Achtzehntes Kapitel

Ach, Maman, hätte ich doch nur besser achtgegeben auf mein Herz! Nun muss ich bitter bezahlen.

Rayne mied es, über die Zukunft seiner Ehe nachzudenken, zumal es Dringlicheres zu erledigen gab. Zunächst musste er Gerard Ellis zu dessen Braut zurückbringen und dann Ackerby überzeugen, nicht gegen ihn vorzugehen.

Madeline hatte nicht bloß die Wahrheit gesagt und aus gänzlich unschuldigen Beweggründen heraus gehandelt, nein, sie hatte tatsächlich versucht, ihn zu schützen. Sie wollte ihn und seine Familie vor dem Skandal bewahren, den ihr Bruder mit seinem idealistischen, liebesgetriebenen Handeln herbeiführen könnte.

Wie konnte er so blind gewesen sein, was Madelines wahres Wesen betraf, fragte Rayne sich, während seine Kutsche die Landstraße entlang zu dem Bauernhaus fuhr, in dem Ellis‘ Braut sich versteckte. Wie konnte er Madeline so vollkommen falsch einschätzen?

Nun saß sie ihm gegenüber, neben ihrem Bruder, und lauschte Ellis, der ihr von der heimlichen Vermählung in Schottland erzählte und von seinem Eheleben schwärmte. Ihr Bruder war bester Laune, seit es schien, als wäre seine Notlage bald schon überstanden.

Madeline indes war ungewöhnlich still – und Rayne wusste, dass er der Grund war.

So unsagbar froh Rayne auch war, dass sich sein Verdacht als unbegründet erwiesen hatte, peinigten ihn tiefe Schuldgefühle.

Wenigstens dürften die Verhandlungen mit Ackerby leichter werden als die Lösung seiner eigenhändig heraufbeschworenen Eheprobleme. Es hatte keine Mühe gekostet, alle Informationen von den Schergen zu bekommen, die er wollte.

Nachdem die Haushälterin sich selbst unter Gewalt weigerte, den Aufenthaltsort von Ellis und seiner jungen Braut preiszugeben, hatte Ackerby den Vicomte und die Vicomtesse befragt, wo er ihre Tochter fände. Und als sie hörten, dass ihr neuer Schwiegersohn ein Dieb wäre, hatten sie alles gestanden, um Lynette vor einer Strafverfolgung zu schützen.

Gestern schickte Ackerby vier Männer nach Maidstone vor, auf dass sie Ellis bei Claude Dubonet aufgriffen. Bei ihrer Ankunft am Abend, hatten sie allerdings nur das leere Cottage vorgefunden. Sie beobachteten es die ganze Nacht und auch den Morgen, bis der Hunger drei von ihnen zum Gasthof trieb, wo sie zufällig den Gesuchten entdeckten. Ihr Plan war gewesen, Ellis zum Cottage zu bringen und dort auf weitere Instruktionen von Lord Ackerby zu warten, der heute Nachmittag eintreffen sollte.

Rayne wollte das Überraschungsmoment nutzen und selbst zum Cottage fahren, wo er Ackerby erwartete. In der Zwischenzeit brachte James die drei Handlanger ins Gefängnis von Maidstone.

Als die Kutsche vor dem Bauernhaus hielt, sprang Ellis sofort heraus und Madeline, die offenbar keine Sekunde mit Rayne allein sein wollte, tat es ihm gleich.

Rayne beobachtete, wie Bruder und Schwester gemeinsam ins Haus gingen. Er selbst stieg aus und ging ein paar Schritte, bis er zwischen den Farmgebäuden hindurch auf die weichen Hügel von Kent blicken konnte.

Der frische Wind roch nach Herbst, und graue Wolken flogen über den Himmel. Rayne war so tief in Gedanken, dass er von all dem überhaupt nichts richtig wahrnahm. Stattdessen dachte er an die Wunde auf Madelines Wange.

Und sein schlechtes Gewissen plagte ihn umso mehr.

Er war bereit, jeden Preis für die Halskette zu zahlen. Die Kosten kümmerten ihn nicht, denn Madeline würde erst zur Ruhe kommen, wenn ihr Bruder außer Gefahr war. Und Rayne schuldete ihr einiges nach den bodenlosen Anschuldigungen, die er gegen sie erhoben hatte.

