Vierter Satz

Presto

Mein Bruder sagte: »Du siehst erbärmlich aus, Ritchie. Angst und schlechtes Gewissen stehen dir im Gesicht geschrieben. Das ist nicht gut. Du mußt dich zusammennehmen.«

»Du siehst auch nicht so prima aus«, sagte ich.

Am Morgen, nachdem Tiny nach Berlin geflogen war, hatte ich Werner wieder in der Hotelhalle erblickt. Er war aus Bremen zurückgekehrt. Paradin hatte ihn dann stundenlang verhört. Gegen Mittag war Werner wiedergekommen. Ich hatte mich in meinem Zimmer eingeschlossen und auf Band gesprochen, als der Portier anrief und sagte, mein Bruder wünsche mich zu sehen. Ich hatte gesagt, er solle herauskommen, und hatte schnell das Magnetophon weggeräumt.

Werner machte einen elenden Eindruck. Trotzdem war er es, der mein Aussehen beanstandete. Ich sagte ihm, daß er selbst auch nicht so prima aussehe.

»Ich weiß«, antwortete Werner. »Paradin sagte es ebenfalls. Er mag mich nicht. Dich mag er, Ritchie. Aber Vertrauen hat er, scheint es, zu uns beiden kaum.«

»Kaum.«

»Wie ich höre, wird, man in deinem Fall etwas unternehmen, um diesen Zustand zu ändern?«

»Ja«, sagte ich und dachte an meine nächtliche Autofahrt mit dem Kriminalinspektor Geyer. Ich werde gleich noch einmal von dieser Autofahrt berichten.

»Was ist mit den Tonbändern?«

»Ich habe schon damit angefangen.«

»Laß mal hören.«

Ich versperrte das Zimmer wieder, holte das Tonbandgerät und spielte meinem Bruder den Anfang des ersten Bandes vor. Schon nach kurzer Zeit machte er eine Bewegung des Unmuts. Ich schaltete den Apparat ab.

»Was ist los?«

»Das ist kalter Kaffee«, sagte Werner böse. »Kürzer geht es nicht, was? Du hast offenbar nicht verstanden, wozu ich dich sprechen lasse. Die Bänder sollen verhindern, daß du zu Paradin gehst und etwas verpfeifst. Kapiert?«

»Kapiert.«

»Deshalb muß auf diesen Bändern alles drauf sein, was du getan und warum du es getan hast und wie … nicht nur das jetzt, auch alles frühere! Die Geschichte mit den Büchern, die ich für dich geschrieben habe, der Schwindel, daß du Schriftsteller bist, der Schwindel von Anfang an — von den PK-Mann-Zeiten her. Sprich dich richtig aus, nicht so verschämt. Sprich aus, daß du nie selbst geschrieben hast.«

»Ich habe selbst geschrieben«, sagte ich erbittert. »Ohne dich. Ganze Romane ohne dich.«

»Wie viele? Sag das auch. Sag auch, wie es dann nicht mehr ging. Wie ich für dich weitergeschrieben habe. Wie das war. Und wie das war, als ich nicht mehr für dich weiterschrieb. Sag alles. Meine Auftraggeber haben die besten Erfahrungen mit möglichst ausführlichen Schuldbekenntnissen gemacht … und mit möglichst umfangreichen Dossiers«, sagte Werner. »Denk an meinen Fall. Die Berliner Geschichte. Das Protokoll, das ich damals für die Gestapo schrieb, war auch recht umfangreich. Und welche erstklassigen Dienste leistet es den Herren heute! Du hast jetzt Zeit … mehr als genug. Also erzähl ausführlich, verstanden?«

»Meinetwegen so ausführlich, daß du danach einen Roman schreiben kannst«, sagte ich, und das erheiterte ihn. Übrigens wurde ich im Folgenden bei meinen Tonbanderzählungen tatsächlich fast so ausführlich, wie ich es nun hier, in dieser Niederschrift, geworden bin. Es beruhigte mich paradoxerweise, genauestens zu erzählen — auch über sehr viele Dinge, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Verbrechen standen, das ich begehen sollte. Dieser Monolog auf Band füllte die Leere, die vibrierende Monotonie vieler ereignisloser Stunden und vieler Nächte, in denen ich, nachdem ich überlange schlaflos gelegen hatte, endlich schwitzend Licht machte und aufstand …

Was sich bisher ereignet hatte, war alles andere als schön. Was sich später noch ereignete, war grausig. Trotzdem: Am ärgsten von allem erscheinen mir heute, in der Erinnerung, jene Tage vor der Befreiung Delacortes, diese gottverfluchten Tage, in denen wir darauf warten mußten, daß der Aufseher Scherr Nachtdienst hatte. Das war die Zeit, die wirklich an den Nerven zerrte, die Zeit, in der ich manchmal dachte, es nicht durchhalten zu können. Mein Bruder fragte: »Weshalb hast du eigentlich so viele Tonbänder mitgebracht?«

»Sie gehören alle in die Tasche. Sie waren drin, und ich habe sie drin gelassen.«

»Da muß dein Unterbewußtsein gearbeitet haben«, bemerkte er grinsend.

»Der Drang zu beichten. Beichte, Ritchie, beichte. Ist diese Tasche verschließbar?«

»Ja.«

»Ich möchte die Bänder haben, sobald sie vollgesprochen sind. Halbvolle Bänder sollen hier nicht rumliegen. Man kann nie wissen. Es genügt, wenn du zwei Spuren besprichst. Alle vier, das würde zu lange dauern. Und wir haben ja genug.«

Also sprach ich in der Folgezeit die Bänder immer nur beidseitig voll, und gleich danach gab ich sie meinem Bruder, eines nach dem andern. Wären sie mir, als ich aus Kairo floh, nicht gestohlen worden, dann müßte ich jetzt nicht diesen Bericht schreiben, dann hätte die Nachrichtenagentur »American Press Service« ihre Sensation gehabt — und ich säße nicht in Untersuchungshaft, sondern als freier Mann mit falschem Paß in Buenos Aires. Das war ja mein Plan gewesen. Leider war er mißglückt. Wer immer die Bänder heute besitzt, besitzt sehr viel Macht — allerdings nicht mehr lange. Denn mit diesem Bericht kann Paradin ebensoviel anfangen, wenn nicht mehr, wie mit den Bändern, die ich vollsprach.

Sie hätten mich damals umbringen müssen, als ich floh. Sie hätten verhindern müssen, daß ich noch einmal zum Sprechen oder Schreiben kam. Sie hatten großes Pech. Denn sie gaben sich gewiß alle Mühe, mich umzubringen. Und zwar wirklich — nicht nur zum Schein, wie sie es in Treuwall taten. Da hatten sie meine Ermordung auf Samstag, den 26. November, vormittags 10 Uhr 42 festgesetzt und mir aufgetragen, auf die Minute pünktlich zur Stelle zu sein, damit auch alles klappte. Eindringlich aufgetragen hatte mir das der Kriminalinspektor Geyer in jener Nacht.

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Breitbeinig standen die beiden Polizisten in weißen Mänteln mitten auf der Fahrbahn, angestrahlt von den Scheinwerfern ihres Autos, das auf der falschen Straßenseite parkte. Ich hatte diese Sperre hinter einer Kurve der nächtlich leeren B 4 mit Vollgas durchfahren wollen, aber der Inspektor Geyer hatte mit einem einzigen Handgriff den Zündschlüssel im Schloß umgedreht.

Der Motor setzte aus. Ohne Antriebskraft, gehemmt noch durch den Gang, der im Getriebe steckte, rollte der Wagen auf die beiden Polizisten zu. Ich brauchte gar nicht zu bremsen, der Thunderbird hielt von selbst. Einer der Polizisten blieb vor dem Wagen stehen, der andere kam heran. Ich kurbelte das Fenster an meiner Seite herab und dachte, daß nun wenigstens alles vorüber war. Aus und vorbei. Warum hatte Geyer den Motor abgedreht? Wir wären durchgekommen, vielleicht. Ich konnte nicht richtig denken.

»’n Abend«, sagte der Polizist. Er hatte ein langes, mageres Gesicht und oben vorne viele goldene Zähne.

»Abend, Kamerad«, sagte Geyer. »Gut gemacht. Auf die Minute.«

»Ihr seid ja auch pünktlich auf die Minute!«

Der Polizist, der keiner war, sah mich neugierig an.

»Wollte durch, was?« fragte er Geyer.

»Ja«, sagte der. »Das ist ein ganz Wilder, ist das. Ausgezeichnet. Wirklich«, sagte Geyer und klopfte mir auf die Schulter, »das war ganz ausgezeichnet. Das Verkehrteste natürlich, was Sie normalerweise hätten tun dürfen. Aber mit mir im Wagen … und als impulsive Reaktion … Wir können zufrieden sein mit Ihnen, sehr zufrieden.« Er sagte zu dem falschen Polizisten: »Nun zieht die Mäntel aber schnell wieder aus und haut ab hier.«

»Ist gut. Tschüss einstweilen.«

Der Polizist ging von meinem Wagenfenster weg und zog sich im Gehen den weißen Mantel aus. Er trug einen braunen alten Anzug darunter. Die Hosenbeine steckten in Stiefeln. Auch der zweite Polizist zog den Mantel aus. Er trug Breeches und eine Kordsamtjacke, und er hatte den schweren Quadratschädel eines Bauern. Die beiden stiegen in ihren Wagen und fuhren sofort los. Der am Steuer hupte kurz.

»Also weiter«, sagte Geyer und lachte amüsiert.

»Sehr komisch«, sagte ich, den Thunderbird startend.

»Notwendiger Test. Schließlich müssen wir ja vorher wissen, wie Sie reagieren, nicht?« Er holte tief Luft. »Wirklich, ich fühle mich zwanzig Jahre jünger. Gott, haben wir in Wien Dinger gedreht!«

Ich fuhr nun wieder, und im Rückspiegel tanzten wieder die Lichter eines Wagens — vermutlich war Jens aufgetaucht.

»Verflucht viele Helfer haben Sie«, sagte ich.

»Ah ja«, sagte Geyer. »Massenhaft, mein Lieber. Seien Sie ohne Sorge. Wird ein Kinderspiel, das Ganze. Behalten Sie nur die Nerven. Beziehungsweise verlieren Sie sie immer so in diesen kleinen Kurzschlußreaktionen. Dann kann nichts schiefgehen.«

»Wenn Paradin uns nicht reinlegt«, sagte ich.

»Was heißt das?«

Ich berichtete von meinem Gespräch mit dem Oberstaatsanwalt. Geyer hörte aufmerksam zu. Das weiße Band der Straße flog uns entgegen, ich fuhr nun wieder schneller, und da war rechts der dichte Wald, und da waren links Wacholdergestrüpp und Moor und Torf und Brackwasser, ich konnte es riechen, und ich dachte, was sich alles ereignet hatte, seit ich das erstemal im Schneegestöber diese Straße nach Norden hinaufgefahren war, und wie wenig Zeit dazwischenlag, wie wenig Zeit. Tiny war nun schon in Berlin gelandet. Zeit, dachte ich, ist eine unheimliche Sache.

»Also Paradin meint, es müßte Ihnen nun irgend etwas zustoßen, nachdem er den Dienstplan verändert hat«, sagte Geyer, als ich mit meinem Bericht fertig war.

»Ja.«

»Sie meinen, daß er Sie verdächtigt?«

»Ich bin nicht sicher. Wir kennen uns lange. Aber es ist möglich. Immerhin, was Delacorte da getan hat, das war ja wirklich ungewöhnlich.«

»Sollte es auch sein.«

»Was heißt das?«

Geyer lachte wieder.

»Na, wir wollten natürlich Aufmerksamkeit und Verdacht ein wenig auf Sie lenken. Es ist nie gut, wenn eine Person in einer solchen Geschichte außerhalb jedes Verdachts steht. Dazu ist Paradin viel zu gerissen. Jetzt müssen wir den Verdacht, den er gegen Sie hat, nur noch entkräften.«

»Wie wollen Sie das tun?«

»Na, es wird Ihnen eben etwas geschehen«, sagte Geyer. Er kurbelte das Fenster an seiner Seite herab und holte tief Atem. »Diese Luft«, sagte er, »wie ich diese Luft liebe. Wunderbare Landschaft, die Heide, wirklich wunderbar.«

»Was wird geschehen? Woran denken Sie?«.

»An einen Mord«, sagte Geyer träumerisch, »Mord hat etwas unerhört Überzeugendes.«

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Die Stadt Treuwall liegt auf fünf Hügeln. Der Gebäudekomplex des Amts- und Landgerichts, zusammen mit dem Untersuchungsgefängnis, erhebt sich auf einem von ihnen. Das Gerichtsgebäude war im Mittelalter einmal Rathaus, es besitzt prächtige gotische Tore und Giebel, an den Fassaden zahlreiche Wappen und Figuren, und im Erdgeschoß offene Säulenhallen, kleinen Lauben ähnlich — darinnen wurde einst Gericht gehalten, wie man mir erzählte. Das Gefängnis ist ein Bau aus dem 19. Jahrhundert. Vor dem Landgericht steht ein Springbrunnen aus dem 16. Jahrhundert, der in der Manier der Frührenaissance verschiedene Bronzegestalten und skurrile Wasserspeier zeigt. Die Straße fällt hier stark ab, sie besitzt Katzenkopfpflaster und ist nicht sehr breit. Entsprechend dicht ist ständig der Verkehr. Gegenüber dem Landgerichtsgebäude hat man in einem schönen alten Haus mit Staffelgiebel die Ratsbücherei untergebracht, die achtzigtausend Bände umfaßt, darunter etwa vierzehnhundert Inkunabeln und dazu beinahe neunhundert Handschriften, sehr wertvolle auf Pergament, aus dem 11. bis 15. Jahrhundert.

An diesem Samstag war das Wetter klar und kalt. Nordwind wehte, und eine kraftlose Sonne schien. Alle Dinge hatten feste, scharfe Umrisse. Ich kam die Heiligengeiststraße — so heißt die Straße zwischen Ratsbücherei und Landgericht — zu Fuß herauf. Durch die Altstadt konnte man so den Weg vom Hotel sehr abkürzen. Aus einer öffentlichen-Telefonzelle hatte ich die Zeitansage angerufen und danach meine Armbanduhr gestellt. Um 10 Uhr 40 erreichte ich die Ratsbücherei. Hier bückte ich mich und machte mir an einem Schuhband zu schaffen, das ordnungsgemäß geknüpft war. Aber ich mußte noch eine Minute hinbringen. Um 10 Uhr 41 überquerte ich die Heiligengeiststraße, passierte den Brunnen mit seinen Wasserspeiern, die kein Wasser mehr spien, weil es schon zu kalt dazu war, ließ Autos an mir vorüberrollen — hier herrschte viel Verkehr — und erreichte den Gehsteig an der Fassade des Landgerichts fünfzehn Sekunden vor 10 Uhr 42. Ein grauer Peugeot mit gänzlich unleserlich verdreckten Nummernschildern glitt aus einer Parklücke und rollte mir mit aufheulendem Motor entgegen. Das Fenster neben dem Fahrer war herabgelassen. Als ich den Peugeot sah, ging ich noch drei Schritte, dann warf ich mich blitzschnell zu Boden — im gleichen Moment, in welchem aus dem an mir vorbei talwärts fahrenden Wagen drei Feuerstöße aus einer Maschinenpistole abgegeben wurden. Obwohl ich darauf vorbereitet gewesen war, hatte ich doch ein verflucht ungemütliches Gefühl, als ich die Detonationen und das Einschlagen der Geschosse in die Mauer neben mir hörte. Steinbrocken fielen auf mich herab. Männer schrien durcheinander, Frauen kreischten, Hupen ertönten. Aus einer Seitengasse glitt, wie ich auf dem Boden liegend sah, ein riesiger Möbeltransportwagen und versperrte fast die ganze Straße. An eine Verfolgung des Peugeot war nicht zu denken. Ich ließ mich auf das Gesicht fallen. Soweit war wieder einmal alles gutgegangen.

Eine halbe Stunde später saß ich dann Paradin gegenüber.

Ein Arzt hatte mich angesehen und unverletzt gefunden — bis auf den Schock natürlich, aber der war nicht allzu schlimm. Es wäre zu anstrengend gewesen, einen allzu schweren Schock zu simulieren, und Geyer hatte auch nicht genau gewußt, wie man das tut und was man dann tut. So klapperte ich von Zeit zu Zeit mit den Zähnen, zitterte und bewegte ruhelos die Hände. Dann und wann zuckte ich auch mit dem ganzen Körper. Ich hoffe, daß das genügte.

Außer Paradin und mir befanden sich noch der Kriminalassistent Olsen und der kräftige Inspektor Lansing in dem komfortabel eingerichteten Büro des Oberstaatsanwalts. Andere Kriminalbeamte vernahmen die wenigen aufgeregten und verschreckten Bürger, die Zeugen des Anschlags gewesen waren. Eine Handvoll Kugeln hatte man aus der Fassade gekratzt und Aufnahmen vom Tatort gemacht, und Polizisten hatten mir viele Fragen gestellt.

Olsen sprach jetzt. Seine Aussage war so unbefriedigend wie meine eigene. Er war, hinter mir her, die Heiligengeiststraße heraufgekommen und wollte eben, mir nach, den Damm überqueren, als auf der anderen Straßenseite ein Peugeot vorbeifuhr. Aus diesem Wagen wurden die Schüsse abgegeben. Zwei Männer waren im Auto gewesen, glaubte Olsen. Er hatte nicht gut in den Peugeot hineinsehen können — der blendenden Sonne wegen. Die Nummernschilder waren vollkommen verschmutzt gewesen.

»Die Burschen haben ohne Zweifel auf Herrn Mark gewartet«, sagte Olsen. Er sprach aufgebracht und so, als wäre ein Mordversuch an ihm begangen worden, nicht an mir.

»Regen Sie sich nicht so auf, Olsen«, sagte Paradin.

»Entschuldigen Sie! Das ist das erstemal, daß mir so etwas passiert, seit ich für Sie arbeite! Ich wollte dem Wagen in die Reifen schießen, aber das ging nicht — zu viele Passanten. Verfluchtes Pech. Tut mir wirklich leid.«

»Schluß damit«, sagte Paradin. »Noch Fragen, Lansing?«

»Ja, eine«, sagte der Inspektor. Er wandte sich an mich. »Wann warfen Sie sich zu Boden? Ich meine: in welchem Moment?«

»Ich sah, wie sich der Lauf einer Waffe aus dem offenen Fenster des Peugeot schob. Da warf ich mich hin.« Geyer hatte mir gesagt, daß ich mich in diesem Moment hinwerfen müsse, weil der Horstführer unmittelbar danach dreimal schießen werde. Wer am Steuer des Wagens gesessen hatte, wußte ich nicht. Den Horstführer hatte ich erkannt.

»Sahen Sie den Schützen?«

»Nein.«

»Sie waren sehr geistesgegenwärtig, Herr Mark«, sagte Lansing.

Ich antwortete gereizt: »Wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn ich langsamer reagiert hätte?«

»Entschuldigen Sie«, sagte Lansing sanft. »Sie sind immer noch sehr erregt, wie ich sehe. Keine Fragen mehr.«

»Dann möchte ich Sie bitten, mich mit Herrn Mark allein zu lassen«, sagte der zierliche Paradin. »Wie er erklärte, hat er mir etwas mitzuteilen. Sie bleiben in der Nähe, Olsen.«

»Jawohl, Chef.« Der junge Mann erhob sich. »Es tut mir wirklich verflucht leid«, sagte er.

»Nun hören Sie schon auf«, sagte ich, »Sie können doch überhaupt nichts dafür.«

Die beiden so verschiedenen jungen Männer, deren Väter als Kriegsverbrecher von Polen und Tschechen gehängt worden waren, verließen gemeinsam den Raum.

»Nun?« Paradin betrachtete mich unausgesetzt. Die Brille saß auf seiner Nasenspitze, doch diesmal schob er sie nicht zurück, sondern sah mich eulenhaft über die Gläser hinweg an. »Was haben Sie mir zu sagen, Ritchie?«

Ich hatte unterdessen auf meine Armbanduhr gesehen und festgestellt, daß es mittlerweile 11 Uhr 07 geworden war. Paradin sollte erst um 11 Uhr 10 seinen Anruf erhalten, also mußte ich die Sache noch etwas hinziehen.

»Mir ist schlecht. Kann ich ein Glas Wasser bekommen, bitte?«

Ich bekam ein Glas Wasser und trank langsam, in kleinen Schlucken.

11 Uhr 08.

»Also, Ritchie?«

»Ja, also, ich wurde heute vormittag angerufen. Im Hotel.«

»Von wem?«

»Das weiß ich nicht. Er hat seinen Namen nicht genannt.«

»Also eine fremde Stimme?«

»Fremde Stimme, ja.« Es war die Stimme des Horstführers gewesen.

»Der Mann sagte, ich hätte durch meine Anzeige Delacortes ein schweres Verbrechen begangen. Ich würde den Tod verdienen. Ich könnte ihm nur entgehen, wenn ich …«

Das Telefon läutete.

11 Uhr 10, genau. Auf die Burschen war Verlaß.

Paradin hob ab und meldete sich. Gleich darauf verengten sich seine Augen zu Schlitzen. Er schob die Brille hoch und reichte mir den Hörer, während er einen zweiten nahm und ans Ohr hielt.

»Ja?« sagte ich.

Die Stimme des Horstführers erklang: »Na, haben wir Ihnen zuviel versprochen? Sie sind also zu Gericht gegangen. Wollten alles erzählen. Haben bereits alles erzählt, wie? Sie brauchen nicht zu antworten. Ist ja klar. Und auch egal. Hören Sie, Mark, geben Sie sich keinen Illusionen hin. Wir haben nicht danebengeschossen, vorhin. Wir hätten Sie sehr wohl auch treffen können. Das sollte nur unsere Warnung von heute früh unterstreichen. Von der Sie Paradin bereits erzählt haben.«

»Ich habe nichts erzählt«, sagte ich mühsam. Ich gab mir Mühe, es besonders mühsam zu sagen, mit Schlucken und Atemholen.

»Aber Sie werden es noch tun. Paradin hört dieses Gespräch ab, klar. Mark, es ist uns heilig Ernst damit! Richten Sie sich danach ein, wenn Sie noch ein Weilchen leben wollen. Das nächstemal schießen wir nicht daneben. Herr Paradin mag inzwischen immer schon sein Testament machen. Bis später.«

Die Leitung war tot.

Paradin und ich legten die Hörer hin.

»Also, was war das heute früh?« fragte der kleine Mann und begann im Raum herumzuhinken. Er sah mich immer noch unentwegt an, und das war mir nicht angenehm.

»Der Kerl, der da eben anrief, hat auch im Hotel angerufen«, sagte ich.

»Und?«

»Und er sagte: Dafür, daß ich Delacorte angezeigt habe, verdiene ich …«

»Das sagten Sie schon. Weiter.« Seine Stimme gefiel mir gar nicht.

»Und dann sagte der Kerl: Sie können sühnen.«

»Sühnen … das Wort sagte er?«

»Ja.« Er hatte es wirklich gesagt.

Paradin lachte.

»Ich finde es gar nicht so komisch«, sagte ich aufgebracht.

»Entschuldigen Sie.«

»Auf Sie ist nicht eben geschossen worden! Aber warten Sie ab. Sie stehen auch auf der Liste der Brüder! Sie vor allem! Warten Sie ab, bis es Ihnen an den Kragen geht! Dann werden Sie nicht mehr lachen!«

»Um mich machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin solche Anrufe gewöhnt … seit zwanzig Jahren. Natürlich, für Sie war das was Neues. Also, Sie können sühnen.«

»Ja.«

»Wie?«

»Das sagte der Kerl nicht. Ich soll mich bereit halten. Sie haben eine Aufgabe für mich, hat er gesagt. Wenn ich die erfülle … und Ihnen kein Wort davon sage, daß ich angerufen wurde …« Ich warf den Kopf zurück. »Sie sehen, ich halte mich genau an das, was der Kerl mir aufgetragen hat. Wir haben auch schon die ersten Resultate. Aber Sie prophezeiten mir ja so was«, fügte ich unauffällig hinzu. Ich hoffte, daß ich es unauffällig hinzufügte.

»Sie meinen, ich habe prophezeit, daß etwas passieren wird, jetzt, wo ich den Dienstplan geändert habe?« fragte Paradin.

Ich nickte und trank wieder Wasser und fuhr mir mit einem Tuch über die Stirn.

»Prompt ist etwas passiert«, sagte Paradin und nickte. »Sehr prompt.« Er sah mich lange an. »Man könnte fast sagen: zu prompt.«

Jetzt mußte ich wütend werden.

Ich sprang auf.

»Was wollen Sie damit sagen? Ich bringe Sie auf die Spur von diesem Delacorte … und jetzt verdächtigen Sie mich? Das ist unglaublich! Das ist …«

»Setzen Sie sich«, sagte Paradin, sehr leise. Er sah mich so merkwürdig an, daß ich mich setzte.

»Und brüllen Sie hier nicht herum. Dazu besteht kein Anlaß.«

Danach war es eine Weile still in dem schönen Zimmer, aus dessen großen Fenstern man über die Häuser von Treuwall hinwegsah, bis hin zu den sanften Hügeln der Heide und den beiden Bergen in der Ferne, die im Sonnenlicht lagen.

Es klopfte.

»Ja!« rief Paradin.

Der negroide Aufseher Scherr, in Uniform, kam herein. Er trug eine Akte. Ich hatte stets damit gerechnet, daß man ihn so ganz unauffällig einmal hier hereinkommen lassen würde, wenn ich da war, und darum erschrak ich auch nicht. Ich betrachtete Scherr, der mich keines Blickes würdigte, mit aufgerissenen Augen und so, wie Geyer es mir empfohlen hatte.

»Das Verhör mit dem Häftling Delacorte von gestern, Herr Oberstaatsanwalt«, meldete Scherr stramm. »Der Herr Untersuchungsrichter hat gesagt, Sie wollen es gleich haben.«

»Danke sehr, mein Lieber. Legen Sie es auf den Schreibtisch.«

Scherr salutierte.

»Wiedersehen, Herr Oberstaatsanwalt!«

»Wiedersehen.«

Scherr marschierte an mir vorbei zur Tür. Ich sah ihm nach. Die Tür schloß sich.

»Was ist los? Haben Sie einen Geist gesehen, Ritchie?«

»Dieser Mann …«

»Aufseher im Gefängnis drüben. Halber Neger.«

»Ja … eben …«

»War es etwa der Mann, der Sie überfallen hat? War es Ihr halber Neger?« Ich schüttelte den Kopf.

»Bestimmt nicht?«

»Ganz bestimmt nicht«, sagte ich. »Mein Mann war nicht so groß und nicht so breit. Und sein Haar war auch nicht lockig. Er hatte ein schmales Gesicht. Nein, er war es auf keinen Fall. Ich bin nur so erschrocken, weil da plötzlich wieder so eine Type auftauchte. Ich bin anscheinend wirklich noch nicht auf dem Damm …«

»Jaja«, sagte Paradin. Dann entstand wieder eine lange Pause.

»Ritchie«, sagte Paradin endlich, »ich bin Ihr Freund. Ich glaube, im Moment haben Sie keinen größeren.«

»Sie verdächtigen mich«, sagte ich bockig. »Weshalb? Warum?«

»Weil vieles seltsam ist, was um Sie herum geschieht. Darüber sprachen wir schon einmal … Ritchie, in Erinnerung an unsere alte Freundschaft, und bevor es zu spät ist: Haben Sie mir nichts zu sagen?«

»Zu sagen?«

»Bedrückt Sie etwas? Werden Sie erpreßt?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Werden Sie erpreßt?«

»Natürlich nicht. Bedroht, aber das wissen Sie ja.«

»Das meine ich nicht.«

»Dann verstehe ich Sie nicht.«

Er kam nahe heran und sah mir ins Gesicht. Weil er so klein war, mußte er sich kaum bücken.

