Engelstraum

Gabriel und der alte Doktor saßen gemeinsam in dem kleinen Beobachtungsraum und verfolgten über die Monitore, wie Doktor Primus ein Krankenzimmer betrat.

Er hätte es ihr sagen sollen!“, murmelte Gabriel und verfolgte mit den Augen jede Bewegung des jungen Mannes.

Du hast es doch geplant und gesagt, er soll sie nicht in Versuchung führen, sondern ihr ihre Entscheidung durch Halbwahrheiten erleichtern!“, wandte der alte Mann ein und ignorierte den bösen Blick, den der Erzengel ihm zuwarf.

Ja“, gab der Engel zu, „aber Adam hatte sie so weit, dass sie freiwillig und wissentlich zugestimmt hätte.“ Die Stimme des Erzengels klang melancholisch. Das ihm diese Alternative wesentlich besser gefallen hätte, strahlte aus jeder Pore seines Körpers.

Das können wir nicht wissen!“, widersprach der Doktor und fügte hinzu: „Und wir werden es auch nie erfahren!“

Gabriel setzte zum Widerspruch an, doch der Alte war schneller und unterbrach das schlechte Gewissen des Engels: „Adam sollte alles tun, damit sie einwilligt.“ Er klang unwillig. „Und das hat er!“

Gabriel stand auf und trat näher an den Monitor heran.

Als fiele dem Alten erst jetzt wieder ein, mit wem – oder besser mit was er sprach –, lächelte er beruhigend. „Es wird funktionieren!“

Gabriel nickte stumm. Auf einmal war er seiner Sache nicht mehr so sicher. Tat er wirklich das Richtige?

Manchmal glaubte er, zu viel Zeit mit den Menschen zu verbringen und sich zu weit von Gott entfernt zu haben.

Der alte Mann räusperte sich verteidigend. „Du hast selber gesagt, dass es notwendig ist. Dass es die einzige Möglichkeit ist, sie für ihren Engel unsichtbar zu machen.“

Gabriel seufzte leise. Er wusste, was er gesagt und geglaubt hatte. Aber jetzt waren die Zweifel da. Zum ersten Mal seit dem Tag in Eden, in dem er Lilith eine Botschaft gebracht hatte, die er selbst nicht für richtig hielt, war er sich seiner selbst nicht sicher. Verunsichert ob seiner Deutung von Gottes Willen starrte der Erzengel auf den Bildschirm und hoffte, ein Fünkchen seiner alten Selbstgewissheit würde dadurch zu ihm zurückkehren.

Dank des Vollmondes, dessen Strahlen durch das große Fenster fielen, war mehr das Innere des kleinen Zimmers gut zu erkennen.

***

Doktor Adam Primus lächelte. In dem einzigen Bett lag sie, die Frau, auf die er unendlich lange gewartet hatte. Unter der dünnen Bettdecke, die sich in gleichmäßigen Abständen hob und wieder senkte, zeichnete sich Liliths Körper ab. Ungeniert betrachtete er ihre köstliche, perfekte Gestalt und ihr ebenmäßiges, engelsgleiches Gesicht.

Wie lange hatte er darauf gewartet? Endlich war sie sein.“ Adam lächelte bei diesem Gedanken zufrieden wie ein Raubtier das sich seiner Beute gewiss war.

Am liebsten hätte er sich ihr genähert, doch er kannte ihre Geschichte zu gut und wusste, der kleinste Fehler würde ihn um seinen verlockenden Lohn bringen. Mühsam bezwang er seine Ungeduld und tröstete sich damit, dass er sie von nun an jeden Tag um sich haben würde und wunderbare Nächte vor ihm lagen.

Morgen früh ...“, versprach er sich im Stillen und träumte in Bildern, als er das Zimmer wieder verließ.

***

Am frühen Morgen saßen der alte Doktor und Gabriel immer noch in dem Beobachtungsraum. Die Monitoren zeigte allesamt dasselbe Bild: Liliths Krankenhauszimmer, welches im Morgengrauen nur schwach erleuchtet war.

Schweigend wie eine Verkündigung der Nemesis saßen die beiden nebeneinander und warteten darauf, dass etwas geschah.

***

Erst als die ersten Sonnenstrahlen auf ihr Gesicht fielen, schreckte die beobachtete junge Frau hoch, wie aus einem schlechten Traum. Ihr Blick war verängstigt und daran änderte sich nichts, als sie sich umblickte und die einzelnen Apparaturen des Krankenhauszimmers bemerkte.

Langsam dämmerte in ihr die Erkenntnis, wo sie sich befand. Unwillkürlich sah sie an sich hinab und ihre Finger folgten ihren Augen, wie um festzustellen, ob sie verletzt war und deswegen in einem Krankenhaus lag.

Als sie nichts feststellen konnte, warf sie die Decke zurück und stand vorsichtig auf. Unsicher auf den Beinen, als wenn sie zum ersten Mal Gebrauch von ihnen machen würde, stolperte sie in Richtung Waschbecken und Spiegel.

Mit angehaltenem Atem betrachtete sie die Reflexion ihres Gesichtes. Sie probierte ein Lächeln, dann eine Grimasse.

Mit scheinbar automatisierten Bewegungen begann sie Zahnpasta auf die Bürste zu drücken und sich die Zähne zu putzen. Sie kämmte sich die Haare und betrachtete sich abermals im Spiegel.

Dieses Mal schien ihr zu gefallen, was sie sah.

Wir sind schon am frühen Morgen eitel?“, erkundigte sich eine sanfte Stimme hinter ihr.

Mit einem erschrockenen Laut drehte sich die junge attraktive Frau auf dem Absatz um und starrte den Doktor an. Er schien sich ohne jeden Laut hinter ihr matrialisiert zu haben.

Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken!“, er schenkte ihr ein atemberaubendes Lächeln und sie verzieh ihm auf der Stelle.

Was für ein Mann!“, fuhr ihr durch den Kopf und sie musste über ihre eigenen Gedanken lächeln.

Er starrte sie ungebührend lange an, was ihr einen kalten Schauder über den Rücken jagte. Mit einem Mal wurde sie sich bewusst, dass sie unter ihrem Nachthemd nichts an hatte und das Hemd ein besserer Hauch Nichts war.

Unsicher verschränkte sie die Arme vor dem Busen. Ihr ganzer Körper schien zu kribbeln, als weise er sie so darauf hin, dass sie eine Frau war, die sich alleine mit einem charismatischen und sehr attraktiven Mann in einem Zimmer aufhielt.

Der junge Mann im Arztkittel fing ihren Blick ein und hielt ihm einige Sekunden stand, bevor er sich abwandte.

Wie fühlst du dich?“ Besorgnis schwang in seiner Frage mit.

Was mache ich hier?“, konterte sie mit einer Gegenfrage.

Er trat einen Schritt näher. – Zu nahe, wie sie fand. Sie trat einen Schritt zurück.

Du hast alle Zeit der Welt!“, ermahnte sich Adam still und ließ sie gewähren. „Setz dich bitte!“, forderte er sie mit einem ärztlichen Unterton auf.

Sie gehorchte ihm, setzte sich auf das Bett und hüllte sich wieder in ihre Decke.

Er grinste, denn der Effekt war derselbe. Die Decke war so dünn, dass sie zwar einhüllte, aber nicht verhüllte. Durch diesen Effekt fand er die verstörte junge Frau noch reizvoller als zuvor.

An was erinnerst du dich?“

Er zog einen Stuhl an das Bett und setzte sich.

Sie schüttelte den Kopf, während sie versuchte, sich zu erinnern.

Sie bemerkte nicht, wie er zufrieden lächelte.

Nicht einmal an deinen Namen, nicht wahr?“

Wieder schüttelte sie den Kopf. Eine dumpfe Verzweiflung lag in ihrem Gesicht. Eine Verzweiflung, die ihm ins Herz schnitt und den Hals verengte.

Du musst deine Trauer und dein Verlangen nach ihr beherrschen, um zu bekommen, was du begehrst“, rief sich Adam zur Ordnung.

Behutsam griff er nach ihrer Hand. Für eine Sekunde zögerte sie, dann ließ sie zu, dass er sie berührte.

Er legte genügend Emotionen in seine Stimme, als er seine nächste Frage stellte: „Dann erinnerst du dich auch nicht an mich?“

Mit großen Augen, Augen die viel zu groß in ihrem Gesicht leuchteten, sah sie ihn an. „Nein, sollte ich?“

Bei ihren Worten zuckte er zusammen, als hätte sie ihm ein Messer in den Rücken gestoßen. Es war nicht einmal nötig, diese Reaktion zu spielen.

