeiten. Erst hatten mir zwei Nervenzusammenbrüche und dann eine kleine Schlägerei. Kein Vergleich zu gestern, wo die hier angefangen haben, Sekt zu saufen, und ein Lagerfeuer im Hotel-Biergarten machen wollten«, berichtete Kastner.

Nonnenmacher nahm seinen Untergebenen zur Seite und fragte ihn in verschwörerischem Ton: »Du, ganz unter uns: Was macht der Scheich mit denen eigentlich da drin?«

»Keine Ahnung. Die, wo ich gefragt habe, die haben gesagt, dass sie nix sagen dürfen. Der Assistent vom Scheich, weißt’ schon, dieser Aladdin Dingsbums, also der ohne Bart und Turban, der lässt jede, die rein will, eine Vertraulichkeitserklärung unterschreiben. Außerdem hat er gedroht, dass wer was austratscht, von vornherein nicht für die Endrunde nummeriert wird.«

»Nominiert meinst du, oder?« Ohne Kastners Antwort abzuwarten, fuhr Nonnenmacher mit einem kritischen Blick fort, der ihn – so hoffte er vergeblich – wie Clint Eastwood aussehen lassen sollte: »So so. Das heißt, da finden quasi geheime Umtriebe statt?«

Kastner nickte. »So schaut’s aus.«

»Und das in einem demokratischen Freistaat!«, konstatierte Nonnenmacher erschüttert. »Arabische Verhältnisse … bei uns in Bayern!«

»Ja«, meinte Kastner nur, und beide musterten nachdenklich die Horde gut gebauter Mädchen.

Dann meinte Nonnenmacher abrupt: »Und wie schauen die Frauen aus, die da wieder rauskommen?«

»Super«, meinte Kastner strahlend. »Du glaubst gar nicht, was es in Deutschland alles für Madeln gibt …«

»Nein, ich meine nicht, ob die gut ausschauen«, unterbrach ihn der Inspektionschef. »Das hat uns als Polizeibehörde nicht zu interessieren, jedenfalls nur sekundär. Sepp, so was musst du als Profi knallhart ausblenden! Ich meine, ob es irgendwelche Anzeichen für Misshandlungen oder Ähnliches gibt?«

»Einen roten Kopf haben’s meistens, wenn’s rauskommen«, antwortete Kastner, nachdem er kurz überlegt hatte. »Wart halt kurz und verschaff dir selbst einen Eindruck, es werden eh bald die Ersten wieder da sein. Bei dem Raschid bin Suhail geht so ein Casting schneller wie bei dem blonden Dings vom RTL, das geht zack zack zack.«

»Ja mei«, entgegnete Nonnenmacher verächtlich, »das könnt’ ich auch. Letztlich ist das reine Erfahrungssache.« Er holte tief Luft. »Wenn ein Mann einmal ein gewisses Alter erreicht hat, dann hat er auch Erfahrung, frauenmäßig.« Gönnerhaft klopfte er dem jungen Kollegen auf die Schulter, begann im selben Moment aber zu schwitzen, weil Anne, ohne dass er es bemerkt hatte, zu ihm und Kastner gestoßen war und er unsicher war, ob sie ihr Gespräch belauscht hatte. Doch dann wurde seine Aufmerksamkeit durch etwas anderes beansprucht. Ein Zug von Demonstranten kam die Straße von der Stadt zum Hotel herauf. Durchwegs Frauen, wie Nonnenmacher, Kastner und Anne auf einen Blick feststellten.

»Aha, noch mehr Bewerberinnen«, konstatierte Kastner.

»Das glaub’ ich nicht, die sind doch alle ü-dreißig«, stellte Nonnenmacher fachmännisch fest, wobei er die Stimme erheben musste. Die Damen, die die für das Casting erforderliche Altersgrenze tatsächlich schon überschritten zu haben schienen, veranstalteten nämlich einen Höllenlärm. Sie schlugen auf Blechdosen und Trommeln ein, schwangen Rasseln und Ratschen, wie sie am Karfreitag in vielen bayerischen Dörfern anstatt der Kirchenglocken verwendet wurden, und schmetterten Lieder, so kraftvoll und lautstark, dass das ganze Tal davon erzitterte.

Anne dachte zuerst, dass es sich um Gegnerinnen des Harems-Castings handelte, denn auf einem Transparent, das die Demonstrantinnen hochhielten, stand:

 

Schluss mit Diskriminierung!
Wir fordern Gleichberechtigung!

Aber dann verstand Anne den Text des Liedes, das die stolzen Bayerinnen sangen – und war mehr als erstaunt. Die etwa zwanzig Demonstrantinnen, die allesamt sauber aufgedirndlt waren, sangen passend zur Melodie eines berühmten Bierzeltliedes so wild wie fröhlich:

 

»Wir sind nicht zwanzig, wir sind nicht reich,
wir wollen trotzdem einen Scheich.
Der scheißt uns zu mit seinem Geld
und kauft uns gleich die ganze Welt.

 

Lieber Raschid bin Suhail,
wir finden, du hast ganz schön Style.
Deine Millionen wollen wir,
dann sprech’ma Arabisch sofort hier.

 

Sei gerecht und cast uns auch,
dann pinseln wir dir täglich deinen Bauch.
Die Sprach’ der Lieb’ ist international
und das Alter beim Sex doch ganz egal.«

Anne musste angesichts des Textes sehr lachen. Der Gesichtsausdruck ihres Chefs dagegen verfinsterte sich schlagartig. Unter den Demonstrantinnen hatte er nämlich seine Cousine Martha entdeckt. Schnell ging er zu ihr hin und packte sie energisch am Arm.

»Was machst denn du da?«, fragte er die kräftige Brünette, wobei er gehörig gegen den Lärm anschreien musste. Anstatt zu antworten, sang Martha ihm gemeinsam mit ihren Kumpaninnen lachend ins Gesicht »Sei gerecht und cast uns auch …«.

»Ja, sag mal, bist zu verrückt geworden, Martha?«, herrschte Nonnenmacher seine Cousine an.

»Die Sprach’ der Lieb’ …«

»He!«, herrschte Nonnenmacher sie an. »Aufhören!«

»… ist international …«

Nonnenmacher versuchte, Martha aus dem Getümmel zu ziehen, doch die hinter ihr laufenden Frauen hauten dem uniformierten Dienststellenleiter mit Luftballons auf den Kopf, schubsten ihn und tröteten ihm ins Ohr.

»Ja Sakra«, schimpfte der Inspektionschef und ließ schließlich von Martha ab.

»… und das Alter beim Sex doch ganz egal.«

Hastig suchte Nonnenmacher nach seiner Polizeitrillerpfeife, die er schon seit Jahren nicht mehr verwendet hatte, und zog sie aus der Hosentasche. Ein gellender Pfiff erklang, die Sängerinnen verstummten umgehend.

»Ruhe!«, bellte Nonnenmacher in die plötzlich entstandene Stille hinein. »Sofort ist hier Ruhe, Kruzefix!« Dann pfiff er noch einmal.

Und auch Hoteldirektor Christian Geigelstein sowie der Assistent und Cousin des Emirs, Aladdin Bassam bin Suhail, schienen beunruhigt zu sein, denn sie standen vor dem Rezeptionsgebäude und diskutierten aufgeregt miteinander.

»Ja seid’s ihr denn wahnsinnig?«, blaffte Nonnenmacher die Demonstrantinnen an.

»Warum?«, fragte eine der beiden Frauen, die das Transparent trugen, und lachte kühn. »Mir fordern doch bloß Gleichberechtigung. Mir wollen auch beim Casting mitmachen.«

»Aber ihr seid’s doch praktisch alle verheiratet«, wandte Nonnenmacher ein.