»Das ist hier eine einzige große Theatervorstellung«, sagte Paradin. »Ich weiß nicht, welche Rolle Sie in ihr spielen. Ich fürchte, keine schöne. Ritchie, haben Sie in der Vergangenheit irgend etwas getan, womit man Sie erpressen könnte?«

»Nein.«

»Bestimmt nicht?«

»Bestimmt nicht!«

»Und Sie wollen mir keine Erklärung für Delacortes seltsames Verhalten Ihnen gegenüber geben?«

»Wollen? Ich kann nicht!«

Der Plan dieses verfluchten Geyer war gut, dachte ich. Ich mußte jetzt verdächtiger denn je erscheinen. Verdächtig hatte ich für Paradin von Anfang an sein müssen. Ich, sein Freund. Ich, bei dem er sich kein Motiv für einen Verrat zu denken vermochte. (Obwohl er mit seinem »Könnte man Sie erpressen?« ganz nahe an die Wahrheit herangekommen war.) Ich, der Delacorte angezeigt hatte. Darum Delacortes »Theater«, wie Paradin es nannte. Der Besuch im »Kaiserhof«. Die Danksagung. Das Schenken der Partitur. Auf mich sollte sich die ganze Aufmerksamkeit konzentrieren. So war ich einerseits an Geyer gefesselt, und andererseits konnte so der Plan ungestört ablaufen. Alles, was zu besprechen gewesen war, jede Einzelheit, hatten Geyer und ich in jener Nacht, da ich Tiny zum Flughafen gebracht hatte, miteinander besprochen. Und als Verbindungsmann gab es immer noch Olsen, falls sich in letzter Minute etwas änderte. Ich würde nun — bis knapp vor Beginn der Aktion — gänzlich isoliert und inaktiv bleiben, mit dem ganzen Verdacht Paradins und der Polizei auf mir. Kein schlechter Plan, wirklich nicht. Mein Bruder konnte inzwischen ungestört seine Vorbereitungen treffen. Alle konnten ihre Vorbereitungen treffen.

»Ich habe Sie sehr gerne, Ritchie«, sagte Paradin seufzend, und dabei nahm er seine Humpelwanderung wieder auf. »Es tut mir sehr leid, daß Sie … daß Sie in eine solche Lage gekommen sind. Noch könnte ich Ihnen helfen, wenn Sie sich entschließen würden, mir alles zu erzählen.«

»Ich habe Ihnen alles erzählt«, sagte ich böse.

»Schade«, sagte Paradin und zuckte die Schultern. »Sehr schade. Es ist Ihnen doch klar, daß es später für mich zu spät sein wird, Ihnen zu helfen.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte ich zornig.

»Nein, natürlich nicht«, sagte Paradin, und sein schmales Gesicht trug plötzlich einen müden, angewiderten Ausdruck. Er wandte sich ab und stand reglos da, klein, gebrechlich, mit gesenktem Kopf.

»Wenn ich wieder angerufen werde, wenn die Kerle irgend etwas von mir verlangen, melde ich es Ihnen natürlich sofort«, erklärte ich trotzig.

»Ja«, sagte Paradin, mir den Rücken wendend, »natürlich, Ritchie. Sie melden mir alles sofort. Auf Sie kann ich mich verlassen, das weiß ich. Jetzt weiß ich es genau.«

Ich dachte erbittert: Eine große Idee ist das, die Geyer und seine Freunde da hatten. Allen Verdacht, alle Aufmerksamkeit, alles Mißtrauen auf mich! Ich war für diese Rolle die geeignetste Figur im Spiel. Ich war — in meiner Wut und Bewunderung, meiner Benommenheit und Angst fiel mir aus meiner Dolmetscherzeit zuerst das englische Wort ein — the bait.

The bait war ich, sollte ich sein.

Der Köder. Der Lockvogel. Der Angelwurm.

The bait eben.

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Am Samstag morgen wurden Vanessa fünfundzwanzig rosa Nelken gebracht. Es war ein Fleurop-Auftrag aus Paris. Die Frankfurter Blumenhandlung hatte noch eine Nachricht des Absenders notiert: »Très cordialement, Panos.«

Mit diesem Blumenstrauß tanzte Vanessa — das alles erfuhr ich später — vor Glück durch ihre ganze Wohnung. Sie lachte und weinte. Dann rief sie Minski an und erzählte ihm außer Atem von den Blumen, die Panos geschickt hatte. Minski sagte, er freue sich sehr mit ihr. (»Aber ich hab mir natürlich gleich ausgerechnet, daß sie uns Schwierigkeiten machen wird«, sagte er mir, als wir uns dann wiedersahen. »Und prompt hat sie ja auch gleich darauf welche gemacht.«) Nach Minski rief Vanessa mich in Treuwall an, aber ich war nicht mehr im Hotel, ich war schon unterwegs zum Landgericht, vor dem pünktlich um 10 Uhr 42 ein Mordanschlag auf mich ausgeführt werden sollte.

Vanessa verbrachte eine halbe Stunde damit, die Nelken zu beschneiden, zu bewundern, eine passende Vase und einen besonders schönen Platz in der Wohnung für sie zu suchen. Vanessa war so aufgeregt, daß ihr Herz schmerzhaft klopfte. Sie trank niemals am Tag, aber an diesem Samstag brach sie mit jahrelangen Gewohnheiten und öffnete eine halbe Flasche Sekt. Als sie das zweite Glas getrunken und sich ein wenig beruhigt hatte, klingelte es. Vanessa, noch im Morgenrock und ungeschminkt, öffnete. Vor ihr stand eine attraktive brünette und grünäugige junge Frau, deren Gesicht einen katzenhaften Ausdruck besaß. Yvonne Rending, die zweite Frau von Vanessas Vater, hatte sich kaum verändert, seit Vanessa sie zum letztenmal gesehen hatte. Sie machte einen bittenden und verstörten Eindruck.

»Guten Tag, Britt«, sagte sie. »Entschuldige den Überfall. Darf ich hereinkommen?«

Vanessa war überrumpelt. Sie war auch ein klein wenig beschwipst und immer noch außer sich vor Glück über die Nelken, die Panos geschickt hatte und die nun auf einem Tischchen im Wohnzimmer standen.

»Bitte«, sagte sie verwirrt, »komm herein … entschuldige, ich bin noch nicht angezogen … Was ist passiert? Etwas mit Vater?«

»Ja«, sagte die zweite Frau Rending.

»Was?«

»Er ist gestern nachmittag mit einem totalen Nervenzusammenbruch in eine Hamburger Klinik eingeliefert worden.« Yvonne Rending betrat die Wohnung und glitt dabei aus ihrem Ozelotmantel, den sie über einen Stuhl fallen ließ. Sie trug ein zyklamenfarbenes Kostüm. Jetzt erst bemerkte Vanessa, daß ihre Stiefmutter sehr bleich unter dem sorgfältigen Make-up war und daß ihre Hände zitterten. Yvonne Rending setzte sich auf eine Couch im Wohnzimmer, kreuzte die schönen Beine, holte eine Zigarette aus einem goldenen Etui und zündete sie mit zitternden Fingern an.

»Nervenzusammenbruch?« wiederholte Vanessa, überrascht darüber, daß die Mitteilung sie doch erschreckte.

»Es ging ihm schon die ganze letzte Zeit über elend … wie du dir wohl denken kannst. Er hatte viel mitzumachen. Ich auch. Aber das weißt du ja. Das hast du ja gewollt« Yvonne blies Zigarettenrauch aus. »Du hast genau gewußt, was du wolltest. Nun, du hast es erreicht.«

Vanessa sagte stockend: »Wie ist es passiert?«

»Reporter«, sagte ihre Stiefmutter. »Die Reporter wichen nicht mehr von seiner Seite. Sie verfolgten ihn ins Büro, sie fuhren mit ihm mit, wenn er heimkehrte, sie lauerten vor unserer Villa. Sie fotografierten uns andauernd. Es werden dieselben gewesen sein, die auch schon bei dir waren.«

»Ich habe alle hinausgeworfen.«

»Das haben wir auch getan. Aber sie erschienen immer wieder. Sie riefen an. Sie baten und drohten. Zuletzt bekam einer schweren Streit mit deinem Vater … gestern. Er sagte, er hätte genügend Fotos, um eine Skandalgeschichte loszulassen, auch wenn wir ihm kein Wort erzählen … und du auch nicht. Ein Mann von einer Illustrierten. Nachdem er gegangen war, eine Stunde später … hatte dein Vater dann den Zusammenbruch.« Yvonne fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht, es wirkte wie eine theatralische Geste, aber sie hatte wirklich Tränen in den Augen. »Britt, der Reporter sagte, er hätte auch Fotos von dir … er hat sie in den Schaukästen vor diesem Lokal fotografiert! Wenn die Geschichte erscheint, sind wir erledigt. Vollkommen erledigt! Dann spricht kein Mensch in Hamburg mehr auch nur ein Wort mit uns. Dann hast du uns auf dem Gewissen!«

»Darauf habe ich lange warten müssen«, sagte Vanessa. »Jetzt ist es soweit.«

»Aber wenn ich dich bitte … wenn du an deinen schwerkranken Vater denkst … weitere Aufregungen können sein Tod sein … Britt, sei doch ein Mensch!«

Vanessa schwieg.

Yvonne rang die Hände.

»Es kann dir doch nicht gleich sein, was mit deinem Vater geschieht. Ich will nicht von mir oder meinem Sohn reden, ich weiß, du haßt uns beide, aber dein Vater, Britt, dein Vater …«

»Den hasse ich auch.«

»Er ist nur noch ein Wrack! Nur noch ein Wrack, verstehst du? Meinst du, es hat sich nicht längst in Hamburg herumgesprochen; was du treibst und daß dein Vater es nicht unterbindet? Daß er dazu schweigt? Meinst du, da kursieren nicht bereits seit langem die bösartigsten Gerüchte?«

»Keine Gerüchte, die Wahrheit«, sagte Vanessa. Sie sah ihre schöne Stiefmutter an. So lange hatte sie sich auf diese Stunde gefreut, hatte sie diese Begegnung herbeigesehnt, und nun, da es soweit war, fühlte sie sich unsicher und ängstlich. Sie blickte zu den rosa Nelken. Am Dienstag kam Panos …

»Du sagst, von mir werden auch Fotos erscheinen?« fragte Vanessa. »Selbstverständlich! Damit starten sie die Geschichte doch überhaupt! Du bist der Schlager! Ein fast nacktes Mädchen … so nackt, wie es eben noch erlaubt ist … und Thomas Rending!«

Auf einmal kam Panik über Vanessa.

»Wann kommt die Illustrierte heraus?«

»Weiß ich nicht. Sie werden das natürlich so schnell wie möglich bringen … nächste Woche vielleicht schon …«

»Wie kann man verhindern, daß diese Reportage erscheint?« fragte Vanessa. In ihrem Gesicht zuckte es.

»Was?« Yvonne starrte sie an.

»Wie kann man es verhindern?«

»Ich … willst du es denn verhindern?«

»Ja.«

Yvonne sprang auf, eilte zu Vanessa und versuchte, sie zu umarmen und zu küssen. Vanessa stieß sie brutal fort. Sie warf sich mit einer wilden Bewegung die blonden Haare aus der Stirn.

»Rühr mich nicht an! Ich tue es nicht für euch! Ich tue es für mich! Los, wie kann man es verhindern? Du warst doch sicher schon bei euerm Anwalt …«

»Ja …«

»Und was sagt der?«

Yvonne stammelte: »Er sagt, man kann es nur verhindern, wenn der Veranstalter protestiert.«

»Wenn wer protestiert?«

»Der Veranstalter … der Mann, der dich engagiert hat …«

»Minski. Und wogegen soll der protestieren?«

»Dagegen, daß deine Bilder veröffentlicht werden …«

»Das kann er doch nicht!«

»Das kann er! Nach dem neuen Urheberrecht kann er das, sagt mein Anwalt. Du hast diesem Mann, diesem …«

»Minski.«

»Du hast diesem Minski deinen Körper verkauft. Oder vermietet. Entschuldige, so hat der Anwalt sich ausgedrückt. Nun hat Minski das Recht, zu verbieten, daß ohne seine Zustimmung dein Körper auf Bildern oder Fotos oder in Filmen gezeigt wird … Dazu mußt du ihn bringen … du mußt es versuchen, bitte, bitte! Du kannst von mir haben, was du willst, Britt .. meinen ganzen Schmuck … meine Pelze … Geld … ich verzichte auf meinen Erbteil … alles kannst du haben … aber, ruf diesen Minski an … Wenn er protestiert, können sie deine Fotos nicht bringen … dann fällt die Reportage ins Wasser … Aber das muß schnell gehen … schnell, sonst ist es zu spät, hörst du?«

»Halt den Mund«, sagte Vanessa heiser.

Panos, dachte sie. Er darf mich nicht so in einer Zeitschrift sehen. Ich darf jetzt überhaupt nicht mehr auftreten. Daß ich daran noch nicht gedacht habe. O Gott, hoffentlich versteht Minski das alles …

Vanessa sprang auf und stürzte zu dem weißen Telefon, das auf einer Kommode neben dem Tischchen mit den rosa Nelken stand.

___________

Sieben Tage habe ich mit einer fiebrigen Grippe im Revier gelegen. Nun bin ich, noch etwas klapprig, wieder auf den Beinen und in meiner Zelle. Wachtmeister Stalling hilft mir, das Bett frisch zu überziehen, und dabei macht er seinem betrübten Herzen Luft.

Nämlich: Gestern, am Mittwoch, dem 10. Mai, hätte in Nürnberg, in den Messehallen, eine außerordentliche Bundesversammlung der NPD stattfinden sollen. In der Versammlung wollte man unter anderem einen neuen Vorstand wählen, nachdem der bisherige Vorsitzende Thielen freiwillig ausgetreten ist und eine neue Partei, die Nationale Volkspartei (NVP), gegründet hat. Rund zweieinhalbtausend Mitglieder aus allen Teilen der Bundesrepublik kamen nach Nürnberg. Die Messehallen-GmbH hatte ihnen den Versammlungsort bereits vermietet. Auf Beschluß des Nürnberger Stadtrats, der Mehrheitsgesellschafter der Messehallen ist, wurde der Vertrag jedoch gekündigt. Dagegen hat die NPD protestiert. Eine Einstweilige Verfügung, die Hallentore zu öffnen, hat die GmbH mißachtet und lieber viertausend Mark Strafe bezahlt. Verhandelt über einen neuerlichen Widerspruch der NPD soll am 22. Mai werden. Adolf von Thadden mußte die zweitausendfünfhundert erbosten. Anhänger, die stundenlang in der heißen Sonne ausgeharrt haben, wieder nach Hause schicken. Die Bundesversammlung konnte nicht stattfinden. Und so eine Blamage nach den letzten großen Siegen! Wachtmeister Stalling ist sehr böse. Weil viele Zeitungen das Ereignis von Nürnberg zum Anlaß genommen haben, gleich wieder einmal vom »Zerfall der NPD«, vom »Ende der NPD« und von einem »lächerlichen Schauspiel« zu schreiben, das eine »zerfallende Partei« geliefert hat.

»Was heißt hier zerfallende Partei, wenn die in Nürnberg sich einfach über das Gesetz hinwegsetzen?« sagt Wachtmeister Stalling bitter. »Schauen Sie mal, so müssen Sie das mit dem Laken machen, Herr Mark, da knuddelt es nie!« Er knüpft geschickt vier große Knoten in die Enden des Bettuchs. Die Laschen streift er über die Matratze. So ist das Laken nun natürlich mächtig gespannt und kann nicht rutschen. Während ich Wachtmeister Stallings Tun bewundere, den Deckenüberzug umstülpe und die Hände hineinstecke, damit ich die Decke halten kann, die mir Stalling gleich geben wird, fährt dieser empört fort: »Muttchen, die hat natürlich gleich wieder Angst gekriegt und gesagt, wenn sie nun wirklich zerfällt, die NPD, dann stehen wir aber schön doof da mit meiner niedrigen Mitgliedsnummer. Hat sie ja auch recht, nicht? Nun wollen wir mal die Decke.« Er hält mir die Deckenecken hin, die ich durch den Überzug ergreife, und danach streift er schnell und geschickt den Überzug die ganze Decke herunter, während ich die Ecken hochhalte. Blauweiß gestreift ist der Überzugsstoff, UNTERSUCHUNGSGEFÄNGNIS FRANKFURT — RINDSGASSE steht darauf. Auf der Decke auch. Und auch auf der Matratze und auf dem Laken, einfach auf allem.

»Aber wenn Sie glauben, ich bin deprimiert — nicht die Spur! Zum Glück habe ich nämlich heute morgen den alten Grieben getroffen. Das war mein Vorgesetzter hier, als ich anfing, wissen Sie. Schon in Pension, an die Siebzig wird der gehen. Heute morgen hat er zu einem Amt gemußt. Zufällig waren wir beide in derselben Straßenbahn. Da haben wir uns dieserhalben ausgesprochen. Nun die Knöpfe zumachen.«

Wir machen die Knöpfe des Überzugs zu.

»Grieben, der ist auch in der NPD. Aus Berlin stammt der. Hat schon einmal alles mitgemacht. Die Kampfzeit, damals, wissen Sie. Nun ja, und Grieben sagt, was bist du so niedergeschlagen, Mensch, und ich sage, na ja, weißt schon, und da sagt er, daß ich nicht lache, sagt der Grieben. Die NSDAP, die ist bis 1933 auch alle Nase lang zerfallen, und das, sagt der Grieben, das war’s ja gerade, worin sich alle getäuscht haben. Festhalten die Enden und ordentlich durchschütteln jetzt, Herr Mark!«

Schütteln wir die Decke also ordentlich durch, damit sie schön glatt wird unter dem großen Überzug, und dann nehmen wir uns jeder einen kleineren Überzug für die beiden Kopfkissen und drehen ihn um.

»Aber es hat wirklich so ausgesehen, sagt der trieben. Ich hab aufmerksam zugehört. Ich war ja noch zu jung für das damals, aber der Grieben war alt genug, und er hat ein prima Gedächtnis. Ich auch. Ich habe mir alles gemerkt, was er gesagt hat. Also, sagt der Grieben, damals, da hat’s die Deutschvölkischen gegeben und die Deutschsozialen und die Revolutionären Nationalsozialisten, und die vom Werwolf, und einen Kapitänleutnant Mücke, der hatte auch eine nationalsozialistische Partei, aber gegen Hitler. Was sagen Sie, wie ich mir das merke? Na ja, wenn mich was interessiert! Jetzt das Kissen packen und … Kriegen Sie den Überzug selber runter, Herr Mark?«

»Ja, Herr Stalling.«

»Gut. Feste ziehen. Na, da haben sie doch den schwulen Röhm gehabt in der NSDAP, nicht, und dem seine Briefe haben sie veröffentlicht, und alle, sagt Grieben, alle haben geschrien: Jetzt zerfällt die Nazipartei! Denkste. Dann hat die SA gemeutert unter einem, der hieß Stennes, Vornamen habe ich nun doch vergessen, und wieder: Jetzt zerfällt die NSDAP! Denkste. Einer, der hieß … Otto Strasser hieß der Mann, der hat gegen den Führer geputscht, richtig geputscht, und natürlich wieder: Hurra! Jetzt zerfällt die NSDAP! Dann war da ein ganz großer Klimbim … ein Jahr vor der Machtergreifung … Kommen Sie auch mit dem Kissen zurecht, Herr Mark, ja, dann ist es gut … ein Jahr vor der Machtergreifung, nämlich mit dem Reichswehrminister Schleicher und dem Gregor Strasser, das war ein Bruder von diesem Otto, ein Riesenskandal, sagt der Grieben …Jetzt zerfällt die NSDAP! Ja Scheiße, wenn Sie den Ausdruck entschuldigen wollen, Herr Mark, ich bin so aufgeregt, ja Scheiße. Jetzt zerfällt die NSDAP! Zwei Monate später war der Führer Reichskanzler, und auf einmal, sagt der Grieben, auf einmal war all das Gequatsche von ›zerfällt die Partei‹ vorbei, und alle, alle haben sich eingereiht in die von unserem geliebten Führer endlich geeinte Nation. Ironisch sagt der Grieben das, Sie verstehen.«

»Ja, Herr Stalling.«

»Aber so war es wirklich. Die Schweine! Da standen ihnen dann die Schlabberschnauzen still! Da war dann Ruhe. So ist das gewesen mit dem Zerfall, sagt der Grieben. Sei ganz ruhig, Stalling, sagt er, diesmal wird es genauso sein, wirst sehen. Jetzt sind wir erst mal in Schwung gekommen, wir Nationalen. Nur Tritt gefaßt haben wir noch nicht ganz richtig. Ist ja auch klar bei einer so jungen Partei. Ist ja auch schwer. Aber das kommt ganz schnell. Wie es der Grieben ausgedrückt hat: Da muß nur noch einer die richtige Melodie pfeifen … und dann fallen auch alle in Tritt. Glaub einem alten Papa, der das alles schon einmal erlebt hat, sagt der Grieben zu mir, genauso wird es kommen. Ein Schuft, der jetzt kneift. Das sage ich, nicht der Grieben. Habe ich nicht recht?«

»Vollkommen, Herr Stalling.«

»Die werden alle noch ihre blauen Wunder erleben, die! Mit ihrem ›Die NPD zerfällt!‹ Idioten! Ich bin ja so froh, daß ich den Grieben getroffen hab. War eine Fügung des Schicksals, muß man schon sagen, nicht? Wo ich doch so erschüttert gewesen bin über so viel Bösartigkeit. Denn das ist doch nix wie Bösartigkeit und Schadenfreude und Neid auf unsere Erfolge. Habe ich nicht recht, Herr Mark?«

»Absolut.«

»So, das wäre das Bett, haben wir prima hingekriegt zusammen. Ich freu mich immer, wenn ich mit Ihnen sprechen kann. Sie haben so viel Verständnis für alles, nein, also wirklich. Heute abend kann ich nun Muttchen beruhigen. Die kennt den Grieben. Hält viel von ihm. Und wenn wir noch hundertmal zerfallen … am Ende steht der Sieg, wie schon einmal. Das ist doch klar, nach dem, was der Grieben da erzählt hat. Oder?«

»Vollkommen klar, Herr Stalling«, habe ich gesagt. Dann habe ich, bevor ich weiterschrieb, noch rasch die Zeitungen überflogen. Bundesjustizminister Heinemann hat erklärt: Von den rund 74000 Personen, gegen die seit Mitte Mai 1945 wegen Naziverbrechen Verfahren anhängig gewesen sind, wurden bis heute 6179 rechtskräftig verurteilt Also nicht einmal zehn Prozent.

»Jetzt, wo die Nelken gekommen sind, ist es ganz aus. Völlig meschugge geworden, das Mädel. Ich frage sie, was sind Nelken? Kann sich um eine kleine Aufmerksamkeit handeln, sage ich. Sagt sie nein, das ist mehr, viel mehr. Und gleich hat sie wieder Tränen in den Augen. Blumen! Was Blumen bei einer Frau anrichten! Es ist nicht zu fassen …«

Boris Minski fuhr sich nervös über die bleiche Stirn. Seine Tränensäcke waren violett, er hatte, nach einer turbulenten Nacht im »Strip«, überhaupt nicht geschlafen, sondern nur heiß gebadet und sich umgezogen und war gleich losgeflogen. Wir saßen im Flughafenrestaurant von Hannover und frühstückten ausgiebig. Hermann Olsen saß an einem Tisch in der Nähe und frühstückte gleichfalls. Und es waren noch andere Männer in dem großen Raum. Ich wußte nicht, ob es nicht noch andere Bewacher unter ihnen gab, und was für welche. Boris mußte bald wieder nach Frankfurt zurück. Wir hatten nachts telefoniert und festgestellt, daß wir uns einiges zu sagen hatten.

»Ich kann nicht zu dir kommen, ich bin hier festgehalten«, hatte ich gesagt. »Komm rauf, ich erwarte dich.«

»Ist gut, Ritchie.«

So war ich, gefolgt von Olsen, sehr zeitig in Treuwall losgefahren. Es war noch dunkel gewesen, als ich die Stadt verließ. Langsam wurde es hell an diesem Sonntagmorgen. Der Tag war mild und schön für November. Von Zeit zu Zeit brach Sonnenschein durch eilig wandernde Wolkenwände.

Minski bestellte eine dritte Portion Kaffee.

Olsen tat, als lese er Zeitung. Es saßen viele Männer in diesem Restaurant, die Zeitung lasen.

»Glaubst du, Panos kommt wirklich wegen Vanessa nach Frankfurt?«

»Es sieht jedenfalls so aus, nicht?« antwortete ich und blickte mich im Lokal um. Ich sah die vielen schweigsamen Männer mit ihren Zeitungen und dachte, daß ich mich im Krieg oft so gefühlt hatte wie an diesem Morgen — im Krieg, wenn eine Nacht vollkommen ruhig war und ich doch wußte, daß zu einer bestimmten Stunde im Morgengrauen der Angriff beginnen würde. Dieses Warten. Diese nervenzermürbende, fiebrige Zeit des Wartens. Ich wartete nun auf Donnerstag nacht, die Nacht, in der es passieren sollte. Und jetzt war erst Sonntag morgen.

»Tja, ich sag mir ja auch, daß es so aussieht. Vanessa schwört darauf! Sie schwört so sehr darauf, daß sie der Frau von ihrem Vater versprochen hat, daß sie nicht mehr auftritt bei uns … aber das hab ich dir schon am Telefon gesagt. Danke sehr.« Der Kellner hatte Minski den Kaffee gebracht.

»Ich versteh Frauen nicht. Die halbe Nacht hat sie mir was vorgeheult. Daß wir sie aus dem Vertrag entlassen müssen. Auf der Stelle. Sie zahlt jede Konventionalstrafe. Wir können Geld haben, was wir verlangen. Aber sie macht den candle-act nicht mehr. Nie mehr.« Minski schnaubte durch die Nase; er genierte sich dafür, daß er Gefühl besaß. »Man kann es ja verstehen. Deshalb hab ich auch nicht das Herz gehabt, nein zu sagen.«

»Du hast ja gesagt?«

Boris seufzte tief und nickte.

»Ich hab ja gesagt. Genauso, wie ich meinen Anwalt alarmiert und der Illustrierten ein Telegramm geschickt hab, daß ich dagegen protestiere, daß sie Fotos von Vanessa bringen. Sie tun es nicht, sie lassen die Sache sein. Die Sorge ist Vanessa los. Und wir sind Vanessa los.«

Ich sagte, mit meinen Sorgen beschäftigt: »Du wirst nach Paris fliegen und was Neues finden. Du hast immer noch was Neues gefunden.«

»Ja, sicherlich«, sagte Minski trübe.

»Was ist mit Corabelle?«

»Die können wir in der Zwischenzeit haben. Annamaria wird in zwei Tagen wieder garantiert dicht sein. Aber was ist Annamaria gegen den candle-act? Ritchie, ich komm mir vor, als wär mir das eigene Kind gestorben.«

»Ja, es ist böse. Aber wenn Panos Vanessa nun wirklich haben will, dann kann sie doch bei uns tatsächlich nicht mehr auftreten.«

»Darum hab ich ja auch ja gesagt. Sie ist mir um den Hals gefallen und hat mich geküßt, und ich soll dich küssen, und was weiß ich, aber wir sind sie los, Ritchie.« Er neigte sich vor und duftete nach »Yardley« und sagte traurig: »Alles fällt auseinander. Ich spür es. Da kommt nichts Gutes. Unglück und Aufregungen kommen, ich fühl es. Ich hab eine Nase für so was. Alles, was wir uns aufgebaut haben, Ritchie … ich seh es zusammenfallen. Und ich seh uns alle in Gefahr. So war es in Kamenez-Podolsk, schon Monate bevor die Deutschen gekommen sind. Die anderen haben noch gesagt, es wird so schlimm nicht werden … ich aber, Ritchie, ich hab gewußt, es wird schlimm werden, ganz schlimm, und so ist es dann auch geworden. Und ich hab nichts tun können dagegen, mich nicht wehren, nicht flüchten, nichts.«

»So wie jetzt«, sagte ich leise und dachte wieder an jene so friedvollen Kriegsnächte vor den morgendlichen Feuerüberfällen.