Entschuldigung!“, murmelte sie, überrascht durch seine heftigen Gefühle. Sie fühlte sich schuldig, auch wenn sie nicht sicher war, weswegen.

Einen Augenblick lang schloss er die Augen, um sicherzugehen, dass sie den triumphierenden Ausdruck in ihnen nicht sah. Als er sie wieder öffnete, hatte er sich vollständig unter Kontrolle.

Du erinnerst dich nicht an mich?“ Seine Stimme verriet, dass er kaum glauben konnte, was er hörte.

Sie nickte. Mit einem Mal traurig darüber, den Mann an ihrer Seite betrübt zu sehen. Er nickte vor sich hin, als wenn ihn die Tatsache nicht wirklich völlig unvorbereitet traf.

Plötzlich kam sie sich hilflos und alleingelassen vor. Als würde er ihr etwas Wichtiges verschweigen. Etwas, was sie vorher auch gewusst, aber nun vergessen hatte.

Wie fühlst du dich?“ Er wechselte das Thema, während er sanft und zärtlich über ihre Handfläche strich.

Gut!“ Ihre Antwort kam schnell und schnippisch. Sie entzog ihm ihre Hand. Als sie seinen Gesichtsausdruck sah, tat ihr ihre Reaktion leid und sie versuchte sich zu rechtfertigen: „Ich fühle mich wie neugeboren.“ Sie dachte einen Moment nach. „Vergiss es, dass ist Blödsinn. Ich weiß, wie alle Dinge heißen. Ich weiß, was ein Bett ist, ein Fernseher. Was Sprachen sind, denn ich weiß, dass ich viele verschiedene Sprachen spreche.“

Sie warf ihm einen Blick zu um zu überprüfen, ob er verstand, was sie sagte. „Aber ich weiß nicht, wer ich bin, wie ich heiße, oder was ich hier mache.“

Sie schenkte ihm ein um Entschuldigung heischendes Lächeln. „Und ich weiß, dass Sie ein Arzt sind, aber sonst weiß ich nichts über Sie.“

Er bedachte sie mit einem traurigen Blick, der ihr zu Herzen ging. Sie begriff, dass ihre Verbindung zueinander eine viel tiefere sein musste, als sie bisher angenommen hatte.

Es tut mir leid, Lilly!“ Zärtlich aber bestimmt nahm er ihre Hand zwischen seine Hände. Irritiert sah sie hinab, wie ihre schmalen Finger zwischen seinen verschwanden. Er trug einen schmalen goldenen Ring an seinem Ringfinger.

Es ist meine Schuld!“ Er veränderte seine Position und setzte sich zu ihr auf das Bett.

Erschrocken versuchte sie den Abstand zwischen ihnen wieder zu vergrößern.

Er erkannte ihr Unbehagen, ignorierte es und tat stattdessen so, als fühle er sich ebenso unwohl, wie sie, ob seiner Beichte.

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll!“, stammelte er und drückte ihre Hand leicht. Die junge Frau achtete nicht auf ihn, sondern starrte auf ihre Hand. Durch den Druck war ihr bewusst geworden, dass auch sie einen schmalen goldenen Ring trug.

Der Mann auf ihrem Bett erkannte ihre Gedanken und nickte bestätigend. „Ja, Lilly! Du bist meine Frau!“

Er sah sie prüfend an, gespannt, wie sie diese Information aufnehmen würde. Sie schluckte schwer, als blockiere etwas ihre Atemwege.

Ich kann mich nicht daran erinnern!“ Sie blickte auf das Bettlaken. Dann, als wenn sie ihm nicht glauben würde, versuchte sie ihm ihre Hand zu entziehen.

Als er sie nicht losließ, sah sie auf. Sein Blick war so flehend, dass sie ihren Widerstand aufgab.

Bitte, Lilly! Hör mir wenigstens zu!“, bat er. Sie nickte stumm.

***

Er macht seine Sache sehr gut“ meinte der alte Doktor. Er war nicht nur stolz auf den jungen Mann, den er seinen Sohn nannte, sondern auf sein gesamtes Werk. Und dies hier war der Clou und würde sein Lebensziel vollenden.

Er seufzte und ließ sich in die Polster des Sessels sinken. Plötzlich hatte er das Gefühl, schon viel zu lange auf der Erde zu weilen und viel zu lange diesen Plan zu verfolgen. Unendlich alt.

Der Doktor blickte den Engel an, der mit zusammengekniffenen Lippen das Geschehen in dem Krankenhauszimmer verfolgte.

Bekommst du Gewissensbisse?“, erkundigte er sich.

Gabriel schüttelte den Kopf. – Nicht dass es einen Unterschied gemacht hätte.

Trotzdem wollte der Erzengel Lilith nicht verlieren. Und schon gar nicht in den Armen eines Mannes. Aber dieser Gedanke war egoistisch und Egoismus ziemte sich nicht für einen Engel. Er hatte getan, was getan werden musste. Für Jahve, für die Welt und für Lilith.

Und für mich selbst!“, dachte er, denn er wusste, dass er beim ersten Mal versagt hatte. Und sich nie verziehen.

Das ist es, was sie immer gewollt hat, und er ist der perfekte Mann für sie“, sagte er laut und es klang wie eine Wiederholung dessen, was er sich immer wieder vorhielt. Schon allein, um sich selber von der Richtigkeit seiner Worte zu überzeugen.

Sie würde lernen, ihren Adam zu lieben und so Jahve wollte, würden sie Kinder bekommen, miteinander alt werden und schließlich sterben.

Er atmete tief ein. Er hatte ihr die Möglichkeit eines neuen Lebens geboten, die Freiheit. Sie hatte sie genutzt.

Wieso habe ich trotzdem ein schlechtes Gewissen. Wieso habe ich das Gefühl, ich hätte sie betrogen und ihre Freundschaft zu mir missbraucht? Die Liebe und das Vertrauen, welche sie mir entgegenbringt verraten?“

Er hatte sie von Anfang an geliebt, seit ihrer ersten Begegnung. Ihre Halsstarrigkeit und ihr Verlangen stets das Richtige zu tun. Und obwohl ihr Bestreben um freie Entscheidungsmöglichkeit an ihrem Schicksal und dem der gesamten Schöpfung schuld war, liebte er sie auch dafür.

Und ich liebe sie immer noch, dass steht außer Frage. Ich würde alles für sie tun.“ – Ich habe alles für sie getan!“, korrigierte er sich in Gedanken.

Zum aller ersten Mal hatte er sich in die Menschheitsgeschichte eingemischt und die Zukunft mit Hilfe der Vergangenheit manipuliert. Das einzige, was er zu seiner Verteidigung anführen konnte war: Es war so der Plan Jahves gewesen und er, Gabriel, würde nun, viel zu spät dafür sorgen, dass es so geschah, wie Jahve es gewollt hatte.

Aber noch war es nicht soweit, noch steht der Plan auf der Kippe“, ermahnte er sich und riss sich zusammen, um Adams Erklärung zu hören.

***

Wir haben uns während der Studienzeit kennen gelernt, du hast Geschichte, Literatur und vergleichende Religionswissenschaften studiert.

Wir sind ziemlich schnell zusammengezogen und haben vor zwei Jahren geheiratet. Wir haben keine Kinder, obwohl du dir sehnlich welche wünschst.“ Adam schenkte ihr ein Lächeln, welches sie wehmütig erwiderte.

Er atmete tief ein, als koste ihn seine Erzählung unendlich viel Kraft. „Seit wir uns kennen hast du Alpträume. Es gab nicht eine Nacht, in der du ruhig geschlafen hast.“

Die junge Frau biss sich in die Unterlippe, was bei ihm ganz andere Regungen als Schuldgefühle auslöste.

Wir haben alles Mögliche ausprobiert: Schlaftherapie, Medikamente, einen Psychologen. Alles hat nicht geholfen.“

Angestrengt versuchte Lilly sich an etwas davon zu erinnern, was er ihr sagte, doch nichts. Sie wusste nicht einmal, wie alt er war. Oder sie.

Schließlich hast du von einem Verfahren gehört, welches sich der herkömmlichen Hypnose bedient und wir haben darüber gesprochen und uns dafür entschieden, es zu testen, und wir sind hergekommen und der Doktor hat dich auf die Risiken hingewiesen, aber es war dir egal und ich habe dich nicht davon abgehalten und bei der Hypnose ist etwas schiefgelaufen und der Doktor sagte schon, dass du dich vielleicht an nichts Persönliches mehr erinnern würdest ...“, er hatte immer hastiger gesprochen, als wenn er seine Erzählung beenden wollte, bevor er die Kontrolle über seine Stimme verlor.