»Ja und!«, kiekste eine andere. »Der Scheich ist doch auch verheiratet!«

»Aber eure Männer …«, schrie der Dienststellenleiter ratlos. »Martha, was sagt der Hans-Peter, wenn er das hört?«

»Das ist mir doch wurscht«, erwiderte Nonnenmachers Cousine. »Der hockt doch eh jeden Abend im Wirtshaus. Da kann ich mich genauso gut ein bisserl von einem Scheich verwöhnen lassen.«

»Das geht nicht!«, brüllte Nonnenmacher jetzt, und für Anne klang es nach tiefer und ehrlicher bayerischer Verzweiflung. »Ich verweise euch jetzt des Platzes, von Gesetzes wegen, und zwar sofort!«

»Mir gehen aber nicht!«, schrie eine andere, doch darauf konnte der Polizeichef nicht mehr eingehen, denn der Hoteldirektor und der Assistent des Emirs kamen mit ernsten Mienen auf ihn zu.

»Herr Nonnenmacher, bitte kommen Sie mal mit hinein«, sagte Geigelstein. »Ich bin zutiefst besorgt.«

»Ja, ich auch.« Der Inspektionsleiter nickte und gab Anne einen Wink, ihn zu begleiten. Kastner bedeutete er, bei den wild gewordenen Dirndlfrauen die Stellung zu halten.

In der Sitzecke gegenüber der »Reception« nahmen die vier Platz, und Geigelstein ergriff das Wort: »Herr Nonnenmacher, Sie müssen etwas unternehmen! Herr bin Suhail hat mir soeben mitgeteilt, dass sein Cousin, der Emir, sich extremst gestört fühlt durch die Demonstration.«

»Bei uns würde man solche Demonstranten einfach wegschießen, mit Panzern«, stellte Aladdin Bassam bin Suhail trocken fest.

»Der Emir denkt sogar darüber nach, Bayern fluchtartig zu verlassen«, fügte der Hoteldirektor aufgeregt hinzu.

Ehe der Polizeichef sämtlicher Seegemeinden des Tals sagen konnte, dass ihm genau das die liebste Lösung wäre, fuhr der Hotelier jedoch fort: »Würde uns der Emir von Ada Bhai vorzeitig verlassen, hätte dies eine verheerende Signalwirkung. Die bayerischen Tourismusgebiete brauchen die Urlauber aus den arabischen Ländern. Sie sind eine äußerst umsatzstarke Zielgruppe.«

Nonnenmacher hatte es die Sprache verschlagen. Nervös blickte er in die Runde.

»Sie müssen diese Frauen hier wegbringen, so schnell wie möglich«, durchbrach Aladdin Bassam bin Suhail die Stille. »Sonst wird Seine Eminenz noch heute abreisen.«

»Wie soll ich das denn machen?«, herrschte Nonnenmacher den Assistenten empört an. »Soll ich sie vielleicht wegtragen oder was? Sie sehen ja selbst, dass die völlig wild geworden sind. Wissen’S, Herr bin Suhail, eine oberbayerische Frau, insbesondere eine aus unserem Tal, die kann ganz schön jähzornig werden.«

»Jähzornig?«, fragte der Araber, er schien das Wort nicht zu verstehen, aber darauf ging Nonnenmacher nicht ein.

Vielmehr fuhr er fort: »Da müssen Sie aufpassen. Also meine Helga zum Beispiel …«

»Was wollen diese Frauen denn?«, schnitt ihm der Assistent des Scheichs das Wort ab.

»Ja, Gleichberechtigung halt«, meinte Nonnenmacher, ganz so, als wäre diese kühne weibliche Forderung für ihn, den Anhänger der traditionellen Rollenverteilung in der Ehe, das Normalste der Welt. »Die wollen halt auch bei dem Casting mitmachen.«

An dieser Stelle ergriff Anne das Wort. »Wieso dürfen die Damen denn nicht am Casting teilnehmen, Herr bin Suhail?«

»Sie sind zu alt. Mein Cousin braucht junge, garantiert gesunde Frauen. Sie sollen ja noch einige vielversprechende Prinzen zur Welt bringen, die wichtige Positionen in unserem Emirat besetzen können.«

»Eine bayerische Frau ist auch, wenn sie älter ist, gesund«, stieß Nonnenmacher empört hervor. Was bildete sich dieser dahergelaufene Scheichsvogel eigentlich ein? Doch weil niemand auf seinen Einwurf einging, konnte Anne fortfahren: »Gut, Herr bin Suhail, wenn Sie mir diese persönliche Äußerung gestatten: Insgesamt finde ich diese gesamte Veranstaltung, die Sie hier abziehen, höchst bedenklich, wenn nicht sogar Frauen verachtend.« Der Hoteldirektor hechelte nach Luft. »Aber wir wollen hier jetzt keine Grundsatzdiskussion vom Zaun brechen. Fakt ist: Sie wollen die Demonstrantinnen loswerden.« Der Assistent des Scheichs nickte. »Wir aber können sie nicht wegtragen.« Jetzt nickte Nonnenmacher. »Daher schlage ich vor, dass Sie mit den Frauen einen Deal machen.« Alle drei Männer sahen Anne erstaunt an. Anne wartete kurz, dann sagte sie: »Ich bin mir sicher, dass die Demonstrantinnen sofort das Hotelgelände räumen, wenn Sie jeder von ihnen ein Geschenk machen.«

»Ein Geschenk?«, fragte der Assistent.

»Geschenke wirken bei Frauen Wunder«, erklärte Anne lächelnd. Nonnenmacher beobachtete seine Mitarbeiterin interessiert.

»Was stellen Sie sich denn da vor?«, wollte bin Suhail wissen.

»Geld«, meinte Anne trocken.

»Geld?«, fragte der Assistent überrascht. Doch er schien sich mit dem Gedanken anfreunden zu können. »Wie viel denn?«

»Sagen wir, fünfhundert Euro pro Frau?« Wenn der Scheich schon so respektlos mit Frauen umging, dann sollte er wenigstens ordentlich dafür bezahlen.

»So viel!«, empörte sich der Hoteldirektor.

»Darauf gehen die nicht ein«, schnaubte Nonnenmacher. »Eine bayerische Frau ist doch nicht käuflich!«

Eine halbe Stunde später hatten alle Damen, die nicht den Altersvorstellungen des Scheichs entsprachen, das Hotelgelände verlassen. Das Lied vom Scheich und der Liebe aber konnte man in den folgenden Tagen in den Boutiquen und Geschäften der Seegemeinden immer wieder summen und singen hören. Ein Fischer am Stammtisch behauptete gar, er habe beim morgendlichen Ablegen einen Vogel das Lied pfeifen gehört. Aber was erzählt man nicht alles nach dem dritten Bier …

Zuerst hörten Anne und Lisa nur ein »Psst«, sahen aber niemanden. Sie standen gerade im Supermarkt vor dem Nudelregal, nachdem Anne ihre Tochter vom Hort abgeholt hatte, in dem Lisa nun untergebracht war, und überlegten, was sie zum Abendessen einkaufen sollten.

»Psst«, erklang es da schon wieder.

»Da!«, rief Lisa und zeigte zum Ende des Lebensmittelregals, von wo die Nachbarin der beiden ihnen zuwinkte.

»Frau Schimmler!«, rief Anne der Alten freundlich zu. »Alles okay?«

Die ein wenig verwahrlost aussehende Nachbarin kam näher, den Einkaufswagen im Schlepptau. Doch bevor sie das Wort ergriff, sah sie sich mit verschwörerischer Miene um.

»Haben Sie’s schon gehört?«

»Was denn?«, fragte Anne.

»Mama, ich hab’ Hunger«, quengelte Lisa dazwischen.

»Es gibt bald keine Frauen mehr im Tal!«, raunte die alte Schimmlerin und sah sich wieder hektisch um. »Ein Scheich kauft sie nämlich alle auf.« Die Alte hob die Augenbrauen. »Haben’S das schon gehört?«

»Also in dieser Version noch nicht«, meinte Anne in normaler Lautstärke.

»Psst!«, zischte die Alte. Im Hintergrund piepte der Kassenscanner. »Es ist auch noch nicht in der Zeitung gestanden. Aber Sie als Kriminalkommissarin müssen es doch als Erste wissen. Sie müssen ermitteln! Ermitteln müssen Sie!« Frau Schimmler machte eine Pause, in der sie in ihrer Tasche herumkramte. »Ah, da ist er ja.« Sie hob einen Schlüsselbund hoch, sagte: »Der Schlüssel!«, und ließ das Objekt wieder in ihre Tasche plumpsen, so als hätte es irgendeine Bedeutung im Zusammenhang mit dem Geheimnis, das sie Anne anvertrauen wollte. »Also, Folgendes …«

»Ma-ma! Ich hab’ Hun-ger!«, beschwerte sich Lisa erneut.