»Ein bissel was können wir tun. Müssen wir tun. Damit wir nicht alle zugrunde gehen. Diesmal ist da eine Möglichkeit«, sagte Minski. »Aber darüber will ich nicht hier reden.«

»Da hast du recht. Hier geht das nicht«

»Fahren wir irgendwohin. An die frische Luft. Ich brauch sowieso frische Luft In unserem Kaff wird man ja lungenkrank von dem ewigen Mief.«

Also verließen wir das Restaurant, gefolgt von Olsen und ein paar Herren, die gleichfalls gingen. Es herrschte viel Betrieb in dem Lokal, ich konnte nicht sagen, ob die anderen Männer uns nachkamen oder nicht. Ich fuhr ein Stück über die Autobahn südlich bis zur Ausfahrt Hannover-Anderten, und dann bog ich rechts ein in die Hannoversche Straße, die zum Tiergarten führt. Unterwegs erzählte ich Minski alles, was mir zugestoßen war, und im Rückspiegel sah ich Olsens Wagen und auch andere Wagen, die ich nicht kannte. Minski wurde bei meinem Bericht immer ernster. Ein paarmal seufzte er tief.

Dann gingen wir auf dem breiten Weg zwischen dem Wildschwein- und dem Damwildgehege des Tiergartens spazieren, aber wir sahen kein einziges Tier. Viele Menschen, Ehepaare mit großen und kleinen Kindern, waren hier unterwegs. Die Kinder hatten Bälle und Roller und anderes Spielzeug und lachten und schrien und waren vergnügt. In gebührender Entfernung trottete Olsen hinter uns her, und einzelne Männer marschierten vor und hinter ihm, und ob das auch Bewacher waren, wußte ich nicht. Hören konnten sie jedenfalls nicht, was wir nun sprachen.

Minski sagte: »Faul ist das alles, oberfaul. Wir sind in einer bösen Lage. Ich fühl mich scheußlich.«

Minski war viel zu klug, sich anders zu fühlen, dachte ich. Und unter diesen Umständen würde er seine Vorbereitungen treffen, wenn es ganz schlimm kommen sollte.

»Wie geht es Rachel?«

»Viel besser. Schnupfen hat sie sich geholt da im Garten. Aber sonst nichts. Da ist nun auch Polizei draußen, die aufpaßt. Alle passen auf Rachel auf. So sehr sie können. Die größten Sorgen machst im Moment du mir. Ich hab mir schon ausgerechnet, daß sie dich absichtlich belasten und in eine miese Situation bringen werden, damit du, wenn es passiert ist, gleich ganz bedreckt dastehst.«

The bait.

The scape-goat.

Der Sündenbock …

Ein kleiner Junge rannte wuchtig in Minski hinein, sah ihn erstaunt an, lachte, lief weiter bis zu seiner Mutter, und als er dort angekommen war, begann er bitterlich zu weinen.

»Hör zu, und erschrick nicht. Ich seh für uns alle nicht sehr rosig, aber für dich schon gar nicht. Und darum, Ritchie, mußt du dich mit dem Gedanken anfreunden, daß alles schiefgeht.«

»Ja«, sagte ich, »daran habe ich auch schon gedacht.«

Nun schien plötzlich wieder einmal kurz die Sonne. Alle Bäume waren kahl, das Gras der Wiesen war braun und gelb und faulte.

»Dann mußt du verschwinden.«

»Wohin?«

Minski blieb stehen, nahm seinen Hut ab und kratzte lange seinen Kopf. »Wenn mir einer gesagt hätte, daß ich hier herumlaufen werde mit dir, am ersten Advent, und solche Gespräche führe, wenn mir das einer gesagt hätte, noch vor einer Woche, ich hätte mir gedacht, er spinnt.« Boris setzte den Hut wieder auf. »Wir müssen ruhig und vernünftig bleiben. Die rechnen doch damit, daß wir die Ruhe und die Vernunft verlieren, die Schweine. Paß auf, was ich mir ausgedacht hab für den äußersten Notfall. Nur für den äußersten. Wenn wir geschickt genug sind, überlisten wir sie doch noch. Aber wenn wir Pech haben — jeder kann Pech haben —, dann mußt du raus aus Deutschland mit Lillian … wenn du sie mitnehmen willst.«

»Ohne Lillian mache ich überhaupt nichts!« sagte ich laut.

»Leiser glaub ich es auch«, sagte Minski und sah argwöhnisch die Spaziergänger an. »Also, dann müßt ihr vorbereitet sein … auf alles.«

»Wie?«

»Ritchie, das ist eine Geschichte, bei der du Zuchthaus riskierst … viele Jahre. Wenn du Pech hast. Das weißt du.«

»Du bist auch nicht so fein dran.«

»Kann man nicht vergleichen. Ich tu nichts Aktives. Mir können sie höchstens vorwerfen, daß ich ein Verbrechen nicht verhindert hab, daß ich dich nicht gehindert hab, es zu begehen … Aber dazu müssen sie mir erst nachweisen, daß ich von allem gewußt habe. Und das können sie nicht, wenn du mir nicht von allem erzählt hast. Du hast mir also von nichts erzählt, um mich nicht mit reinzuziehen.«

»Das ist klar«, sagte ich.

»Siehst du. Aber deshalb bist du um so mehr drin. Deshalb wirst du nicht glauben, daß ich zu viele Krimis lese, wenn ich sag: Für alle Fälle brauchst du einen falschen Paß. Du und Lillian. Damit ihr verschwinden könnt, wenn es schiefgeht.«

Er hatte recht. Er hatte immer recht.

»Wo bekomme ich falsche Pässe her?«

»Die besorg ich. Ich kenn wen in Frankfurt. Der macht aus abgelaufenen echten Pässen neue, gültige. Dazu brauche ich Fotos. Von dir und Lillian. Ich hab eine Kamera mitgebracht. Wir machen dann Aufnahmen. Im Wagen. Oder auf der Autobahn. Wenn wir einmal einen Moment deinen Gorilla los sind. Die Kamera laß ich dir da. Du mußt auch noch Lillian fotografieren. Sofort. Und dabei wirst du ihr die Wahrheit sagen müssen. Traust du dich das?«

Ich nickte und schluckte.

»Kannst du Lillian trauen? Vollkommen?«

Wieder nickte ich.

»Wenn nicht, dann ist nämlich Feierabend. Das weißt du. Das macht mir die allergrößten Sorgen. Das macht mich ganz krank. Wir wissen, wie sehr du dich bisher immer auf sie hast verlassen können.«

»Jetzt ist das anders.«

»Wieso?« fragte Minski.

»Weil sie jetzt wirklich zu mir will. Ich hab auch ein Gefühl für so was!«

»Ja, hast du?«

»Boris, ohne Lillian kannst du deine ganze Idee mit der Flucht vergessen. Und wenn ich mich getäuscht habe in ihr, dann gehe ich ins Zuchthaus! Dann ist mir alles gleich!«

»Geschwätz«, sagte Minski.

»Entschuldige«, sagte ich. »Ich halte es nur nicht aus, wenn jemand an Lillian zweifelt.«

»Ritchie«, murmelte Boris, »du bist ein armer Hund. Ich sag schon nichts mehr. Entweder ihr kommt beide durch, oder ihr geht beide drauf, oder …«

»Oder nur ich geh drauf und Lillian nicht, was?« fragte ich wild. »Das wolltest du doch sagen?«

Ein Mann und eine Frau sahen mich an, als wir an den beiden vorbeikamen.

»So geht das nicht«, sagte ich. »Rede weiter, Boris. Ich hab wirklich schlechte Nerven.«

»Das ist die ideale Voraussetzung«, sagte er trist. »Also gut. Lillian muß mit. Lillian kann man vertrauen. Dann fotografierst du sie heute noch. Den Film mußt du mir heute noch schicken. Expreß. Vom Bahnhof aus. Der hat immer einen Postschalter offen. Der Mann braucht für zwei Pässe drei Tage, hat er gesagt. Mit Visa. Für Ägypten und noch ein Land, das nicht ausliefert in solchen Fällen, hab ich mir gedacht. Damit du eine Auswahl hast.«

»Argentinien?«

»Argentinien ist gut. Braucht ihr auch Seuchenpässe. Daß ihr geimpft seid. Besorgt der Mann euch auch. Woran denkst du?«

»An nichts«, sagte ich, und das war eine Lüge. Ich hatte daran gedacht, ob ich Lillian wirklich und hundertprozentig trauen konnte, und daß ich es nun tun wollte, auf jeden Fall.

___________

An diesem Nachmittag durfte Lillian zum erstenmal für ein paar Stunden richtig aufstehen — nicht nur das Bett verlassen, nein, auch sich frisieren, schminken und anziehen. Man hatte ihr Wäsche und Garderobe aus Delacortes Villa gebracht. Sie trug ein Kostüm aus silbern glänzendem Lurex-Stoff. Ich alberte eine Weile herum, dann sagte ich, daß ich unbedingt ein paar Erinnerungsfotos noch im Krankenhaus machen wollte, und holte Minskis Kamera hervor. Das war ein teures, einfach zu bedienendes Modell mit aufgebautem Blitzlichtgerät. Minski hatte mir zwei Schächtelchen voller Speziallämpchen gegeben. Ich konnte Lillian mit dem Blitzlicht großartig fotografieren. Ich machte zur Sicherheit vier Aufnahmen, während ich auf Schritte lauschte, denn draußen, in der kleinen Teeküche gegenüber, saß ein Kriminalbeamter und hielt Wache. Nachdem ich den Apparat wieder verpackt und eingesteckt hatte, erkundigte sich Lillian mit völlig natürlicher Stimme: »Du glaubst also, wir werden flüchten müssen?«

Ich starrte sie an und schluckte mühsam.

»Was soll das heißen?«

Ich hatte nicht den Mut gehabt, ihr auch nur ein Wort von dem zu erzählen, was ich mit Minski besprochen hatte. Ich war entschlossen gewesen, das erst später zu tun. Nun …

Nun sagte Lillian: »Leg eine Langspielplatte auf.«

»Warum?«

»Damit wir Musik haben. Bei Musik können wir uns ohne Sorge unterhalten. Da versteht man die Stimmen nicht.«

»Was willst du mir sagen?«

»Einiges«, antwortete sie.

Also ging ich zu dem Plattenspieler, dem Geschenk Tinys, der auf einem Tischchen beim Fenster stand, schaltete ihn ein, legte eine Barbra-Streisand-Platte auf und setzte die Nadel ein. Die schöne Stimme erklang — ziemlich laut.

Ich ging zurück zu Lillian, die mich ernst ansah, und fragte leise: »Also?« Ebenso leise erwiderte sie: »Du rechnest doch zumindest damit, daß wir flüchten müssen, wenn du uns falsche Pässe besorgt.«

»Falsche Pässe …«

»Laß das, Ritchie. Das dauert zu lange. Du hast mich doch fotografiert, weil du ein Bild für den falschen Paß brauchst.«

»Wie kommst du auf diese Idee?«

»Paradin hat mich besucht.«

»Schon wieder?«

Seit drei Tagen besuchten Paradin und seine Untersuchungsrichter Lillian immer wieder im Krankenhaus und verhörten sie. Sie wollten keine Zeit verlieren. Ich hatte eigentlich gedacht, daß sie schon mit ihr fertig seien.

»Ja, schon wieder. Er kam allein und unterhielt sich mit mir. Über dich.«

»Was wollte er wissen?«

»Er wollte wissen, ob ich es für möglich halte, daß du aus irgendeinem Grund bei einem Versuch mithelfen wirst, Kamploh aus dem Gefängnis zu befreien. Wollte meine Meinung dazu hören«, sagte Lillian Lombard.

»Hast du kein Feuer für meine Zigarette, Ritchie?«

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Ich lese, was ich eben geschrieben habe, und es fällt mir auf, daß ich bei den meisten Personen dieses Berichtes mitgeteilt habe, woher sie kamen, was sie hinter sich hatten an Erziehung, Erlebnissen, Erfahrungen und Umwelt, durch die sie gebildet wurden. Bei allen wichtigen Personen habe ich das getan — nur Lillian, die wichtigste, blieb ohne diesen Hintergrund.

Es gibt eine sehr einfache Erklärung dafür. Bis zum heutigen Tage weiß ich nichts von Lillians Herkunft, ihrer Kindheit, ihrem Elternhaus, den Ereignissen, die ihre Kindheit, ihre Jugend, ihr frühes Leben formten. Diese erschreckende Tatsache kam mir, seltsamerweise, zum erstenmal erst jetzt, an dieser Stelle meines Berichts, zu Bewußtsein.

Gewiß wäre viel zu erfahren gewesen, Wahrheit und Lüge, wenn ich Lillian gefragt hätte. Doch ich fragte sie nie, und sie erzählte nie. Wo wuchs sie auf? Wie? In welchen Verhältnissen? Welchen Beruf hatte ihr Vater? War sie ein einziges Kind? Starb ein Bruder, eine Schwester? Wie sah ihr erster Mann aus? Wie sah sie als junges Mädchen aus? Ist ihre Mutter schön gewesen? Nicht einmal Fotos der kleinen Lillian oder ihrer Familie hatte ich je zu Gesicht bekommen. Nichts sah ich, nichts erfuhr ich. Ob ich mich unbewußt davor gescheut habe, etwas über Lillians Vergangenheit und Herkunft zu erfahren, und wenn ja, dann warum? Wäre es nicht erstrebenswert gewesen, gerade über die Frau, die ich liebte, so viel wie nur möglich zu wissen, um so gut wie nur möglich begreifen zu können, weshalb sie so war, wie sie war?

Was wußte ich von ihr, was ich noch nicht auf diesen Stenoblockseiten niedergeschrieben habe?

Nur dies: Daß ihre Ehe mit Werner aus ihrem Alleinverschulden 1958, im Herbst, geschieden wurde. Daß sie noch im gleichen Herbst zu mir nach Frankfurt kam und sich alles genauso abspielte, wie es sich stets abgespielt hatte, wenn wir uns trafen. Daß sie mir sagte, Werner sei ein Teufel und ich der einzige Mensch, den sie liebe. Um, nachdem sie das gesagt hatte, wenige Stunden später sich von mir an die Bahn bringen zu lassen, zum Schlafwagen nach Rom, wo ein Graf sie erwartete, den sie kennengelernt hatte und der sie heiraten wollte. Der Graf hatte sie nach Rom eingeladen. Sie war ein Jahr in Rom geblieben, dann hatte sie mich wieder besucht. Mit dem Grafen war es aus. Sie hatte eine Woche, eine ganze Woche, bei mir in Frankfurt gelebt, dann war sie nach London geflogen. Zu einem Freund, wie sie sagte. Diesmal war sie sogar eineinhalb Jahre fortgeblieben, und ich hatte in dieser Zeit sehr viele Briefe von ihr erhalten, aus sehr vielen verschiedenen Städten. Und dann, eines Tages, war sie wieder hiergewesen, in Frankfurt, so, als sei sie nie fortgefahren. Und ich, wie ein Narr, hatte eilends die Beziehung zu einem guten Mädchen abgebrochen und war wieder nur für Lillian dagewesen, nur für sie — einen Monat lang, bevor sie im »Strip« einen reichen Spanier kennenlernte, mit dem sie nach Spanien ging.

Ich mache hier Schluß, denn diese Grundsituation wiederholte sich noch einige Male. In den letzten beiden Jahren hatte ich Lillian aus den Augen verloren — nicht ganz, aber ziemlich, sie hatte mich nur einige wenige Male angerufen und nicht geschrieben und mir nicht gesagt, was sie trieb. Deshalb hatte ich auch nichts von Delacorte gewußt.

So sieht das also aus, und man kann sagen, daß nicht nur Lillian, sondern auch ich eine reichlich gestörte Persönlichkeit gewesen sein muß, um eine solche Verbindung aufrechtzuerhalten und gar noch zu pflegen. Man mag das wohl und sehr zu Recht sagen. Es ist mir klar, daß ich hier keine alltägliche, keine normale Liebesgeschichte zu Papier bringe. Doch daß ich so gar nichts über Lillian weiß, nichts Wirkliches, nichts Wichtiges, das kam mir eben jetzt erst, seltsamerweise, richtig zu Bewußtsein. Ich sitze vor dem großen Tisch in meiner Zelle, und ich habe die Verblüffung, die mich ergriff, noch nicht überwunden. Sie tut weh, diese Verblüffung.

___________

»Hast du kein Feuer für meine Zigarette?« fragte Lillian.

Ich riß ein Streichholz an und hielt es ihr hin. Sie inhalierte den Rauch der Zigarette und blies ihn dann durch die Nase aus. Sie sagte:

»Paradin hat mir auch gesagt, daß Kamploh in Wahrheit Delacorte heißt und wer Delacorte ist.«

Ich zuckte zusammen, denn das Streichholz hatte meine Finger verbrannt. Ich ließ es fallen und trat schnell darauf. Lillians Gesicht war gelassen, ihre Stimme beherrscht: »Ich habe es nicht gewußt, Ritchie. Ich schwöre, ich hatte keine Ahnung. Paradin glaubte mir das. Glaubst du, daß Paradin es glaubte?«

»Ich weiß nicht, was Paradin glaubt. Du siehst ja, wie er ist. Aber ich, ich glaube dir, Lillian!«

»Das weiß ich«, sagte sie und lächelte.

»Es muß schrecklich für dich gewesen sein, zu erfahren …«

»Ziemlich schrecklich.« Sie nickte. »Obwohl Paradin es mir sehr schonend beibrachte. So schonend, wie er eben ist Er kam dann gleich auf dich zu sprechen. Ich glaube, er leidet.«

»Was?«

»Er hat dich sehr gern. Und er hat dich sehr in Verdacht.«

Ich erinnere mich noch, daß mir bei dieser Stelle unseres Gesprächs kurze Zeit unheimlich vor Lillian war. Konnte sie sich derart beherrschen? War sie derart kaltblütig?

Eine Frau, die jahrelang mit einem Massenmörder als dessen Geliebte zusammengelebt hatte, saß da vor mir. Und wie war das gewesen, als man es ihr sagte?

»Ziemlich schrecklich …« So war das gewesen.

»Lillian«, begann ich, »du bist natürlich vollkommen durcheinander, seit Paradin hier war. Ich kann das verstehen. Wann war er übrigens hier?«

»Heute vormittag. Ich hatte genügend Zeit, mich auszuheulen, Ritchie. Ich werde Kamploh nie mehr sehen … außer vor Gericht, als Zeugin, wenn das sein muß. Ich werde von ihm träumen, und es wird schlimm sein, wenn ich an ihn denke. Aber ich komme schon darüber hinweg.« Das sagte sie zu schnell, fand ich, zu routiniert, zu sehr so, wie eine Schauspielerin ihren Rollentext spricht. Aber vielleicht, dachte ich behende und sofort auf der Suche nach einer Entschuldigung für das, was Lillian tat (wie stets, wie stets!), aber vielleicht war das nur Selbstschutz, Selbstverteidigung. »Kamploh, das liegt hinter mir. Du, du sitzt vor mir. Mit dir will ich zusammen leben. Du bist jetzt wichtig für mich, nur du.« Da ist etwas daran, dachte ich. »Sag mir, Ritchie, Paradin hat dich mit Recht in Verdacht, nicht wahr?«

»Where am I going?« sang die Streisand.

Ich dachte, daß ich es Lillian ebensogut jetzt wie später sagen konnte. Wenn sie mich verriet — aber da klickte es in meinem Gehirn, und ich konnte nicht weiterdenken. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß Lillian mich verraten könnte, jetzt noch, in dieser Lage noch. Nein! Sie hatte mich gerufen, als sie im Sterben lag. Sie liebte nur mich, nun hatte ich den Beweis, trotz allem, was geschehen war. Nein, ich konnte, nein, ich mußte mich ihr anvertrauen.

»Mit Recht hat er mich in Verdacht«, sagte ich. Dann stand ich auf, drehte die Platte um, setzte die Nadel wieder in der äußersten Rille ein und wartete, bis die Stimme der Streisand ertönte: »Yesterdays …«

Ich ging zurück zu Lillian, die auf einem Sofa saß, das einen weißen Überzug trug, und ich setzte mich neben sie und erzählte ihr alles. Ich sprach schnell und berichtete nur das Wichtigste, knapp und konzentriert. Trotzdem mußte ich einmal unterbrechen und eine andere Platte auflegen. Lillian rauchte und hörte zu, ohne zu fragen. Ab und zu nickte sie, als hätte sie sich alles so vorgestellt, und darum fragte ich sie einmal: »Hast du dir das so vorgestellt?«

»Ich hatte lange Zeit, über alles nachzudenken, seit ich hier bin, Ritchie So ähnlich jedenfalls mußte es sein …«

»Aber du kannst mich verstehen? Du kannst begreifen, wie ich in all das hineingeraten bin?«

»Ich kann alles begreifen. Ich kann alles verstehen. Du doch auch«, sagte sie.

»Paradin hat auch lange Zeit gehabt, über alles nachzudenken. Er ist zu ganz ähnlichen Ergebnissen gekommen. Er meint, du würdest von irgend jemandem erpreßt … mit irgend etwas.«

»Sagte er, von wem? Womit?«

»Nein. Ich fragte ihn, aber er sagte, er wisse es nicht. Es sei nur eine Vermutung. Er wollte meine Meinung hören. Ich sagte, daß ich völlig außer mir sei — wegen Kamploh — und daß er Gespenster sehe, was dich angeht. Er war sehr höflich und bat um Entschuldigung dafür, daß er mich aufregen mußte. Und dann sagte er mir natürlich, was mich erwarte — und dich auch —, wenn du wirklich an einem Versuch, Kamploh zu befreien, beteiligt bist und ich davon weiß und dich decke. Ich wußte da noch nichts davon, also konnte ich das beschwören. Und da gab er dann auf. Nicht daß er damit wohl zufrieden ist oder mir glaubt.«

»Und was wirst du tun?« fragte ich heiser. »Was wirst du nun tun, wo du alles weißt?«

»Dummkopf. Ich werde zu dir halten, natürlich. Ich werde alles tun, was du von mir verlangst. Hoffentlich geht alles gut. Aber wenn es nicht gutgeht … ich bleibe bei dir, und ich gehe mit dir, wohin du gehst, Ritchie.«

»Weißt du, was du sagst? Wir werden vielleicht auf der Flucht sein … Wochen … Monate … gejagt … in Angst … in Verstecken … wirst du das aushalten?«

»Es gibt nichts, das ich nicht aushalte, wenn du bei mir bist«, sagte Lillian. Dann nahm sie meinen Kopf in beide Hände und küßte mich auf den Mund. Sie ließ mich los und sah mich mit ihren riesigen Augen ernst an. »Was sollte ich denn jetzt noch anderes tun? Kannst du mir das sagen?«

»Ohne mich leben. In Frieden«, sagte ich.

»Es gibt keinen Frieden mehr ohne dich«, antwortete sie. Soweit war ich noch bei Sinnen, daß ich fand, dies sei ein recht pathetischer Satz. Aber er tat mir wohl. Und in manchen Situationen, dachte ich, ist man eben pathetisch.

Wieder küßten wir uns, und in der Süße des Kusses vergaß ich alle Angst und alle Sorge und dachte, daß vielleicht wirklich alles gutgehen werde, alles, alles gut …

Ich öffnete die Augen und sah zur Tür.

Olsen stand dort. Er machte ein freches Gesicht.

Ich stand schnell auf und schnauzte ihn an: »Was fällt Ihnen ein, hier einfach reinzukommen? Können Sie nicht klopfen?«

»Ich habe geklopft. Sie haben es nicht gehört. Verzeihung, gnädige Frau.« Er verbeugte sich vor Lillian.

Ich kniff die Augen zusammen.

»Was machen Sie überhaupt hier oben?«

»Ich vertrete den Kollegen. Der ging nur mal schnell Kaffee trinken. Er bat mich, solange da drüben zu sitzen. Na, und ich habe doch nichts zu tun …«

»Und deshalb kommen Sie hier herein?«

»Telefon für Sie, Herr Mark. Verzeihen Sie bitte noch einmal, gnädige Frau.« Er lächelte Lillian charmant an. Sie nickte nervös.

Ich ging auf Olsen zu, der die Tür für mich aufhielt und hinter mir schloß.

»Wer?« fragte ich. Er grinste nur.

Ich nahm den Telefonhörer ans Ohr, nachdem ich in die kleine Teeküche gekommen war.

»Mark!«

Geyers Stimme ertönte: »Na, alles schön gebeichtet?«

»Ich habe überhaupt nichts …«

»Ach, hören Sie auf.« Seine Stimme klang scharf und gefährlich. »Vormittags sind Sie stundenlang mit Minski zusammen und lassen sich Eitzes geben. Paradin ist stundenlang bei Ihrer Geliebten. Jetzt machen Sie in dem Zimmer ein wenig Musik. Damit man nicht hören kann, worüber Sie reden. Hören Sie, Mark, was immer Sie mit Ihrem Freund Minski und mit Ihrer Geliebten besprochen haben … sobald es im geringsten mit unseren Plänen kollidiert, sind Sie geliefert. Und nicht nur Sie. Auch Frau Lombard. Das nächstemal wird sie nicht nur ein wenig Gift trinken und mit dem Leben davonkommen. Das nächstemal geht sie drauf. Ist das klar?«

»Ja.«

»Ja, Boris.«

»Ja, Boris.«

Ich hörte ihn lachen.

»Und sollten Sie auf die glänzende Idee gekommen sein, die Sache zu verraten und, wenn das schiefgeht, zu flüchten … allein oder mit Ihrer Geliebten … dann werden Sie noch das Wunder Ihres Lebens erleben, verlassen Sie sich darauf!«

Ich schwieg.

»Sie fahren jetzt zurück ins Hotel«, sagte Geyers Stimme. »Gehen Sie auf Ihr Zimmer. Ihr Bruder hat mit Ihnen zu reden.«

»Worüber?«

»Das werden Sie schon erfahren«, sagte Geyer. Dann war die Verbindung unterbrochen. Ich legte auf. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir nicht vorstellen, daß mir tatsächlich noch das Wunder meines Lebens bevorstand.

___________

Mein Bruder sagte: »Bisher haben sie dich allein arbeiten lassen, Ritchie. Jetzt beginnt schon meine Rolle.«

Werner rauchte hastig, wie stets, wenn er erregt war, und er sah blaß und krank aus. Er saß auf einem Stuhl meines Hotelzimmers. Es war mittlerweile dunkel geworden. Das elektrische Licht brannte.

»Man hat mir aufgetragen, dir zu erklären, wie es nun weitergehen wird«, sagte Werner. Er drückte plötzlich seine halbgerauchte Zigarette aus und zerfaserte sie zwischen den Fingern.

»Hast du Angst?«

»Ja. Du nicht?« Ich schwieg. »Nur Idioten haben in einer solchen Situation keine Angst«, sagte Werner und zündete eine neue Zigarette an. Ich dachte, daß es gut gewesen wäre, wenn ich ihn nicht in den letzten zwei Jahren gemieden hätte. Dann hätte ich genauer über ihn Bescheid gewußt: Was echt an dieser Furcht war und was gespielt.

Den Grund für den Abbruch unserer Beziehungen hatte der vorletzte Roman meines Bruders geliefert. Es war ein Buch mit unverhüllt nationalistischen und neonazistischen Tönen gewesen, das erhebliches Aufsehen erregt und sich großartig verkauft hatte. Kein Wunder angesichts der Entwicklung in Deutschland.

Journalisten waren zu mir gekommen und hatten mich um meine Meinung zu diesem Roman gefragt. Ich hatte sie ihnen unverblümt mitgeteilt, und so war sie in einem Nachrichtenmagazin abgedruckt worden.

»Alles nur Reklame für deinen Bruder«, hatte Minski damals gesagt, und das hatte natürlich gestimmt. Es war reine Reklame. Doch Werner, der große Autor, brauchte keine Reklame mehr. Er war mir bitterböse gewesen — und es geblieben. Nach Ansicht des über mich verärgerten Minski waren auf Grund des Interviews mit meinen Mißfallensäußerungen gewiß zwanzigtausend Exemplare des Romans mehr verkauft worden.

»Aber nur nicht denken, bevor man die Schnauze aufreißt!« hatte Minski gesagt. Jetzt fiel es mir wieder ein. Ich hätte doch besser die Schnauze gehalten, als die Journalisten kamen, dachte ich. Dann wäre es nicht zum Bruch mit Werner gekommen, dann hätte ich ihn jetzt besser beurteilen können. So war er ein fast fremder Mensch mit seinen Geheimnissen für mich geworden in diesen zwei Jahren. Hatte er wirklich Angst? Es sah so aus. Aber er war schon immer ein großer Schauspieler gewesen.