Unglücklich sah er sie an.

Und jetzt erinnerst du dich an nichts mehr. – Aber du hast diese Nacht zum ersten Mal ruhig geschlafen.“ Seine Stimme klang ungewollt sarkastisch.

Sie sah ihn prüfend an. „Woher ...?“

Sie brauchte ihre Frage nicht aussprechen, er hatte sie vorausgeahnt und deutete auf die Kamera über ihrem Bett.

Sie ließ sich in die Kissen sinken und starrte ihn lange nachdenklich an. Unbewusst strich sie mit ihren Fingern über seinen Ring.

Er wusste, dass sie versuchte sich an etwas von dem zu erinnern, was er ihr erzählte. Oder an irgendetwas. Und er wusste, dass ihr Versuch vergeblich war.

Ich erinnere mich nicht!“, ihre Stimme war leise und traurig. „Ich erinnere mich an gar nichts!“

Sie begann zu zittern. Erschrocken sah er sie an. Sie war leichenblass.

Mein ganzes Leben!“ Sie schüttelte den Kopf, als könne sie nicht begreifen, wie so etwas geschehen konnte. „Es ist weg! Alles! Mit einem Schlag!“

Besorgt zog er sie zu sich und als sie sich nicht wehrte, legte er seine Arme um sie.

Alles umsonst! Alles, was ich bisher gemacht und getan habe! Es war alles umsonst!“

Er drückte sie fest an sich. Wie um sie zu beschützen, oder um sie sich einzuverleiben. Sie klammerte sich an ihn und während er ihr tröstend über die Haare strich, lächelte er siegessicher in die Kamera.

Als sie sich wieder beruhigt hatte, löste sie sich sanft aber bestimmt aus seiner Umarmung. Ihr Blick bat um Verzeihung.

Er lächelte ihr verständnisvoll zu. „Weißt du, andere Paare träumen davon, den Anfang noch einmal erleben zu können. Das Kennenlernen, die Aufregung, den ersten Kuss.“ Er lächelte. „Und wir beide haben jetzt die Chance dazu.“

Sie lachte geschmeichelt und der Mann neben ihr schien sich auf einmal in einen kleinen Jungen zu verwandeln. Gleichzeitig froh und stolz darauf, seine Partnerin glücklich machen zu können.

Ich schlage vor, du packst deine Koffer, während ich mich um die Formalitäten kümmere!“

Sie nickte. Dankbar dafür noch ein paar Momente allein sein zu dürfen um in Ruhe über alles gehörte nachzudenken.

Als die Tür hinter ihrem Ehemann zufiel, stand sie auf und ging zum Fenster.

***

Adam betrat den kleinen Raum. Er wirkte aufgewühlt und sein besorgter Ausdruck nahm noch zu, als er erkannte, dass nur Gabriel da war.

Der junge Mann war noch nie allein mit dem Engel gewesen. Plötzlich fühlte er sich schuldig und unvollkommen. Als denke Gabriel, er sei es in Wirklichkeit nicht wert, Lilith zu lieben. Unsicher schluckte er und überlegte, was er sagen sollte.

Sie ist nicht mehr so leicht zu manipulieren, wie vorher“, versuchte er seine Gedanken auf einen Punkt zu bringen und trotzdem unverbindlich zu bleiben.

Du hast sie nicht manipuliert!“, gab Gabriel zurück, ohne einen Blick von dem Monitor zu nehmen.

Adam fühlte sich angegriffen. „Natürlich. Was denkst du, warum sie in den Ritus eingewilligt hat?“

Lange sah Gabriel den jungen Mann vor sich an. Zum ersten Mal empfand er so etwas wie Sympathie und Verständnis für ihn. – Auch wenn dieser gerade dabei war, ihm das Liebste und Vollkommenste zu nehmen, was er auf dieser unvollkommenen Welt hatte.

Glaubst du wirklich, dass sie sich von dir hätte manipulieren lassen, wenn du ihr nicht geboten hättest, was sie schon lange wollte?“ Sein Tonfall war sanft.

Trotzdem zuckte Adam zusammen, als hätte der Engel ihm den Todesstoß gegeben. Gabriel seufzte, bevor er die schwersten Sätze sagte, die je seinen Mund verlassen hatte: „Und sie mochte dich. Sie mochte dich vom ersten Moment.“ Er lächelte den jungen Mann an, der ihn anstarrte, als könne er nicht glauben, was er hörte.

Ich glaube, sie hätte auch in den Ritus eingewilligt, wenn sie den ganzen Plan gekannt hätte. Wenn sie gewusst hätte, wer du bist.“

Der junge Mann strahlte den Engel an. Ein bisher unbekanntes Hochgefühl hatte nach ihm gegriffen. Der Engel gab nicht nur zu, dass Lilith ihm gehörte. Er gestand ihm auch ein, dass sie es wahrscheinlich selber so wollte.

Gabriel drehte sich weg, weil er Adams glückseligen Gesichtsausdruck nicht mehr ertragen konnte. Vor allem nicht, weil er sich selber so elend fühlte, so betrogen.

Du müsstest dich toll fühlen“, redete er sich ein, „am Ziel deiner Wünsche und Hoffnungen.“

Er ahnte, dass der junge Mann nicht wirklich verstand, was vor sich ging. Er hatte Lilith so leicht beeinflussen können, weil sie an einem Tiefpunkt angelangt war, an dem sie jede ihr angebotene Rettung angenommen hätte.

Beinahe wie damals in Ur“, dachte Gabriel leise und wusste, dass der junge Mann Lilith an Adam erinnert, an ihre verwirkte Bestimmung, an den größten Fehler in der Menschheitsgeschichte.

Jetzt erinnerte sie sich an nichts mehr. Amüsiert lächelte Gabriel als er einen Vergleich zum ersten Tag, zum Tag ihrer Entstehung zog. Sie war tatsächlich wie neugeboren. – Nur dass sie nie geboren worden war. Sie war heute wieder genauso, wie Jahve sie erschaffen hatte. Genauso unschuldig und voller Hoffnung wie damals. Auf der Suche nach Liebe.

Der Engel blinzelte eine Träne aus seinen Augenwinkeln, bevor der übermütige junge Mann sie entdecken konnte.

Gabriel lächelte. Adam würde sich jetzt wesentlich mehr anstrengen müssen als zuvor, als Lilith noch sie selbst gewesen war.

Sein Lächeln wurde wehmütiger. Vielleicht hätten sie es ihr sagen sollen. Vielleicht wäre es einfacher gewesen. Er glaubte, dass sie tatsächlich darauf eingegangen wäre, mit dem zweiten Adam ein neues Leben anzufangen.

Dann dachte er an Samiel und verwarf seinen Gedankengang. Niemals hätte er sie gehen lassen. Nicht freiwillig und nicht in einer Millionen Jahre. Er hatte keine Skrupel seine Lilith Jahrtausende lang allein zu lassen, aber er würde sie niemals gehen lassen.

Gabriel seufzte. Er konnte sie nicht vor Samiel beschützen. Nicht ohne gegen ihn zu kämpfen. – „Aber Engel kämpften nicht gegeneinander.“ – Und Lilith hätte nie zugelassen, dass er für sie kämpfte.

***

Lilly stand immer noch am Fenster und sah nach Draußen.

Bist du fertig?“, unterbrach die Stimme ihres Mannes ihre trübsinnigen Gedanken.

Sie drehte sich um.

Er sieht wirklich gut aus!“ fuhr ihr zum zweiten Mal an diesem Morgen durch den Kopf.

Entschuldigung!“, murmelte sie schuldbewusst.

Er trug normale Kleidung, keinen Arztkittel mehr, sondern Jeans und ein schwarzes T-Shirt.

Irritiert blickte sie ihn an. „Bist du kein Doktor?“

Er schenkte ihr ein überwältigendes Lächeln und wirkte noch mehr wie ein Dressmann. „Nein, wie kommst du darauf?“

Sie starrte ihn an und fragte sich, ob sie sich getäuscht hatte. „Du hattest einen weißen Kittel an?!“

Sein Lächeln wuchs in die Breite. „Ach so! Hier tragen alle Besucher weiße Kittel!“ Er zwinkerte ihr zu. „Ich glaube es hat etwas mit der Hygiene zu tun.“

Er schlenderte zu dem kleinen Einbauschrank und öffnete ihn.