Fraglos hätte Madeline beim ersten Anzeichen von Problemen zu ihm kommen sollen. Aus übertriebenem Stolz hatte sie den drohenden Skandal allein abwenden wollen, was er ihr durchaus vorhalten könnte. Doch er hatte kein Recht gehabt, ihr Ehebruch zu unterstellen.

Er hatte erlaubt, dass sein Argwohn sein Urteilsvermögen trübte.

Die schiere Idiotie seines Fehlers erkannte er in dem Moment, in dem er Madeline heute zur Rede stellte. Sie war verzweifelt und unglücklich gewesen, weil er ihre Integrität und ihre Ehre infrage stellte. Und auf seine Andeutung, er könnte eine Geliebte haben, hatte Madeline ausgesehen, als hätte er sie geschlagen.

Zudem hatte er gesehen, dass sie in der Zeit, die er unten mit James sprach, geweint hatte.

Ihr unsagbar trauriger Blick wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. Er hasste es, sie so zu sehen, vor allem, weil er der Grund für ihren Kummer war.

Dann, nach dem Kampf, als er ihre Verletzung entdeckte und sie trösten wollte, schrak sie vor ihm zurück!

Dafür wollte Rayne sich ohrfeigen.

In dem Augenblick hatte er sich geschworen, ihr zu helfen und ihren Bruder vor seiner eigenen Dummheit zu beschützen. Er musste jedoch gestehen, dass er noch nie einer Frau begegnet war, die weniger Hilfe bedurfte als Madeline. Rayne hegte nicht den geringsten Zweifel, dass sie einen Weg gefunden hätte, Ackerbys Schergen allein in die Flucht zu schlagen, wäre es nötig gewesen.

Natürlich verstand er, was in ihr vorging, als sie sah, wie ihr Bruder angegriffen wurde. Trotzdem hatte Rayne eine furchtbare Angst um sie gehabt.

Zugleich empfand er Bewunderung für sie. Madeline hatte wie eine Löwin gegen Gerards Angreifer gekämpft.

Rayne blickte finster vor sich hin. Er wollte die kostbare Loyalität, die Madeline ihrem Bruder gegenüber bewies, auch für sich. Nur musste er sich die erst einmal verdienen.

Er wollte sie zurück nach Riverwood bringen, den Schaden wiedergutmachen, den er angerichtet hatte, und für Madeline da sein. Zuerst aber drängte seine Pflicht gegenüber der Krone. Außerdem würde das Lüften seiner Geheimnisse wohl kaum ausreichen, sein unverzeihliches Betragen wettzumachen.

Seine Beziehung zu Madeline könnte nicht besser werden, solange er nicht vollkommen ehrlich zu sich selbst war. Er musste sich endlich die Gefühle eingestehen, die all sein Handeln seit der Heirat lenkten:

Die Eifersucht, die dich packte, als du vermutetest, dass sie einen Liebhaber hat.

Die brennende Wut, die dich überkam, als du erfuhrst, dass Ackerby sie erpressen wollte.

Die mörderische Rage, als du sahst, wie sie geschlagen wurde.

Daraus war nur ein einziger Schluss zu ziehen. Er hatte sich seit Tagen selbst belogen.

So sehr er sich auch überzeugen wollte, keine tiefen Gefühle für sie zu empfinden, hatte sie eindeutig Emotionen in ihm geweckt, die lange Zeit begraben gewesen waren.

Und nun waren ihre wunderschönen Augen dunkel vor Kummer, wann immer sie ihn ansah.

Was zur Hölle machst du jetzt?

Er wollte ihren Schmerz lindern. Vor allem aber wollte er … was?

 

Auf dem Weg zu Claude Dubonets Cottage saß Madeline neben Rayne und tat ihr Bestes, nicht über ihr Unglück nachzudenken. Im Moment sollte ihre Sorge um Gerard größer sein.

War Baron Ackerby schon aus Essex eingetroffen? Und, falls ja, würden sie ihn beim Cottage vorfinden und könnten sie ihn bewegen, die Halskette zu verkaufen und seine Drohungen zurückzunehmen?