»Jetzt sei mal still, Kind«, befahl die Alte ungeduldig. Und zu Anne gewandt: »Auf alle Fälle: Der Scheich, er ist ein Nachfahre vom Osama – Sie wissen schon, Frau Loop? Elfter September! Elf-ter Sep-tem-ber!« Anne nickte übertrieben, und die Nachbarin fuhr fort. »Auf alle Fälle: Der Scheich hat einen Geheimplan.« Sie blickte Anne aus großen Augen an. »Der kauft jetzt hier alle Frauen und zwingt sie zum Kinderkriegen. Einfach so! Weil bayerische Frauen, das liegt an der Milch, gesündere Kinder bekommen als wie arabische.« Sie kniff die Augen zusammen. »Und was hat das zur Folge?« Anne zuckte erneut mit den Schultern. »Dass die Mädchen, wenn sie Frauen werden, größere Brüste kriegen …« Jetzt starrte Anne nur noch ratlos. »… und die bayerischen Buben stärker werden. Das alles macht die Milch!« Frau Schimmler fuhr sich, nicht ohne Nationalstolz, durch das strähnige Haar. »Ich meine, mir haben das ja schon lange gewusst. Aber er, der Ölscheich, der hat noch einen weiteren Grund. Und wissen’S, welchen?« Anne zuckte mit den Schultern. »In Arabien kommen zu wenige Kinder auf die Welt. Deshalb!«

Anne sagte nur »aha«.

»Ja, da staunen Sie.« Jetzt zog sie Anne an deren T-Shirt ein Stück in ihre Richtung und wechselte in ein giftiges Zischeln. »Also mich geht’s ja nix an, aber wissen Sie, mit was der die Frauen lockt?« Anne schüttelte den Kopf. »Er verspricht ihnen eine Immobilie, die wo jede Frau in Bayern mit Handkuss nimmt!« Anne roch den abgestandenen Atem der Alten, sie wollte weg. Aber Frau Schimmler ließ sie nicht los. »Jetzt raten’S einmal, welche!«

»Ma-ma!«

»Also, Frau Schimmler, es tut mir leid«, meinte Anne vorsichtig, »aber meine Tochter ist hungrig. Könnten wir das Gespräch vielleicht ein andermal fortführen?«

Ohne auf den Einwurf einzugehen, bellte die Alte jetzt: »Kaltenbrunn! Gut Kaltenbrunn verspricht er ihnen. Verstehen Sie das denn nicht? Diejenige, die der Scheich zur Frau nimmt, bekommt Gut Kaltenbrunn, Frau Loop. So, und jetzt kommen Sie!«

»Es tut mir leid, Frau Schimmler, wir müssen jetzt los. Auf Wiedersehen«, erwiderte Anne hastig auf die von der Nachbarin nun doch sehr laut geäußerten Worte und zog Lisa mit sich fort.

Natürlich kannte Anne Gut Kaltenbrunn. Wollte man den See an seiner Nordseite umrunden, kam man unweigerlich an dem herrschaftlichen Anwesen vorbei. Sie wusste auch, dass hier früher, bevor sie an den See gezogen war, ein Biergarten gewesen war. Noch heute schwärmten viele im Tal von der Zeit, in der man dort während der Sommermonate in gemütlicher Atmosphäre Bier und Brotzeit hatte genießen können. Doch heute war auf Gut Kaltenbrunn, so viel wusste Anne von ihren Fahrradtouren und Spaziergängen, nichts mehr los. Warum eigentlich?

Am Abend, nachdem sie Lisa ins Bett gebracht hatte, setzte sich die junge Polizistin an den Computer und gab den Begriff »Gut Kaltenbrunn« in die Suchmaschine ein. Während sie die Informationen mit ihren Augen scannte, wurde ihr klar, dass – sollte stimmen, was die Alte ihr so konspirativ erzählt hatte – hier ein gewaltiges Konfliktpotenzial verborgen lag. Denn bei Gut Kaltenbrunn handelte es sich um das bedeutendste archäologische Denkmal des mit historischen Bauten ohnehin reich bestückten Landkreises. In Kaltenbrunn, so las Anne im Internet, hatte sich einst eine mittelalterliche Burganlage befunden, von der aus im achten Jahrhundert die nahe gelegene Benediktinerabtei gegründet worden war, in der sich heute das weit über die Region hinaus bekannte Bräustüberl befand. Auf den Grundmauern der mittelalterlichen Vorburg war im Verlauf der Jahrhunderte der größte Ökonomiehof des hiesigen Klosters entstanden. In den 1970er-Jahren aber hatte ein berüchtigter bayerischer Immobilienspekulant und Inhaber einer Münchner Großbrauerei das Gut erworben. Anfang des neuen Jahrtausends wollte dessen Sohn und Erbe das Gut in ein Luxushotel umbauen. Über die nötigen Mittel verfügte er, wurde er doch von Wirtschaftsmagazinen als einer der dreihundert reichsten Männer der Welt auf ein Vermögen von über drei Milliarden US-Dollar geschätzt. Es wurde geplant, den historischen Vierseithof abzureißen und den Gebäudekomplex insgesamt gewaltig zu vergrößern. Doch dann verstarb der Eigentümer von Kaltenbrunn unter mysteriösen Umständen. Anfangs hatte die Witwe die Idee vom Hotelbau noch weiterverfolgt, dann aber davon Abstand genommen. Der Widerstand war einfach zu groß: Naturschützer befürchteten, dass ein Teil des Hotels einem Naturschutzreservat gefährlich nahe käme, und weniger vermögende Seebewohner, die sich aber der Tradition des Guts verpflichtet fühlten, protestierten ebenfalls heftig gegen die Umgestaltung.

Seither stand das Gut leer und verfiel. Dieser Umstand, so konnte Anne auf mehreren Internetseiten nachlesen, war vielen Bewohnern der Seegemeinden ein Ärgernis, wusste ja keiner, was die Millionenerbin mit dem Gut überhaupt noch anfangen wollte, und das seit Jahren! Wenn es stimmte, dass der Scheich der Gewinnerin des Harems-Castings das Gut schenken wollte, bedeutete dies zwangsläufig, dass die Witwe das urbayerische Baudenkmal bereits an den Emir von Ada Bhai verkauft hatte oder jedenfalls demnächst verkaufen würde. Anne beschloss, den Assistenten des Emirs von Ada Bhai so bald wie möglich zu diesem brisanten Thema zu befragen.

Der Scheich war nun seit einer Woche im Tal. Immer wieder gab es Gerüchte, er habe sich bereits für eine Bewerberin entschieden. Doch weder brach der Ansturm der Frauen ab, noch wurden sie abgewiesen. Die Boutiquen der Dörfer am Bergsee – vor allem jene für Dessous – florierten. Die Buchhandlungen am See bestritten die Hälfte ihres Umsatzes mit dem Verkauf von Arabisch-Wörterbüchern und -Sprachkursen. Die Volkshochschule bot spontan vier Arabisch-Crashkurse parallel an, von denen alle nach Einschreibungsbeginn binnen Minuten ausgebucht waren. An den Uferpromenaden machte die Polizei Jagd auf nicht zugelassene Wahrsagerinnen und Verkäuferinnen von gefälschtem arabischem Schmuck. Einem aus Süditalien angereisten plastischen Chirurgen, der auf dem Schulparkplatz des Gymnasiums in einem Wohnwagen Schönheitsoperationen für den Intimbereich »nach arabischer Tradition« anbieten wollte (ein Mann, der nach eigener Auskunft sogar schon den italienischen Ministerpräsidenten behandelt hatte), konnte Nonnenmachers Polizeitruppe Gott sei Dank noch das Handwerk legen, ehe er zu Skalpell und Nadel griff.