»Also: In der Nacht von Donnerstag auf Freitag holen sie Delacorte raus«, sagte Werner. »Du wirst jetzt hoffentlich nicht so idiotisch sein, mich zu fragen, wie sie das tun werden.«

»Ich habe eine ungefähre Vorstellung«, sagte ich. »Scherr. Die vier Schlüssel. Geyer und der Horstführer mit seinen Jungen. Du brauchst mir nichts zu erzählen. Was habe ich zu tun?«

»So ist es brav«, sagte Werner. »Immer folgsam. Also: Am Dienstag wird Lillian entlassen.«

»Woher weißt du das?«

»Weißt du es noch nicht? Paradin ist fertig mit ihr. Hat man es ihr noch nicht gesagt? Donnerwetter, die haben wirklich ihre Leute überall sitzen! Beruhigt natürlich, wenn man sieht, wie viele Freunde man hat.«

Ja, dich beruhigt es, dachte ich.

»Nach der Entlassung kümmerst du dich um Lillian. Hilfst ihr, Kleider und so weiter aus der Villa zu holen. Dann verlaßt ihr beide Treuwall und fahrt nach Frankfurt. Paradin verdächtigt dich. Deshalb mußt du dich zur Fluchtzeit in Frankfurt aufhalten, weit weg von hier. Da unten sollen sie dich ruhig beschatten. Werden es sicher tun. Und sich auf dich konzentrieren und nicht auf das Gefängnis und auf mich.«

»Wieso bist du Paradin eigentlich nicht verdächtig?«

»Ich bin ihm verdächtig! Aber ich bin ihm zu verdächtig. Verstehst du? Gegen mich spricht zu viel, als daß er sich vorstellen könnte, ich hätte noch was vor. Du bist für ihn ein Rätsel. Das hast du doch schon gemerkt, oder?« Ich nickte.

»Also, du bringst Lillian in deine Wohnung. Donnerstag nacht bist du im ›Strip‹. Um 21 Uhr 30 wechseln die Aufseher Innen- und Außendienst …«

»Ich weiß.«

»Um 22 Uhr ist Delacorte draußen, wenn alles glattgeht. Ich erfahre es telefonisch und …«

»Wo?«

»Was wo?«

»Wo erfährst du es telefonisch?«

»Na, in Bremen. In meiner Wohnung. Ich muß auch aus Treuwall weg. Mich beschatten sie doch auch. Erst wenn Delacorte raus ist, muß ich Bremen verlassen und tun, was meine Aufgabe ist. Die Schatten hängen unsere Freunde ab, alles besprochen. Nur zur Fluchtzeit darf ich nicht in der Nähe von Treuwall sein. Ich werde aber in der Nähe eines Telefons sein. Und so kann ich den Mann in Frankfurt verständigen, der die Manuskripte bringt. Im ganzen sechs. Fünf Romane und das Drehbuch. Stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Ganz schön dicker Brocken. Wenn ich meinen Mann anrufe, bringt er dir das Zeug in die Bar.«

»Das fällt doch auf.«

»Das wird nicht auffallen. Er kommt mit einem Kombiwagen. Champagner. Euch ist der Champagner ausgegangen. Die Lieferung hat sich verspätet. In einem Karton werden die Manuskripte sein. Du kannst sie sofort ansehen und feststellen, ob sie echt und vollständig sind.«

»Und wenn sie es nicht sind?«

»Sie werden es sein.«

»Jaja. Und wenn nicht?«

»Dann kannst du Alarm schlagen, Paradin anrufen und so weiter. Zu der Zeit haben wir Delacorte bestimmt noch nicht aus Deutschland raus. Du kannst Paradin anrufen, wenn du bis 22 Uhr 30 die Lieferung noch nicht erhalten hast. Aber das würdest du ja auf jeden Fall tun, wie?«

»Auf jeden Fall.«

Mein Bruder stand auf und begann hin und her zu laufen. Zigarettenasche fiel dabei auf den Teppich. Er bemerkte es nicht.

»Du bist fein raus Donnerstag nacht. Für mich fängt dann überhaupt alles erst an! Verglichen mit dem, was du zu tun hattest und noch zu tun hast, steht mir die Hölle bevor.« War das Theater? War das echt? Werner stolperte über eine Teppichkante. Es schien echt zu sein.

»Und was geschieht«, sagte ich, »wenn ich Paradin verständige, nachdem ich die Manuskripte richtig erhalten habe?«

Er blieb stehen. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen.

»Wenn du das tust, Brüderchen«, sagte Werner, »wirst du nicht mehr lange leben. Gar nicht mehr lange. Darauf kannst du Gift nehmen. Ich würde dir dringend davon abraten. Denn auch Lillian käme dann an die Reihe. Sie zuerst. Damit du noch etwas davon hast. Es würde schnell gehen. Ganz schnell. Das soll ich dir ausrichten, weil man annimmt, daß du vielleicht auf die Idee kommen könntest. Nach allem, was du bisher erlebt hast, glaubst du mir hoffentlich … oder?«

»Ja«, sagte ich.

Und ich muß es trotzdem tun, dachte ich. Trotzdem und auf alle Fälle muß ich es tun. Aber ich werde es so tun, daß es aussieht, als hätte mein Bruder versagt, als trüge er allein die Schuld daran, daß das ganze Unternehmen zusammenbricht. Unbedingt so würde ich es anstellen, und ich hatte auch schon eine Vorstellung davon, wie ich es anstellen würde.

»Wie geht es Lillian?« fragte mein Bruder.

»Gut.«

»Erklärt sie noch immer so leidenschaftlich, mich unter keinen Umständen sehen zu wollen?«

»Ja.«

Mein Bruder schnitt eine Grimasse.

»Der böse, böse Werner.« Er kratzte sein Kinn. »Wenn ich nur wüßte, warum sie sich so vor mir fürchtet.«

»Fürchtet?«

»Nun ja«, sagte er, »denk nach. Das ist doch die einzige Erklärung. Furcht hat sie vor mir. Warum bloß?«

Bald darauf ging er. Ich holte das Tonbandgerät hervor, und während ich es aufnahmebereit machte, dachte ich, daß ich wirklich tat, was menschenmöglich war, damit Lillian und mir und Minski und Rachel, uns allen, nichts geschah, damit wir heil davonkamen. Wenn alles schiefging, wenn ich ganz großes Pech hatte, dann gab es immer noch die Flucht. Den Film aus Minskis Kamera hatte ich am Bahnhof aufgegeben, noch ehe ich ins Hotel zurückgekommen war. In dem Postamt dort gab es wirklich einen Schalter, der Tag und Nacht geöffnet blieb. Die Filmrolle war schon unterwegs nach Frankfurt.

Mit ein wenig Glück würde ich nicht zu flüchten brauchen, dachte ich in einer plötzlichen Anwandlung von Optimismus. Mit ein wenig Glück ging alles gut Ich kann nicht erklären, wieso ich plötzlich so hoffnungsfroh war. Vielleicht kam es daher, daß ich eben Werner in Angst erlebt hatte. Das muß mich beruhigt haben. Wirkliche, einleuchtende Gründe für meine Zuversicht gab es weiß Gott nicht.

Ich sprach etwa zwei Stunden lang meine Bänder voll, ausführlich, breit, wie Werner es wünschte, dann verpackte ich alles wieder, verschloß die Tonbandtasche und sperrte sie noch einmal in einen Koffer, steckte den Schlüssel ein und verließ mein Zimmer. Ich wollte etwas essen. Im Lift, mit dem ich hinunter in die Halle fuhr, traf ich die jungen Verliebten. Sie hielten sich an den Händen wie immer, und sie lächelten wie immer.

Sie wollten ins Kino gehen, sagten sie mir, und ich sah ihnen nach, wie sie durch die Halle zum Ausgang wanderten, eng aneinandergeschmiegt. Er hatte einen Arm um ihre Schulter gelegt. Ich bemerkte, daß alle Menschen, welche die beiden sahen, auch lächelten.

»Herr Mark!«

Ich drehte mich um. Es war Pierre, der Mixer, der mir aus seiner Bar zuwinkte. Ich ging zu ihm. Er hatte einige Gäste, die sich leise unterhielten, und leise Musik erfüllte den dämmrigen Raum.

Pierre strahlte.

»Was haben denn Sie?« fragte ich.

»Kommen Sie mal mit«, sagte er. »Ich muß Ihnen etwas zeigen.«

___________

Am frühen Vormittag dieses Sonntags hielt ein blauer Volkswagen vor einem Haus in der Gurlittstraße in Hamburg, nahe der Außenalster. Eine etwa vierzigjährige Frau ging hier mit einem Terrier auf und ab, der an Laternenpfählen schnupperte, aber sich vorläufig noch nicht entscheiden konnte. Die Frau hatte ein hübsches Gesicht, blondes Haar und sah sehr traurig aus.

Aus dem Volkswagen zwängte sich ein beleibter Mann mit großem, breitem Gesicht und großer Glatze. Er hatte nur noch wenig schwarzes Haar an den Schläfen und sehr müde Augen. Er war tadellos gekleidet und ging aufrecht und mit energischen, schnellen Schritten auf die Frau zu.

»Verzeihen Sie«, sagte Pierre, »Sie sind doch Frau Carla Eilers, nicht wahr?«

Im Turm der nahen Kirche begannen die Glocken zu läuten.

Die Frau mit dem Terrier nickte. Sie hatte verweinte Augen.

»Kramleder«, stellte Pierre sich vor. »Max Kramleder. Ich komme aus Treuwall. Ist das ein Glück, daß ich Sie gleich hier herunten treff. Wär mir schon ein bissel peinlich gewesen, raufzugehen und bei Ihrer Schwester zu läuten. Sonntag vormittag. Fremde Leute.«

»Ich führe ihren Hund spazieren.«

»Ja … Darf ich … darf ich ein bissel mit Ihnen reden?« Pierre war verlegen. Er lächelte, und die Tränensäcke unter seinen Augen verzogen sich zu vielen dunklen Falten.

»Worüber?«

»Über Ihren Mann, Frau Eilers.«

Das Läuten der Glocken hatte aufgehört. Nun erklang verwehter Gesang. Die Sonne schien an diesem Vormittag in Hamburg, eine kalte, sehr grelle Sonne.

»Hat er Sie geschickt?« fragte Carla Eilers, zurückweichend. Ihr Gesicht wurde hart.

»Nein«, sagte Pierre schnell, »nein, Frau Eilers. Er hat keine Ahnung, daß ich hier bin, das schwör ich Ihnen, wirklich. Ganz heimlich bin ich hergefahren heut früh.«

»Warum?« Der Terrier zog an der Leine. Carla Eilers wurde zwei Schritte seitlich geschoben. Da war nun ein Laternenpfahl, der dem Hund zusagte.

»Ich mag das nicht mit ansehen«, sagte Max Kramleder. Und als hätte er Angst, Carla Eilers könne ihn unterbrechen oder ihm fortlaufen, sprach er schnell weiter: »Ich bin Mixer im ›Kaiserhof‹. Wenn ich zumach in der Nacht, dann bin ich noch zu überdreht, um gleich schlafen zu gehen. Ich setz mich dann immer noch eine halbe Stunde oder so in den ›Pugelatz‹. Kennen Sie das Lokal?«

Carla nickte.

»Das ist eine Kneipe für Nachtarbeiter«, sagte Pierre. »Taxichauffeure und Schauspieler und Artisten und vor allem wir Mixer und Kellner, wir kommen da noch zusammen. Hat die ganze Nacht offen, der ›Pugelatz‹. Ich treff mich da immer mit meinen Freunden und red mit ihnen und trink noch was. Zum Entspannen, bis ich müde werde, nicht?« Der Terrier hatte sein Geschäft erledigt, er bellte vergnügt. Aus der Kirche erklang noch immer Gesang. Nun läuteten auch die Glocken wieder.

»Frau Eilers«, sagte Pierre, »die letzten Nächte habe ich mich nicht mit Kollegen unterhalten. Sondern mit Ihrem Mann. Der sitzt dort nämlich rum und säuft. Entschuldigen Sie, aber trinken kann man das nicht mehr nennen. Ich kümmer mich um ihn und paß auf, daß er gut nach Hause kommt, aber schon wenn ich auftauch, ist er so voll, daß er kaum noch laufen kann. Ich fahr ihn dann immer. Im Wagen schläft er mir ein. Und noch im Schlaf redet er dauernd von Ihnen. Immer so, als ob Sie da wären. Als ob ich Sie wäre, verstehen Sie.«

In Carlas einfachem Gesicht zuckte es. Sie preßte die Lippen zusammen. »Hat er es Ihnen erzählt …«

»Er hat es mir erzählt, aber ich hab es schon früher gewußt. Bei uns im Hotel wohnen jetzt doch die Herren aus Frankfurt, vom Gericht. Und auch dieser Herr Mark, der den Professor angezeigt hat … vielleicht wissen Sie, von wem ich rede …«

Carla nickte. Der Terrier zog wieder an der Leine. Sie gab nach und begann die Gurlittstraße hinunterzugehen. Pierre folgte ihr und redete eindringlich weiter auf sie ein.

»Da habe ich natürlich alles mögliche gehört. Besonders von Herrn Mark Frau Eilers, Sie haben einen guten Mann. Sie dürfen sich jetzt nicht von ihm trennen! Der geht zugrund ohne Sie. Jetzt, wo auch noch das mit dem Buben passiert ist.«

Sonntäglich leer war die Straße …

»Ich kann das Elend nicht mit ansehen«, sagte Pierre. »Es geht mich das alles überhaupt nichts an, ich weiß, Sie können mir sagen, ich soll mich um meinen eigenen Dreck kümmern. Trotzdem bin ich heraufgefahren. Weil es mir keine Ruhe läßt. Wie Ihr Mann ausschaut! Essen tut er nicht. Nur rauchen wie ein Verrückter und trinken. Ganz zerdrückt war sein Anzug heute nacht, auch sein Hemd. Ich weiß nicht mal, ob er sich auszieht, wenn er sich ins Bett legt. Rasiert hat er sich bestimmt schon zwei Tage lang nicht …«

Sie erreichten nun die Straße An der Alster, und vor ihnen lag, leuchtend im Sonnenschein, die große Wasserfläche. Der kleine Terrier bellte erfreut.

Carla sagte erstickt: »So läuft er herum?«

»Nur in der Nacht, höre ich. Am Tag geht er nicht aus dem Haus. Da verkriecht er sich. Die Fensterläden sind geschlossen, hab ich gesehen. Und wenn man klingelt — ich hab es ein paarmal getan —, dann öffnet er nicht. Erst wenn es finster wird, kommt er heraus. Aber dann landet er gleich beim ›Pugelatz‹. Viele Leute haben ja was gegen ihn, sagt mir Herr Mark. Wegen seinen politischen Ansichten. Aber beim ›Pugelatz‹ tut er allen, die ihn da so sitzen sehen und wissen, daß Sie ihn verlassen haben und sich scheiden lassen wollen, also denen tut er allen leid.«

»Das wissen die Leute, daß ich mich scheiden lassen will?«

»Unsere kleine Stadt, Frau Eilers. Es spricht sich doch alles so schnell herum. Sie dürfen das nicht tun, Frau Eilers. Er geht zugrunde daran!«

Das Wasser der Alster leuchtete wie Gold. Carla starrte es an.

»Und ich?« sagte sie. »Und ich? Glauben Sie, ich gehe nicht zugrunde, wenn ich bei ihm bleibe? Ich halte das nicht mehr aus, wie er sich Feinde macht, und alle sind Nazis, und diese Rederei! Keinen Freund haben wir mehr in der Stadt … nur er hat noch diesen Lansing, der ist genauso schlimm wie er … Niemand gibt mir ein freundliches Wort. Und nicht schlafen kann ich mehr vor Angst.«

»Angst?«

»Na ja, natürlich! Wen werden sie denn als ersten abholen kommen, wenn es mal anders wird? Ihn doch! Und ich werde auch leiden müssen! Geträumt habe ich schon davon, daß sie kommen und uns verhaften und einsperren und quälen, Nacht für Nacht. In Schweiß gebadet aufgewacht bin ich, übel war mir, das Herz hat mir weh getan. Ist das ein Leben? Das ist kein Leben mehr. Er zerstört alles, einfach alles hat er zerstört zwischen uns. Und nicht nur zwischen uns! Jetzt hat auch der Junge das noch angestellt … aus Protest und aus Rache und weil er seinen Vater haßt!«

»Das ist mir alles klar, Frau Eilers«, sagte Pierre beruhigend und hängte sich im Gehen in sie ein. »Und ich hab es auch Ihrem Mann klargemacht in den letzten Nächten.«

»Was?«

»Daß er schuld an allem ist. Und er sieht es auch ein, er …«

Carla blieb stehen.

»Er sieht es ein?« wiederholte sie ungläubig.

»Ja!« Pierre redete jetzt laut und schnell. »Er sieht es ein. Daß er schuld hat. Daß es keinen Sinn hat, auf die Nazis zu schimpfen und dauernd den Helden zu spielen und so … Man muß sein wie die anderen Leute, wenn man mit ihnen leben will. Sonst muß man weggehen aus diesem Land. Das will er nicht. Er hat es gern, das Land, sagt er. Dann, sag ich, muß er aber auch den Mund halten und darf nicht schimpfen und sich empören. Dann werden die Leute ihn auch wieder anschauen und mit ihm reden, und er wird einer von ihnen sein. Und das hat er mir versprochen, daß er das tun wird! Darauf hat er mir sein heiliges Ehrenwort gegeben, Frau Eilers! Daß er Ruhe geben wird von jetzt an. Er hat gesagt, er hat nur den einzigen Wunsch, daß Sie zurückkommen. Er möchte Ihnen das alles selber sagen, was er mir versprochen hat, aber er traut sich nicht her, und anrufen traut er sich auch nicht. Er ist ganz fertig und mutlos vom Schnaps und keinem Schlaf und nichts Ordentlichem im Bauch und dem Kummer mit dem Jungen … Kommen Sie zurück! Bitte, kommen Sie gleich jetzt mit mir zu ihm zurück. Sie werden sehen, wie selig er ist. Und Sie werden wieder glücklich werden mit ihm …«

Carla schwieg lange. Tränen rannen über ihr Gesicht.

Pierre gab ihr ein Taschentuch. Carla blies laut hinein. Der Terrier bellte, und über dem Wasser flogen kreischende Möwen hin und her …

»Da drüben, schauen Sie«, sagte Pierre nun, am Abend dieses Tages, zu mir. Wir standen am Eingang zum großen Speisesaal des Hotels. An einem entfernten Tisch saßen Carla und Ernst Eilers. Carla trug ein blaues Kleid und ein wenig Schmuck, Eilers einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine silberne Krawatte. Er sah noch sehr bleich und übernächtig aus, aber er war rasiert und ordentlich frisiert. Die beiden aßen. Sie bemerkten uns nicht. Sie sahen einander an und lächelten, und ab und zu sagte er ein paar Worte zu ihr oder legte seine Hand auf die ihre.

»Sie sind wieder beisammen«, sagte Pierre und strahlte mich an, Pierre, der alternde Mixer mit dem modernen Hemd, dem vorbildlichen Windsorknoten in der Krawatte, dem blütenweißen Jackett, den messerscharf gebügelten Hosen, Pierre, der ein Korsett trug und müde war, so müde. »Er hat mir noch einmal in die Hand versprochen, daß er das mit der Politik jetzt läßt, wie ich ihm seine Frau zurückgebracht hab«, sagte Max Kramleder aus Ingolstadt. »Schauen Sie sich bloß an, wie selig die beiden sind. Gehören doch zusammen. Jetzt ist alles gut.«

»Alles ist gut«, sagte ich. »Und Eilers wird nichts mehr gegen die Nazis sagen.«

»Nichts mehr. Das ist doch ein gescheiter Mensch. Hat sich nur verrannt gehabt. Aber nun ist er daraufgekommen … so wie Sie und ich daraufgekommen sind irgendwann einmal, geh, daß es doch keinen Sinn mehr hat. Man macht sich nur lächerlich damit oder unglücklich. Es ist doch längst zu spät für das alles, das alles stimmt doch auch nicht mehr und ist nicht wahr.«

»Es ist nicht wahr, daß es Nazis gibt in diesem Land?«

»Aber ich bitte Sie, Herr Mark«, sagte Pierre. »Wer redet denn davon? Es ist nicht wahr, meine ich natürlich, daß man noch irgend etwas dagegen tun kann, daß es so ist.« Er lächelte mich müde an. »Habe ich das nicht fein hingekriegt? Zwei glückliche Menschen.«

»Drei«, sagte ich. »Sie vergessen sich selber.«

»Ja richtig.« Er nickte. »Wenn sie gegessen haben, kommen die beiden noch in die Bar und trinken etwas, haben sie mir versprochen. Essen Sie schnell, Herr Mark, und kommen Sie auch, ja?«

»Gern.«

»Da feiern wir dann ein bissel«, sagte Pierre.

»Das Happy-End.«

»Na, wenn das keines ist«, sagte Pierre.

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen, und ich sprach viele Stunden auf Band. Ich sprach noch, als es schon hell wurde.

___________

Sie hatte vorgehabt, ihm entgegenzulaufen, ihn zu umarmen, an sich zu pressen und zu küssen, wenn er die Halle betrat, doch als er nun auf sie zukam, bemerkte Vanessa, daß sie sich nicht von der Stelle bewegen konnte. Reglos stand sie da, die blauen Augen unnatürlich weit geöffnet. Sie trug einen Leopardenmantel und ein sandfarbenes Jerseykleid, Lackschuhe mit hohen Absätzen und breiten Schleifen darauf und ein Krokodillederköfferchen. Sie war beim Friseur gewesen, weich und in schönen Wellen fiel ihr blondes Haar auf die Schultern. Panos Mitsotakis trug einen grauen Flanellanzug und einen gefütterten blauen Regenmantel. Er war in dem Jahr, das vergangen war, seit Vanessa ihn zuletzt gesehen hatte, hagerer geworden, aber er sah gepflegter und besser gekleidet aus. In seinen schwarzen Augen stand ein Ausdruck großer Verlegenheit. Vanessa verzerrte die bebenden Lippen zu einem Lächeln. Da lächelte auch er. Nun stand er vor ihr. Vanessa warf die Arme um ihn und preßte den Kopf an seine Brust.

Er strich über ihr Haar und nannte ihren Namen, und dann sahen sie einander an und bekamen kein Wort heraus. Vanessa fürchtete, weinen zu müssen. Da begann sie zu lachen, ein hysterisches, stoßweises Lachen, und so lachte auch er, unnatürlich, mühsam, nervös. Sie nahm seine Hand, und zusammen gingen sie zur Gepäckausgabe und holten seinen Koffer ab.

Es waren viele Menschen in der großen Halle, aber Vanessa hatte das Gefühl, allein zu sein mit Panos. Sie gingen ins Freie und zu Vanessas Wagen. Immer noch sprachen sie nicht miteinander. Sie fuhren los — Vanessa am Steuer —, und Panos räusperte sich, rückte an seiner Krawatte, strich sich durch das dichte schwarze Haar. Zuletzt sagte Vanessa, und jetzt war ihr Lächeln natürlich: »Aufgeregt?«

»Ja«, sagte Panos.

»Ich auch. So aufgeregt wie ich kannst du gar nicht sein. Hast du in der Maschine gegessen?«

»Nein.«

»Wunderbar. Ich habe ein Abendessen für uns vorbereitet!«

»Das hättest du nicht tun sollen. In einem Restaurant …«

»Restaurant! Bist du verrückt? Du kommst zu mir! Ich habe eine kleine Wohnung, Panos … sie wird dir gefallen.« Langsam fand Vanessa die Sprache wieder. Sie sah Panos von der Seite an. »Du siehst gut aus.«

»Britt! Paß auf! Der Omnibus!«

»Du siehst ganz großartig aus«, sagte Vanessa. »Noch viel besser als vor einem Jahr. Was macht die Sorbonne? Geht es gut? Sicherlich geht es sehr gut.« Sie kamen im abendlichen Verkehr nur langsam vorwärts. Vanessa mußte sich auf das Fahren konzentrieren.

»Wohnst du noch in unserem Hotel?«

»Nein …«

»Aber du hast doch meinen Brief bekommen?«

»Ja, natürlich. Sie … schicken mir die Post nach.«

»Ich bin so froh, Panos, so froh, daß du endlich da bist. Ich habe schreckliche Sehnsucht nach dir gehabt!«

Er sagte verlegen: »Du mußt mir verzeihen, Britt …«

»Aber ich habe dir doch längst verziehen!«

»Das meine ich nicht … Ich war … Ich habe … es ist … Ich muß dir das alles erklären … so viel erklären …«

»Später«, sagte Vanessa, und ihre Augen leuchteten vor Glück, »später wirst du mir alles erklären, Panos. Wir haben Zeit. Wir haben jetzt so viel Zeit …«

Er schwieg.

Vanessas Wohnung war modern eingerichtet. Ich hatte ihr seinerzeit noch bei der Auswahl der Möbel, der Teppiche, der Vorhänge geholfen. Im Wohnzimmer gab es eine kleine Bar. Vanessa machte Martinis. Dann bat sie Panos, sich einen Moment zu setzen. Sie hatte das Abendessen schon vorbereitet und mußte es nun nur noch fertigstellen. Sie eilte in die kleine Küche, nachdem sie einen Radioapparat eingestellt hatte, der leise, zärtliche Musik übertrug. Panos saß unter einem Bücherbord und trank seinen Martini. Er machte sich noch einen zweiten und einen dritten, während Vanessa, einen weißen Kittel über dem sandfarbenen Kleid, das ihren Körper modellierte, in der Küche hantierte.

»Es gibt Sahnegulasch mit frischen Champignons!« rief sie durch eine halb geöffnete Tür. »Gulasch hast du doch gern, nicht wahr?«

»Sehr!« rief Panos.

»Alle Männer haben Gulasch gern. Dazu gibt es grünen Salat und vorher Schildkrötensuppe. Und Reis zum Gulasch!«

Panos hörte Vanessa mit Töpfen und Löffeln klappern. Dann erschien sie wieder, erhitzt, ohne den Kittel, mit einem Knicks.

»Monsieur, est servi!«

Sie hielt Panos beide Hände entgegen und führte ihn in das kleine Speisezimmer, das ganz in den Farben Weiß und Rosa gehalten war. Weiß und rosa waren die Tapeten, weiß die Möbel, der Tisch und die Stühle, rosa ihre Bezüge, das Tischtuch, die Servietten und die Vorhänge. Auf einem kleinen Tischchen stand ein Silberkübel mit einer Champagnerflasche.

»Machst du sie auf, bitte?« Vanessa hatte rote Flecken auf den Wangen. »Ich konnte mein Leben lang keine Champagnerflasche öffnen.« Sie reichte Panos eine Serviette. Er öffnete die Flasche, aber er tat es ungeschickt, etwas Schaumwein spritzte über das Glas, das Vanessa ihm hinhielt, hinweg und traf ihr Kleid. Vanessa lachte entzückt.

»Du kannst es ja auch nicht!«

Dann prosteten sie einander zu und tranken stehend. Panos füllte die Gläser nach, während Vanessa sich schon setzte. Die Schildkrötensuppe aßen sie schweigend. Vanessa huschte in die Küche. Sie verbot Panos, ihr zu helfen. Sie brachte die Schüsseln und die angewärmten Teller selbst herein, sie trug Panos und sich auf.

Panos lobte das Gulasch.

Vanessa strahlte ihn an.

Panos aß etwa den halben Teller leer, dann ließ er Messer und Gabel sinken. »Was hast du? Ist dir nicht gut?« fragte Vanessa alarmiert.

Er schüttelte den Kopf.

»Was ist es dann? Schmeckt dir das Essen nicht?«

»Doch, sehr, aber ich …«

»Ja?«

Panos sagte: »Ich hätte nicht hierherkommen dürfen. Ich hätte es dir auf dem Flughafen sagen müssen. So hatte ich es mir vorgenommen. Es war ein Fehler, mit dir zu kommen. Es macht alles noch einmal so schwer.«

»Was macht es noch einmal so schwer?«

Er antwortete nicht.