Ihr erster Impuls war es, die Tür wieder zuzumachen, damit er ihre Privatsachen nicht sah. Dann rief sie sich zur Ruhe. Dieser Mann – so unglaublich er auch aussah – war ihr Mann. Sie kannten einander und waren verheiratet.

Sie trat neben ihn, an den offenen Schrank. Er hob den kleinen Koffer vom Schrankboden und legte ihn geöffnet auf das Bett, so dass sie nur noch ihre Kleidungsstücke hineinlegen musste.

Nachdenklich nahm sie jedes Teil einzeln aus dem Schrank und fuhr mit den Händen über den Stoff, als könne dieser Informationen aus ihrem Leben preisgeben.

Adam beobachtete, wie sie leicht zitterte und gespannt auf eine Eingebung zu warten schien. Behutsam packte sie ihren Koffer und er ließ sie gewähren, obwohl er beinahe genauso nervös war, wie sie.

Dein Vater holt uns gleich ab!“, verkündete er schließlich, um das lange Schweigen zu unterbrechen.

Überrascht fuhr sie herum und das letzte Kleidungsstück landete eher unsanft auf dem Stapel. „Mein Vater?“

Er grinste sie frech und gewinnend an. „Ja, Liebes! Auch du hast einen Vater.“

Sie warf ihrem Mann einen verängstigten Blick zu und schloss den Koffer.

Ich kann mich nur darauf verlassen, dass er die Wahrheit sagt. Dass ich seine Frau bin.“

Es gibt keine Sicherheit für dich.“

Warum sollte er dich anlügen?“

Sie gab sich Mühe sich ihre widerstreitenden Gedanken und Gefühle nicht merken zu lassen.

Er nahm ihr fürsorglich den Koffer ab und öffnete ihr die Tür. „Wenn er dich anlügen würde, könnte er dich doch nicht einfach so aus einem Krankenhauszimmer mitnehmen, oder?“

Sie zitterte.

Hast du Angst?“ Besorgnis schwang in seiner Frage mit.

Sie nickte und meinte leise: „Ja, habe ich!“

Er sah sie ernst an. Sein Blick wirkte ehrlich und vertrauenserweckend. Seine Augen, die einen sanften, braunen Ton hatten, sogen sie in sich auf. Mit einem Mal fühlte sie sich leicht und geborgen. „Er würde dir nie bewusst wehtun!“

Sie schenkte ihm ein einseitiges Grinsen.

Ich liebe dich!“, meinte er. Sein Blick war noch ernster als zuvor. „Bitte vergiss das nie!“ Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sie schluckte hart. Sein Blick, der darum bat, geliebt zu werden, war beinahe mehr, als sie ertragen konnte.

Gemeinsam traten sie auf den Gang und sie hakte sich bei ihm unter. Er war dankbar über diesen kleinen Gunstbeweis.

Auf dem Gang begegneten sie einer Krankenschwester, die ihnen freundlich zunickte. Dieses zufällige Treffen zerstreute die letzten Bedenken der Gedächtnislosen.

Ganz getraut hast du mir trotzdem nicht?!“, er grinste, doch Lilly merkte, dass ihn die Angelegenheit belastete.

Nein! Entschuldigung!“

Entschuldigung akzeptiert, wenn du noch weißt, wie man Blaubeerpfannkuchen backt!“

Sie starrte ihn mit offenem Mund an. „War es ihre Aufgabe, für ihn zu kochen?“ – Es musste ihre Aufgabe sein, denn sie konnte sich tatsächlich daran erinnern, wie man Pfannkuchen machte.

Sie kicherte. „Ich weiß es!“

Erstaunt sah er sie an. „Ich weiß es wirklich!“, freute sie sich. „War das ein Zeichen ihrer Besserung?“

Ein alter verbissener Mann, der ihr als ihr Vater vorgestellt wurde, wartete in der Tiefgarage vor seinem Auto. Er fuhr einen neu wirkenden Chrysler PT Cruiser der sie an ein Mafiafahrzeug erinnerte.

Er begrüßte die sie überschwenglich, bevor er begann, ihr Vorwürfe zu machen.

Das hast du nun davon!“ Er warf ihr im Innenspiegel des Autos einen garstigen Blick zu, den sie glaubte, nicht verdient zu haben. „Wenn du dich an gar nichts mehr erinnerst, wie glaubst du, wirst du demnächst dein Leben meistern? Was willst du arbeiten? Womit willst du dich beschäftigen?“

Sie konnte ihm nicht einmal böse sein, denn genau diese Fragen hatte sie sich auch schon gestellt. – Viele Male, seitdem sie wusste, was mit ihr geschehen war.

Trotzdem verteidigte sie sich. „Ich habe eine ganze Menge zu lernen, also denke ich, dass ich in nächster Zeit ausgelastet sein werde.“ Sie schwieg einen Moment und genoss das Gefühl, einen kleinen Triumph errungen zu haben. „Aber mir geht es gut. Danke der Nachfrage!“, fügte sie hinzu.

Bildete sie es sich ein, oder war der Blick, mit dem der alte Mann – alles in ihr lehnte sich dagegen auf, ihn als ihren Vater zu bezeichnen – sie bedachte, nun um einiges ernster und respektvoller, als zuvor?

Sie bemerkte, dass Adam ihn von rechts anstupste, wie um ihn noch einmal zusätzlich zurechtzuweisen. Die beiden Männer tauschten einen vertrauten Blick, der sie außen vor ließ und schienen eine stumme Botschaft auszutauschen.

Es ist auch für mich eine schwierige Situation!“, murmelte der alte Mann leise, wie um sich zu rechtfertigen.

Erst nach einigen Minuten sprach er wieder, schien sich aber direkt auf seinen vorherigen Gedankengang zu beziehen: „Ihr seit immer so ein schönes Paar gewesen!“

Der alte Mann, an den sie sich nicht mehr erinnern konnte, schwärmte von ihren Gemeinsamkeiten, als müsse er Adams Vorzüge ins rechte Licht rücken.

Und was ist mit mir?!“ hätte sie ihn beinahe angeschrieen. Dafür, dass sie seine Tochter sein sollte, schien er sich kaum für sie zu interessieren. Allein die Tatsache, dass sie wieder mit Adam glücklich wurde, schien ihm am Herzen zu liegen.

Wahrscheinlich ist er der ideale Schwiegersohn und ich das schwarze Schaf der Familie“, Lilly musste ob des Gedankens lächeln.

Adam drehte sich auf dem Beifahrersitz um und zwinkerte ihr zu. Sie verdrehte die Augen. „Gut! Ihm fällt also auch auf, dass mein Vater ihn anpreist, wie ein außergewöhnliches Rennpferd. Fehlt nur noch, dass ich mir seine Zähne ansehen soll!“

Grinsend sah Adam aus dem Fenster. Es hatte zu regnen begonnen. „Welch ein trübsinniges Frühlingserwachen!“ – Es passte nicht zu dem Hochgefühl, welches in seinem Inneren tobte.

Er hatte sie!“ Im Außenspiegel konnte er die Reflexion der Frau sehen, die mit ihm in eine gemeinsame Zukunft fuhr.

Jetzt, wo sie keine Ahnung mehr davon hatte, wer sie war, setzte sie ihre Reize nicht mehr gekonnt ein, um ihn, oder andere zu verwirren, aber sie war immer noch eine der schönsten Frauen, die er je gesehen hatte.

Obwohl Schönheit immer relativ war.“ Er lachte leise vor sich hin, sicher, dass sie in allen Epochen, in allen Ländern und in allen Generationen als Schön eingestuft worden war. Als faszinierend und erotisch.

Er drehte sich zu ihr um. So sehr sie sich auch darum bemüht hatte, sich den Weg zu merken, oder etwas zu finden, an das sie sich erinnern konnte, jetzt hatte sie die Augen geschlossen und wirkte unschuldiger und jünger als zuvor.

Ist sie eingeschlafen?“

Als hätte der Alte sich diese Fragen in eben diesem Moment ebenfalls gestellt, sah er Adam an. Adam schüttelte leicht den Kopf. Sie mussten unter allen Umständen äußerste Vorsicht walten lassen, damit ihnen ihre kostbare Beute nicht mehr entkam.

Sein Vater nickte stumm, er hatte verstanden und konzentrierte sich auf die Straße, die immer einsamer wurde.

Nie war ihm der Weg bis zu der umgebauten Kirche, Adams Privatsitz, so lange vorgekommen. Er seufzte, als er daran dachte, welchen Aufwand sie betrieben hatten, um dies alles, dass Beisammensein der beiden jungen Leute zu bewerkstelligen.