Weil immer mehr Anzeigen von Personen eingingen, die sich von zwielichtigen Geschäftemachern geprellt fühlten – etliche davon waren über das benachbarte Tirol bis vom Balkan her angereist –, hatte Kurt Nonnenmacher eigens einen Mitarbeiter abkommandiert, der sich ausschließlich mit diesen Fällen beschäftigen sollte.

»Sie sind jetzt die SOKO Tausendundeins«, hatte der Polizeichef dem frisch bestellten Sonderbeauftragten mitgeteilt. Mit diesem Schachzug beseitigte der Insektenfeind seiner Meinung nach gleich zwei Fliegen auf einen Schlag. Denn zum einen war der aus dem schwäbischen Allgäu an den See abkommandierte Hartmut Schmiedle dadurch beschäftigt, zum anderen konnte er deshalb, weil er hauptsächlich im Büro sitzen musste, um die vielen Anzeigen entgegenzunehmen, mit seinem Dialekt nicht die oberbayerische Seeluft verunreinigen. Eine Weile lang rätselte Schmiedle, warum seine SOKO mit der Zahl 1001 versehen worden war. Dass es eine Anspielung auf das Morgenland und seine Erzähltradition sein könnte, darauf kam der bodenständige Ermittler nicht – im Allgäu ging man früh zu Bett.

Aladdin bin Suhail war die einzige Person aus der Entourage des Scheichs, die die Polizisten bei ihren Wachgängen auf dem Hotelgelände regelmäßig zu Gesicht bekamen, musste der Assistent des heiratswütigen Emirs doch eng mit den Ermittlern und der Hoteldirektion zusammenarbeiten, um die chaotischen Verhältnisse vor dem Hotel in den Griff zu bekommen.

Eines Tages, als Anne gerade ihren morgendlichen Dienst am Haupteingang des Rezeptionsgebäudes angetreten hatte, nutzte sie die Gelegenheit und verwickelte den Cousin des Scheichs in ein Gespräch.

»Ich hätte da mal eine Frage«, begann die Polizistin vorsichtig. Aladdin bin Suhail, der auf Anne stets einen etwas hochnäsigen Eindruck machte, sah sie erwartungsvoll an. »In dieser Zeitungsannonce, die Sie für das Casting veröffentlicht haben, da haben Sie der Gewinnerin doch eine bayerische Immobilie versprochen.« Bin Suhail nickte. »Und welche Immobilie soll das sein?«, fragte Anne und lächelte den Araber freundlich an.

»Eine sehr wertvolle«, antwortete der Assistent des Emirs geheimnisvoll.

»Ja, aber welche?«, insistierte Anne. »Und wieso ausgerechnet eine bayerische? Und wieso eine Immobilie und nicht einfach nur Geld?«

»Mein Cousin, der Emir Raschid bin Suhail, liebt Bayern«, erläuterte der Mann aus dem Wüstenstaat. »Indem er seiner zukünftigen Ehefrau diese Immobilie schenkt, macht er sie glücklich – und sich selbst auch. Denn so hat er hier in Bayern immer ein Zuhause.«

Anne wartete, ob der undurchsichtige Aladdin noch etwas ergänzen würde, aber das tat er nicht. Deshalb fragte sie: »Um welche Immobilie handelt es sich denn nun?«

Aladdin sah sie durchdringend aus seinen dunklen Augen an: »Wollen Sie sich auch bewerben?«

»Ich bin da, glaube ich, ein paar Jahre zu alt«, meinte Anne.

Der Assistent zuckte mit den Schultern. »Ich entscheide, wer beim Casting mitmacht. Ich könnte …«, er zögerte, »… eine Ausnahme machen.«

»Um welche Immobilie geht es denn?«, ließ Anne sich trotz Aladdins nahöstlichem Blick, der sie auf sonderbare Weise berührte, nicht von ihrer eigentlichen Frage ablenken.

»Der Emir von Ada Bhai hat ein Objekt im Auge. Aber das ist noch nicht in trockenen Teppichen – oder wie sagt man hier?«

»In trockenen Tüchern«, verbesserte Anne den Araber und musste schmunzeln.

Am selben Abend dampften auf den Tellern, die Anne und ihre Tochter Lisa auf dem Terrassentisch vor sich stehen hatten, die obligatorischen Butternudeln. Auch eine Ketchupflasche stand bereit. Anne konnte dieses Essen schon seit Langem nicht mehr sehen. Aber Lisa war, so vermutete jedenfalls ihre Mutter, das heikelste Kind der Welt, und alle Versuche, die Tochter dazu zu bringen, auch einmal Reis oder Kartoffeln zu essen, oder eben wenigstens Nudeln mit Hackfleischsoße oder mit irgendeiner anderen Zutat außer Ketchup, waren vergeudete Energie. Und seit Bernhard ausgezogen war, machte es Anne sowieso keinen Spaß mehr, richtig zu kochen.

Sie schob sich gerade lustlos die dritte Gabel Butternudeln in den Mund, als das Telefon klingelte. Anne nahm den Anruf mit einem leise gesprochenen »Anne Loop« entgegen. Es war ihr Chef Nonnenmacher, der sie zum außerplanmäßigen Dienst kommandierte.

»Du musst heute bei Emilie übernachten«, eröffnete sie daher der Tochter nach dem Telefonat. Lisa war begeistert. Damit hatte Anne nicht gerechnet. Und sie selbst stand nur eine halbe Stunde später vor dem Rathaus der nördlichsten Gemeinde des Bergsees.

»Was soll das jetzt?«, fragte sie Nonnenmacher, der zusammen mit Sepp Kastner bereits neben dem ehemaligen Pfarrhaus auf sie wartete.

»Sondereinsatz wegen erhöhter Gefahrenlage«, erwiderte der Dienststellenleiter wichtig.

»Wieso?«, wollte Anne wissen.

»Der Bürgermeister hat eine Morddrohung erhalten.«

»Wie?«, entfuhr es Anne für ihre Verhältnisse fast einen Tick zu schrill, so erstaunt war sie.

»Zusammen mit einem Fisch«, antwortete Nonnenmacher trocken. »Überprüfen Sie Ihre Dienstwaffe. Es könnte gefährlich werden. So einen Drohbrief muss man ernst nehmen. Vor allem, wenn man Angehörige einer Religion am See hat, bei der Terror weit verbreitet ist.«

Anne war sich nicht sicher, ob sie diese Aussage ernst nehmen sollte, aber Nonnenmachers Gesichtsausdruck ließ keine Anzeichen von Humor erkennen. Da sie weder antwortete noch etwas unternahm, befahl er: »Waffe überprüfen, jetzt!«

Während Anne ihre Pistole aus dem Holster zog, ergänzte Sepp Kastner die rudimentären Informationen des Inspektionschefs mit den Worten: »Der Drohbrief kam in einem toten Hecht.«

Nun war Anne vollends verwirrt.

»Einen halben Meter war der lang«, fügte Nonnenmacher hinzu. »Und in seinem Maul …« Der Dienststellenleiter winkte einem vorbeikommenden Gemeinderatsmitglied zum Gruß zu. »… war ein Zettel«, vollendete Kastner den Satz.

»Konnte man den noch lesen?«, fragte Anne. »Der war doch sicher total nass?«

»Nein«, präzisierte Kastner, »der Hecht ist damit natürlich nicht herumgeschwommen. Der Verfasser des Briefs hat das Dokument dem Fisch ins Maul gesteckt. Da war der Fisch aber wahrscheinlich schon tot.«

»Das war ganz sicher ein Terrorist!«, übernahm Nonnenmacher nun wieder das Gespräch.

»Vermutlich«, meinte Kastner noch und wollte Anne den genauen Inhalt des Drohbriefs mitteilen, aber Nonnenmacher hatte bereits das Kommando zum Marsch ins Rathaus erteilt.

Im Sitzungssaal saßen der Bürgermeister sowie die neunzehn Gemeinderäte bereits auf ihren Plätzen. In Ermangelung weiterer Sitzgelegenheiten standen hinter ihnen an den Wänden mindestens noch einmal so viele Bürger. Alle schienen aufgeregt, der Lärmpegel war beachtlich.