»Panos!«

Er stürzte ein Glas Champagner hinunter.

»Es ist alles ein Irrtum«, sagte er heiser. »Ein schrecklicher Irrtum. Ich … ich kann nichts dafür, Britt … oder ja, doch … Ich bin extra hergekommen, um dir alles zu erklären …«

»Erklären, was?«

»Britt, die Todesanzeige meiner Mutter …«

»Was ist mit der? So sprich doch!«

»Die hast du irrtümlich erhalten … du hättest sie gar nicht bekommen sollen …«

»Warum hast du sie mir dann geschickt?«

»Ich habe sie nicht geschickt?«

»Wer dann?«

»Georgette.« Panos sah Vanessa mit flackernden Augen an.

»Wer ist Georgette?«

»Meine Frau«, sagte Panos Mitsotakis.

___________

Etwa zu dieser Zeit traf ich mit Lillian in Frankfurt ein, in der Humperdinckstraße. Ich führte sie zu meiner Wohnung hinauf, und als ich diese wiedersah und in ihr meine Schallplatten, Bücher, Pfeifen und den kleinen Utrillo, da fiel mir ein, was ich gedacht hatte, als ich die Wohnung zum letztenmal, gemeinsam mit Minski, verließ, um nach Treuwall zu fahren.

Fraglich, sehr fraglich, hatte ich da mit einem argen Vorgefühl gedacht, ob du jemals wieder hier wohnen wirst.

Nun war ich heimgekehrt. Meine bösen Gefühle hatten sich nicht erfüllt. Alles wird gutgehen, dachte ich, alles wird ein gutes Ende finden. Pfeifend begann ich, die vielen Gepäckstücke Lillians aus dem Thunderbird in die Wohnung hinaufzubringen.

In der stillen Straße bemerkte ich einen Wagen, der etwa dreißig Meter hinter meinem parkte. Zwei Männer saßen darin. Ich hatte diesen Wagen schon auf der Autobahn bemerkt. Die Männer hatte ich auch gesehen, solange es noch hell war. Ich kannte sie beide nicht. Das waren also neue Bewacher. Olsen schien im Moment nicht im Dienst zu sein. Oder er war es, und ich sah ihn nur nicht. Daß Paradin neue Männer eingesetzt hatte, freute mich. Er konnte nicht nur Verräter um sich haben. Und es war mir jetzt sehr wichtig, daß keine Verräter wie Olsen, sondern zuverlässige Beamte uns bewachten — Lillian und mich.

Vor meiner Abreise war ich, tags zuvor, noch einmal zu Paradin gerufen worden …

»Frau Lombard wird morgen aus dem Krankenhaus entlassen«, sagte der kleine Mann mit dem weißen Haar, in seinem Büro umherhinkend. »Ich nehme an, sie will gleich hier fort.«

»Ja.«

»Wohin?«

»Ich habe ihr versprochen, sie vorläufig nach Frankfurt zu bringen. In meine Wohnung. Wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Was sollte ich dagegen haben?«

»Nun, Sie könnten Frau Lombard ersuchen, noch hierzubleiben, weil Sie ihr Fragen zu stellen haben …«

»Ich habe mich oft und ausführlich mit Frau Lombard unterhalten. Auch noch am Sonntag«, sagte Paradin.

»Ich weiß«, sagte ich.

Er trat nahe an mich heran und sah mir in die Augen. Ich erwiderte den Blick fest und ruhig. Das ist ein Trick, man muß ihn nur können. Ich kann ihn.

»Ritche«, sagte der kleine Mann, »das ist jetzt die letzte Gelegenheit, sich alles von der Seele zu reden. Wir haben gerade noch die Ruhe vor dem Sturm. Lange kann es nicht mehr dauern, bevor etwas geschieht … und dann ist es zu spät. Dann kann ich Ihnen nicht mehr helfen. Also …«

»Also was?«

»Also reden Sie. Ich verspreche Ihnen, daß ich alles, was in meiner Macht steht, tun werde, um Sie trotzdem zu schützen oder Ihnen zu helfen, was immer Sie getan haben. Hören Sie, Ritchie, ich verspreche es Ihnen!«

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«

»Ritchie, wir kennen uns so lange. Ich … ich habe Sie gern … Seien Sie vernünftig … kommen Sie auf meine Seite …«

»Ich bin nicht auf der anderen! Daß sich unser Verhältnis getrübt hat, tut mir genauso leid wie Ihnen, Doktor … aber ich kann nichts dagegen tun. Sie vergessen, daß ich es war, der Sie überhaupt auf Delacortes Spur brachte …«

»Das vergesse ich nicht«, sagte er leise. »Daran denke ich dauernd. Daraus ließen sich Entlastungsgründe konstruieren, wenn Sie unter der Anklage stehen, an der Vorbereitung einer Flucht Delacortes beteiligt gewesen zu sein …«

»Das glauben Sie noch immer?«

»Davon bin ich mehr denn je überzeugt.«

Ich sagte heftig: »Ich habe jetzt genug! Können Sie mir auch nur das geringste nachweisen?«

»Nein. Leider.«

»Dann will ich in Frieden gelassen werden, hören Sie! Ich habe auch von Ihrem Schnüffler, diesem Olsen, genug. Ich will nicht immer weiterbewacht werden! Das ist ja zum Kotzen!«

»Wie lange Sie überwacht werden, müssen Sie schon mir überlassen«, sagte Paradin.

Und damit wußte ich, was ich wissen wollte.

»Dann kann ich also jetzt gehen?«

»Sie können gehen«, sagte Paradin und wandte mir den Rücken.

Ich ging. Paradin war genau in der Verfassung, in der Geyer und dessen Auftraggeber ihn haben wollten, dachte ich.

Den Rest dieses Montags (an dem es übrigens wieder in Strömen regnete) verbrachte ich im Hotel. Ich sprach auf Band, stundenlang. Das war gut gegen meine Nervosität, und ich mußte auch mit dieser Arbeit fertig werden. Sechs Bänder hatte ich Werner schon gegeben, am Montagabend gab ich ihm die restlichen vier. Die hatte ich auch zweispurig besprochen, nur das zehnte Band war nicht mehr voll geworden. Trotzdem hatte Werner da eine Riesenbeichte in der Hand. Ich gab ihm auch das Tonbandgerät und die blaue Tasche. Er machte ein paar Stichproben mit den Bändern und zeigte sich zufrieden.

»Also, du haust morgen ab. Mit Lillian. Glücklicher Ritchie. Bin neugierig, was du dir ausgedacht hast, um mich noch hereinzulegen.«

»Laß die Manuskripte am Donnerstag um halb elf noch nicht im ›Strip‹ sein, und du wirst es schnell erfahren.«

»Ach«, sagte er lachend, »du verstehst mich schon richtig. Du hast dir doch für alle Fälle etwas ausgedacht. Es wird nur nicht klappen, Ritchie.«

»Wenn ihr mich in Ruhe laßt, lasse ich euch in Ruhe«, sagte ich kurz.

»Es wäre gut, wenn du es tätest, mein Kleiner. Du bist den Brüdern nicht gewachsen. Sieh es ein. Auch mir bist du nicht gewachsen. Das weißt du. Schön still sein — das wäre die Rettung für dich. Aber ich kann dir natürlich keine Vorschriften machen.«

Als ich ging, lachte er noch immer. Ich kenne alle seine Arten zu lachen, das sagte ich schon. Da war wieder Angst in seinem Lachen.

»Meine ergebenen Grüße an Lillian«, rief er mir nach.

Ich ging in die Bar hinunter und trank noch einen letzten Whisky mit Pierre. Dies war ein Abschied, der mir ein wenig naheging. Ich glaube, er merkte es, denn er sagte: »Ich werde oft an Sie denken, Herr Mark. Ich habe mir heute ein Buch von Ihnen gekauft und schon angefangen zu lesen. Prima!«

»Wie heißt es?«

»›Schwarz‹«, sagte er prompt. »Dafür haben Sie einen Preis gekriegt, gelt? Und für den Film auch? Den Film hab ich gesehen, seinerzeit. Prima, also wirklich!«

Ich schlief tief und traumlos in dieser Nacht. Am nächsten Morgen packte ich meine Sachen, bezahlte meine Rechnung und verteilte Trinkgelder — keine zu großen, denn ich hatte nicht die Absicht, noch einmal hierherzukommen. Als ich in meinen Wagen stieg, traten die jungen Verliebten aus dem Hotel. An diesem Tag regnete es nicht, es war nur sehr windig. Die beiden hatten sich warm angezogen, dicke Mäntel und Hosen und feste Schuhe, er trug eine Mütze, sie ein Tuch auf dem Kopf. Ich winkte ihnen zu. Sie kamen heran, und ich verabschiedete mich auch von ihnen. Sie sagten, sie wollten noch eine Weile bleiben.

»Es ist so wunderschön hier«, sagte das Mädchen. »Noch nie habe ich mich an einem Ort so wohl gefühlt.«

Der Junge sagte: »Wir wünschen Ihnen eine angenehme Fahrt.«

»Danke«, sagte ich. »Sie machen wohl einen Ausflug?«

»Ja, in die Heide. Wir wollen weit hinausfahren und ordentlich herumlaufen heute.«

»Und dann am Abend wieder eine Flasche Sekt auf dem Zimmer trinken.« Sie lachten beide, und ich beneidete sie. Als ich losfuhr, standen sie noch lange da und winkten mir nach, ich sah es im Rückspiegel. Ich steckte die linke Hand aus dem Fenster und winkte zurück.

Ich holte Lillian im Krankenhaus ab und erledigte auch hier alle Formalitäten, und dann fuhren wir in die Waldpromenade. Der Kriminalbeamte, der vor Lillians Tür Wache gehalten hatte, fuhr mit. Er besaß die Hausschlüssel, die man bei Lillian gefunden hatte, als man sie in das Krankenhaus brachte. In der Villa war es kalt. Ich half Lillian ein paar große Koffer packen. Das dauerte doch eine ganze Weile. Sie hatte viele Kleider und Mäntel, und viel Wäsche und Schuhe und anderen persönlichen Besitz. Sie nahm nicht alles mit. Der Kriminalbeamte stand immer in ihrer Nähe und half und sprach kaum. Er war ein kleiner Mensch. Es machte mich rasend nervös, Lillian beim Packen zuzusehen, obwohl ich wußte, daß das ungerecht war, denn sie beeilte sich, sosehr sie konnte, aber die liebevolle Art, mit der sie ihren Besitz verstaute, ärgerte mich. Ich versuchte, ein Gespräch mit dem Kriminalbeamten anzufangen. Er blieb sehr einsilbig, und bald wußte ich auch, was ihn bedrückte. Er war mit Paul Erichsen befreundet gewesen. »Wie geht es Frau Erichsen?«

»Sie wird darüber hinwegkommen.«

»Immer noch keine Spur von ihrem Mann?«

»Nicht die geringste. Ich glaube auch nicht, daß wir ihn noch finden werden«, sagte der kleine Kriminalbeamte. »Ich kümmere mich um seine Frau. Ich habe eine Schwester. Die ist jetzt zu ihr gezogen und paßt auf, daß sie anständig ißt und so.«

Der Thunderbird war schwer beladen, als ich endlich abfuhr, der Gepäckraum ließ sich eben noch schließen, und auch im Fond lagen Koffer. Auf der Autobahn schlief Lillian hinter Hildesheim ein und wachte erst knapp vor Kassel wieder auf. Ich hatte mir im Hotel einen Korb mit belegten Broten packen lassen und auch eine große Thermosflasche mit heißem Kaffee mitgenommen. So hielt ich — es war inzwischen schon dunkel geworden, und wir hatten beide seit dem Frühstück nichts mehr gegessen — auf einem Rastplatz und öffnete das Körbchen. Ich hatte kaum Hunger, Lillian auch nicht, aber ich sagte, daß wir trotzdem etwas essen müßten. Nach dem heißen Kaffee fühlten wir uns besser. Wir parkten auf dem verlassenen Platz zwischen kahlen Bäumen, der Wind rüttelte am Wagen, und ich ließ den Motor laufen, damit die Heizung weiter funktionierte und uns nicht kalt wurde. Wir saßen nebeneinander und aßen die Sandwiches und tranken den heißen Kaffee in kleinen Schlucken, und einmal kam ein Reh aus dem Wald und betrachtete den Wagen mit den abgeblendeten Lichtern. Es war ein junges, zartes Tier, das plötzlich mit großen Sprüngen wieder in die Dunkelheit hinein davonstürmte.

Ich fuhr weiter, und als ich beim nächsten Parkplatz vorüberkam, rollte dort der Wagen unserer Beschützer hervor, sobald ich die Stelle passiert hatte, und sie folgten — in großem Abstand. Als wir das Stadtgebiet von Frankfurt erreichten, glaubte ich zweimal, Olsens Wagen zu erkennen. Er hatte ja gewußt, daß wir nach Frankfurt fahren würden, und er konnte also berechnen, wann etwa wir eintreffen mochten. Er hätte nur beim Ende der Autobahn warten müssen. Wenn er es wirklich war, hatte er es auch getan. Nun, da ich Lillians viele Koffer aus dem Thunderbird in meine Wohnung hinauftrug, sah ich Olsens Wagen aber nicht. Nur der andere, mit den beiden anderen Beamten, parkte ein Stück weiter die Straße hinunter. Es war auch in Frankfurt sehr windig, aber nicht kalt. Ich räumte den ganzen Wagen aus — bis auf zwei Koffer, die ich im Gepäckraum ließ und einschloß. Einer gehörte mir, einer Lillian. Es waren die Koffer, die wir mitnehmen wollten, wenn wir flüchten mußten. Wir hatten uns beide genau überlegt, was wir in diese Koffer packten. Dann war ich endlich in meiner Wohnung. Lillian sprach wenig. Wenn sich unsere Blicke trafen, lächelte sie, und sie schien glücklich zu sein. Sie sagte, der Tag habe sie sehr ermüdet. Ich kochte noch einmal heißen Kaffee, und wir tranken ihn und aßen die restlichen Brötchen dazu, denn ich hatte keine Lebensmittel im Hause, und Lillian wollte nicht noch einmal fortgehen und in einem Restaurant essen.

»Ich muß ins Geschäft«, sagte ich. »Was wirst du machen?«

»Ein warmes Bad nehmen«, sagte Lillian. »Und dann schlafen.«

Ich hatte ein breites französisches Bett, aber wir überzogen auf alle Fälle noch ein zweites Kissen und eine zweite Decke, damit ich Lillian, wenn ich heimkehrte, nicht weckte.

»Wann wirst du kommen, Ritchie?«

»Spät wahrscheinlich. Sehr spät.« Ich mußte vieles mit Minski besprechen. »Ich lasse dir Haus- und Wohnungsschlüssel da. Schließ dich richtig ein, aber zieh die Schlüssel ab, damit ich hereinkann. Öffne keinem Menschen. Geh auch nicht ans Telefon. Wenn ich anrufe, dann lasse ich es zuerst dreimal läuten, hänge dann ein und rufe wieder an.«

Lillian nickte gähnend.

»Mach wirklich, daß du ins Bett kommst.«

»Ich werde morgen auspacken«, sagte Lillian »Morgen … übermorgen ist Donnerstag. Glaubst du, wir werden …«

»Nein«, sagte ich.

»Aber du bist nicht ganz sicher?«

»Nein.«

»Mach nicht so ein Gesicht, Ritchie. Hast du denn Angst?«

»Ein wenig doch.«

»Ich nicht. Jetzt, wo ich bei dir bin, habe ich gar keine Angst. Werden wir die Pässe bekommen?«

»Bestimmt.«

»Dann soll geschehen, was will. Es ist mir egal. Solange wir zusammen sind, ist mir alles egal. Weißt du, daß wir es nun zum erstenmal wirklich sind seit so vielen Jahren … wirklich zusammen?«

Ich nickte.

»Kuß mich, Ritchie.«

Ich küßte sie lange, und ihre Lippen waren weich und warm und wunderbar, und sie drückte ihren Körper an meinen.

»Sag, daß du mich liebst«, flüsterte sie.

»Ich liebe dich.«

»Und ich dich«, flüsterte sie. »Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich.«

Ich zog meinen Smoking an, nachdem ich kurz gebadet hatte, verabschiedete mich und versperrte das Yaleschloß der Eingangstür von außen. Dann ging ich hinunter und trat auf die Straße hinaus. Der Wagen mit den beiden Männern war immer noch da. Als ich in den Thunderbird stieg, trat einer der Männer ins Freie und begann langsam auf und ab zu gehen. Der andere fuhr hinter mir her. Am Ende der Humperdinckstraße erblickte ich dann Olsens Wagen. Im Vorbeifahren sah ich ihn am Steuer sitzen. Bei der nächsten Verkehrsampel, die auf Rot stand, konnte ich beide Autos im Rückspiegel erkennen.

___________

»Wer ist Georgette?« fragte Vanessa.

»Meine Frau«, antwortete Panos Mitsotakis.

Sie saßen einander an dem liebevoll gedeckten Tisch in Vanessas rosa und weiß eingerichtetem kleinen Speisezimmer gegenüber, und nun ließen sie beide Messer und Gabel sinken und sahen sich an. Nachtwind rüttelte ein wenig an einem Fensterladen irgendwo in dem großen Haus, es war ein leises Geräusch.

»Schrecklich«, sagte Panos unglücklich. »Es ist ganz schrecklich, was da passiert ist. Deshalb bin ich zu dir gekommen. Um es dir zu erklären. Um zu erklären, wie das passieren konnte. Wirklich, Britt, ich wollte dir doch nicht weh tun. Als ich es erfuhr, war es schon zu spät und …«

»Als du was erfuhrst?«

»Daß Georgette dir eine Todesanzeige geschickt hatte. Darauf kam ich erst, als ich deinen Brief erhielt.«

»Geor … deine Frau hat mir die Anzeige geschickt? Nicht du?«

»Ich war doch nicht da. Ich flog nach Athen, zum Begräbnis meiner Mutter, und in der Zwischenzeit verschickte Georgette die Anzeigen. Ich war so verzweifelt … Ich habe meine Mutter sehr geliebt .., ich wußte in diesen Tagen überhaupt nicht, was geschah und was ich tat …« Panos redete jetzt französisch und schnell.

Der Fensterladen klapperte.

»Georgette ließ die Anzeigen drucken, dann stellte sie aus allen meinen alten Notizbüchern eine Liste zusammen und zeigte sie mir und fragte nur, ob sie an alle diese Adressen Karten schicken sollte. Ein Teil der Karten war griechisch, weißt du — für meine Freunde in Athen. Der andere Teil war französisch. Man hat doch viel mehr Freunde und Bekannte, als man glaubt, und Georgette sagte, man müsse allen Karten schicken … Sie ist sehr fromm …«

»Wie kam deine Frau zu meiner Adresse?« fragte Vanessa. Ihre Stimme war nun ruhig und gefaßt. »Du hast doch meine Briefe immer zurückgeschickt.«

»Das ist richtig … aber damals, in den ersten Wochen, da wollte ich dir immer wieder schreiben … Ich war damals so unglücklich, nachdem du mich verlassen hattest … sehr unglücklich … Ich konnte dir nicht schreiben … ich wollte mit dir nichts zu tun haben ich haßte dich dafür, daß du weggegangen warst … und gleichzeitig sehnte ich mich nach dir … Das ist verrückt, ich weiß …«

»Es ist gar nicht verrückt«, sagte Vanessa leise. Sie schenkte sich noch ein Glas Champagner ein. »Willst du auch?«

»Nein, danke.«

»Schade«, sagte Vanessa. »Schade um das Essen. Wenigstens der Champagner soll nicht verkommen.« Sie trank ihr Glas leer und füllte es wieder. »Und so hast du meine Adresse aufgeschrieben?«

»ja … in ein Notizbuch … da fand Georgette sie … und setzte sie auf die Liste … Ich … ich sah mir die Namen auf dieser Liste überhaupt nicht richtig an, verstehst du … Ich sagte, es sei schon alles gut so … ich konnte nur an meine tote Mutter denken …«

»Also das war die Schrift deiner Frau«, sagte Vanessa. »Natürlich. Deine Schrift kenne ich gar nicht, habe ich ja nie gesehen. Wie lange bist du schon verheiratet?«

»Seit Mai.«

»Seit sechs Monaten schon?«

»Ja. Ich … ich hielt das Alleinsein nicht mehr aus. Ich lernte Georgette im Winter kennen … da kam sie an die Sorbonne. Sie stammt aus Nancy, weißt du … vorher ging sie dort zur Universität . Ihr Vater ist Arzt …«

»Wo wohnst du jetzt?«

»Georgette hatte eine kleine Wohnung am Quai d’Orléans … auf der Ile Saint-Louis … ganz vorne, an der Inselspitze, gegenüber der Cité und Notre-Dame …«

»Das ist eine sehr gute Gegend …«

»Ja.«

Vanessa sah ihn an.

»Du fährst nicht mehr Taxi, wie?«

Panos errötete.

»Die Wohnung gehört einer Tante von Georgette, die gestorben ist … Sie hat sie geerbt … sie ist nicht reich, wenn du das meinst …«

»Aber auch nicht arm.«

»Nein, das auch nicht … Ihr Vater hat eine gutgehende Praxis … er schickt ihr jeden Monat einen ziemlich großen Scheck … Aber ich lebe nicht von ihr, Britt! Ich verdiene selbst Geld! Ich gebe Nachhilfeunterricht in Physik und Chemie und Mathematik … ich habe viele Schüler … ich verdiene gut, wirklich …«

»Das freut mich«, sagte Vanessa. »Warum hast du mir die Nelken geschickt?«

»Ich … ich wollte etwas Nettes tun … Ich schämte mich so … und auch Georgette war ganz unglücklich, als sie erfuhr, was geschehen war … Sie ist nicht eifersüchtig …«

»Das braucht sie ja auch nicht zu sein.«

»Sie sagte, ich müsse das in Ordnung bringen … Es tut ihr auch so leid … ich soll dich grüßen … sie bittet um Entschuldigung …«

»Wofür?« fragte Vanessa und trank wieder Champagner.

»Nun, wir haben … sie hat … Wir haben dich doch verletzt … dir weh getan … mein Gott, du mußt doch gedacht haben, daß ich …«

»Ja, das habe ich tatsächlich gedacht«, sagte Vanessa. Sie lächelte. »Aber nun weiß ich ja Bescheid.«

»Du bist tapfer«, sagte er.

»Wenn du wüßtest, wie feige ich bin … zu feige zum Weinen … Hast du hier an der Universität zu tun? Ist das wahr? Oder bist du extra meinetwegen hergekommen?«

Panos sagte: »Nein, das ist wahr. Man hat mich ausgesucht, um morgen hier einen Vortrag zu halten … über … das spielt keine Rolle. Eine Arbeit, mit der ich mich seit zwei Jahren beschäftige … ich habe darüber geschrieben … Professoren hier haben es gelesen … Sie waren so beeindruckt, daß sie mich einluden, in der Universität zu sprechen … Das ist eine große Ehre, nicht wahr?« Panos sprach nun deutsch und französisch durcheinander. Er fühlte sich grenzenlos erleichtert. Sie macht mir keine Szene, dachte er. Sie weint nicht. Sie schreit nicht. Sie ist ein gutes Mädchen. Und ich bin ein anständiger Kerl. Ich habe mich nicht vor dieser Begegnung gedrückt …

»Die Universität hier hat mir den Flug bezahlt … und ein Zimmer in einem Hotel reservieren lassen … Ich müßte vielleicht einmal in diesem Hotel anrufen und sagen, daß ich gelandet bin … damit sie das Zimmer nicht weggeben … Dürfte ich kurz telefonieren, Britt?«

»Natürlich«, sagte Vanessa. »Und ruf dir auch gleich ein Taxi, das dich hinbringt. Du wirst müde sein. Und du mußt dich ordentlich ausschlafen … für deinen Vortrag morgen.«

Er sah sie unsicher an.

»Du willst, daß ich schon gehe?«

»Ja«, sagte sie, »das will ich. Es wäre sehr lieb von dir, wenn du jetzt gehen würdest, Panos. Du kannst nichts dafür … für nichts … Ich verstehe dich gut … es war sehr … sehr lieb von dir, mich zu besuchen und mir alles zu erklären … Aber jetzt … jetzt wäre es mir angenehm, wenn du gehen würdest … Das Telefon ist nebenan. Ein Telefonbuch auch.«

Er ging in das Wohnzimmer und telefonierte mit seinem Hotel und mit einem Taxistand. Dann ging er in den Vorraum und zog seinen Mantel an. Den Koffer in der Hand, kam er in das Speisezimmer zurück, wo Vanessa immer noch vor ihrem halbvollen Teller saß.

»Leb wohl, Britt«, sagte Panos.

Er hielt ihr eine Hand hin.

Sie ergriff sie kraftlos.

»Leb wohl, Panos«, sagte Vanessa, ohne ihn anzusehen. »Alles Gute für dich. Und grüß deine Frau von mir. Alles Gute auch ihr. Und ich halte dir morgen die Daumen für deinen Vortrag.«

Er küßte ihr Haar, strich darüber und ging dann leise zur Tür, die hinter ihm zufiel. Vanessa rührte sich nicht. Nach langer Zeit erhob sie sich und begann den Tisch abzudecken. Sie trug Teller und Schüsseln und Besteck in die kleine Küche zurück. Die Schüssel mit dem Sahnegulasch entglitt ihren Händen und zerbrach. Der Inhalt spritzte über den Küchenboden. Da begann Vanessa zu lachen.

___________

»Na ja«, sagte Minski, »und das wäre dies.«

Wir hockten in unserem Büro im »Strip«, und er hatte mir eben die Geschichte von Panos und Vanessa erzählt, so wie Vanessa sie ihm erzählt hatte, eine Stunde zuvor. Jetzt saß sie draußen, im Spiegelraum, neben der Schalke. Der Kesse Vater war außer sich vor Aufregung und Glück, weil Vanessa sich von ihr streicheln und angreifen und küssen ließ, und Vanessa war betrunken, aber sehr manierlich; wenn Minski es mir nicht gesagt hätte, wäre es mir nicht aufgefallen. Sie trug ein schulterfreies, sehr tief dekolletiertes schwarzes Kleid, und die Schalke griff ihr immer wieder an den Busen. Sie war heute allein gekommen, Tonio Prinz fehlte. Offenbar saß ihm noch der Schreck seines Erlebnisses mit der Pythonschlange in den Knochen.

Diese Schlange hatte übrigens Corabelles eigener Python, der guten Annamaria, die krank gewesen war, Platz gemacht. Mit Annamaria führte die große blonde Corabelle ihre Nummer vor. Zu Musik von Mantovani und seinem Orchester. Das war die Musik, die sie bevorzugte. Durch den Einwegspiegel konnten wir der Vorführung zusehen. Der Raum war wieder in rotes Licht getaucht, voll bis auf den letzten Platz, und Corabelle machte ihre Sache sehr gut. Es war auch eine recht aufregende Nummer mit der Pointe, daß Annamaria eine außerordentlich zärtliche Python war. Sie schubberte ihren Kopf über Corabelles ganzen nackten Körper, wobei sie bei den Ohrmuscheln anfing, und dann machte sie eine Menge mit ihrem Schlangenschwanz, eigentlich die Hauptsache. Mit dem Schwanz streichelte sie Corabelle zärtlich — die Hüften, die Brustwarzen, den Bauch und endlich, gegen Ende der Nummer, den Unterleib, vorn und hinten. Die Nummer dauerte an die zwanzig Minuten, und Corabelle spielte das Mädchen, das sich unter den Liebkosungen der Python mehr und mehr aufregte, mit Zucken, Wippen, Biegen, Gliederverrenken und Stöhnen. Gegen den candle-act war es nur eine zweitklassige Sache, natürlich, aber eine sehr gute zweitklassige Sache.

»Und sie hat darüber gelacht?« fragte ich Minski und betrachtete Vanessa, die sich von Petra Schalke streicheln ließ. Die Schalke machte alles nach, was die Python bei Corabelle machte — soweit das ging. Es ging sehr weit, denn das Licht war sehr gedämpft draußen im Spiegelraum. Wir hatten die Außenlautsprecher eingeschaltet. Die Geigen von Mantovanis Orchester schluchzten.