Gerard behauptete, dass Claude Dubonet nicht daheim wäre, da er als Französischlehrer in vornehmen Haushalten arbeitete und seit dem Morgen unterwegs wäre, um zu unterrichten. Die letzten Nächte hatte er genau wie Gerard und Lynette auf der Farm verbracht, die einem Freund von ihm gehörte, denn sie fürchteten, Ackersby Männer könnten ihm antun, was sie der Haushälterin angetan hatten.

Anscheinend sorgte Gerard sich weniger um seine Zukunft als Madeline, urteilte man nach dem hoffnungsvollen Lächeln. Er hielt seine errötende Braut an der Hand. Lynette war hübsch, zierlich und scheu, und sie betete Gerard an. Was, wie Madeline vermutete, einen Großteil ihres Reizes für Gerard ausmachte. Nach Jahren, in denen er von einer älteren Schwester aufgezogen wurde, war Gerard gewiss glücklich, dass jemand zu ihm aufsah.

Andererseits könnten sein Optimismus und seine Sorglosigkeit gespielt sein, um Lynette zu beruhigen. Oder er überließ sein Schicksal schlicht Rayne.

Madeline selbst war ausgesprochen erleichtert, dass Rayne es übernehmen wollte, mit Ackerby zu sprechen, und wenn es bedeutete, dass sie ihm noch mehr schuldete als ohnedies schon, und ihre Chancen, je von ihm geliebt zu werden, hinterher endgültig dahin sein dürften.

Kurze Zeit später blickte Gerard aus dem Kutschenfenster und verkündete: »Dort, das ist Claudes Cottage, das mit den grünen Läden. Und das«, fügte er finsterer hinzu, »ist Ackerbys Kutsche.«

Madelines Magen zog sich zusammen, als sie das Wappen des Barons erkannte. Er lag tatsächlich auf der Lauer nach ihrem Bruder!

»Es wäre das Beste, wenn du vorerst mit Lynette hierbleibst«, sagte Rayne zu ihr. »Ellis, Sie kommen mit mir.«

»Ja«, stimmte ihr Bruder zu und wappnete sich für die Begegnung.

Madeline wollte die beiden begleiten, doch Lynette sah aus, als könnte sie Trost brauchen. Im nächsten Moment, Rayne und Gerard waren eben aus der Kutsche gestiegen, flog die Cottagetür auf und der Vicomte de Vasse trat heraus, dicht gefolgt von seiner Gemahlin.

»Papa! Maman!«, rief Lynette überrascht.

Madeline war nicht minder verwundert und besorgt, weil der Vicomte mit zorniger Miene auf Gerard zuschritt. Als der französische Aristokrat Gerard beim Kragen packte, kletterte Madeline aus dem Wagen. Lynette folgte ihr.

Zum Glück brachte Rayne die beiden Männer auseinander. Gleichzeitig entdeckte die Vicomtesse ihre Tochter, stieß einen Schrei aus und lief zu ihr, um Lynette in die Arme zu schließen.

Lynette hingegen schien mehr um ihren Bräutigam besorgt. De Vasse beschimpfte Gerard auf Französisch, nannte ihn eine Satansbrut und noch einiges mehr.

»Papa, nein!«, rief seine Tochter, die sich von ihrer Mutter löste und zu Gerard eilte. »Du darfst nicht solch schreckliche Dinge zu ihm sagen!«

Ihr Vater sah sie wütend an. »Ma petite, wie konntest du deiner Maman das antun? Dieser Mann ist ein Dieb!«

»Nein, du verstehst nicht …«

»Ich verstehe sehr wohl. Nicht bloß raubte er mir meine einzige Tochter und besudelte ihren Namen, sondern er brachte auch noch dein Leben in Gefahr!«

»Das ist nicht wahr, Papa!«

»Und ob es wahr ist, Lynette! Als Ellis‘ Komplizin wirst du mit ihm ins Gefängnis gesperrt.«

»So weit wird es nicht kommen, Monsieur«, sagte Madeline.