Nonnenmacher postierte sich hinter dem Bürgermeister, was dieser mit einem dankbaren Nicken quittierte, denn er hatte Angst. Sepp Kastner befahl der Inspektionschef zur Eingangstür, die nun geschlossen wurde, und Anne Loop sollte sich »unauffällig unters Volk mischen«, so der bärtige Polizist. Was sich angesichts der Uniform, die Anne trug, nicht so einfach umsetzen ließ.

Mit einem laut gerufenen »Grüß Gott« eröffnete der Bürgermeister die Sitzung. Trotzdem kehrte keine vollständige Ruhe ein. Vor allem die an den Wänden verteilten Schaulustigen murmelten und flüsterten nervös weiter.

Erst als der Bürgermeister unter Mithilfe seines Stellvertreters ein anscheinend schweres, in Zeitung eingeschlagenes Paket vom Boden neben dem Sitzungstisch hochhob und auf dem Tisch auswickelte, verstummte die Meute. Alle schauten gespannt zu den beiden Ratsvorstehern, die nun mit kommunalpolitischer Würde einen veritablen Hecht aus der Zeitung schälten.

»Das«, sprach der Bürgermeister, »lag heute früh auf meinem Fußabstreifer.« Anne rümpfte die Nase, denn plötzlich roch es im ganzen Sitzungssaal sehr streng nach nicht mehr frischem Fisch. »Und folgender Zettel war auch dabei.« Bedächtig und ernst entfaltete der Bürgermeister ein Blatt Papier und überreichte es dem dritten Bürgermeister. »Lies vor!«

»Achtung. Vertraulich. Drohbrief«, trug der Parteifreund mit wichtiger Miene vor. »Wenn du, Bürgermeister, nicht verhinderst, dass der Araber Kaltenbrunn kauft, braucht man für dich kein Helles mehr zum zapfen.« Er machte eine dramatische Pause und fuhr dann vor: »Gezeichnet, der neue Jennerwein.«

Kaum war das letzte Wort gefallen, brach ohrenbetäubender Lärm los. »›Der neue Jennerwein‹, ja so was, wer soll das sein, ›der neue Jennerwein‹?«, drang es an Annes Ohr. »Das gibt doch überhaupts keinen Sinn. Der Jennerwein war ein Wilderer, kein Fischer!«, tönte ein Gemeinderat, der in Tracht zur Sitzung erschienen war. »Und außerdem hat der mit einem Gewehr gewildert. Und nicht mit Bier«, stellte eine Dame mit mächtig aufgespritzten Lippen den Text des Drohbriefs infrage.

»Ruhe!«, schrie der erste Bürgermeister, und es wurde ein wenig leiser. »Ich denke, es gibt keinen Zweifel, dass das eine unmissverständliche Morddrohung ist. Wenn man für mich kein Helles mehr zapfen muss, heißt das …«, der Bürgermeister machte eine Pause und wirkte mit einem Mal zutiefst niedergeschlagen.

»Dass du tot bist! Aber das werden mir zum verhindern wissen!«, tönte ein Parteimitglied.

Lautstarke Zustimmung erklang, sogar vonseiten der Umweltschützerpartei, die im städtischen Gemeinderat – entgegen der bundesweiten Entwicklung – nur zwei Plätze für sich beanspruchen konnte.

»So etwas haben mir noch nie gehabt!«, rief der Bürgermeister, der dank des Zuspruchs seines Parteifreunds wieder aus seiner kurzfristigen Niedergeschlagenheit herausgefunden hatte. Erneute stimmgewaltige Zustimmung. »Ich sag’ es ehrlich: Ich nehm’ das ernst. Deswegen – heute – Polizeischutz.« Er drehte sich um und nickte Nonnenmacher zu, danach Sepp Kastner und Anne Loop. »Aber was soll man tun?«

Ungefragt ergriff einer der beiden Umweltschützer das Wort, leider war er nur des Hochdeutschen mächtig: »Herr Bürgermeister, jetzt gaukeln Sie uns doch nicht vor, dass Sie nicht wüssten, was zu tun ist! Wir haben bereits vor zwei Jahren das Konzept für einen Ankauf von Gut Kaltenbrunn durch unsere Kommune vorgelegt. Unser eigens gegründeter Verein ›Grüner See, grüne Seele e.V.‹ und die nachhaltige Investorengruppe stehen doch schon längst in den Startlöchern!«

»Ja, so weit kommt’s noch«, empörte sich ein anderer Gemeinderat. »Dass mir uns für euer Jugendlichen-Umerziehungslager Nachwuchsverbrecher aus ganz Osteuropa nach Kaltenbrunn holen. Abgeschoben gehören die!«

»Ich bitte Sie, Herr Kollege! Das ist wirklich ein nachhaltiges Konzept. Besser kann man die Vorzüge einer modernen Resozialisierung von Straftätern mit sinnvollen Umweltschutzgedanken nicht verknüpfen«, beharrte der Redner von der Umweltschützerpartei.

»Unsere Gemeinde kann sich Kaltenbrunn doch überhaupts nicht leisten«, rief ein anderer. »Und straffällige Jugendliche haben mir sowieso schon genug. Gerade letzte Woche haben’s wieder einen Kaugummiautomaten angezündet!«

»Und außerdem«, schrie jetzt der Bürgermeister, »haben mir das doch mitnichten in der Hand! Wenn der Scheich sich mit der Erbin von Kaltenbrunn einigt, dann können mir einpacken. So ist das. – Und ich muss um mein Leben fürchten.« Er zögerte kurz und sah dann zu einem jungen Mann, der an einem kleinen Tischchen an der Wand saß und sich eifrig Notizen machte: »Das können’S in Ihrer Zeitung jetzt ruhig einmal so schreiben, wie es ist, Herr Folontär: Dass wir erstens hochgefährdet sind und zweitens als Gemeinde null Einfluss darauf haben, was mit Kaltenbrunn passiert. Die Eigentümerin entscheidet. Und wenn die das dem Scheich verkauft, dann schauen mir mit dem Ofenrohr ins Gebirge.«

»Scheich raus!«, schrie jetzt einer der Besucher. Und dann wieder: »Scheich raus!« Nach dem dritten »Scheich raus!« schlossen sich bereits mindestens vier weitere Anwesende den Rufen an.

»Ruhe!«, brüllte der Bürgermeister erneut, doch erfolglos. Der Geräuschpegel blieb gleichbleibend hoch.

Trotz des Lärms konnte Anne das Gespräch zwischen zwei Besuchern belauschen, die direkt vor ihr standen. Der eine roch nach Pferdemist, der andere nach einem aggressiven moschushaltigen Rasierwasser.

»Unsere Andrea will sich jetzt auch beim Scheich bewerben.«

»Warum?«

»Seit die in Berlin war, spinnt die.«

»Warum?«

»Die Andrea sagt, der Scheich hat Charisma.«

»Au weh, glaubst du, der war deswegen schon beim Arzt?«

»Charisma ist doch keine Krankheit! Charisma heißt Ausstrahlung.«

»Ach so.«

»Außerdem hat’s g’sagt, dass eh alle Männer schlecht sind.«

»Ist die Andrea vielleicht vom andern Ufer?«

»Nein, nein«, erwiderte der nach Moschus Duftende erschrocken, »die war doch jahrelang im Trachtenverein. Und einen Freund hat’s auch gehabt, bevor’s nach Berlin ist.«

»Und der?«

»Ist nicht reich.«

»Ach so … ja dann!«

»Ja, eben.«

Die beiden Männer schwiegen kurz, und aus dem Augenwinkel heraus beobachtete Anne, wie der erste Bürgermeister dem dritten Bürgermeister etwas ins Ohr flüsterte. Doch dann neigte sich der nach Moschus Duftende wieder seinem nach Pferd riechenden Gesprächspartner zu und wisperte: »Sie mag es halt auch gern warm.«

»Wer?«

»Unsere Andrea.«

»Ah.«

»Und da käm’ so ein Scheich gerade recht.«

»Warum?«

»Weil dann könnt’ sie, also die Andrea, im Winter nach Arabien, und im Sommer könnt’s da sein, auf Gut Kaltenbrunn. So stellt man sich das halt vor.«

»Und Ihre Frau?«

»Die tät’ auch gern mal nach Ada Bhai.«

»So so.«

»Ja.«

Auch im weiteren Verlauf der Gemeinderatssitzung drehte sich alles um Gut Kaltenbrunn. Am Ende beschloss der Rat – mit Ausnahme der Stimmen der Konzeptpolitiker von der Umweltschützerpartei –, erst einmal abzuwarten.