»Dauernd gelacht«, sagte Minski. »Hysterie natürlich. Und Alkohol. Eine Menge Alkohol.«

»Armes Ding.«

»Armes Ding, nebbich!« sagte Minski erregt. »Was hat sie sich vorgestellt, frag ich dich? Einen Tag und eine Nacht — nicht mal einen ganzen Tag! — verbringt sie mit dem Kerl. Prima Nacht, meinetwegen. Hat es geschnackelt. Schön. Aber dann? Alle ihre Briefe schickt er zurück. Ein Jahr läßt er nichts von sich hören. Dann kommt eine Traueranzeige. Was ist eine Traueranzeige? Das kann sich doch jeder normale Mensch ausrechnen, daß da was nicht stimmt!«

»Vanessa ist aber kein normaler Mensch«, sagte ich. »Wir kennen sie. Du weißt so gut wie ich, was sie hinter sich hat, daß sie gestört ist. Gestört und allein. Verlassen. Immer Pech mit Männern. Ihr Vaterhaß. Und da kam dieser eine Mann, bei dem sie glücklich war. Daß sie hier überhaupt aufgetreten ist, ein Mädchen wie sie, ist mindestens so verrückt wie das, was sie nun von Panos erwartet hat.«

»Mit fünf Groschen Verstand hätte sie sich aber doch sagen müssen .. .«

»Das hat mit Verstand überhaupt nichts zu tun. Sicherlich gibt es Frauen, haufenweise, die hätten anders reagiert als Vanessa! Nüchterner, logischer. Was willst du? Vanessa ist immer noch ein halbes Kind … und sie wird immer eines bleiben. Sie wird nie richtig erwachsen werden wie andere Menschen. Das weißt du. Tu jetzt nicht so. Wenn du es nicht wüßtest, warum hast du sie dann immer behandelt wie unser Kind? Warum hast du sie aus dem Vertrag entlassen? Ich will dir mal was sagen, Boris: Wenn du ganz ehrlich bist … für möglich gehalten hast du es auch, daß Panos zu Vanessa zurückkommt. Möglich wäre es gewesen!«

»Möglich … dafür kann ich mir nichts kaufen! Ich an Vanessas Stelle …« Er brach ab. »Ist gut, Ritchie. Du hast recht. Was wissen wir von Frauen? Nichts. Überhaupt nichts! Ich sag nichts mehr. Es ist scheußlich für die Kleine. Hat sie nicht verdient …«

»Was wird sie jetzt machen?«

»Hat sie nicht gesagt. Aber wenn ich mir anschau, was sie da draußen aufführt …«

»Betrunken.«

»Sag das nicht. Irgendwas ist anders bei Vanessa. Sie hat einen Knacks weggekriegt fürs Leben, heute abend. Was soll ich damit machen?« Er tippte auf die alte Partitur der Neunten Symphonie. Die hatte ich in meinem Thunderbird, auf dem Rücksitz, gefunden, als ich den Wagen in den Hof fuhr. Sie war mir beim Auspacken entgangen.

»Steck sie in den Geldschrank«, sagte ich. »Sie ist ziemlich wertvoll, und ich will sie nicht in der Wohnung herumliegen lassen. Vor allem wenn ich nicht weiß, wie lange ich in der Wohnung bleiben kann. Apropos …«

Mantovani spielte »C’est si bon«, und Annamarias Schwanz strich Corabelle über das Rückgrat, hinauf und hinunter. Sehr hoch hinauf, sehr tief hinunter. Sie wandte und drehte sich.

»Apropos ist alles in Ordnung. Ich hab mit dem Mann gesprochen. Morgen hat er beide Pässe. Werden erste Klasse, sagt er. Kostet was. Aber alles, was gut ist, kostet was. Wird übrigens nicht ganz ungefährlich sein, wenn ihr abhauen müßt … auch mit noch so erstklassig gefälschten Pässen.«

»Wieso?« fragte ich und ließ noch ein paar Platten auf den Dorn des eingeschalteten Plattenspielers gleiten, wo sie sich stapelten, und sah durch den Spiegel, wie die Schalke eine Hand in Vanessas Ausschnitt verschwinden ließ und wie Vanessa auf sie einredete. Die Schalke nickte dauernd mit dem Kopf.

»Wegen der Grenzkontrollen. Und den Kontrollen auf den Flughäfen. Paradin wird natürlich aufpassen, wer jetzt ins Ausland fährt oder fliegt. Dazu kommt, daß ihr vielleicht ganz schnell wegmüßt, und dann geht gerade kein Zug oder keine Maschine, die ihr brauchen könnt. Müßt ihr eben mit dem Wagen los. Aber der Wagen ist bekannt. Also ein Leihwagen. Gibt auch da noch eine Menge Schwierigkeiten.« Er hatte den alten Geldschrank geöffnet und legte die Partitur auf das Riesenmanuskript mit den unzähligen schlechten Anfängen zu meinem letzten Buch, das nie geschrieben worden war.

Annamarias Schwanz glitt jetzt zwischen Corabelles Schenkeln durch und tat ihr vorne wohl, und Corabelle schloß die Augen und wiegte sich in den Hüften und neigte sich so weit zurück, daß sie fast schon eine Brücke machte. Sie war eine erstklassige Akrobatin. Ich sah wieder zu der Schalke und zu Vanessa, und ich dachte, daß ich in meinem Leben noch nie ein so verklärtes Gesicht wie das des Kessen Vaters erblickt hatte. Ihre zweite Hand verschwand unter dem Tisch.

Minski sah ebenfalls durch den Spiegel.

»Das Mädel hat genug«, sagte er. »Hat die Nase voll. Als sie kam, ist sie in ihre Garderobe gegangen und hat alle Fotos von Griechenland und Paris und die Kinoplakate und die Bilder aus den Zeitschriften von den Wänden genommen und in kleine Stücke gerissen. Das hier hat sie uns geschenkt, zur Erinnerung. Weil sie uns doch jetzt verläßt.« Von seinem vollgeräumten Schreibtisch hob Minski den Zettel hoch, auf den Panos vor langer Zeit in griechischen Buchstaben den Satz Einsteins geschrieben hatte:

DER MENSCH HAT WENIG GLÜCK

»Sie hat gesagt, sie hat genug von Männern«, erklärte Minski betrübt, während draußen, im Spiegelsaal, die üppige, große Corabelle mit Annamaria zu einem sehr intimen Endspurt ansetzte. »Die Schalke hat also doch gewonnen. Ist immer alles nur eine Frage der Geduld.«

»Vanessa geht wirklich zu ihr?«

»Ja. Das hat sie jedenfalls gesagt. Und dann hat sie was Komisches gesagt …« Minski kratzte seinen Schädel.

»Was?«

»Daß wir warten sollen, bis sie zu uns kommt, nachher. Sie hat noch eine Überraschung für uns.«

Etwa eine halbe Stunde später kam Vanessa dann.

___________

»Ich habe nicht viel Zeit«, sagte sie.

Corabelle und Annamaria waren verschwunden, draußen wurde getanzt und getrunken. Die Schalke saß allein an ihrem Tisch und lächelte. Lächelte sehr glücklich, wie jemand, der sich seinem Ziel sehr nahe weiß.

»Ich darf Petra nicht zu lange warten lassen«, sagte Vanessa. Ihre Stimme klang heiser, sie war sehr betrunken, aber sie konnte sich fabelhaft beherrschen. »Gebt einem braven Mädchen was zu trinken. Whisky.«

Ich stand auf und machte ihr einen Whisky; sie schüttete ihn hinunter und hielt mir das Glas wieder hin, und ich goß es wieder halb voll.

»Ich brauche eine Menge, versteht ihr, Jungens?«

»Du mußt es nicht tun, Vanessa«, sagte Minski. »Du sollst es nicht tun. Schlaf dich aus. Es wird vorübergehen.«

»Was?«

»Dein Kummer.«

»Was für ein Kummer?« fragte Vanessa.

»Wegen Panos.«

»Wer ist Panos?« fragte Vanessa. »Ich mach eine Reise, Boris. Eine weite Reise. Eine Weltreise. Nächsten Monat. Wir haben schon alles besprochen. Ich werde ein halbes Jahr weg sein. Mindestens. Wir nehmen die Yacht von Petra. Die schöne Yacht. Die wunderbare Yacht. Es wird eine wunderbare Reise werden. Ich muß gleich wieder zu Petra zurück. Wißt ihr, sie ist eigentlich sehr nett. Wirklich. Dumme Vorurteile, die ich da gegen schwule Weiber gehabt habe. Ganz dumme Vorurteile.« Sie schwankte ein wenig. »Darf sie nicht warten lassen. Ich komme also gleich zur Sache, Boris, du mußt mir verzeihen.«

»Was?« fragte der gramvoll.

»Gestern, als dieser Mann da war, da habe ich an der Tür gehorcht.«

Minski wurde blaß. Meine Hände wurden feucht.

»Welcher Mann?«

»Hör auf«, sagte Vanessa. »Keine Zeit für den Unsinn. Der Mann, der Ritchie und Lillian die falschen Pässe macht.«

»Wirklich, Vanessa …«, begann ich, aber Minski winkte ab.

»Laß sie reden«, sagte er. »Na und, mein kleiner Schmetterling?«

»Du bist mir nicht böse, daß ich gehorcht habe? Ich habe es nur aus Angst und aus Sorge um dich und Ritchie getan. Weil ihr doch in dieser Geschichte so drinsteckt.«

»Es war sehr lieb von dir, zu horchen«, sagte Minski. »Zeigt, was du für eine treue Seele bist. Wirklich, ich bin sehr traurig darüber, daß du uns verläßt. Könntest du nicht …«

»Nein«, sagte Vanessa schnell und hart. »Hört weiter zu. Der Mann — nie werde ich euch natürlich verraten —, der Mann hat doch gesagt, es wird riskant sein für Ritchie und Lillian, wenn sie flüchten müssen. Die Kontrollen und so. Auf den Flughäfen und an den Grenzen. Auch wenn sie im Auto fahren, nicht?«

»Ja, und?« sage Minski. Er war jetzt ganz ruhig.

»Ritchie«, sagte Vanessa und goß selber ihr Glas wieder voll, »du weißt, wie gern ich dich habe. Wir hätten uns vielleicht sogar lieben können. Aber das ist eine andere Geschichte, wie Kipling sagt. Gebildet bin ich, was? Du weißt, daß ich nicht mehr eifersüchtig bin, Ritchie. Ich will, daß ihr glücklich seid und glücklich bleibt, Lillian und du. Und daß euch nichts passiert. Und da habe ich eine Überraschung für euch. In ihrem großen Glück hat Petra gesagt, ich darf mir wünschen, was ich will. Ich hab mir auch was gewünscht. Sie war ganz weg vor Rührung darüber, daß es ein so kleiner Wunsch ist. Und sie hat ihn mir sofort erfüllt.«

»Was für einen Wunsch?« Boris schrie plötzlich, um den Ventilator des Exhaustors zu übertönen, der sich wieder einmal scheppernd und tobend eingeschaltet hatte.

Schattenhaft glitten draußen die tanzenden Paare vorbei, »Blueberry Hill« spielte Mantovani, verklärt ins Leere blickte die Schalke an ihrem Tischchen …

»Petra hat doch ein Flugzeug, nicht?« schrie Vanessa. Sie trank einen Schluck. Etwas Whisky floß über ihr Kinn. »Eine Bonanza. Eine große. Ganz modernes Modell. Und einen Piloten.«

»Ja, und?«

»Und da habe ich ihr gesagt, ich will, daß sie mir die Bonanza und den Piloten gibt. Nicht als Geschenk. Nur als Spielzeug, wißt ihr. Ich habe gesagt, ich fliege so gern. Ist gar nicht wahr, aber sie glaubt es. Ich habe gesagt, ich will manchmal, ganz plötzlich, fliegen. Ich bin ein bißchen verrückt, habe ich gesagt. Ich bekomme solche Ideen. Und ob ich dann immer die Bonanza und den Piloten sofort haben kann. Und auch Freunde mitnehmen. Und ob ich die Maschine auch guten Freunden mal leihen darf, wenn die wohin müssen. Ich will angeben, als hätte ich die Bonanza, habe ich gesagt. Sie war entzückt. Kindchen nennt sie mich. Ihr Kindchen. Ihr kleines, süßes Kindchen.« Vanessa lachte. Dann wurde sie wieder ernst. »Sie hat gesagt, alle Polizisten und Zollbeamten auf dem Flughafen kennen ihren Piloten. Wohl heißt der. Und die Bonanza und der Wohl stehen ab sofort mir und allen meinen Freunden, Tag und Nacht, jederzeit zur Verfügung. Ein Anruf genügt, und Wohl ist in einer Stunde auf dem Flughafen. Wohnt da draußen. Die Bonanza ist immer startklar. Ich muß Wohl nur anrufen. Seine Nummer habe ich auch schon.« Vanessas Stimme war jetzt ein wenig verschmiert, der viele Alkohol begann sich doch bemerkbar zu machen, aber sie war immer noch klar im Kopf und wußte, was sie sagte. Sie sprach nur schneller. »Wenn ich nicht fliegen will, sondern Freunde von mir, muß ich das Wohl bloß sagen. Ihm ist es egal. Alles, was die Freunde brauchen, sind Pässe. Da fliegt er sie hin, wohin sie wollen. Petra, die Gute, hat ihn gleich informiert. Der ist froh, daß er mal was zu tun kriegt, glaube ich. Hoffentlich wird er ja nichts zu tun kriegen, aber wenn doch … du mußt es mir nur sagen, Ritchie. Nur sagen mußt du es mir. Und eine Stunde später könnt ihr abhauen, du und deine Lillian. Auf die bequemste und sicherste Weise. Das ist eine große Maschine. Sechs Personen. Kann Lillian sogar noch eine Menge Gepäck mitnehmen. Na, wie bin ich zu dir?«

»Großartig«, sagte ich.

Sie kam zu mir und küßte mich auf den Mund.

»Nicht wahr, ich bin großartig«, sagte sie. »Ich bin das großartigste Mädchen von der Welt. Petra sagt es auch …« Sie nahm ihre Nerzstola auf. »Ich muß wieder zu ihr. Lebt wohl, ihr Knaben.«

Sie verschwand schnell und ganz sicher auf den Beinen.

»Was hast du?« fragte Minski mit unsicherer Stimme. Er sah mich an.

»Woran denkst du?«

»Damals«, sagte ich, »in der Nacht, in der Lillian hier anrief, als alles begann, da war die Schalke bei Vanessa in der Garderobe und jammerte ihr was vor, wie üblich. Ich lauschte an der Tür. Und hatte das Gefühl, daß sie noch eine Rolle in meinem Leben spielen würde. Komisch, was man manchmal für Gefühle hat, nicht?«

»Sehr komisch«, sagte Minski. »Gott soll geben, daß nicht alle Gefühle, die man hat, in Erfüllung gehen. Ich hab auch welche, weißt du …«

In dieser Nacht kam ich spät heim, es war fast vier Uhr.

Lillian war munter. Sie habe kurz geschlafen, sagte sie, dann sei sie aufgewacht und habe nicht mehr einschlafen können. Ich zog mich aus und erzählte von Vanessa und dem Flugzeug, das uns nun stets zur Verfügung stand, und von den falschen Pässen, die wir bekommen sollten, und Lillian war sehr aufgeregt.

Ich ging ins Bad und duschte, und dabei dachte ich an die beiden Kriminalbeamten in dem Wagen, der wieder vor meinem Haus parkte. Ich konnte ihn sehen, wenn ich aus dem Wohnzimmerfenster sah. Es war jetzt ein anderer Wagen, und es waren andere Beamte. Sie lösten sich ab. Den Wagen Olsens sah ich nicht.

Ich ging nackt zurück zum Schlafzimmer, und wir liebten uns — nach mehr als zwei Jahren liebten wir uns wieder, und es war, als schliefen wir zum erstenmal zusammen. Wir waren voller Zärtlichkeit zueinander, es hatte sich sehr viel Leidenschaft angesammelt, und wir waren noch wach, als es hell wurde. Erst gegen acht Uhr morgens schliefen wir ein, Arm in Arm, eng aneinandergeschmiegt, Wange an Wange, Körper an Körper. Das war am Mittwoch, dem 30. November.

Wir verbrachten den größten Teil des Tages daheim und gingen nur essen. Von einem Restaurant aus rief ich Vanessa an. Es war mir klar, daß mein Anschluß abgehört wurde und ich ihn also kaum benützen konnte. Ich hatte Glück: Vanessa war daheim. Sie sagte, sie habe, um den Piloten zutraulich zu machen, schon am Morgen einen Rundflug über Frankfurt mit ihm absolviert.

»Wunderbare Maschine, Ritchie. Und dieser Wohl ist ein prima Kerl. Lustig und gescheit. Ich fliege gleich wieder mit ihm. Es macht Spaß! Wirklich. Ich habe Wohl schon gesagt, daß auch meine Freunde mit ihm fliegen werden. Er freut sich darauf. Bekommt er endlich was zu tun. Petra hat immer ein bißchen Angst.«

»Flieg auch morgen wieder mit ihm.«

»Das habe ich sowieso vor. Übrigens, ich übersiedle morgen zu Petra.« Sie gab mir die Adresse und die Telefonnummer ihrer neuen Freundin. Ich schrieb alles auf. »Ich fliege am Vormittag. Weiter diesmal. Aber ab Mittag kannst du mich erreichen.«

»Ist gut, meine Alte. Tschüss.«

»Leb wohl, Ritchie. Alles Gute für dich … und Lillian.«

Lillian und ich fuhren nach dem Essen wieder heim und schliefen ein wenig, und abends machte ich mich auf den Weg ins »Strip«. Vanessa und die Schalke waren nicht da.

Ich kam früher nach Hause, und alles, was wir in der Nacht zuvor erlebt hatten, wiederholte sich, und ich glaube, ich war zum erstenmal seit vielen Jahren ein wirklich glücklicher Mensch. Ich hatte von Minski die falschen Pässe erhalten. Sie waren großartig, mit Visa für Ägypten und Argentinien versehen. Dazu hatten wir noch zwei Seuchenpässe. Lillian hieß in den gefälschten Dokumenten Angela Dirksen, ich hieß Peter Horneck.

Der Donnerstag verlief sehr ruhig und friedlich, ohne Anrufe oder Aufregungen. Es war ein windstiller Tag, mit winterlich grauem Himmel, gar nicht kalt, und am Nachmittag machten Lillian und ich einen Spaziergang. Von unterwegs rief ich, aus einer Telefonzelle, Vanessa bei Petra Schalke an. Wenn uns jemand beschattete, so konnte ich ihn jedenfalls nicht sehen, und ich glaube auch nicht, daß die Kriminalbeamten uns folgten. Die Villa in der Humperdinckstraße besaß, nach hinten hinaus, einen großen Garten, der hatte eine kleine Pforte, die in die Grünanlagen des Parks Luisa führte, der hier bis zur breiten Forsthausstraße reichte. In den Garten kam man durch eine Tür in der Hinterfront des Hauses. Sie war, wie die Gartenpforte, versperrt, aber jeder Mieter hatte Schlüssel. Wenn man also nicht gerade vor dem Haus parkte und mit dem Wagen wegfahren wollte, konnte man seine Wohnung auch so verlassen. Die Grünanlagen waren recht groß und nachts kaum erhellt. Unbegreiflicherweise wurde die Rückseite des Hauses nicht bewacht. Diesen Eindruck bekam ich jedenfalls, nachdem ich die Villa mehrmals durch den Hintereingang verlassen hatte, ohne einen Menschen im Park oder auch nur vorn an der Forsthausstraße zu sehen. Ich hatte immer wieder Stichproben gemacht. Das Haus schien, so unglaublich das klingt, tatsächlich nur von vorn bewacht zu sein. Ich konnte mir lange Zeit kaum vorstellen, daß die Polizei so einfältig war; aber dann nahm ich diese Einfalt dankbar zur Kenntnis.

Auch jetzt war ich wieder versuchsweise mit Lillian durch den Garten und den Park fortgegangen und hatte den Wagen vorn stehen lassen. Es schien großartig zu funktionieren. Wieder war weit und breit kein Mensch zu sehen, der die Villa beobachtete. Wen die Götter verderben wollen, heißt es, den schlagen sie mit Blindheit. Sie hatten es auf mich abgesehen, die Götter, wahrhaftig. Ich sollte noch erfahren, wie diese Villa bewacht wurde — aber dann sollte es zu spät sein. An jenem Nachmittag jedenfalls war ich noch vollkommen beruhigt, besonders im Hinblick auf die kommende Nacht.

Dieser Nacht wegen rief ich auch Vanessa an.

»Hör mal, es könnte sein, daß ich heute, spät noch, das Flugzeug brauche. Ein paar Freunde von mir wollen vielleicht in die Schweiz fliegen. Nach Zürich vermutlich. Sie wissen noch nicht genau wann, und ich weiß auch noch nicht genau, ob sie überhaupt fliegen werden. Aber ich wäre dir sehr dankbar, wenn du dem Piloten … wie heißt er?«

»Wohl.«

»Wenn du Herrn Wohl sagen würdest, er möchte doch ab einundzwanzig Uhr auf dem Flughafen sein.«

»Klar, Ritchie. Wie viele Passagiere werden es sein, oder weißt du das auch noch nicht?«

»Zwei«, sagte ich. »Ein Mann und eine Frau.«

»Er ist nicht neugierig. Er wird keine Fragen stellen. Wenn nur die Pässe in Ordnung sind …«

»Sie sind in Ordnung.«

»Fein …«

»Sollte bis Mitternacht — oder sagen wir: bis ein Uhr früh — niemand gekommen sein, dann kann er wieder heimfahren. Ist das eine große Zumutung?«

»Aber wo. Er sagte mir heute beim Fliegen — es war übrigens herrlich! —, sein ganzes Leben bestehe aus Warten. Er wartet gern. Wenn er wartet, denkt er nach, sagt er. Er ist ein Philosoph. Wir verstehen uns sehr gut. Für mich tut er alles, hat er gesagt.«

»Also ich kann mich darauf verlassen?«

»Bombensicher.«

»Und wie geht es dir sonst?«

»Wundervoll, Ritchie, ganz wundervoll«, sagte Vanessa.

Ich hängte ein und trat aus der Zelle.

»Nun?« fragte Lillian.

»Ab neun Uhr abends steht eine Maschine für uns bereit«, sagte ich. Sie hatte sich in mich eingehängt. Nun drückte sie meinen Arm ganz fest an sich.

Gegen 20 Uhr verließ ich sie dann, um ins »Strip« zu fahren. Die Koffer mit unserer Garderobe lagen noch immer im Wagen. Wir machten aus, daß Lillian mich sofort im »Strip« anrufen sollte, wenn das Geringste nicht in Ordnung war oder ihr verdächtig vorkam. Und zwar sollte sie dann das Haus durch den Hintereingang und den Park verlassen und von der Telefonzelle aus anrufen, die an der Forsthausstraße stand. Die Situation war ein wenig grotesk: Boris und ich wußten, daß man unsere Anschlüsse im »Strip« nicht abhören konnte. Einer der Kriminalbeamten, die als Aushilfsmixer arbeiteten, hatte Minski das in aller Unschuld vor einigen Tagen verraten.

»Wir wollten natürlich die Leitungen hier anzapfen«, hatte der Mann dem verblüfften Boris vollkommen zutraulich und harmlos anvertraut. »Aber das geht nicht. Und wissen Sie, warum nicht? Weil das ein altes Haus ist. Da laufen noch alte Kabel. An die kommen die Jungens vom Abhördienst nicht ran. Gibt in Deutschland nicht mehr viele solche alten Kabel, die intakt sind. Aber wer an so einem Ding hängt, der kann nicht abgehört werden.«

»Aha«, hatte Minski gesagt.

Die Telefone im »Strip« waren also sicher.

Ich gab Lillian wieder ein zweites Paar Wohnungsschlüssel und Schlüssel für die hintere Haustür und die Gartenpforte. Dann verließ ich meine Wohnung auf dem normalen Weg und stieg in der Humperdickstraße in den Thunderbird. Ein neuer Kriminalbeamter folgte mir mit einem neuen Wagen, und ein neuer Kriminalbeamter blieb in der Humperdinckstraße zurück. Die arbeiteten natürlich in Schichten, sie mußten ja einmal schlafen. Gewiß wurde auch Olsen regelmäßig abgelöst. Ich hätte gerne gewußt, ob er heute nacht Dienst hatte. Zu sehen war er nicht.

So früh am Abend war das »Strip« noch fast ganz leer, nur vorn in der großen Bar tranken ein paar Leute Martinis, bevor sie irgendwohin essen gehen wollten. Ich saß mit Minski in unserem Büro und wartete. Um 21 Uhr 30 sagte ich: »Jetzt geht es da oben also los.«

»Mit Gott«, sagte Minski.

___________

Um 21 Uhr 20 am 1. Dezember 1966, zwanzig Minuten nachdem das Deckenlicht in seiner Zelle erloschen war, schuf der Untersuchungsgefangene Professor Dr. Victor Delacorte mit Hilfe seines Eßgeschirrs, eines Haarnetzes und eines Pyjamas den Eindruck, daß jemand unter der zusammengeknüllten Decke seines Bettes ruhte. Delacorte war zivil gekleidet, wenn er auch keine Krawatte und keine Schnürsenkel trug. Seine Zelle hatte die Nummer 19 und lag im Erdgeschoß des linken Traktes des alten Gefängnisses.

Alles, was ich hier berichte, erfuhr ich zu einem späteren Zeitpunkt von Delacorte.

Ohne Ungeduld wartete der Gefangene dann, bis um 21 Uhr 24 seine Zellentür von dem Aufseher Scherr geöffnet wurde. Scherr, der zu dieser Zeit noch den Innendienst versah, befand sich im Besitz von drei Schlüsseln. Der erste davon war der Zellenschlüssel. Die Männer sprachen nicht miteinander. Delacorte glitt, die Schuhe in der Hand, auf Socken aus seiner Zelle, deren Tür Scherr geräuschlos wieder hinter ihm abschloß. Im Gefängnistrakt brannte gleichfalls schon die Nachtbeleuchtung. Die beiden Männer eilten nun einen Gang entlang bis zu einer Gittertür im Innern des Gebäudes. Diese Gittertür öffnete Aufseher Scherr mit dem zweiten Schlüssel, den er besaß, und er verschloß sie wieder, nachdem er und Delacorte das Gitter passiert hatten.

Am Ende des schummerigen Flurs lag eine schwere Eisentür. Sie führte in das Freigelände, das in den Anstaltsgarten überging. Hier wurden die Untersuchungsgefangenen tagsüber spazierengeführt. Die schwere Eisentür öffnete der Innendienstler Scherr mit dem dritten Schlüssel. Er ließ Delacorte schnell an sich vorbei ins Freie eilen und zischte ihm zu: »Im Schatten warten!«

Daraufhin preßte sich Delacorte in eine finstere Mauerecke.

Innendienstler Scherr versperrte die Eisentür von innen, ließ sich durch die Gittertür wieder in das Gefängnisinnere ein, versperrte die Gittertür und eilte in den ersten Stock und daselbst in den großen, turmförmigen Mittelteil des Doppelgebäudes, wo sich eine gläserne Aussichtskanzel befand. Scherr traf genau um 21 Uhr 30 hier ein.

In der Kanzel waren der diensttuende Hauptwachtmeister Kleist und Scherrs Kollege, der Aufseher Peltzer, der schon auf ihn wartete. Peltzer hatte bislang Außendienst getan. Ein Kollege hatte ihn beim Hauptportal eingelassen, denn Peltzer besaß nur einen einzigen Schlüssel — jenen, der eine Pforte in der hohen Mauer öffnete, welche Freigelände und Anstaltsgarten umgab. Auf der anderen Seite dieser Mauer war das Sperrgebiet zu Ende, man befand sich auf einem freien Platz, der Auffahrt zum Hauptportal. Diesem vorgelagert war lediglich eine Mauer, die den ganzen Gefängniskomplex umgab und, dem Hauptportal vis-à-vis, in dieser Mauer eine Pförtnerloge mit einem gewaltigen Tor daneben, durch das auch große Lastwagen ein- und ausfahren konnten.