Und nun wirkte mit einem Mal alles so einfach und selbstverständlich. „Hatte er sich zu viele Sorgen gemacht?“

Als sie hielten, schreckte Lilly aus einem tiefen, traumlosen Schlaf hoch. Dieses Mal erinnerte sie sich nach einigen Sekunden daran, wer und wo sie war.

Dein Mann bringt dich zurück nach Hause.“ – Diese Formulierung hatte in ihren eigenen Ohren einen negativen, beinah traurig-verlorenen Eindruck und sie versuchte ihn abzuschütteln, indem sie einen Blick aus dem Fenster warf.

Der Eindruck deprimierte sie noch mehr.

Es hatte begonnen stärker zu regnen und das Gebäude vor dem sie standen wirkte ungemütlich und düster.

Als sie die einzelnen Bruchstücke, die sie durch die Regenwand sah, in ihrem Gehirn zusammensetzte, grummelte sie unbehaglich: „Eine Kirche?“

Adam nickte und sein stolzer Gesichtsausdruck beruhigte sie augenblicklich. „Es wird dir gefallen!“, versprach er. Und auch der alte Mann – „ihr Vater“, versuchte sie in Gedanken – nickte ihr befliessen und beruhigend zu.

Adam beobachtete jede ihrer Reaktionen und versuchte sie einzuschätzen. Soweit er es beurteilen konnte, verhielt sie sich völlig normal. – Auf jeden Fall entsprach ihr Verhalten seinen Erwartungen.

Ich lasse euch alleine?!“ Ihr Vater klang verunsichert und sah sie fragend an, als wenn er sicher gehen wollte, dass sie keine Angst hatte, vor dem, was sie erwartete.

Sie nickte stumm und bemerkte nicht, dass Adam neben ihr ebenfalls eine stumme Einwilligung gab.

Für einen Moment lang hatte der alte Mann das Gefühl, er müsste die beiden umarmen und ihnen seine unendliche Verbundenheit beteuern, doch an Liliths Gesichtsausdruck erkannte er, dass sie darüber froh war, dass er ging.

Er fühlte sich scheußlich. So viel hatte er für die junge Frau getan. Er hatte ihr sein ganzes Leben gewidmet, der Erforschung ihres Lebens.

Er hatte versucht den Willen Jahves zu bestimmen und er hatte Lilith sein gesamtes Leben gewidmet, um sie hierherzubringen und sie schien ihn nicht einmal zu mögen.

Er warf Adam, der sich seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, am Ziel seiner Wünsche wähnte, einen letzten Blick zu. Am Liebsten hätte er ihn mitgenommen.

Sie ist es nicht wert, meinen Jungen zu bekommen“, dachte er und war selber erstaunt.

Seufzend stieg er in den Wagen. Von Anfang an hatte er gewusst, dass der Junge – Adam, korrigierte er sich – nicht SEIN Junge war.

Mit einem letzen Blick auf die attraktive junge Frau fuhr er los. Er wünschte sich, dass alles gut ging, gleichzeitig hoffte er, dass etwas geschah, ein göttliches Zeichen, dass er Adam nicht an diese Frau verlieren würde.

***

Adam und Lilly winkten, als sich der Wagen in Bewegung setzte. Als er von dem kleinen Parkplatz bog, ließ sie die Hand sinken.

Dieser Mann ist wirklich mein Vater?“

Adam nickte stumm und lächelte sie beruhigend an.

Er ist merkwürdig!“, stellte sie fest.

Sein Lächeln wurde breiter. „Ach was, er ist nur aufgeregt und will keinen Fehler machen!“

Was für Fehler?“

Adam zuckte mit den Schultern. „Er kennt dich und weiß, wie du normalerweise bist. – Aber jetzt bist du jemand anderes und nicht einzuschätzen.“

Betroffen zuckte sie zusammen. Von dieser Seite aus betrachtet, musste sie ihm Recht geben.

Wahrscheinlich will er einfach nur, dass du ihn magst.“

Sie nickte und nahm sich vor, bei der nächsten Begegnung mit dem alten Mann – „meinem Vater“, korrigierte sie sich rasch – netter und bemühter zu sein.

Adam lächelte sie an, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Amüsiert stellte er fest, dass ihr Gesicht nass von winzigen Regentropfen war, die ihre Haut zum Glitzern brachten.

Selbst der Regen scheint sie mehr zu lieben, als die anderen Menschen“, dachte er frohlockend.

Am liebsten hätte er die Hand ausgestreckt und ihr die Feuchtigkeit von den Lippen geküsst, aber er ahnte, dass es dafür noch zu früh war und bekämpfte die begehrliche Sehnsucht in seinem Inneren.

Durch ihre Artikel wusste er, dass sie seine Küsse auch schon früher nicht zu schätzen gewusst hatte. Die Wut über diesen Gedanken brachte eine größere Klarheit in seine Überlegungen, als jede Ermahnung es getan hätte.

Eva schienen sie gefallen zu haben“, dachte er boshaft. „Sonst hätten wir wohl nie eine so große Menschheit hervorgebracht.“

Er schaffte es nur mit Mühe, seinen Ärger zu bezähmen.

Was ist los?“ Als er die Angst und die Sorge in Liliths Stimme registrierte, wusste er, dass sie seinen wütenden Gesichtsausdruck bemerkt hatte.

Er sah sie an und musste sich an seiner Wut wie an einem Rettungsring festhalten, zu entzückend sah sie aus, wie sie hilflos vor ihm stand.

Du wirst mir gehören, noch bevor du weißt, wie dir geschieht!“, dachte er zufrieden. „Du wirst nie wissen, wie sehr ich dich belogen habe.“

Bei dieser Zukunftsaussicht wurde der Ausdruck auf seinem Gesicht zufriedener. „Entschuldigung! Ich war gerade in Gedanken woanders!“, redete er sich hinaus und kramte in seiner Tasche.

Verwirrt sah sie ihn an. Sie wusste, dass er log. Seine Gedanken hatte etwas mit ihr zu tun. Er verschwieg ihr etwas, etwas, worauf er wütend war. „Ist er doch wütend wegen der Hypnose?“, fragte sie sich einen Augenblick lang. Dann verwarf sie die Idee und stellte seine gesamte Geschichte in Frage.

Seltsamerweise hatte sie trotz seines wütenden Gesichtsausdrucks damit gerechnet, dass er sie küssen würde. Sie spürte, wie Hitze in ihr hochstieg und sie rot werden ließ. Für einen Moment hatte sie sich gewünscht, dass er es tat.

Sie schluckte und starrte in den Regen. „War er wütend weil er es ebenfalls gewollt hatte, aber nicht wusste, wie sie reagieren würde?“

Überrascht von diesem Gedankengang starrte sie ihn an, er starrte verwirrt zurück. Ebenfalls überrascht, allerdings durch ihren Gesichtsausdruck. Einem Gesichtsausdruck, der darum bat, geliebt zu werden.

Seine Knie wurden zittrig und selbst seine Gedanken an Eden retteten ihn nicht mehr, als er von seinen Gefühlen für sie überflutet wurde.

Ich liebe dich!“, flüsterte er leise.

Dann zeig es mir!“ Am liebsten hätte sie diese Worte laut herausgeschrieen, stattdessen belohnte sie ihn mit einem kleinen, dankbaren Lächeln.

Seine Gefühle schlugen in Wut um, als sie nichts erwiderte, sondern nur lächelte. Er blickte zu Boden. Er war verwirrt über seine eigenen Emotionen, die er kaum noch unter Kontrolle hatte. Am Liebsten hätte er auf sie eingeschlagen, bis er aus ihrem Mund die Worte hörte, die er so sehr ersehnte. Bis sie ihm ihre Liebe versprach und ihm schwor, ihn nie zu verlassen.

Sie gehört dir, jetzt und für alle Zeit!“, versprach er sich selbst und schaffte es sich einigermaßen zu beruhigen.

Sie hatte von seinem Gefühlsumschwung nichts bemerkt, sondern in den Regen gestarrt, wie er mit einem Blick auf sie feststellte. Nachdenklich kramte er den Eingangsschlüssel aus seiner Tasche und öffnete mit einer großen Geste die Tür.

Adam lächelte still in sich hinein, als sie ihm verunsichert aber aufgeregt in die umgebaute Kirche folgte. Ihre Augen wurden groß vor Staunen, als sie die gelungene Einheit erkannte, die die Mischung aus modernstem Haushalt und altertümlichsten Kirchenschmuck bildete.

An sonnigen Tagen müssen diese Räume ein architektonisches Wunder an Licht sein“, dachte sie entzückt.