Der Schlagersänger Hanni Hirlwimmer hieß eigentlich Johann mit Vornamen. Seine Blondheit wirkte angesichts seines Alters von achtundvierzig Jahren etwas unwirklich, aber als ehemaliger Spitzensportler – Hirlwimmer hatte als Hochspringer mehrfach bei den Olympischen Sommerspielen teilgenommen – legte er Wert auf ein jugendliches Äußeres. Es war etwas ungewöhnlich, dass ausgerechnet ein Hochspringer aus dem engen Tal mit dem See hervorgegangen war, aber ganz gleich, welcher Fernsehsender Hanni Hirlwimmers Mutter befragte: Die alte Bäuerin a. D. beteuerte stets, der Hanni habe schon immer »hoch hinausgewollt«. So ließ sich auch erklären, dass Hanni Hirlwimmer gelungen war, was vielen anderen Spitzensportlern – sei es aus Dummheit, Unvermögen oder Lebenspech – versagt blieb: Hanni Hirlwimmer hatte eine astreine zweite Karriere hingelegt. Mit seinen Liedern besang er die Dinge, ohne die ein Menschenleben so schal schmecken würde wie ein Noagerl, also ein kleiner Rest, Bier in einem Maßkrug nach einem langen Sonnentag: die Liebe, das Bayernland, die grünen Wiesen, das Bergglück, den Sommer und den Schmerz des Abschieds.

Hanni Hirlwimmer war im Tal aber nicht nur als Künstler anerkannt, sondern galt auch als Trendsetter in Sachen Mode. Er sah sich als bayerischer Cowboy, weshalb er gewisse Freiheiten für sich beanspruchte. So hatte er durchgesetzt, dass man zur traditionellen Lederhose Cowboystiefel tragen durfte, und das als gebürtiger Bayer! Und: Hanni Hirlwimmer duftete meist wie ein Haufen gut durchgetrockneten Heus – wie das kam, war sein Geheimnis.

Aber dies war nicht der einzige Grund dafür, dass die Damen in seiner Nähe regelmäßig in Ohnmacht fielen. Der Hanni Hirlwimmer war schlichtweg ein Mann, den eine Frau unmöglich von der Bettkante stoßen konnte. Trotz seiner Weibergeschichten genoss der Sänger aber einen guten Ruf. Auch hatte Hanni Hirlwimmer bislang nicht zur Scheidungsstatistik beigetragen – der bauernschlaue Barde hatte von vornherein die Finger vom Heiraten gelassen. Wenn er sich nicht gerade auf einer seiner vielen Reisen durch Deutschland, Österreich und die Schweiz befand, wohnte er bei seiner Mutter auf dem familieneigenen Hof, dessen Balkone im Sommer von der Last unzähliger Geranien beinahe herabzustürzen drohten, so sah es jedenfalls aus. Hier komponierte er seine Liebeslieder, und hier empfing er auch die Menschen aus dem Tal. Denn Hanni Hirlwimmer mochte die Menschen, und sie mochten ihn.

Am Tag nach der Versammlung saß Hirlwimmer gerade an dem schweren Tisch auf der Natursteinterrasse vor seinem Haus und rätselte, welches Wort sich auf »Liebesmüh’« reimte. Er brauchte das für seinen neuen Song, aber ihm fiel nur »Diebesküh’« ein, was – man konnte es biegen und brechen, wie man wollte – in das Lied überhaupt nicht passte – da kam der Bernbacher Franz um die Ecke.

Hanni Hirlwimmer hob den Blick, sprang auf und schritt in seinen nigelnagelneuen Cowboystiefeln (sie stammten angeblich aus genau demselben Laden, in dem auch Arnold Schwarzenegger einzukaufen pflegte) und mit einem offenen, blonden Lächeln auf den Franz zu. »Franz!«, rief er, »es ist mir eine Freude!«

»Hast du Zeit?«, wollte der Franz wissen.

»Für dich immer«, log der Hanni Hirlwimmer. Lügen musste man können, wenn man in der dünnen Luft der Prominenz überleben wollte. »Sitz her«, forderte er den Franz auf.

Der nahm Platz und konzentrierte sich umgehend auf sein Anliegen: »Es geht ums Seefest nächste Woche.«

Hanni Hirlwimmer nickte ihm aufmunternd zu. »Das wird eine Gaudi!« Damit traf der Schlagersänger den Nagel auf den Kopf. Denn das Seefest war der wichtigste Termin des Jahres. Wer etwas auf sich hielt, war zugegen. Und wer unter den Einwohnern und Stammgästen etwas gelten wollte, beteiligte sich irgendwie daran. Der Hanni Hirlwimmer war seit vielen Jahren als Sänger dabei.

»Eine Gaudi wird’s ja immer«, meinte jetzt der Franz, der in diesem Jahr erstmals zum Organisationskomitee gehörte und dadurch einen gewaltigen Verantwortungsdruck verspürte, was sich in Form schlafloser Nächte äußerte. Er räusperte sich nervös: »Also … du wirst ja singen.« Hanni Hirlwimmer lächelte zustimmend. Wenn es ums Singen ging, war er immer fröhlich. »Weißt’ denn schon was?«

Der Schlagersänger zeigte auf das vor ihm liegende Blatt, auf dem unter anderem das Wort »Liebesmüh’« geschrieben stand, und erwiderte: »Das ist gerade im Entstehen. Gut Lied braucht Weile.«

»Dann komm’ ich ja gerade richtig«, meinte der Bernbacher Franz. »Ich hätte da nämlich ein Attentat auf dich vor: Könntest du in diesem Jahr vielleicht etwas Arabisches einbauen? So was von tausendundeiner Nacht oder so? Sonst singst du ja immer«, der Franz zitierte: »›Meine bayerische Prinzessin, ich küsse dich von Fuß bis Knie / aber weiter nauf geht’s nicht, mach’ erst aus das Licht‹ und so … Meine Frage wär’ jetzt: Ob du das ein bisserl abwandeln könntest, also anstatt ›bayerische Prinzessin‹ zum Beispiel ›arabische‹ singen?«

»Das könnt’ ich durchaus«, meinte der Schlagersänger, ohne zu zögern, denn mit ein Grund für seinen sensationellen, auch internationalen Erfolg war, dass er sich direkt von den Menschen und dem, was sie bewegte, inspirieren ließ. »Arabische Prinzessin«, sagte er gerade nachdenklich, als die alte Frau Hirlwimmer zu den beiden Männern an den Tisch trat. »Arabische Prinzessin – darauf reimt sich nix.«

»Was redet’s ihr denn da? Arabische Prinzessin? Ja, was soll jetzt das?«, fragte die Ex-Bäuerin und amtierende Starmutter. Es war offensichtlich, dass sie, wie es unter bayerischen Müttern guter alter Brauch war, gelauscht hatte.

»Ja, was soll das eigentlich?«, riss sich der Schlagerkünstler aus seinen musikalischen Phantasien. Prinzipiell hörte er immer auf seine Mutter, besonders aber in Vertragsangelegenheiten. Als ehemalige Bäuerin war Frau Hirlwimmer eine schlaue Geschäftsfrau. Wer seine Rinder auf dem Viehmarkt zu einem guten Preis losschlagen wollte, musste mit allen Wassern gewaschen sein. Und letztlich war es egal, ob man Rindviecher oder Songs verkaufte.