Jeder Trakt des Gefängnisses besaß eine solche Pforte, die vom Freigelände und den Anstaltsgärten vor das Hauptportal führte. Oberstaatsanwalt Paradin hatte angeordnet, daß die Außendienstler nur den Schlüssel zu den Pforten bei sich tragen sollten. So mußten Scherr und Peltzer, die nun Dienst wechselten, auch ihre Schlüssel wechseln. Der negroide, kraushaarige Scherr gab dem hageren, leberkrank aussehenden Peltzer vor den Augen des über seine Zeitung hinwegsehenden Hauptwachtmeisters Kleist den Generalzellenschlüssel, den Schlüssel für das Zwischengitter im Erdgeschoß und den Schlüssel für die Eisentür zum Freigelände. Peltzer übergab Scherr den Schlüssel zu den beiden Gartenpforten.

Beide Aufseher hatten dem Hauptwachtmeister keine besonderen Vorkommnisse gemeldet. Hauptwachtmeister Kleist ließ knatternd einen fahren und erkundigte sich danach, ob seine Kollegen auch so unter den Bohnen zu leiden hätten, die es zu Mittag gegeben hatte. Diese Frage verneinten Peltzer und Scherr. Während Peltzer zurückblieb, um den geblähten und verärgerten Hauptwachtmeister durch die Rezitation einiger Wirtinnenverse zu erheitern, marschierte Scherr, nun Außendienstler, nachdem er einen warmen Mantel angezogen hatte, hinab zum Hauptportal und ließ sich von dem Aufseher, der Peltzer eingelassen hatte, die Tür ins Freie öffnen. Er ging hier, auf dem Vorplatz des Gefängnisses, ein paarmal auf und ab, sah, daß der Portier in seinem Spitzhäuschen vor sich hin döste, und eilte dann zur Gartenpforte des linken Gefängnistraktes, die er öffnete. Er trat ein und verschloß die Tür wieder.

Die Nacht war dunkel, und das war gut so für Scherr und Delacorte. Scherr durchquerte den Garten und einen Teil des Freigeländes und pfiff zweimal kurz. Aus seiner Mauerecke löste sich Delacorte und kam über den Betonboden zu ihm gehuscht. An die Hausmauer gedrückt, eilten die beiden nun zu der Gartenpforte zurück, die Scherr neuerlich öffnete. Er ließ Delacorte auf den Vorplatz treten, der sehr groß und von Flutlicht angestrahlt war. Nun folgten einige unangenehme Minuten. Das Licht der starken Lampen erhellte fast den ganzen Vorplatz — nur im Mauereinlaß zur Pforte gab es Schatten. In diesen preßte sich Delacorte, unruhig atmend, während Scherr, neben ihm, flüsterte: »Es muß sofort losge …«

Er hatte das Wort noch nicht ausgesprochen, als sich auf der Luisenstraße, die an dem Gefängnis vorbeiführte, lauter Lärm erhob. Das Gefängnis war durch seinen Mitteltrakt mit dem Landgericht verbunden. Die Gebäude standen Rücken an Rücken. Die Front des Landgerichts lag zum Ratsherrenplatz, gegenüber dem alten Springbrunnen und dem schönen Haus mit dem Staffelgiebel, in welchem die Ratsbücherei untergebracht war. Das war der Ort, wo man auf mich geschossen hatte: die Heiligengeiststraße.

Auf der Rückseite des Gebäudekomplexes, beim Ausgang des Gefängnisses und bei dem Pförtnerhäuschen, lag also die Luisenstraße, im allgemeinen sehr ruhig, mit alten Bäumen an den Fahrbahnrändern und kleinen Häusern gegenüber.

Auf den Lärm von der Straße hin eilte der schon bejahrte Pförtner Seidel ungehalten ins Freier Er sah eine Schar von etwa zehn Halbwüchsigen, die sich eine lautstarke Prügelei lieferten.

»Ruhe!« schrie der Pförtner Seidel. »Schert euch weg hier! Wollt ihr wohl machen, daß ihr weiterkommt!«

Die Jungen kümmerten sich nicht um ihn, sondern fuhren fort, zu toben und sich zu schlagen. Ergrimmt stürzte sich Seidel in das Kampfgewühl, wobei er mit einem Gummiknüppel, den er vorsorglich mitgenommen hatte, auf die Kampfhähne eindrosch. Das wirkte. Die Jungen zogen sich, allerdings immer noch lärmend, zurück. Pförtner Seidel verfolgte sie, fluchend und knüppelschwingend.

Der Kampflärm drang gedämpft in den Vorhof.

»Los!« flüsterte Scherr.

Über den angestrahlten Platz rannte er mit Delacorte auf das Pförtnerhaus zu. Sie passierten schnell den schmalen Gang, durch den jeder gehen mußte, der das Gefängnis verließ oder betrat. Nun waren sie auf der Luisenstraße. Zu ihrer Linken verfolgte Pförtner Seidel immer noch die johlenden Jugendlichen. Zu ihrer Rechten sahen Delacorte und Scherr in einiger Entfernung einen geschlossenen Lieferwagen stehen, welcher, der Aufschrift nach, der Dampfwäscherei Oskar Hippel gehörte. Zu diesem Wagen rannten die beiden Männer.

Scherr erreichte ihn zuerst und öffnete die hinteren Türen. Delacorte sprang auf die Ladefläche. Scherr folgte. Es war ein VW-Kombi. Hinter dem Steuer saß der braunhaarige Hippel, der in jenem alten Bunker für seine Feigheit bei dem Unternehmen in Frankfurts »Strip« von dem schmallippigen Horstführer auf so barbarische Weise bestraft worden war. Ein zweiter Junge saß im Fond des Busses, wo, auf Bänken, Anzüge, Schuhe, Wäsche und Mäntel lagen.

Im Augenblick, da Scherr auf die Ladefläche gesprungen war, verriegelte der zweite Junge die Türen von innen, während Hippel den Wagen startete und die Scheinwerfer einschaltete. Die Straße fiel, wie jene vor dem Landgericht, hier steil ab. Hippel fuhr los. Der Lieferwagen war verschwunden, noch ehe Pförtner Seidel die tobenden Jungen für seinen Geschmack weit genug davongejagt hatte. Außer Atem blieb er stehen, fluchte und ging schnell zu seinem Häuschen zurück, in dem ein Telefon schrillte. Seidel hob ab. Er vernahm die Stimme des Hauptwachtmeisters Kleist: »Was ist denn das für ein Krach bei Ihnen da vorne?«

Pförtner Seidel erstattete Bericht.

»Haben Sie das Pack verjagt?«

»Jawohl, Hauptwachtmeister!«

»Na, dann ist es ja gut«, sagte Kleist in seiner gläsernen Kanzel und legte den Telefonhörer hin. Aufseher Peltzer war noch immer bei ihm. Kleist grinste, besserer Laune. »Dann ging das kleine, kluge Tier im nahen Wald spazieren … Ganz komisch. Habe ich noch nicht gekannt.« Er erleichterte sich wieder. »Wissen Sie noch einen, Peltzer?«

___________

Der VW-Kombi erreichte den Mühlenweg, eine stille Seitenstraße des Dolder. Hier hielt er hinter dem schwarzen, geschlossenen Sargtransportwagen eines Begräbnisinstitutes. Aus dem VW kletterten Delacorte und Scherr. Sie trugen beide gutsitzende Anzüge, Halbschuhe, Wintermäntel und Hüte. Die Kleidungsstücke, die sie am Leib gehabt hatten, blieben in dem Kombiwagen zurück, der sofort weiterfuhr. Die hinteren Türen des Leichenwagens öffneten sich.

»Heil!« flüsterte ein Junge, der im Innern des Wagens saß. Ein zweiter, älterer, saß hinter dem Steuer.

Auch der Bestattungswagen fuhr sogleich los — in südlicher Richtung, der Peripherie zu. Der Junge, der Delacorte und Scherr die Türen geöffnet hatte, knipste eine Taschenlampe an. Er sprach ehrfurchtsvoll: »Bisher scheint alles gutzugehen. Der Horstführer erwartet Sie beim Schwarzen Tor. Wir bringen Sie bis dorthin. Hier, bitte, das soll ich Ihnen geben.« Der Junge überreichte den beiden Männern verschiedene Dokumente, darunter zwei Pässe und zwei Seuchenpässe. Delacorte betrachtete alles sehr genau.

»Ausgezeichnet«, lobte er dann.

»Danke«, sagte der Junge. Er überreichte ferner zwei Kuverts, in denen sich, in Noten, D-Mark, Schweizer Franken und ägyptische Pfunde befanden. »Und hier«, sagte er, »sind zwei Koffer. Der da ist für Sie.« Er sah Delacorte an. »Alles drin, was Sie für die Reise brauchen. Kamm, Taschentuch, Brieftasche, Kugelschreiber, Notizbuch und Kleingeld liegen in Nylonsäcken obenauf. Wenn Sie die Sachen bitte in Ihre Taschen stecken wollen.«

Die Männer öffneten die Koffer.

Der Junge am Steuer fuhr vorschriftsmäßig und sehr sicher.

Es war 21 Uhr 46.

Hinaus in die Heide ging die Fahrt.

Rasch glitten die Scheinwerfer des Bestattungswagens über die riesigen Megalithsteine des Hünengrabes hinweg, das in der dunklen Ebene lag. Nach ein paar Metern hielt der Wagen. Wieder kletterten Delacorte und Scherr ins Freie.

»Wiedersehen, Jungs. Und vielen Dank«, sagte Delacorte.

»Heil«, sagte der Junge, der im Fond saß. Der Wagen fuhr an. Die Männer liefen auf eine nahe Waldschneise zu, in der einmal kurz Autoscheinwerfer aufgeflammt waren. Hier stand ein Mercedes. Der linke vordere Schlag öffnete sich. Gleichfalls in Zivil, mit einem Trenchcoat, erschien der Horstführer. Er hob schweigend eine Hand.

»Lassen Sie den Quatsch!« keuchte Delacorte, dessen Koffer ziemlich schwer zu sein schien. Dem riesigen Aufseher bereitete sein Gepäck keine Belastung. Er war nicht außer Atem.

»Habt ihr fein gemacht«, sagte er. »Prima, prima.«

»Nicht verschreien«, sagte der Horstführer. Er riß den Schlag des Fonds auf.

»Bitte sehr.«

Delacorte strich über sein helles, gepflegtes Haar, während er einstieg.

»Kommt uns Mark entgegen?«

»Nein, wir müssen nach Bremen.«

»Nach Bremen? Aber …«

»Der Plan wurde geändert«, sagte der Horstführer.

Da war es 22 Uhr 07.

___________

22 Uhr 28.

»Noch zwei Minuten«, sagte ich. »Dann rufe ich Paradin an.«

»Nicht so hastig«, murmelte Minski und wischte sich Schweiß von der Stirn. »Nicht immer gleich so stürmisch. Mußt dem Champagnermann doch wenigstens zehn Minuten Zeit lassen. Wer weiß, wo der sich verspätet hat. Paradin kannst du noch früh genug anrufen. So schnell kriegen sie den Kerl nicht aus Deutschland raus. Nicht einmal dein fabelhafter Bruder.«

»Wenn der mich reinlegen will …«

»Na, du willst ihn doch auch reinlegen!«

»… dann gehen wir eben beide hoch. Mir ist das jetzt egal. Ich habe auch nur Nerven. Das halte ich nicht mehr aus. Ich …«

Das Telefon auf meinem Schreibtisch läutete.

Ich riß den Hörer hoch.

»Ja?«

»Ritchie!« Lillians Stimme klang atemlos.

»Was ist los?«

»Bitte, komm sofort. Der Mann ist jetzt da … mit dem Paket …«

»Wieso ist er bei dir? Wieso nicht hier?«

»Er sagt, er konnte nur hierher kommen. Du sollst auch herkommen. Er will dir das Paket geben. Du mußt es dir anschauen. Ich weiß doch nicht, ob … ob es das richtige ist.«

»Von wo sprichst du?«

»Aus der Telefonzelle. Der Mann ist bei mir. Wir sind durch den Park …« Ich hörte Geräusche, dann meldete sich Olsens Stimme.

»Abend, mein Lieber.«

»Sie sollen das erledigen?«

»Sie halten uns immer noch für Idioten, Herr Mark«, klagte er.

»Natürlich wird Ihr Haus von allen Seiten bewacht. Auch von der Parkseite her. Die Seite habe ich übernommen. Mit einem Kollegen. Heute nacht bin ich dran. So kam ich ins Haus rein. Ich habe ein paar Dietriche. Der Bulle vorn hat keine Ahnung. Deshalb müssen Sie auch herkommen.«

»Weshalb?«

»Wegen der Bullen bei Ihnen im Laden. Ich kann da nicht auftauchen. Ich habe hier zu sein. Sie gehen jetzt durch den Hof hinten raus, nehmen ein Taxi und kommen auch durch den Park. So schütteln Sie meinen Kollegen ab, und keiner sieht was. Sie schauen sich das Paket an, ob es in Ordnung ist. Beeilen Sie sich. Ich möchte das gern hinter mir haben.«

Was er sagte, klang vernünftig. Aber es gefiel mir trotzdem nicht, daß hier etwas gegen die Abmachung geschah. Und es gefiel mir überhaupt nicht, daß Olsen in meine Wohnung hineingekommen war. Wieso eigentlich? Die hatte doch ein Yaleschloß!

»Wie kamen Sie in die Wohnung?«

»Ich habe geläutet. Die Dame hat mir gleich geöffnet. Sie weiß doch, wer ich bin. Wir sahen uns schon ein paarmal, und Sie haben ihr gesagt, daß ich als Kriminalbeamter arbeite.«

Das stimmte, das hatte ich getan. Ich hatte Lillian allerdings nicht gesagt, wie Olsen als Kriminalbeamter arbeitete.

»Ich habe erklärt, wir hätten das Paket erwischt. Da war sie beruhigt. Jetzt ist sie wieder etwas beunruhigt.« Das konnte ich mir vorstellen.

»Geben Sie sie mir.«

Lillians Stimme meldete sich.

»Sei nicht ängstlich. Alles ist in Ordnung. Ich erkläre es dir.«

»Aber Ritchie …«

»Später, später erkläre ich es dir. Gib mir den Mann wieder.«

Olsen meldete sich.

Ich sagte: »Geht in die Wohnung zurück.« Mir war nicht wohl bei der Sache, gar nicht wohl, aber ich mußte die Manuskripte haben! »Geht in die Wohnung. Ich komme so schnell ich kann. Hören Sie, und wenn der Dame das Geringste passiert …«

»Sind Sie verrückt? Was heißt passiert? Ich habe meinen Auftrag, und wenn ich den endlich erledigt habe, werde ich mich wesentlich besser fühlen!«

»Bis gleich«, sagte ich und hängte ein.

»Was ist?« fragte Minski besorgt. Ich erzählte ihm kurz alles. »Gefällt mir nicht«, sagte er prompt.

»Mir auch nicht, aber was soll ich machen?«

»Jetzt mußt du hinfahren, das ist klar. Man muß sich auch in die Lage der anderen versetzen. Natürlich ist es ungefährlicher, noch dazu für einen Kriminaler und mit so einem Haus, wo man auch hinten reinkommt. Muß nichts Schlimmes zu bedeuten haben, Ritchie. Das Wichtigste ist jetzt, daß du feststellst, ob es wirklich die Manuskripte sind. Und es ist natürlich auch gut, daß du schneller zu Lillian kommst. Und bei ihr bist. So kann man es auch sehen. Wie verbleiben wir?«

Ich sah auf meine Armbanduhr.

»Jetzt ist es 22 Uhr 35. Wenn ich bis 23 Uhr — nein, das kann etwas länger dauern —, wenn ich bis 23 Uhr 30 nicht bei dir angerufen und gesagt habe, daß alles in Ordnung ist, ich oder Lillian, egal, egal wer, einer von uns, wir müssen jetzt damit rechnen, daß ich mich um Olsen kümmern muß und nur Lillian zur Telefonzelle laufen kann … also wenn du bis halb zwölf weder von Lillian noch von mir die Nachricht kriegst, daß ich die Manuskripte habe und Paradin verständigt ist, dann rufst du ihn an. Sofort, verstanden? Du hast die Nummer?«

»Ja.«

»Was ist?«

»Vergiß nicht, daß ich immer nur sehr wenig informiert erscheinen darf … wenn es schiefgeht, oder wenn es gut geht. Damit ich halbwegs draußen bleibe.«

»Du rufst Paradin nur an und sagst, daß du beunruhigt bist. Daß irgendwas mit mir nicht in Ordnung zu sein scheint … du kannst ab halb zwölf auch ruhig in meiner Wohnung anrufen, denn dann ist was passiert … Du sagst Paradin nur, du hast Angst, daß mir etwas zugestoßen ist … das genügt.« Ich war aufgestanden und hatte meinen blauen Kamelhaarmantel angezogen. »Wenn Paradin das hört, schlägt er Alarm. Aber ich glaube nicht, daß etwas passiert. Die brauchen jetzt Ruhe und Zeit.«

Ich gab Minski die Hand.

»Masseltoff«, sagte er leise.

Es war 22 Uhr 38.

___________

Ich kam durch unseren Hinterhof und den Keller eines Hauses und einen zweiten Hof und eine Großgarage von der Taunusstraße fort und tauchte in der Elbestraße wieder auf. Hier lief ich vor bis zum Bittersdorferplatz und nahm ein Taxi. Kein Wagen folgte mir. Die Flucht schien gelungen. Das Taxi brachte mich in die Forsthausstraße. Ich ließ den Fahrer an der Kreuzung Niederräder Landstraße halten, zahlte, lief ein Stück zurück und in die Grünanlagen hinein. Das Gras war naß, in meinen dünnen Lackschuhen bekam ich feuchte Füße. Da war der Gartenzaun, da war die Pforte. Ich schloß auf und lief auf den Hintereingang zu. Er war versperrt. Ich öffnete ihn, trat ein und sperrte wieder ab. Es war sehr still im Haus. Ich bewegte mich leise. An meiner Wohnungstür klopfte ich. Ich wollte in keine Falle laufen.

Sofort öffnete Lillian.

»Gott sei Dank, daß du so schnell kommst.«

»Ist etwas …«

»Gar nichts. Ich bin nur froh, daß du da bist.«

Im Wohnzimmer stand ein etwas nervöser Olsen. Er trug einen dunklen Anzug und einen dunklen Mantel. Die dicken Vorhänge waren zugezogen. Ich löschte das Licht, ging an ein Fenster, das zur Humperdinckstraße führte, schob den Vorhang etwas zur Seite und sah hinaus. Unten wanderte ein einsamer Mann auf und ab.

Ich ließ den Vorhang zurückfallen und drehte das Licht wieder an. Auf dem Teppich lag ein ziemlich großes Paket.

»Das haben Sie allein geschleppt?«

»Ja. Von einem Wagen auf der Straße drüben bis hierher. Verflucht schwer«, sagte Olsen. Er griff in die Tasche und holte ein Klappmesser hervor, das er mir reichte. Ich kniete nieder, schnitt die Verschnürung des Pakets auf und riß das Papier auseinander. Da lagen die Manuskripte. Sie waren in Schnellheftern geordnet und sehr dick. Ich erkannte die Handschrift meines Bruders, seine ordentliche, winzig kleine Handschrift. Die Zeilen liefen alle völlig gerade und mit den gleichen Abständen voneinander, die zahlreichen Verbesserungen waren methodisch und deutlich lesbar angebracht. Ja, das waren die Originalmanuskripte!

Ich sah zu Lillian auf und lächelte.

Dann sah ich auf meine Armbanduhr.

23 Uhr 07.

Hastig blätterte ich die Manuskripte durch. Da war »Die große Kälte«. Da war »Schwarz«. Da war das Drehbuch zu »Schwarz« … vier … fünf … sechs … Es waren alle Manuskripte in dem Paket. Mein Bruder hatte Wort gehalten. Nun konnte ich ihn schnellstens verraten, dachte ich. Lillian stand vor mir und sah zu, wie ich in den Ordnern blätterte. Olsen lächelte.

»Zufrieden?« fragte er.

Ich nickte.

»Fein«, sagte er und holte ein Paket Zigaretten aus der Tasche. Er offerierte es Lillian, die eine Zigarette nahm, und mir.

»Nein, danke«, sagte ich.

Olsen griff wieder in die Tasche, er wollte Lillian offenbar Feuer geben. Ich neigte mich über die Manuskripte und war erfüllt von einem ersten großen Gefühl der Erleichterung. Dann ging alles sehr schnell. Olsen zog beide Hände blitzschnell aus der Tasche. Ich sah noch, daß er in der einen Hand eine Flasche hielt und in der anderen ein großes weißes Tuch. Aus der Flasche goß Olsen eine erstickend süß riechende, wasserhelle Flüssigkeit auf das Tuch.

Ich kam taumelnd auf die Beine, aber nicht mehr schnell genug. Olsen trat mir gegen die Knie, und ich stürzte auf den Teppich. Sofort war er über mir. Das weiße, feuchte Tuch preßte sich auf meinen Mund, meine Nase. Ich rang verzweifelt nach Luft und atmete nur um so kräftiger das Chloroform ein. Ein paar Sekunden später hatte ich das Bewußtsein verloren. Unmittelbar bevor ich es verlor, spürte ich noch den kurzen Schmerz eines Nadelstichs in meinem rechten Oberschenkel.

___________

Als ich wieder zu mir kam, schmerzte mein Schädel zum Zerspringen, und ich hatte das Gefühl zu verdursten. Ich lag noch immer auf dem Teppich. Vorsichtig öffnete ich ein Auge und stöhnte, denn im Zimmer brannte elektrisches Licht, und durch meinen Kopf schoß ein dröhnender Blitz. Ich schloß das Auge wieder. Die Zunge in meinem Mund erstickte mich fast. Ich öffnete nun beide Augen, aber langsam, millimeterweise, um den Kopfschmerz ertragen zu können. Meine Glieder schienen sich in Gummi verwandelt zu haben. Es dauerte endlos, bis ich schließlich wenigstens saß. Da fuhr der Raum dann Ringelspiel mit mir, so daß- mir auch noch übel wurde. Ich hielt mich tatsächlich mit beiden Händen auf dem Teppich fest.

Das Schwindelgefühl ging ein wenig zurück. Ich hörte ein leises, klopfendes Geräusch. Nach einer Ewigkeit angestrengten Nachdenkens fiel mir ein, daß das Regentropfen waren, die gegen die Fenster schlugen. Nun riskierte ich einen Blick auf meine Armbanduhr.

3 Uhr 47.

Ich hatte vier Stunden dagelegen.

Vier Stunden. Wo war …

Es brachte mich fast um, daß ich heftig den Kopf wandte. Ich preßte beide Hände an die Schläfen und versuchte, nach Lillian zu rufen. Ich bekam nur ein heiseres Lallen heraus, bei dem ich sabberte. Ich versuchte aufzustehen. Nachdem ich dreimal umgefallen war, begann ich mich auf allen vieren zu bewegen. In der ganzen Wohnung brannte Licht. Ich kroch von einem Zimmer ins andere. Lillian war nicht da. Im Gästezimmer, wo wir ihre Koffer hingebracht hatten, sah es wüst aus. Wäsche, Kleider, Schuhe und Mäntel waren durcheinandergeworfen. Es kam mir vor, als ob zwei Koffer fehlten. Die Panik, die nun in mir hochstieg, gab mir Kraft. Lillian war verschwunden. Olsen hatte mir den chloroformierten Lappen aufs Gesicht gepreßt und mir irgendeine Betäubungsspritze gegeben, die wirkte, bevor ich aus meinem Chloroformrausch erwachte. Und dann …

Und dann?

War er allein gewesen?

Wahrscheinlich zuerst allein in der Wohnung, aber wer sagte mir, wie viele Kerle dann noch aus dem Park heraufgekommen waren? Sie mußten Lillian wie mich betäubt und mit sich geschleppt haben, als Geisel …

Diesmal kam ich auf die Beine. Ich stolperte ins Badezimmer, wobei ich mich an Möbeln anschlug, und im Badezimmer steckte ich den Kopf unter das kalte Wasser. Ich drehte den Hahn ganz auf, das Wasser spritzte alles voll. Ich wandte den Mund nach oben und trank, und dann erbrach ich mich plötzlich, nur Wasser und Galle, und dann trank ich wieder und ließ mir das Wasser über den Kopf schießen. Das half ein wenig.

Taumelnd riß ich mir alle Kleider vom Leib. Aus der Hausapotheke holte ich ein Röhrchen mit Alka-Seltzer-Tabletten, löste zwei in einem Glas Wasser auf und trank das Glas leer. Dann stolperte ich nackt in die Küche und setzte einen Topf voll Wasser auf dem elektrischen Herd auf und füllte einen Filter mit gemahlenem Kaffee.

Während das Wasser heiß wurde, holte ich neue Wäsche und einen Flanellanzug hervor und begann mich anzuziehen. Das war eine entsetzlich schwere Arbeit. Ich schwitzte. In Hemd und Hose, auf Socken, taumelte ich in die Küche zurück und goß Wasser in den Filter. Ich machte den Kaffee so stark, wie ich noch niemals Kaffee gemacht hatte, und ich trank in kleinen Schlucken die bittere Brühe, die so heiß war, daß ich mir die Lippen verbrannte.

Von Zeit zu Zeit regte sich der Brechreiz, aber ich trank immer weiter. Die Tasse hielt ich in den zitternden Händen, und nach der ersten trank ich eine zweite und dann eine dritte. Es half endlich. Ich bekam etwas Kraft in meine Glieder und konnte wieder klarer denken.

Sie hatten mich also hereingelegt. Mit der Tasse in den Händen wanderte ich in das Wohnzimmer. Die Manuskripte lagen noch auf dem Teppich. Sie hatten mir die Manuskripte gebracht und Lillian genommen. Sie hatten das verflucht geschickt angestellt. Sie besaßen einen Vorsprung von vier Stunden. Vier Stunden! Wenn sie Delacorte planmäßig herausgeholt hatten, war der Vorsprung noch zwei Stunden größer. Wo waren sie jetzt wohl schon? Wo war Lillian?

Der Gedanke an Lillian raubte mir fast den Verstand.

Ich ließ die Tasse fallen. Sie zerbrach.

Ich humpelte in die Küche, nahm eine neue und füllte sie. Jetzt schüttete ich noch eine Menge Zucker in den Kaffee. Ich mußte telefonieren. Nicht von hier aus. Ich mußte nun fort aus Frankfurt. Fort aus Deutschland. Ich mußte vor allem herauskriegen, wo Lillian war.

Lillian!

Ich zog mich fertig an und wollte die falschen Papiere und die D-Mark und Dollarnoten holen, die ich für den Fall der Flucht in meinem Schreibtisch bereitgelegt hatte. Der war abgeschlossen gewesen, den Schlüssel hatte ich bei mir getragen. Lillians falsche Papiere hatte ich ihr gegeben. Sie waren weg, so wie Lillian weg war. Mein Paß, der Seuchenpaß und das Geld waren noch da, wie ich entdeckte, als ich die Lade aufsperrte. Ich steckte alles ein. Dann packte ich ohne nachzudenken einen großen Reisesack voll mit Anzügen, Wäsche und Schuhen. Von Zeit zu Zeit mußte ich aufhören und mich schnell hinsetzen.

4 Uhr 05.

Ich ließ alle Lichter brennen, als ich die Wohnung verließ. Leise schlich ich die Treppen hinab zum Hinterausgang. Es regnete ziemlich heftig, der Boden war aufgeweicht und schlammig, und ein kalter Wind trieb mir die Tropfen ins Gesicht. Der Wind war gut für mich und meinen Kopf. Ich schleppte den Reisesack mühsam durch den Garten und den Park bis zur Forsthausstraße und zu der Telefonzelle. Ich sah keinen Menschen. Ich trat in die Zelle, suchte die Nummer des Flughafens und rief dort draußen an. Eine müde Männerstimme meldete sich.