Das Wohnzimmer wurde nur durch eine lange Theke von der Küche getrennt und nahm beinahe die Hälfte der Kirche in Anspruch.

Eine breite Treppe führte eine Etage höher, zu einer riesigen, hellen Sitzgarnitur. Sie wurde durch das Licht, welches durch ein Rundfenster mit buntem Glas fiel in unirdisches Licht getaucht.

Lilly war dankbar, dass kein Bibelszenario zu sehen war, sondern ein herrlich künstlerisches Muster.

Bewundernd drehte sie sich einmal um die eigene Achse.

Selbst die Schiebetüren zum Balkon und zur Veranda bestanden aus Kirchenglas.

Als Adam ihr zufriedenes Grinsen bemerkte, welches zu einem Lächeln wuchs, sah er sie fragend an.

Ich bin nur froh, dass wir ein Sofa haben und nicht auf Holzbänken sitzen müssen“, meinte sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag.

Überrascht erwiderte er ihren Blick, dann dachte er daran, wie viele Leute an diesem kleinen Wunder gearbeitet hatten und wie viel Geld geflossen war und musste lachen.

Als hätte sie nur auf seine Lachen gewartet, schien sie sich sichtlich zu entspannen.

Mit einem Lächeln nahm er ihre Hand und zog sie sanft hinter sich her, zu den anderen Räumen. Sie staunte, da nicht nur der für Gäste zugängliche Teil des Hauses, sondern auch alle anderen Zimmer mit Ornamenten und Kirchenfenstern versetzt waren.

Nur das Arbeitszimmer, welches sich im Kirchturm befand, hatte durchsichtige Fenster und gewährte einen Rundumblick wie in einem Leuchtturm.

Es war ausgestattet mit den modernsten Bildschirmen und Computern. Faxgerät, Kopierer, Scanner, selbst ein Flachbildfernseher hing von der Decke.

Die junge Frau runzelte die Stirn. Ihr Blick, der auf ihm ruhte, war prüfend. „Was machst du eigentlich beruflich?“

Adam erkannte ihren Gedankengang und schmunzelte. „Wer sagt dir denn, dass nicht du all das hier bezahlt hast?“

Sie starrte ihn verhalten entsetzt an. „Hab ich?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, Liebes! Das hier haben wir beide uns hart erkämpft!“ Er schwieg einen Augenblick. „Ich bin ein Mann Gottes, ein Priester!“

Überrascht sah sie ihn an. Dann deutete sie um sich herum. „Aber das alles hier ...“, sie schwieg und gab ihm Gelegenheit ihren Satz für sich selber zu beenden.

Er lächelte süffisant. „Ich bin eben gut in meinem Job!“

Damit drehte er sich um und ging die Treppen hinab. Sie folgte ihm und wurde das Gefühl nicht los, dass er ihr bei dieser Antwort etwas verschwieg. Nachdenklich ging sie ihm in den nächsten Raum hinterher.

Es war das Schlafzimmer, wie sie betroffen feststellte. Auf der gegenüberliegenden Seite der Tür stand ein Bett, dass ein Drittel des Raumes in Anspruch nahm. Von den extrem hohen Decken hingen lange Stoffbahnen, die im leichten Wind des offenen Fensters in einem stummen, anmutigen Tanz Wellen warfen.

Wie sauber alles hier ist. Als wäre ich ein Putzteufel.“ Sie schauderte. „Oder als hätte hier noch nie jemand gewohnt.“ Sie sah prüfend nach oben, doch auch dort gab es kein Anzeichen von Spinnweben. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Kandelaber an der Decke elektrisch waren.

Trotzdem flackerten sie abwechselnd und erzeugten das Gefühl, unter echten Kerzen zu stehen. Die Lichtbrechung der Fenster, die zum Großteil in Rot gehalten waren, ließen ein mulmiges Kribbeln in ihr aufsteigen. – Aber vielleicht lag es auch daran, dass sie daran denken musste, mit ihm, ihrem Mann, den sie gar nicht kannte – dem Dressmann –, in diesem Bett geschlafen zu haben.

Sich geliebt zu haben?“, fragte sie sich leise.

Sie war sich sicher, dass er ihre Worte unmöglich gehört haben konnte. Trotzdem sah er sie mit großen Augen an, als hätte er ihre Gedanken erraten.

Was sie nicht erkannte, war die Anstrengung, die es ihn kostete, sie wieder aus diesem Raum entkommen zu lassen, ohne das zu tun, wonach er sich am meisten sehnte.

Schweren Herzen zeigte er ihr noch das Gästezimmer und das Bad.

Es ist wundervoll!“, flüsterte sie ehrfürchtig, als sie vor ihm in das Badezimmer trat. Sie strahlte ihn an, als hätte er allein das Zimmer für sie eingerichtet.

Er schaute über ihre Schulter. Als er das letzte Mal in der Kirche gewesen war, war das Bad noch nicht fertig gewesen.

Sofort wusste er, was sie meinte. Die riesige Eckbadewanne bot Platz für zwei Personen und hatte ein Whirlpoolfunktion. Große weiße Kerzen standen auf den Wachsresten ihrer Vorgänger und warteten darauf, abermals angezündet zu werden.

Ein leichter Vanillegeruch hing in der Luft.

Ihre Augen waren riesengroß und bevor sie den Mund öffnete, wusste er, dass sie ihn um ein Bad bitten würde.

Darf ich?“ Ihre Stimme klang leise und nervös, als wenn es an ihm läge, ihr ihren Wunsch zu verwehren.

Er war auf gewisse Art und Weise zufrieden damit, wie unterwürfig sie frage und schämte sich gleichzeitig dafür. Er wusste, dass sie freie Entscheidungen treffen konnte und sollte, dass sie die gleichen Freiheiten und Rechte hatte, wie er selber.

Aus diesem Grund fiel seine Antwort gröber aus, als er beabsichtigt hatte: „Warum fragst du?“

Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen und wandte den Blick von ihm ab. Er atmete tief ein. „Warum benahm er sich so? Er hatte noch nie versucht eine Frau herumzukommandieren, wieso um Himmels Willen versuchte er es ausgerechnet bei ihr, der Frau, die er am meisten begehrte?“

Betont sanft korrigierte er seine Antwort: „Du musst mich nicht fragen, wenn du etwas tun willst! Du wohnst hier!“

Sie warf ihm einen Blick zu, in dem immer noch eine gewisse Verletzlichkeit lag und er rügte sich in Gedanken für seine unüberlegte Art. Adam warf einen Blick in die Runde. Alles war da: Handtücher, zwei Bademäntel, Pantoffel, selbst ein Feuerzeug für die Kerzen.

Sein schlechtes Gewissen ließ ihm keine Ruhe. „Brauchst du noch etwas? Etwas zum Lesen, einen Sekt, irgendetwas?“

Dankbar lächelnd schüttelte sie den Kopf. Unsicher erwiderte er ihr Lächeln. „Hatte sie ihm verziehen?“

Dann warte ich ihm Wohnzimmer auf dich, ja?“

Sie strahlte ihn an.

Er zögerte einen Augenblick „Wie gerne würde ich bleiben!“ Bevor er darüber nachgedacht hatte, was er tat, gab er ihr einen Kuss auf die Wange. Dann floh er aus dem Bad und warf die Tür hinter sich zu.

Nachdenklich blickte sie auf den Ausgang, ihre Hand an ihrer Wange, dort, wo der Kuss sie getroffen hatte.

***

Adam hetzte durch den dunklen Korridor und durch den versteckten Eingang hinter einem Wandgemälde, welches die Schöpfung von Eva zeigte, in einen wissenschaftlich ausgestatteten Raum, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Beobachtungsraum im Gebäude der Gruppe Ultimo Verdad hatte.

Als die weiße Stahltür hinter ihm zufiel, lehnte er sich gegen die kalte Steinwand und ließ sich langsam auf den Boden gleiten, das Gesicht in den Händen versteckt.

Gabriel sah ihn mit großen Augen an.

Mach ihn aus!“, murmelte der junge Mann.

Der Engel warf einen Blick auf den Monitor, der das von sanftem Kerzenlicht erhellte Bad zeigte.

Mach ihn aus!“, wiederholte der junge Mann. Dieses Mal klang es wie ein Befehl, sein Tonfall war wütend und frustriert.

Für einen Moment war Gabriel versucht sich ihm zu widersetzen, dann traf er Adams Blick. Seine Augen brannten förmlich. Schockiert gehorchte der Engel.

Mit einem leisen Knacken schaltete sich das Bild aus.