De Vasse schaute sie erstaunt an und schüttelte den Kopf. »Mag sein, doch wir sind hier, um unsere Tochter nach Hause zu holen.«

Gerards Züge verhärteten sich. »Lynette ist meine Gemahlin, Sir. Sie haben kein Recht, über sie zu bestimmen. «

»Halten Sie sich heraus, Sie Canaille

»Bitte, Lynette«, flehte die Vicomtesse weinend. »Lord Ackerby gibt uns die Gelegenheit, dich zur Vernunft zu bringen. Wir sind mit ihm hergereist, und er wird sich nicht viel länger geduldig zeigen. Zu deiner eigenen Sicherheit musst du mit uns nach Hause kommen.«

»Ich rate Ihnen dringend, auf Ihre Eltern zu hören, Mademoiselle Lynette«, schlug eine neue männliche Stimme vor.

Baron Ackerby war aus dem Cottage gekommen, an seiner Seite ein kräftiger Bursche, der wohl sein vierter Scherge sein musste, wie Madeline schloss.

»Ich lasse Ellis wegen Diebstahls verhaften«, sagte Ackerby.

Prompt machte Madeline einen Schritt auf ihren Bruder zu, doch Rayne legte eine Hand auf ihre Schulter.

»Ich glaube, Sie werden Ihre Position noch einmal überdenken müssen, Ackerby.«

Der Baron wirkte alles andere als erfreut, Rayne zu sehen. »Was zum Teufel tun Sie hier, Haviland?«

»Ich bin gekommen, um das Problem Ihres fehlenden Erbstücks zu lösen. Ihre anderen Handlanger erlitten einen unglücklichen Rückschlag, als sie Ellis vorhin attackierten, aber ich bin gewiss, dass Sie und ich diesen Disput auf zivilisierte Weise beilegen können.«

Ackerbys Gesicht war wie versteinert. »Ich wüsste nicht, wovon Sie sprechen.«

»Nein, aber das werden Sie noch. Wenn wir vielleicht unter vier Augen reden könnten, möchte ich Ihnen einen Vorschlag unterbreiten, der nicht uninteressant für Sie sein dürfte.«

Auf Raynes Drängen hin traten beide beiseite, außer Hörweite. Madeline wusste, dass Rayne den Angriff auf ihren Bruder und die Haushälterin als Druckmittel verwendete, denn der Baron wurde erst rot vor Zorn, dann ballte er die Fäuste.

Der Vicomte de Vasse war sichtlich verärgert, weil man ihn nicht informierte. »Was sagen sie, Lynette? Was geht hier vor?«

»Du wirst es noch erfahren, Papa«, antwortete sie.

Schließlich rief Rayne Gerard zu: »Wir sind zu einer Einigung gekommen, Ellis. Könnten wir Schreibgerät von Ihrem Freund Dubonet bekommen?«

»Gewiss, natürlich, Mylord«, rief Gerard, und alle drei Männer verschwanden im Cottage, so dass Madeline mit Lynette und deren Eltern allein zurückblieb. Als sie mehrere Minuten später wieder herauskamen, stampfte Ackerby direkt auf seine Kutsche zu und brüllte seinen Kutscher an, ihn sofort nach London zu fahren. Der vierte Handlanger konnte kaum hinten auf den Wagen aufspringen, ehe er davonpreschte.

Nachdem Ackerby fort war, nickte Rayne Gerard zu, der dankbar lächelte und eine Samtschatulle aus seiner Gehrocktasche zog. Dann ergriff er Lynettes Hand und trat vor die Vicomtesse.

»Ich glaube, dies gehört Ihnen, Madame.«

Mit einem unsicheren Blick zu ihrem Gemahl nahm sie das Samtpäckchen. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, als sie es öffnete und hineinsah.