Der Bernbacher Franz sah sich nun genötigt, die Sachlage zu erläutern. »Ihr habt’s ja sicher auch von dem Scheich gelesen, der wo droben im Hotel wohnt. Das war ja ausführlich in der Presse. Und mir vom Organisationskomitee wollen, dass noch mehr Scheichs ins Tal kommen, weil das unserer Gastronomie und Hotellerie guttut. Die Scheichs haben ja Geld wie Heu!«

»Das schon, aber die Scheichs bringen auch die Unzucht ins Tal!«, fauchte jetzt die alte Hirlwimmerin, sodass ihr Sohn unwillkürlich zusammenzuckte, war seine Mutter sonst doch die Ausgeglichenheit in Person. Ehe einer der Männer reagieren konnte, senkte die Alte die Stimme und raunte: »Ich hab’ gehört, die Madeln müssen nackt vortanzen.« Sie wartete, um zu sehen, welchen Eindruck ihre Worte hinterließen, und schob dann nach: »Und angeblich testet der Scheich auch, ob sie Massage können. Lie-bes-ma-ssage! So ein Bazi! Das ist für mich kein Harem, sondern ein Puff. Wenn der Araber sich von unseren nackerten Madeln massieren lässt! So was hat’s ja nicht einmal gegeben, wie der Ami mit all’ seine Neger uns befreit hat. Und da gab’s auch einiges!«

»Also«, stotterte der Bernbacher Franz irritiert, »wer erzählt denn so was?«

»Überall wird’s erzählt«, behauptete die Hirlwimmerin, »überall.«

»Ja wo denn, Mama?« Auch Hanni Hirlwimmer war jetzt neugierig geworden.

»Beim Metzger, beim Bäcker, sogar in der Tankstelle.«

»Was machst denn du in der Tankstelle, Mama?«, fragte der Sohn streng. »Du hast ja gar kein Auto!«

»Da geh’ ich öfters hin«, meinte die Alte. »Da gibt’s viele Neuigkeiten. Außerdem gibt’s da einen Togo-Kaffee.«

»Seit wann trinkst du denn afrikanischen Kaffee?«

»Mei, Hanni, hast’ in der Schul’ nicht aufgepasst? Togo hat doch nix mit Afrika zum tun, das ist englisch und heißt ›zum Mitnehmen‹«, erklärte die Schlagersängermutter. Sie war zweifelsohne weltgewandt.

Ihr Sohn schüttelte nur den Kopf und meinte: »Für was brauchst jetzt du einen Kaffee zum Mitnehmen?«

»Ich geh’ eben mit der Zeit«, erklärte die Bäuerin nicht ohne Stolz.

Nach einer effektvoll platzierten Pause verkündete sie mit einer gewissen Schärfe in der Stimme: »Aber der Scheich muss aufpassen. Man macht sich am See so seine Gedanken. Es gibt bereits Pläne.«

Dieser Satz saß wie der Schaum auf dem Weißbier, und ehe Hanni Hirlwimmer und der Bernbacher Franz nachfragen konnten, was für Pläne die Altbäuerin denn meinte, war die Hirlwimmerin schon vom Dunkel des Hausflurs verschluckt worden. Hanni Hirlwimmer und der Bernbacher Franz sahen sich ratlos an.

Anne ging nicht gerne ins Strandbad. Es war ihr dort zu laut, und je später am Tag man kam, umso schmutziger war die Liegewiese – Lutscheisstiele, Gummibärchenpackungen, Pommes frites lagen überall herum. Dazu gab es jede Menge halbstarker Flegel, die sich gegenseitig durch die Badeanstalt jagten, und schließlich bestand immer die Gefahr, jemanden zu treffen, der einem ein Gespräch aufzwang. Aber Lisa liebte das Schwimmbad, sie traf dort ihre Schulkameradinnen, schaute belustigt den größeren Jungs bei ihren Rüpeleien zu und kaufte gerne beim Kiosk die Bananen- und Erdbeerfruchtgummis.

Anne wäre an diesem dienstfreien Samstag lieber im eigenen Garten geblieben, von dem aus man dank seiner geschützten Uferlage wesentlich angenehmer im See schwimmen konnte. Doch Lisa hatte auf dem Strandbadbesuch bestanden. Also saß Anne nun auf ihrem Handtuch und blätterte lustlos in einer Frauenzeitschrift. Auch vermied sie es, allzu oft den Blick zu heben, weil sich etwa fünf Meter weiter ein Familienvater mit seinen Kindern niedergelassen hatte und ihr seither unmissverständliche Blicke zuwarf.

Anne war jedoch überhaupt nicht in Flirtlaune. Sie war noch gestresst von der vergangenen Woche. Jeden Tag waren noch mehr Mädchen zum Hotel gekommen, jeden Tag war es schwieriger geworden, die Meute einigermaßen zu bändigen. Ein Mädchen hatte Anne gar festnehmen und abführen müssen. Es hatte den Cousin des Scheichs regelrecht angesprungen und sich an ihm festgeklammert, als dieser vor das Rezeptionsgebäude getreten war, um die nächsten Kandidatinnen hereinzurufen. Besagtes Mädchen war noch weit hinten in der Schlange gestanden, dann aber schnell nach vorn gerannt, um den Araber mit Küssen zu bedecken und ihn anzuschreien, er dürfe es »ficken«, so lange er wolle, wenn sie nur endlich zum Emir dürfe.

Aladdin bin Suhail konnte sich von der halb nackten Angreiferin nicht ohne Annes und Sepp Kastners Hilfe befreien. Sein Jackett war nach dem Kampf komplett mit Lippenstift beschmiert. Und bei der späteren Überprüfung der Personenstandsdaten und nach Abnahme einer Blutprobe hatte sich herausgestellt, dass das heiratstolle Ding erst sechzehn war und außerdem sturzbetrunken, 2,54 Promille. Anne hatte es in die Ausnüchterungszelle der Dienststelle gebracht und die Eltern verständigt.

Das Tal erinnerte die Polizistin immer mehr an ein Freiluftirrenhaus. Besonders besorgniserregend fand sie aber, was im Hotel vor sich ging. Man konnte natürlich nicht wissen, was an den Gerüchten dran war. Doch insgesamt machte das ganze Harems-Casting einen menschenunwürdigen Eindruck. Allerdings waren Anne die Hände gebunden: Von oberster Stelle hatte die Polizeiinspektion die Anweisung bekommen, nicht in die Geschehnisse einzugreifen, wenn nicht ein eindeutiger Hinweis auf etwaige Straftaten vorliege. Ein Mann aus dem Ministerium hatte Anne am Telefon tatsächlich erklärt, die Regierungskoalition befürchte, als ausländerfeindlich dazustehen, wenn sie anordne, bei einem Vorgang einzuschreiten, der zwar ungewohnt wirke, aber letztlich als harmloser einzustufen sei als jede Castingshow im deutschen Fernsehen, wo junge Menschen doch sogar öffentlich und vor einem Millionenpublikum bloßgestellt würden. Anne vertrat eine andere Meinung, aber gegen Weisungen von oben konnte man als einfache Polizeihauptmeisterin wenig unternehmen. Allerdings hatte sie sich vorgenommen, besonders wachsam zu sein. Und so spitzte sie auch die Ohren, als sie vor den Strandbadtoiletten hörte, wie ein etwa fünfzigjähriger Mann ein Mädchen als »Schlampe« beschimpfte – es schien sich um Vater und Tochter zu handeln.

»Ich bin keine Schlampe«, empörte sich die junge Frau, die Anne auf gut zwanzig schätzte.

»Der will doch bloß billige Nutten und sonst nix! Das wirst’ schon sehen. Das ganze Casting ist eine reine Erfindung, damit der Araber einen Haufen junge Frauen zum Sex zwingen kann!«

»Stimmt ja gar nicht«, keifte die Tochter trotzig. »Der sucht eine Frau.«

»Stimmt eben schon. Der Alfred hat es mir brühwarm erzählt, und dem seine Frau arbeitet in dem Hotel. Die wird es ja wohl wissen«, insistierte der Vater, der eine Bermudabadehose mit vogelwildem Hawaiimuster trug.