Danke!“, flüsterte Adam. „Ihre Nähe macht mich wahnsinnig!“

Beherrsch dich, lass ihr Zeit!“

Das sagst du so einfach. Du bist ein Engel, du weißt nicht, wie es ist, ein körperliches Verlangen nach jemandem zu haben. So lange auf etwas gewartet zu haben, was jetzt zum greifen nahe ist. Von Anfang an hat es nie etwas anderes für mich gegeben, immer nur sie, sie!

Mir ist eingedrillt worden, dass sie für mich bestimmt ist. – Aber warum benimmt sie sich dann nicht so?

Ihr wart es, die mir das gesagt haben! Niemand sonst. Ihr habt mich so erzogen, als wenn es keine anderen Frauen auf der Welt geben würde.“

Sein Zustand war nahe an Raserei.

Und ich wollte sie nicht!“, flüsterte der junge Mann leise.

Gabriel war überrascht. Das hatte er nicht gewusst.

Bis ich sie zum ersten Mal gesehen habe, wollte ich sie nicht. Ich war fest entschlossen sie zu hassen! Sie abstoßend und egoistisch zu finden!“

Und jetzt?“, fragte der Engel, obwohl er glaubte, die Antwort zu kennen.

Adam warf ihm einen verächtlichen Blick zu, den der Engel ihm nicht einmal übel nahm. Wenn man es von Adams Position betrachtete, hatte er Recht. Er selber und der alte Doktor, der Adam wie seinen eigenen Sohn großgezogen hatte, hatten alles getan, um den zweiten Adam in die Gewissheit zu bringen, dass Lilith seine Frau werden würde. – Das es von Anfang an seine Bestimmung gewesen war. – Und er nun, ebenso wie sie, eine zweite Chance erhalten würde.

Adam stand auf und schob sein Kinn vor, er wirkte energisch. „Ich will sie haben Gabriel! Ich will sie um jeden Preis!“

Gabriels Nasenflügel blähten sich. „Du wirst ihr Zeit lassen!“ Er ließ keinen Blick von Adam, der sein Starren erwiderte. „Hörst du mich? – Du wirst sie behandeln, wie sie es verdient, behandelt zu werden!“

Adam warf ihm noch einen höhnischen Blick zu, dann sah er zu Boden. „Und was glaubst du, wie sollte sie behandelt werden?“, fragte er leise und boshaft.

Der Engel keilte Adam zwischen seinen Armen ein, so dass er nicht von der Wand weg konnte.

Adams Blick wurde ängstlicher, aber die Wut war noch nicht ganz aus ihm verschwunden.

Du wirst sie behandeln, wie sie es verdient, behandelt zu werden!“, wiederholte der Engel eindringlich.

Erst als Adam nickte, entfernte Gabriel seine Hände. „Wir haben uns alle Mühe gegeben, dich auf diese Situation vorzubereiten.“ Es klang wie eine Rechtfertigung.

Adam schnaubte nur.

Gabriel, der nie gedacht hätte, dass der junge Mann ihn überraschen könnte, starrte zu Boden.

Sie berührt dich, nicht wahr?“ Die Stimme des Engels war so leise, dass man sie fast nicht hören konnte.

Adam erwiderte nichts. Er starrte auf den schwarzen Monitor.

Gabriel war sich nicht sicher, ob der junge Mann überhaupt gehört hatte, was er gesagt hatte oder ob er nur gedacht hatte.

Nach einigen Minuten verließ Adam wortlos das Zimmer und der Engel versuchte nicht, ihn zurückzuhalten.

***

Im Wohnzimmer angekommen, öffnete Adam eine Flasche Weißwein, nahm zwei Gläser und stellte alles auf den Tisch im Ateliergeschoss. Zwei Fotoalben holte er aus dem Bücherregal und legte sie dazu.

Dann wartete er.

Ab und zu nippte er an seinem Wein und blickte auf die Uhr. Nach und nach wurden seine Blicke häufiger. Ungeduldig stand er schließlich auf, als könnte er so Liliths Rückkehr beschleunigen.

Als sie nach einer halben Stunde noch nicht da war, öffnete er eines der Fotoalben und betrachte die Fotos. Die Gruppe hatte ganze Arbeit geleistet, dachte er zufrieden.

Die Fotos zeigten sie beide in einem Urlaub, der angeblich letztes Jahr stattgefunden hatte. Sie besichtigten den Vatikan, das Grabmal des unbekannten Soldaten, sie lagen an einem Pool. Fast kam es ihm so vor, als wäre dies alles tatsächlich passiert.

Er lächelte, denn die Fotos zeigten nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft.

Wieder warf er einen Blick auf die Uhr und schloss das Fotoalbum. Sie konnte unmöglich immer noch im Bad sein. Unruhe erfasste ihn und er hastete den Gang entlang, zu den Privaträumen.

Zögernd, als begehe er ein Sakrileg klopfte er an der Tür zum Bad. Als er keine Antwort erhielt, öffnete er. Das Zimmer war leer und nur noch einige Überreste Schaum in der Wanne zeugten davon, dass es benutzt worden war.

Der leichte Vanillegeruch wurde nun von einem anderen Duft überlagert und einen Moment lang fragte er sich, woher der Duft kam, denn alle Badeöls und Körperlotionen waren auf Vanille abgestimmt.

Die Tür zum Schlafzimmer war offen. Obwohl er mit einem Blick erkannte, dass das Zimmer leer war, klopfte er, bevor er es betrat.

Der Kleiderschrank stand halboffen und der Bademantel lag auf dem Bett. Plötzlich hatte er die panische Vorstellung, dass sie gegangen war. Einfach so, aus seinem Leben verschwunden.

Hätte Gabriel sie aufgehalten? Hätte er mich benachrichtigt?“

Mit einem mulmigen Gefühl beschleunigte Adam seine Schritte und lief zur Eingangstür. Sie war abgeschlossen.

Dankbar registrierte er, dass Lilith das Haus nicht verlassen haben konnte und überprüfte Raum für Raum, während er sich wieder zum Schlafzimmer vorarbeitete und wütend wurde.

Er hatte ihr gesagt, dass er im Wohnzimmer wartete. Warum war sie nicht gekommen? Warum lief sie vor ihm weg und versteckte sich? War das der Dank für alles?“ Er ermahnte sich. Sie wusste ja gar nichts von ihrer Bestimmung. „Trotzdem: Ist das der Dank dafür, dass du ihr Zeit lässt und versuchst Verständnis zu haben?“

Der Groll der letzten 29 Jahre stieg in ihm auf und richtete sich auf sie. „Sie hat zu tun, was du ihr sagst!“

Als er sie endlich im Arbeitszimmer fand, hätte er sie am liebsten angebrüllt. „Das hättest du schon vor Jahrtausenden tun sollen!“ Wütend grub er seine Fingernägel in seine Handfläche, um seine Gedanken zur Räson zu bringen.

Vor der Dunkelheit des Fensters wirkte sie wie ein glitzerndes, funkelndes Juwel und trotzdem einsamer als alle anderen Menschen, die Adam je gesehen hatte. Er bemerkte, dass er zitterte und fragte sich, ob er je den Wall aus Sehnsucht und Verlassenheit würde überwinden können, den sie um sich gebildet hatte.

***

Sie wusste, noch bevor sie ihn in der Spieglung sah, dass er hinter ihr stand. Vermutlich war er wütend auf sie, aber es war ihr egal. Sie hatte die Einsamkeit gesucht, weil sie gehofft hatte, irgendein Bruchstück aus ihrer Vergangenheit würde aus der Vergessenheit auftauchen.

Aber nichts war geschehen, außer dass ihre Verzweiflung sich immer tiefer in sie hineingefressen hatte, bis sie sich am Fenster wiederfand, in die Finsternis starrend.

Sie hatte das Gefühl von der Welt abgeschnitten zu sein und nicht dazuzugehören. „Habe ich schon immer so gedacht und gefühlt?“

Sie hatte versucht, sich an die Träume zu erinnern, die sie dazu gebracht haben mussten, sich hypnotisieren zu lassen, doch sie konnte kein Fragment einer Erinnerung finden.

Stattdessen stand sie vor dem Fenster und ließ die Flutwelle der Melancholie über sich niederschlagen, weil sie den Gedanken nicht loswurde, dass dort Draußen irgendwo irgendjemand war, der irgendwie zu ihr gehörte. Das sie zusammengehörten, um ein Ganzes zu bilden.

Liebes?“, Adams Stimme riss sie aus ihren Gedanken und zurück in die Realität. Sie ahnte, dass er sich alle Mühe gab, seine Stimme gefasst klingen zu lassen. – Ihr wäre es lieber gewesen, er hätte sie angeschrien und ihr so gezeigt, dass er tatsächlich fähig war, Emotionen zu empfinden.