»Mon Dieu«, hauchte sie. Zitternd nahm sie die atemberaubende Kette aus Rubinen, kleineren Diamanten und feinstem Gold hervor. »Ich hätte nie gedacht, dass ich sie einmal wiedersehe.«

»Die Halskette gehört rechtmäßig Ihnen, Madame«, sagte Gerard. »Sie wurde Ihnen vor vielen Jahren gestohlen.«

»Ja, Maman«, pflichtete Lynette ihm bei. »Gerard hat sein Leben riskiert, um sie für dich zurückzuholen. Du solltest ihm danken.«

Lynette verfälschte die Ereignisse zugunsten ihres geliebten Mannes, indem sie Raynes Beteiligung aussparte, aber Madeline fand, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, ihr zu widersprechen.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, murmelte die Vicomtesse, der Tränen der Rührung über die Wangen liefen.

Der Vicomte sah Gerard an, und seine Stimme klang belegt, als er sagte: »Diese Halskette ist das Einzige, was uns von unserem früheren Leben geblieben ist.«

Madeline verstand, weshalb dies ein gefühlvoller Augenblick für die beide Adligen war. Sie selbst hatte ein Zuhause und ein Heimatland gehabt, weil ihr englischer Vater ihre französische Mutter heiratete und Jacqueline ein Leben als Emigrantin ersparte. Aber Lynettes Eltern hatten es sehr viel schwerer gehabt.

Die Vicomtesse umarmte Gerard und küsste ihn auf beide Wangen. »Mein lieber Junge, das war außerordentlich gut von Ihnen.«

»Es war mir eine Freude, Madame«, antwortete Gerard mit angemessener Bescheidenheit. »Ich wollte mich auf diese Weise für die Ehre bedanken, Ihre wunderschöne Tochter zur Gemahlin zu bekommen.«

Nun verfinsterten sich die Züge des Vicomte wieder. Doch statt einen neuen Schwall Schimpfwörter auszustoßen, biss er die Zähne zusammen.

Rayne kam an Madelines Seite und sagte leise: »Ich würde meinen, die guten Leute sollten ihre Differenzen unter sich regeln. Ellis, haben Sie einen Wagen, mit dem Sie Ihre Braut und ihre Eltern nach Chelmsford bringen können?«

»Ja, Mylord. Meine Kutsche ist ganz in der Nähe untergestellt. Ich kann Ihnen gar nicht genug danken, Lord Haviland.«

»Wie ich bereits sagte, sollten Sie Ihrer Schwester danken.«

Gerard kam zu Madeline und umarmte sie. »Ich danke dir vielmals, Maddie«, flüsterte er ihr zu. »Du bist wahrlich die beste Schwester von allen.«

Madeline war den Tränen nahe, während sie seine Umarmung erwiderte. »Versprich mir nur, dich zumindest für eine Weile nicht in Schwierigkeiten zu bringen.«

Gerard wich einen Schritt zurück und grinste. »Ich werde mich bemühen.«

Dann ließ Madeline ihren vor Glück strahlenden Bruder stehen und reichte Rayne die Hand, der ihr in die Kutsche half. Sie war zuversichtlich, dass Lynettes Eltern nun nachsichtig mit Gerard wären.

Als die Kutsche losfuhr, wandte Madeline sich sofort zu Rayne. »Ackerby war also bereit, dir die Halskette zu verkaufen?«

»Ja. Du musst dir seinetwegen keine Sorgen mehr machen, Madeline. Er wird die ganze Angelegenheit auf sich beruhen lassen.«

»Er schien mir nicht sehr glücklich über das Arrangement. «

»War er nicht. Vor allem nicht, weil ich ihn warnte, sollte er es wagen, dich oder deinen Bruder nochmals zu bedrohen, würde ich ihn erschießen. Aber ich gab ihm einen unterzeichneten Wechsel, der ihn entschädigt, sobald er in London ist.«

»Wie viel hast du ihm geboten?«

Rayne zögerte. »Zehntausend Pfund.«

Madeline hätte beinahe vor Entsetzen aufgeschrien. Ihr Gemahl hatte einen unvorstellbar hohen Preis bezahlt, nur damit Gerard den Segen zu seiner Heirat bekam. »Ich wünschte, es hätte dich nicht so viel gekostet.«

»Das war es wert, um deinen Bruder aus seiner Lage zu befreien. Und bevor du widersprichst, solltest du wissen, dass ich die Halskette als unser Hochzeitsgeschenk an Gerard betrachte.«

Dankbarkeit überkam Madeline. Sie hatte ihrem Bruder eine Chance auf Glück gewünscht, und Rayne hatte sie ihm ermöglicht. Wäre sie nicht längst in ihn verliebt, hätte er spätestens mit seiner Großzügigkeit ihr Herz erobert.