»Und was weiß die?«

»Dass da Zustände herrschen wie im Swingerklub!«, schrie der Mann. Mittlerweile waren auch andere Strandbadbesucher auf den Streit aufmerksam geworden, sodass Anne als Zuhörerin nicht weiter auffiel.

»Ja, aber was genau hat die Frau vom Alfred denn erzählt?«

Der Mann kratzte sich seine grauen Brusthaare und dachte nach. »Dass der Scheich in seiner Suite auf so einem Diwan sitzt, und dann muss die Bewerberin hereinkommen und vortanzen.«

»Aber das muss ich doch beim Seefest mit der Plattlergruppe auch.«

»Ja, aber nicht im Bikini!«, schrie der Mann, und mehrere Umstehende nickten zustimmend.

»Aber hier bin ich doch jetzt auch im Bikini.«

»Schon, schon«, meinte der Mann. »Aber das hier ist ein öffentliches Schwimmbad und keine Scheich-Suite.« Er dachte nach. »Und es muss doch jedem sonnenklar sein, auf was für Ideen so ein Scheich kommt, wenn jetzt da lauter schöne Jungfrauen im Bikini vor seiner Nase herumtanzen.« Das Mädchen zuckte gleichgültig mit den Schultern. »In so einer Situation kann es gut sein, dass so ein Scheich zum Tier wird. Dann springt er auf und vergewaltigt alle Mädchen, die halt gerade zur Hand sind. Ich weiß, von was ich rede. Tagtäglich steht’s in der Zeitung, was so reiche Männer machen … der Wetterfrosch, der Direktor von dem Geldfonds, sogar der Governator von …«

»So ein Schmarren, der Emir von Ada Bhai sucht wirklich nur eine liebe Frau«, ließ die Tochter sich nicht unterkriegen.

»Aber der hat doch schon zehn!«

»Fünf«, korrigierte sie ihn.

»Für was braucht der denn noch mehr? Unsereins hat eine Frau und Ende!« Wieder nickten etliche der Umstehenden, vor allem die Männer.

»… und hat dann ein heimliches Verhältnis mit der Nachbarin, oder?«, fragte das Mädchen jetzt frech.

»Jetzt pass aber auf!«, sagte der Vater und hob drohend die Hand.

Ohne darauf einzugehen, meinte die junge Frau: »Da ist es mir doch lieber, ich kenne die anderen Frauen alle. Ich habe ein Buch gelesen, von einer Amerikanerin, die in so einem Harem gelebt hat. Da halten die Frauen zusammen. Da wird nicht gemobbt.«

»Ja, das kannst’ glauben«, meinte der Mann jetzt verächtlich.

»Und wenn ich gewinne, dann bin ich reich. Davon hast du dann doch auch was, Papa.«

»Da pfeif ich drauf!«, knurrte der Mann. »Erstens heiratet man denjenigen, den man liebt. Und außerdem gewinnst’ ja eh nicht. Der will bloß ins Bett mit dir. Die Kameraden, die kenn’ ich schon. Und wenn der Scheich erreicht hat, was er wollt’, schnelles Fickificki nämlich, dann – zack – schießt er dich ab.« Er überlegte kurz. »Und dann vergewaltigen dich noch seine ganzen Diener und am Ende der Chauffeur. Genau wie im Irakkrieg. Und irgendwann wachst du auf und liegst auf einer Mülldeponie in der Wüste. Ohne Kleidung und Geld – und wahrscheinlich auch noch genitalbeschnitten.« Er machte eine dramatische Pause. »Und nicht einmal ein Kamel ist dann mehr da, mit dem du nach Hause reiten kannst. Und ich, dein Vater, bin Tausende von Kilometern weit weg und kann dich nicht retten. Und wenn ich’s doch schaffen würd’ und dich heimholen tät’, dann tät’ dich hier keiner mehr wollen. Ich verbiete dir, dass du da mitmachst. Ende Gelände.«

»Ich bin aber schon neunzehn, Papa, du kannst mir überhaupt nichts verbieten.«

»Entschuldigung«, mischte sich jetzt einer der Zuhörer in das Gespräch ein, er trug ein goldenes Kettchen um den Hals. »Es geht mich ja nichts an, aber ich habe Ihren intensiven Dialog eben mitverfolgt. Ich denke, Sie haben beide zu Teilen recht. Zum einen liegen Sie«, er wandte sich dem Vater zu, »sicherlich richtig, wenn Sie sagen, dass dieses gesamte Procedere, mit dem der Emir von Ada Bhai seine neue Haremsdame aussucht, etwas Entwürdigendes an sich hat.«

»Das will ich aber meinen«, bekräftigte der Angesprochene.

Ohne darauf einzugehen, fuhr der Goldkettchenträger fort: »Ebenso wenig wie man im Fernsehen Menschen in irgendwelchen Castingshows vorführen sollte, sollte man junge Mädchen in derart promiske Situationen bringen.«

»Genau!«, stimmte der Vater zu, dessen Tochter sich sicher war, dass er nicht wusste, was promisk bedeutete.

»Aber«, der Mann, der eine äußerst knappe Tanga-Badehose trug, erhob nun die Stimme, »es ziemt sich auch nicht, die arabische Haremskultur in einen Zusammenhang mit Sexklubs oder ähnlichen Etablissements zu bringen.« Alle Anwesenden lauschten wie gebannt den Worten des Mannes, der sich so geschmeidig auszudrücken verstand und sich zudem auszukennen schien. »Ich hatte jahrelang beruflich im Nahen Osten zu tun und kann Ihnen nur versichern, dass auch das Haremswesen ganz bestimmten Regeln und Gesetzen unterliegt …«

»Ja, zum Beispiel gibt’s da die Steinigung«, warf ein Zuhörer aus der zweiten Reihe ein.

»… und dass es hier um weit mehr geht als lediglich die Befriedigung eines eventuell vorhandenen übersteigerten Sexualtriebes«, fuhr der Tangaträger fort.

»Ha, um was denn?«, brüllte der Vater der Haremsanwärterin vom Bergsee.

»Familiären Zusammenhalt, den Grundgedanken der Fortführung einer Dynastie, die Bereitstellung einer optimalen genetischen Ausstattung für die Kronprinzen, Erbfolge, solche Dinge … das ist ähnlich wie bei unseren europäischen Königshäusern. Schauen Sie nach England, nach Spanien, nach Schweden …« Der Redner blickte in die Runde. »Der Emir ist ein König, und natürlich wünscht er sich gesunde und intelligente Thronfolger, dies schon aus Staatsräson. Daher wird er daran interessiert sein, gesunde und intelligente Ehefrauen für sich zu gewinnen. Und er wird den Teufel tun und diese schlecht behandeln. Denn damit gefährdet er den Fortbestand seiner eigenen Dynastie.«

»Und wieso sucht der sich die neue Frau ausgerechnet bei uns? Soll er halt eine Araberin nehmen, die sind das Kopftuchtragen und Bauchtanzen schon gewohnt«, entgegnete der vorher so aufgebrachte Vater nun etwas ruhiger.

»Nehmen Sie es als Auszeichnung«, meinte der Tangaträger gütig. »Als Auszeichnung für die bayerische Lebenskultur.«

»Ja, so weit kommt’s noch! Da wär’s mir ja noch lieber, die Angela tät’ einen von den neureichen Spezis heiraten, von denen es hier im Tal immer mehr gibt. Die ganze Internet-Bagage, die wo mit heißer Luft und Geschwafel Millionen macht … Soziale Netzwerke, da kann ich ja bloß lachen!« Jetzt wandte er sich wieder seiner Tochter zu: »Ich sag’ dir eines, Angela: Wenn du meinst, dass Geld glücklich macht, dann brennst’ dich. Das ist meine Meinung.« Er drehte sich um und entschwand mit großen Schritten in Richtung der Umkleidekabinen. Nachdem das Knallen einer Tür zu hören war, vernahm Anne noch das Wort »Saubagage«. Außerdem erzählte einer der Umstehenden den Witz vom Araber, der »Ka Brot mag« (also kein Brot), weil er »Ka-mel hat« (also kein Mehl), und der normale Badebetrieb nahm seinen Lauf.