Du bist ungerecht“, tadelte ihre innere Stimme.

Sie drehte sich zu ihm um, obwohl sie lieber weiter nach Draußen gesehen und ihre Verzweiflung kultiviert hätte.

Wollen wir?“ Er bot ihr seinen Arm an und sie wusste, dass er sie ins Wohnzimmer bringen wollte. Sie hakte sich unter und behutsam nahm er ihre Hand.

Wie sehr wünschte ich mir, er wäre leidenschaftlicher!“

Habe ich mir das schon immer gewünscht?“

Sie schluckte ihren Groll auf ihn und auf die Welt an sich hinunter und folgte ihrem unbekannten Mann, um sich Fotos von zwei Fremden anzusehen, in der Hoffnung, sich an die Person, die Lilly gewesen war, zu erinnern.

Als sie nach Stunden ihrer Vergangenheit kein Stück näher gekommen, dafür aber rechtschaffend müde war, bot Adam ihr an, sie könne das Bett haben.

Um auf ihre Gefühle Rücksicht zu nehmen, würde er im Wohnzimmer auf der Couch schlafen.

Sie war zu müde, um zu argumentieren und akzeptierte sein Angebot.

***

Am nächsten Morgen weckte sie ein leises, zaghaftes Klopfen an der Tür. Entgegen all ihrer Erwartungen hatte sie sehr gut und gänzlich traumlos geschlafen. Und das, ohne auch nur einmal aufzuwachen.

Herein!“, murmelte sie und fragte sich, wieso ihr Mann in dieser Herrgottsfrühe schon auf den Beinen war.

Die Tür wurde langsam geöffnet und mit dem Fuß zur Seite gestupst. Vorsichtig balancierte Adam ein Tablett mit belegten Brötchen, Sekt, Orangensaft und einer roten Rose durch die Tür.

Er trug einen blauen Pyjama und wirkte trotz seines jugendlichen Strahlens noch etwas verschlafen.

Lilly errötete, als sie daran denken musste, welchen Anblick sie wohl für ihn bot: Ungewaschen und nicht gekämmt.

Trotzdem machte sie Anstalten aufzustehen. „Warte, ich helfe dir!“

Resolut schüttelte Adam den Kopf. „Nein, du lässt dich jetzt ganz dekadent verwöhnen!“

Vorsichtig stellte er das Tablett neben dem Bett ab und setzte sich neben sie. Sie grinste ihn an, sonderbar gerührt darüber, dass er sich so aufmerksam um sie kümmerte.

Er ließ keinen Augenblick lang die Augen von ihr. Vom ersten Moment, als er das Zimmer betreten hatte, hatte er jede ihrer Reaktionen verfolgt und er wusste, dass sie sich darüber freute, so umschmeichelt zu werden.

Immer gerne im Mittelpunkt, nicht wahr?“, flüsterte eine gehässige Stimme in seinem Inneren. Doch er war viel zu erregt durch den Anblick, den sie in dem engen, Silber-Schlangengemusterten Nachthemd bot, als dass er über sie wütend werden konnte.

Er streckte sich neben ihr auf dem Bett aus, so dass er über sie hinübergreifen musste, um an die Brötchen zu kommen.

Schweigend nippte sie an dem Sekt und schaute ihn überrascht an. „Ich kann mich nicht daran erinnern jemals so etwas getrunken zu haben.“

Sie schien zu überlegen. „Als hätte ich immer nur Wasser getrunken.“

Das ist albern!“, lächelte er, um ihre Bedenken zu zerstreuen.

Ihr befremdeter Blick, der auf ihm lag, überraschte ihn. Doch bevor er sich Sorgen machen konnte, hatte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Tablett zugewandt.

Er lächelte, während er beobachtete, wie sie sich für ein Brötchen entschied. „Wenn man Gabriel trauen durfte, hat sie nie zuvor etwas außerhalb des Paradieses gegessen. Und dort auch nur Früchte.“

Sie wählte ein Käsebrot und biss hinein. Vorsichtig, als müsse sie sich an den Geschmack gewöhnen, kaute sie bedächtig.

Gespannt verfolgte er ihre Reaktion: „Erinnert sie sich?“

Lilith verzog das Gesicht und bemühte sich den Bissen unauffällig in ihre Serviette zu spucken.

Oh mein Gott! Das kann nicht sein!“, dachte er und starrte sie fasziniert an. Sie erwiderte seinen Blick und er glaubte in den Tiefen ihrer meergrünen Augen zu ertrinken.

Sie zitterte leicht und wirkte sehr blass.

Ich kann mich nicht erinnern“, flüsterte sie leise. Hätte er nicht gehofft, dass sie etwas sagen würde, hätte er sie nicht gehört.

Ohne dass sie sich erklären musste, wusste er, dass sie Brötchen meinte und Käse und Sekt.

Er schloss die Augen. Das lief überhaupt nicht so, wie er es geplant hatte. Und doch war es irgendwie … richtig.

Du erinnerst dich an so vieles nicht mehr“, versuchte er, sie zu beruhigen, obwohl er wusste, dass er sie anlog.

Sie atmete tief ein und er ahnte, dass sie den Tränen nahe war. „Ich kann mich daran erinnern, wie man Blaubeerpfannekuchen macht, aber nicht, wie es ist, sie zu essen.“

Er schluckte schwer an dem, was er ihr als einzige Lösung anbieten konnte. „Erinnerst du dich noch an Früchte? Du hast die letzte Woche eine Entschlackungskur gemacht und dich nur von Früchten ernährt?!“

Sie starrte ihn an, als hätte er ihr gesagt, dass sie eine Woche lang nackt durch die Innenstadt gelaufen sei. Ihre Augen brannten und wirkten grüner denn je, als sei sie wütend auf sich selbst. Trotzdem nickte sie, als könne sie diese Erklärung akzeptieren.

Soll ich dir Früchte holen?“ Er strich ihr behutsam über die Wange und fühlte ihr Zittern.

Wenn es dir keine Umstände macht?“ Ihre Stimme klang verwirrt und hilfbedürftig.

Er küsste sie auf die Stirn. „Du machst mir keine Umstände!“

Dankbar schenkte sie ihm ein verunsichertes Lächeln, bevor er den Raum verließ.

***

Sie ließ sich wieder in die weichen Kissen zurücksinken und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen, wie um die restliche Welt auszusperren. Auf einmal hatte sie Angst. Angst davor, was sie noch alles über sich herausfinden würde. Was wenn sie die Person, die sie eigentlich war, gar nicht leiden konnte?

Sie bemerkte kaum, dass Adam zurückkam und sich zu ihr auf das Bett setzte. Erst, als er vorsichtig seinen Arm um sie legte, registrierte sie seine Anwesenheit.

Sie schauderte und ohne dass sie etwas sagen musste, nahm er seinen Arm wieder weg, um ihr eine Frucht zu reichen, als hätte er von Anfang an diese Absicht gehabt.

Keinen Apfel!“ Selbst in ihren Ohren klang ihre Stimme panisch.

Mit gerunzelter Stirn sah er sie an, akzeptierte aber ihren Wunsch, als hätte er ihn vorausgesehen und legte den Apfel wieder zurück in die silberne Obstschale. Er reichte ihr die Schale.

Verwirrt blickte sie auf die Früchte und versuchte ihre Gedanken zu sortieren. „Warum wirkte er enttäuscht darüber, dass ich sein Frühstück verschmähe?“, fragte sie sich argwöhnisch und gab sich auch gleich selbst die Antwort: „Wahrscheinlich weil er sich viel Mühe gegeben hat, um dir zu gefallen, du Dummkopf!“

Und warum scheint er zu wissen, dass du Äpfel nicht magst?“, gab ihr Verstand zu bedenken, der mit dem vorangegangenen inneren Dialog nicht zufrieden war.

Weil er dich seit Jahren kennt“, beruhigte sie sich selber.

In Ordnung, aber warum hat er trotz seines Wissens probiert dir einen zu geben?“, nörgelte ihr Verstand, immer noch unzufrieden.

Vielleicht wollte er gucken, ob du dich wenigstens an diese Kleinigkeit erinnerst?!“, ihre innere Stimme verstand die Aufregung ihres Verstandes nicht. Leise erinnerte das Gewissen die junge Frau daran, dass sie Adam eine Freude machen konnte, indem sie sich lebhafter und dankbarer für das Fruchtfrühstück interessieren sollte.

***