Dennoch wusste sie, dass ihre eigene Chance auf Glück geringer denn je war.

»Ich würde sagen, wir fahren zum Gasthof zurück, holen deine Sachen und begleichen die Rechnung. Außerdem möchte ich mit James sprechen, ehe wir nach London fahren.«

Madeline sah ihn verwundert an. »Wir?«

»Ja«, antwortete Rayne. »Ich habe dringende Geschäfte in London zu regeln, also sollte ich baldmöglichst in der Stadt sein.«

Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken an so viele Stunden allein mit Rayne in einer geschlossenen Kutsche. Aber nach allem, was er für sie getan hatte, durfte sie ihm nicht widersprechen.

Als sie den Gasthof Blue Boar Inn erreichten, ging Madeline gleich nach oben und holte ihre Hutschachtel. Und während Rayne noch mit James sprach, wartete sie an der Kutsche auf ihn.

Sie war tief in Gedanken, als Mrs Pilling mit einem großen Korb in den Hof geeilt kam. »Seine Lordschaft hat Essen für Sie bestellt, Mylady. Und ein paar heiße Ziegelsteine für Ihre Füße.«

Es war überaus rücksichtsvoll von Rayne, für ihr Wohl zu sorgen; andererseits war er ein Gentleman von untadeligem Verhalten, mithin sollte sie die Geste nicht überbewerten.

Die warmen Steine waren ihr höchst willkommen, denn sie fror furchtbar.

Als Rayne sich neben sie auf die Samtpolster setzte, wurde ihr noch eisiger. Nun war der Moment gekommen, den sie fürchtete. Sie konnte keine weiteren Vorwürfe von Rayne mehr ertragen, nicht in ihrer gegenwärtigen Verfassung.

Die Kutsche setzte sich in Bewegung, und sie sahen sich eine endlose Zeit schweigend an.

Dann überraschte Rayne sie, indem er ihr ihre Pistole reichte. »James lässt dir danken, dass er sie benutzen durfte.«

Ihre Verwunderung wurde noch größer, als Rayne schmunzelte. »Ist es nicht dieselbe Situation wie bei unserer ersten Begegnung? In einem Gasthof, wo ich dir deine Pistole zurückgebe, nachdem du sie auf mich gerichtet hast?«

Madeline konnte nicht lächeln oder ihn auch bloß darauf hinweisen, dass sie die Waffe nicht auf ihn gerichtet hatte. Jetzt gerade konnte sie ihre erste Begegnung mit Rayne nur bereuen. Ohne die hätte Madeline sich niemals in ihn verliebt und sich so erbärmlich verwundbar gemacht.

Rayne wies auf den Korb. »Wollen wir nachsehen, was Mrs Pilling uns eingepackt hat? Du musst etwas essen.«

Sie war nicht sonderlich hungrig, obwohl die Gefahr überstanden war. Aber Essen bot eine Ablenkung, und so lugte sie in den Korb. Drinnen waren Brot, Käse, kaltes Fleisch, eine Flasche Wein und eine Kanne heißer Tee.

Madeline knabberte halbherzig an Brot und Käse, während Rayne ein Glas Wein trank.

»Ich muss dich um Verzeihung bitten, Madeline. Mehrfach sogar.«

Sein ruhiges Geständnis ließ sie erstarren.

»Du hättest zu mir kommen sollen, als du von der Lage deines Bruders erfuhrst, aber mehr noch hätte ich deine Gründe akzeptieren müssen. Ich bedaure die Anschuldigungen, die ich gegen dich vorbrachte, meine Liebe. Ich hätte wissen müssen, dass du mich nicht mit einem Liebhaber hintergehen würdest. «

Madeline nagte an ihrer Unterlippe. Meinte Rayne, sie wäre nicht die Art Frau, die einen Liebhaber anziehen könnte, oder glaubte er ihr schlicht, dass sie unschuldig war?

Er war ernst, reumütig beinahe – oder wünschte sie sich nur, das an seiner Miene abzulesen?

»Du hattest Recht«, fügte er hinzu. »Ich hatte Geheimnisse vor dir.«

Sie blickte in seine blauen Augen, und plötzlich war sie gewiss, dass er ihr von seiner Mätresse erzählen wollte.

»Meine Abwesenheit von Riverwood in der letzten Woche hat nichts mit einer Mätresse zu tun, Madeline. Ich habe keine. Vielmehr wurde ich vom Ministerium gebeten, ein Komplott gegen den Prinzregenten aufzudecken.«

»Ein Komplott?«, wiederholte sie nach einer Weile, gestattete sich jedoch noch nicht, erleichtert zu sein.

»Ja. Erinnerst du dich an meinen Freund Will Stokes? Er übernahm heute meine Pflichten, aber in Anbetracht der jüngsten Entwicklungen ist es dringend erforderlich, dass ich sofort nach London zurückfahre. «

»Natürlich«, murmelte Madeline. Rayne hatte wichtige Staatsangelegenheiten vernachlässigt, um ihre Probleme in Maidstone zu lösen, was ihr äußerst unangenehm war.

»Es wäre wohl das Beste, wenn du noch heute Abend nach Chiswick zurückreist«, schlug er vor. »Im Moment kann sich mein Personal dort besser um dich kümmern als ich. Ebenso wie deine neuen Freundinnen.«

Madeline fuhr innerlich zusammen. Sie verstand zwar, warum Rayne sie aus dem Weg haben wollte, denn er musste sich auf seine Arbeit konzentrieren.

»Ja«, pflichtete sie ihm bei und griff nach der ersten Ausrede, die ihr einfiel, »das wäre das Beste. Ich habe morgen zu unterrichten und meine Pflichten schon sträflich vernachlässigt.«

Seinem Gesichtsausdruck nach war es nicht die Antwort, die er sich gewünscht hatte. »Sehr schön. Meine Kutsche bringt dich direkt von London aus nach Riverwood.«

Madeline nickte und legte den Rest ihres Brots in den Korb zurück. Dann verschränkte sie die Arme vor ihrem Oberkörper und blickte zum Seitenfenster hinaus.

Hätte sie nicht wissen müssen, dass sie ihn nicht zur Liebe verführen konnte? Sie trug die Schuld an ihrem gegenwärtigen Kummer, aber auch Rayne traf eine Teilschuld, denn er hatte sie Dinge hoffen und ersehnen lassen, die sie niemals bekommen würde.

Sie rückte von ihm weg. »Ich denke, ich möchte nun ein wenig ruhen«, sagte sie matt. »Ich habe die letzte Nacht wenig geschlafen.«

Anscheinend wollte er widersprechen, doch er bedrängte sie nicht. »Wie du wünschst.«

Eine dunkle Schwere senkte sich auf ihre Brust, als sie sich ganz in die Ecke kauerte.

Zwar gab sie vor zu schlafen, blieb jedoch die ganze Zeit wach. Das rhythmische Schunkeln der Kutsche wurde mehrmals unterbrochen, wenn sie anhielten, um die Pferde zu wechseln.

Stunden später, als es schon länger dunkel war, berührte Rayne sie sacht im Nacken. »Wir sind hier.«

Madeline setzte sich auf, und die Kutsche hielt. Ein Diener öffnete die Tür, und Rayne sah sie schweigend an, bevor er ausstieg.

»Meine Bitte um Verzeihung war mir ernst, Madeline. Aber wir besprechen alles, wenn dies hier vorbei ist.«

Erst jetzt wurde Madeline gewahr, dass er sich in einer höchst gefährlichen Situation befand.

»Bitte, gib acht auf dich«, sagte sie leise.

»Werde ich, Liebes.«

Liebes. Natürlich war es nur eine Floskel, dachte sie, als er die Tür schloss.

Die Kutsche fuhr weiter, und Madeline hatte das Gefühl, die gähnende Leere in ihr würde beständig größer.

Wie überlebt man ein gebrochenes Herz, Maman?, dachte sie … aber ihre Mutter antwortete selbstverständlich nicht.