»Ich möchte eine Auskunft über eine Privatmaschine.«

»Was für eine Privatmaschine?«

»Eine Bonanza. Sie gehört Frau Petra Schalke. Der Pilot heißt Wohl. Er wollte heute nacht mit ein paar Freunden von mir einen Flug unternehmen, und ich möchte gern wissen, ob er abgeflogen ist.«

»Moment.«

Das wurde ein verflucht langer Moment.

Zuletzt meldete sich eine andere Stimme: »Flugabfertigung, Hortig. Sie wollen wissen, ob die D-AO 3425 abgeflogen ist?«

»Die Bonanza von Frau Schalke …«

»Ja, die ist abgeflogen.«

Ich hielt mich an einer Zellenwand fest, und der Schweiß floß mir von der Stirn, über die Hand und den Hörer.

»Mit Herrn Wohl als Piloten?«

»Natürlich. Er hat sich noch von mir den Flugplan geben lassen.«

»Wohin ist er geflogen?«

»Zuerst rauf nach Bremen und dann nach Zürich.«

»Waren … waren alle meine Freunde an Bord?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Wie viele … wie viele Passagiere hatte Wohl?«

»Zwei. Eine Dame und einen Herrn.«

»Wie sahen die aus?«

»Hören Sie …«

»Wie sahen sie aus, bitte!«

»Die Dame war dunkel … Der Herr jünger … blondes Haar …«

Lillian und Olsen.

Ich würgte, aber es passierte nichts.

Also hatte Lillian mich verraten, zuletzt. Sie hatte gewußt, daß Wohl mit der Bonanza da draußen auf dem Flughafen wartete. Sie war gemeinsam mit Olsen losgeflogen, freiwillig, nicht betäubt. Aber warum hatte sie das getan? Warum? Weshalb? Für wen? Wo war da noch Logik, wo war da noch Vernunft?

»Zuerst nach Bremen?«

»Hören Sie, mit wem spreche ich eigentlich?«

»Mit einem Freund. Ich will nur wissen …«

»Wenn Sie noch etwas wissen wollen, kommen Sie her!«

Klick!

Die Verbindung war unterbrochen.

Lillian. Ich stöhnte laut. Sie hatte mich betrogen und belogen, die ganze Zeit. Aber das gab es nicht! Das gab es nicht! Dazu hatte sie keine Ursache, keinen Grund! Sie hatte mich doch angefleht, sie zu mir zu nehmen, sie nicht mehr allein zu lassen … Vielleicht war sie nur unter Drohungen geflogen. Olsen hatte gewiß eine Pistole. Vielleicht flog auch Wohl unter Zwang, eine Pistole im Kreuz …

Blödsinn!

Das war Blödsinn. Das gab es nicht! Aber wo war dann die Erklärung?

Ich fuhr zusammen. Mit heulender Sirene und zuckendem Blaulicht raste eine Funkstreife auf die Telefonzelle zu. Aber sie raste weiter, die Sirene verklang.

Ich rief im »Strip« an.

Minski meldete sich.

»Hier ist Ritchie …«

Keine Antwort.

»Herrgott, hörst du mich nicht?«

Er sagte mühsam: »Von … wo sprichst du? Aus Zürich?«

»Zürich, Scheiße! Ich bin hier! Hier in Frankfurt.«

»O Gott.«

»Was hast du?«

»Was hat du?« Er kam etwas in Fahrt. Ich vernahm leise Musik im Hörer. Es schienen immer noch Gäste dazusein. »Wieso bist du noch da? Lillian hat doch angerufen und gesagt, ihr fliegt eben ab, du bist schon in der Maschine.«

»Das hat sie gesagt?«

»Ja. Sie hat also gelogen. Fein.«

»Sei ruhig! Wann hat sie angerufen? Na los!«

»Knapp nach Mitternacht. Ich soll mir keine Sorgen machen, ihr schafft es schon; ihr fliegt nach Zürich. Die Entführung da oben ist schiefgegangen, sie haben sich diesen Geyer und ein paar andere geschnappt, und die haben gequatscht. Darum müßt ihr weg. Olsen hat euch das erzählt. Er erfuhr es über Funk. Ihr nehmt ihn mit bis Zürich, hat Lillian gesagt. Damit er wenigstens noch eine Chance hat. Um Gottes willen, Ritchie, was ist wirklich passiert?«

»Ich bin überfallen und betäubt worden. Von Olsen! Als ich zu mir kam, waren Olsen und Lillian weg. Olsen ist mit Lillian losgeflogen. Zuerst nach Bremen, dann nach Zürich. Leb wohl, Boris.«

»Moment! Bist du meschugge? Wo willst du hin?«

»Ich muß zu Lillian. Ich muß wissen …«

»Das weißt du doch so auch schon.«

»Nein, ich weiß es noch nicht!« schrie ich verzweifelt.

»Wer schreit, weiß«, sagte Minskis Stimme »Vergiß Lillian. Vergiß das verfluchte Luder. Du darfst jetzt nur an dich denken. Wenn du das nicht tust, bist du erledigt.«

»Sie können Lillian vielleicht gezwungen haben …«

»Hör endlich mit Lillian auf!« kreischte er. »Hast du noch immer nicht genug?«

»Nein, ich habe noch immer nicht genug! Jetzt geht es erst los!« Brennend heiße Wut erfüllte mich. »Jetzt muß ich wissen, was wirklich mit ihr los ist!«

»Er hat den Verstand verloren! Er ist nicht mehr bei Trost«, jammerte Minski.

»Halt den Mund!«

»Aber das ist Wahnsinn! Ritchie! Hör auf mich! Ich war immer wie ein Vater zu dir. Du kannst doch jetzt nicht hinter Lillian her …«

»Ich kann. Ich werde. Ich muß weg, das ist doch wohl kar, was?«

»Und Paradin?«

»Nichts Paradin!«

»Du hättest noch eine Chance, wenn du …«

»Und wozu hast du mir dann all das Zeug besorgt?«

»Also du willst nichts tun?«

»Nein, nichts. Zu riskant.«

»Und was mach ich?«

»Sind noch viele Gäste da?«

»Ziemlich viele. Wird eine lange Nacht werden heute.«

»Gut. Du wartest, bis du die letzten weg hast. Dann sagst du zu dem Beamten im Lokal und dem, den du draußen findest, daß ich verschwunden bin. Sag, ich sei so gegen zwei mal weggegangen und hab gesagt, ich käme wieder. Vergiß nicht, daß du nicht zuviel wissen darfst. Du mußt der Doofe bleiben, sonst schnappen sie dich.«

»Ja …«

»Sieh zu, daß du es ihnen so spät wie möglich sagst, damit ich den größtmöglichen Vorsprung habe.«

»Wie höre ich von dir, Ritchie?«

»Ich rufe dich … nein, ich schicke ein Telegramm. Paß auf: Wenn es mir gut geht, heißt der Text ›Gut gelandet stop Gruß Ritchie‹. Wenn es mir schlecht geht, telegrafiere ich ›Gut gelandet stop herzliche Grüße Ritchie‹. Gruß und herzliche Grüße. Merkst du dir das?«

»Idiot. Hör auf mich! Gib es auf und stell dich Paradin.«

»Nie!«

»Mein Gott … und wann … wann kriege ich das Telegramm?«

»Das weiß ich doch jetzt noch nicht. Sobald ich weiter bin. Gruß ist gut, und herzliche Grüße ist schlecht. Okay?«

»Okay, fragt er! Wie soll ich dir helfen bei herzliche Grüße? Wie soll ich …«

»Ich muß Schluß machen. Leb wohl, Boris«, sagte ich und hängte ein. Ich rief eine Funktaxizentrale an und bestellte einen Wagen.

Da war es 4 Uhr 25.

___________

Es regnete immer weiter.

Im Flughafengebäude war es still. Viele Schalter hatten geschlossen. Auf den Lederbänken der Wartehallen saßen oder lagen einzelne Passagiere. Sie schliefen. Eine Afrikanerin in einem farbenprächtigen, kostbaren Kleid stillte ihren Säugling. Sie hatte eine pralle kaffeebraune Brust mit sehr großem rosigem Warzenhof ganz freigelegt. Mir wurde auf einmal wieder schwindlig, und ich mußte mich setzen. Plötzlich war mir alles egal. Sollten sie mich hier fassen. Und wenn schon. Und wenn schon. Lillian hatte mich verraten. Das war mein letzter Gedanke, dann war ich eingeschlafen. Mein Reisesack stand neben mir. Ich erwachte um 5 Uhr 3o. Nun war schon mehr Betrieb hier. Es erstaunte mich, daß ich nicht von der Bank gefallen war. Ich hatte ganz manierlich im Sitzen geschlafen. Auf der Bank gegenüber saß die Negerin mit dem Baby. Sie lachte mir zu. Ich lächelte verkrampft, stand auf und schleppte mich bis zu einer großen Tafel mit den Ankunfts- und Abflugzeiten der Maschinen. Eine Swiss-Air-Maschine, die um 6 Uhr aus New York kam, flog um 6 Uhr 30 weiter nach Zürich.

Das war meine Maschine!

Ich ging mit bleischweren Gliedern zum Swiss-Air-Schalter, der eben geöffnet wurde. Sauber, jung und ausgeschlafen strahlte eine hübsche Stewardeß mich an. »Bitte, mein Herr?«

Zehn Minuten später hatte ich mein Ticket, das Gepäck war aufgegeben, und ich saß im Restaurant, wo ich heißen Kaffee trank und an einer Buttersemmel herumwürgte. Es saßen außer mir noch sieben Menschen in dem Restaurant. Und es regnete noch immer. Die Swiss-Air-Maschine landete pünktlich. Sehr viele Passagiere verließen das Flugzeug hier.

Um 6 Uhr 10 wurden die Fluggäste nach Zürich zur Paß- und Zollkontrolle gerufen. Womit immer ich betäubt worden war — nun zeigte sich die gute Seite des Mittels. Ich war ruhig und gleichmütig wie seit Jahren nicht. Ich war ganz sicher, daß mir nichts geschehen konnte. Es geschah auch nicht das geringste. Die Beamten waren sehr höflich. Die Negerin mit ihrem Baby stand in der kurzen Reihe der Passagiere vor mir. Während wir im Transitraum darauf warteten, daß wir zur Maschine hinausgefahren wurden, erzählte die junge Mutter mir, daß sie aus dem Kongo stamme. Sie lebe in Leopoldville. Ihr Mann sei ein hoher Regierungsbeamter. Er hatte sie nach Deutschland geschickt, zu einem berühmten Professor, um ihr Kind zu bekommen. Der Professor besaß ein Sanatorium in der Nähe von Frankfurt. Da hatte die schwarze Dame, die, wie ich jetzt sah, eine Menge wertvollen Schmuck trug, das letzte Vierteljahr verbracht. Nun flog sie heim. Sie reiste über Zürich, weil der Professor ihr eine berühmte Pflegeschwesternschule in Zürich empfohlen hatte, wo auch farbige Mädchen ausgebildet wurden. Ein solches Mädchen wollte die Dame noch engagieren. Sie hätte lieber ein weißes Mädchen gehabt, aber, wie sie traurig sagte: »Weiße wollen nicht zu uns kommen. Ich verstehe das nicht. Es ist doch so schön bei uns.«

In der großen Düsenmaschine gab es wieder Frühstück. Ich dachte, daß ich gar nicht genug Kaffee bekommen konnte, und trank noch einmal eine Portion. Unterwegs wurde das Wetter besser. Als wir in Zürich landeten, wehte nur kalter Wind, und es regnete nicht. Ich stand eine Weile auf dem Flugfeld und sah mich nach einer Privatmaschine mit dem deutschen Kennzeichen D-AO 3425 (das Kennzeichen hatte sich mir sonderbarerweise trotz meiner Benommenheit eingeprägt) um, aber ich entdeckte sie nicht Der Pilot hatte wohl sofort den Rückflug angetreten, dachte ich endlich. (Das war ein richtiger Gedanke, wie ich später von Delacorte erfuhr.)

Im Flughafen Kloten war schon lebhafter morgendlicher Betrieb. Die Einreiseformalitäten gingen hier mit größter Höflichkeit vor sich.

Ich stellte fest, daß eine halbe Stunde, bevor wir gelandet waren, ein KLM-Clipper nach Kairo gestartet war, und eine Viertelstunde vor unserer Landung eine PAA-Maschine nach Südamerika, erster Stop drüben Recife, mit Weiterflug nach Rio und Buenos Aires.

Ich ging zuerst zum KLM-Schalter und fragte, ob eine Frau Angelika Dirksen mit der Frühmaschine geflogen sei.

Die Stewardeß sah auf einer Liste nach.

»Ja«, sagte sie dann.

»War sie in Begleitung?«

»Das kann ich nicht sagen, mein Herr. Wir hatten hier ziemlich viel Betrieb, die Maschine war fast ausgebucht.«

Aber was ich nun wußte, genügte mir. Allein war Lillian gewiß nicht nach Kairo geflogen.

»Wann geht die nächste Maschine?«

»Heute um 20 Uhr 30.«

Ich fragte bei anderen Schaltern.

Eine Sabena-Maschine flog um 10 Uhr 30. Ich buchte einen Platz. Ich vermag nur schwer zu erklären, weshalb ich all das nun tat, was ich noch tat. Es gab zwei Motive. Man kann das alles wahrscheinlich überhaupt nur verstehen, wenn man mir glaubt, daß ich Lillian trotz allem immer noch mehr liebte als mein eigenes Leben, so aberwitzig das klingt — denn daß sie mich verraten hatte, stand inzwischen selbst für mich fest.

Da war eine fixe Idee, die in meinem Gehirn brannte: Sie hat mich unter Zwang verraten. Sie liebt mich trotz allem. Sie wird bedroht. Sie wird erpreßt. Sie hat irgendein dunkles Geheimnis. Ich muß ihr helfen. Sie ist in Not. Sie braucht meine Hilfe. Ich muß zu ihr. Das war das erste Motiv. Das zweite: maßloser Zorn, maßlose Wut, maßlose Erbitterung. Ich konnte mir nicht erklären, weswegen Lillian mich verraten hatte. Für wen. Was sie zu dieser Gemeinheit getrieben hatte. Das mußte ich herausfinden, und wenn es mich das Leben kostete! Das mußte ich noch erfahren — von ihr, aus ihrem Mund! Ich hatte nur diese Gedanken in meinem Kopf: Wir zwei sind noch nicht fertig miteinander. Die große, die letzte Auseinandersetzung steht uns noch bevor. Du willst dich vor ihr drücken, Lillian, aber das gibt es nicht. Das gibt es nicht!

Niemand und nichts hätte mich davon abbringen können, sie weiterzuverfolgen. Ich war taub und blind für jede vernünftige Überlegung. Ich konnte überhaupt nicht mehr überlegt reagieren, nur noch impulsiv. Und da war ein einziger, ungeheuer starker Impuls in mir: Ich mußte noch einmal Lillian sehen, sie zur Rede stellen, ihre Antwort hören, ihre Erklärung für alles.

So stand es um mich.

Ich weiß nicht, ob Sie, bei aller Bemühung, das noch verstehen und nachfühlen können, meine Herren Richter. Ich bezweifle es. Aber so, genau so war es.

___________

Der ägyptische Zollbeamte in der Ankunftshalle des Flughafens Heliopolis war ein echter Fellache: überdurchschnittlich groß und kräftig, aber keineswegs fett, mit gelbbrauner Gesichtsfarbe, welligem blauschwarzem Haar und mandelförmigen Augen, die von dichten Wimpern schwer umschlossen wurden. Tief eingesenkt war die Nasenwurzel unter der niederen Stirn, breit traten die Backenknochen hervor, der ebenfalls breite Mund hatte dicke Lippen. Das Kinn war nur schwach entwickelt.

Dieser Zollbeamte ließ sich Zeit. Ich mußte meinen Reisesack öffnen, und er durchstöberte mit unfaßbarer Langsamkeit alles, was sich darin befand. Hinter mir stand eine schimpfende Menschenmenge. Dem Fellachen war das egal. Er sprach englisch mit schwerem Akzent.

»Open this, please.«

Das war mein Waschbeutel. Ich öffnete ihn. Er untersuchte meine Toilettengegenstände umständlich. Die Passagiere, die hinter mir standen, wies er grob zur Ruhe. Es fiel mir auf, daß er ab und zu über meine Schulter in die Flughafenhalle hineinblickte. Ich drehte mich einmal sogar um, aber ich konnte nichts sehen, was das Interesse dieses Fellachen erregte. Es herrschte sehr viel Betrieb in der Halle, Menschen eilten durcheinander, und es war sehr laut. Es war auch sehr warm in Ägypten, ich hatte den falschen Anzug an. Meinen Kamelhaarmantel trug ich über dem Arm, und dort, wo ich ihn trug, waren Jackenärmel und Hemd feucht von Schweiß. Der falsche Paß lag vor dem Zollbeamten. Plötzlich, von einem Moment zum anderen, schien er jedes Interesse an mir verloren zu haben.

»All right, you can go.«

Ich packte hastig meinen Besitz ein und zog den Reißverschluß des großen Reisesacks, in dem auch Anzüge hingen, wieder zu. Die Polizeikontrolle hatte ich schon hinter mir. Da war es ganz schnell gegangen. Ich schleppte mein Gepäck zum Ausgang, denn ich konnte weit und breit keinen Träger erblicken. Es war mein Plan, nach Kairo zu fahren und dort zunächst in einem Hotel abzusteigen. Dann wollte ich systematisch vorgehen. Polizei. Meldeamt. Hotels und Pensionen. Irgendwo mußte ja auch Lillian abgestiegen sein. Es war natürlich möglich, daß sie überhaupt nicht nach Kairo hineingefahren war, sondern sich ganz anderswo aufhielt mit ihren Reisebegleitern — wer immer die waren. Delacorte gehörte gewiß zu ihnen. Auf dem Flughafen würde ich nichts erfahren, das war mir klar. Und irgendwo mußte ich mit meiner Suche beginnen. Es war immer noch am wahrscheinlichsten, daß Lillian und Delacorte sich zuerst nach Kairo begeben hatten.

Ich erreichte den Ausgang der Flughafenhalle. Draußen schien eine trotz der späten Jahreszeit noch sehr heiße Sonne. Plötzlich waren sie neben mir.

»Tag«, sagte Geyer. Er ging am Stock und hinkte noch ein wenig.

»Beinahe hätten wir Sie verfehlt«, sagte der blonde Kriminalassistent Olsen mit dem widerspenstigen Haar. »Wir haben drüben, bei der Fremdenpolizei, auf Sie gewartet.« Er ging sehr nahe an meiner linken Seite. Mit der linken Hand nahm er mir den Reisesack ab. Die rechte Hand hielt er in der Jackentasche seines dünnen Sommeranzugs. Etwas Hartes preßte sich gegen meine Rippen. »Aber unser Freund vom Zoll hat sein Schmiergeld verdient«, fuhr Olsen fort. »Hielt Sie so lange zurück, bis wir endlich aufgetaucht sind. Guter Mann. Sie können sich vorstellen, daß das kein Riegel Schokolade ist, den Sie da in den Rippen haben?«

»Ja«, sagte ich.

»Fein«, sagte Olsen. »Gehen Sie weiter. Nicht zu schnell. Rechts rüber jetzt, zum Parkplatz. Da steht ein gelber Plymouth, Sie sehen ihn. Aber machen Sie keine Sachen. Ich bin schrecklich nervös. Das Ding geht so leicht los, wissen Sie.«

Ich sah mich um. Wir standen allein da. Erst in einiger Entfernung parkten Busse, gingen Menschen. In zu großer Entfernung.

Geyer trat plötzlich sehr dicht neben mich, und ich fühlte auch in der rechten Rippenseite etwas Hartes.

»Wir sind unter uns, und wir wollen es bleiben«, sagte Geyer. »Also gehen Sie schön weiter. Gleichmäßig und ruhig.«

Ich ging weiter zwischen ihnen und zwischen zwei Pistolen, ruhig, nicht zu schnell, gleichmäßig. Wir marschierten auf den großen gelben Plymouth zu. Die Sonne brannte, und mir rann der Schweiß über den Körper. Kein Windhauch regte sich. Schlaff hingen die Wedel der vielen Dattelpalmen, die den Platz einsäumten, herab. Schlaff und staubig.

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»Wir haben es geschafft! Wir haben es wieder geschafft, Herr Mark!« Mit diesem Jubelruf stürmte Wachtmeister Stalling heute früh in meine Zelle. Er wollte mich zum Friseur holen. Alle drei Wochen ist Haareschneiden. Heute war ich wieder dran. Es wurde auch schon Zeit.

Stalling kommt zu früh. Ich bin mit dem Rasieren noch nicht fertig. Ich habe mich eben gewaschen. An diesen Tagen, an denen die Friseure im Bau arbeiten, geht immer alles durcheinander. Das Frühstück kam gleich nach dem Wecken. Angezogen bin ich auch noch nicht. Ich kann nichts dafür.

Es ist Montag, der 5. Juni 1967.

»Lassen Sie sich Zeit. Nicht Ihre Schuld, Herr Mark. Das sind die Aufseher, die machen immer den gleichen Mist an den Friseurtagen, ich weiß auch nicht, was das ist. Rasieren Sie sich man in Ruhe zu Ende, ich warte. Beim Friseur werden Sie noch viel länger warten müssen. Was der Kunden hat!«

Ich besitze einen elektrischen Rasierapparat mit Batterieantrieb, den darf ich benützen. Damit kann ich mir nicht das Leben nehmen. Während ich mich also vor dem Spiegel über dem Waschbecken zu Ende rasiere, höre ich durch das sanfte Summen des Apparates, was Wachtmeister Stalling, mir zuliebe mit lauter Stimme, bekanntgibt.

»Wir stürmen von Sieg zu Sieg! Die Krise in der Partei ist endgültig überwunden! Trotzdem daß der Thielen raus ist und eine eigene Partei gegründet hat, mitten im Wahlkampf, haben wir es geschafft. Auch in Niedersachsen, Herr Mark! Zweihundertfünfzigtausend Stimmen! Sieben Prozent! Mehr als die FDP! Zehn Sitze im Landtag! Wir sind die drittstärkste Partei im Land, Herr Mark! Da an der Unterlippe ist noch was. Die drittstärkste Partei, jawohl! Bei den Landtagswahlen 1963, da gab es uns überhaupt noch nicht, und bei der Bundestagswahl 1965, vor ein bißchen mehr als anderthalb Jahren, da hatten wir nur zweieinhalb Prozent. Und jetzt in Niedersachsen fast das Dreifache! Wenn das kein Sieg ist, Herr Mark! Oder habe ich nicht recht?«

»Völlig recht, Herr Stalling.«

»Ein Bundesland nach dem andern! Jetzt sind wir durch! Jetzt haben wir Zeit, die Partei neu aufzubauen, einig und fest, und dann wird das was geben bei der nächsten Bundestagswahl! Was glauben Sie, wie gewisse Leute sich jetzt schon an uns ranschmeißen. Sie wissen, wen ich meine.«

»Ja, Herr Stalling.«

»Von wegen: Die NPD zerfällt! Also, da ersticke ich ja noch vor fröhlichem Gelächter! Diese Idioten! So lange werden wir zerfallen, bis wir an der Macht sind, wirklich an der Macht! Und dann wird sich so manch einer wundern, aber so manch einer! Habe ich nicht recht?«

»Vollkommen«, sage ich, verwahre meinen Rasierapparat und ziehe mich eilig an.

Die NPD hat es wiederum geschafft. Es läuft alles genau so, gespenstisch genau so, wie Boris Minski es sich im November 1966 ausgerechnet hat.

»Und das war ein großes Land, Herr Mark! Ein Sozi-Land. Die Sozis haben ganz schön Prozente verloren. Natürlich auch Mandate. Sieben! Fein für ein Sozi-Land, was? Folge der Großen Koalition. Habe ich gleich gewußt, daß die SPD sich damit kaputtmacht. Warum? Weil das vielen Genossen einfach zu weit gegangen ist. Jetzt kriegen sie die Quittung dafür, die Sozis, noch und noch, überall. Das wird was werden bei der nächsten großen Wahl! Die SPD rutscht, die FDP ist nur noch ein trauriger Witz … was bleibt übrig, Herr Mark, was bleibt übrig? CDU/CSU und NPD

Ich ziehe mein Hemd an.

»Wir sind im Kommen, Herr Mark, wir sind im Kommen. Wenn sich die Krise so weiterzieht … und das tut sie doch, da können die von konzentrierter Aktion …«

»Konzertierter.«

»Ja, natürlich. Da können die von diesem Zeug reden, bis ihnen der Mund fusselig wird, das macht das Kraut nicht fett! Die Krise geht weiter, die Unzufriedenheit weiter, die Unsicherheit und die Angst bei den kleinen Leuten weiter … die Zeit arbeitet für uns, Herr Mark. Genau wie das letztemal! Ich meine: Noch kann man das nicht miteinander vergleichen, und wir sind ja auch weiß Gott nicht die neue Nazipartei, aber man muß doch aus der Geschichte lernen. Na, und hat es das letztemal genauso angefangen, oder habe ich nicht recht?«

Ich ziehe meine Jacke an und sage: »Völlig recht, Herr Stalling.«

»Meinem Muttchen geht es so gut wie schon lange nicht mehr. Sagt auch der Arzt. Die wird mir noch wieder ganz gesund! Wissen Sie, oft denke ich, seit ich in die Partei eingetreten bin, da liegt so was wie ein Segen auf uns. Klingt blöd, ich weiß. Aber ich muß es immer wieder denken. Wenn man was Gutes tun kann, dann muß man es eben tun, das ist die Moral. Die Belohnung kommt dann von selber, nicht? So, nun wollen wir mal los zu unserem Figaro. Vorsicht mit dem, übrigens. Das ist ein Sozi. Sauer heute.«

___________

Olsen saß am Steuer, Geyer, eine Pistole auf den Knien, saß neben mir im Fond des gelben Plymouth. Wir fuhren durch eine im Sonnenglast liegende endlose Ebene. Die Straße war breit und gut, aber sehr staubig, unser Wagen wirbelte eine riesige Wolke hinter sich auf. Olsen fuhr schnell. Am Straßenrand standen ab und zu Eukalyptusbäume, und in der Ferne sah ich von Zeit zu Zeit Lehmhütten und auch größere Gehöfte. Einmal sah ich ein Dorf.

Auf den Feldern arbeiteten Männer, Frauen und Kinder, in Lumpen, tief gebückt. Die meisten von ihnen benützten Geräte, wie die Ägypter sie wahrscheinlich schon vor fünftausend Jahren benützt hatten: kurze Handhacken, mit denen sie alle möglichen Tätigkeiten verrichteten, eiserne Igel, die als Eggen dienten, und spitzwinkelige, zweisternige Pflüge der Form, die bei der Erfindung der Schrift wohl bereits das Bild für die Hieroglyphe abgegeben hatte. Männer und Frauen führten die Eggen und die Pflüge; gezogen wurden sie von mageren alten Wasserbüffeln.

Heliopolis lag bereits etwa dreißig Fahrminuten hinter uns, der Flughafen und seine Gebäude waren nicht mehr zu sehen. Dreißig Minuten lang hatte keiner von uns gesprochen. Alle Fenster des Wagens waren geöffnet, dennoch drückte die Hitze. Ich hatte nun auch meine Jacke ausgezogen. Das Hemd klebte mir am Leib.

»Winterkultur«, sagte Geyer plötzlich.

»Was?«

»Die bauen die Winterkulturen an. Weizen, Gerste und Klee. Das Land ist fruchtbar. Hier wird dreimal im Jahr angebaut, und dreimal gibt es Ernten. Ich war mal bei einer Zuckerrohrernte dabei«, sagte Geyer. In Ägypten ist der Bursche also auch schon gewesen, dachte ich, wahrscheinlich gleich nach Kriegsende.

»Wohin bringen Sie mich?«

»Werden Sie schon sehen.«

»Sie mußten uns ja nachfliegen«, sagte Olsen, am Steuer.

»Er ist der Typ«, sagte Geyer zu Olsen, während er mit der Waffe spielte und mich lächelnd ansah. »Der leidenschaftliche Typ, der den Kopf verliert. Ich habe es gleich gesagt. Sein Bruder auch. Ihr habt es nicht glauben wollen. Wer hatte recht?«

»Schwer vorzustellen, daß einer so idiotisch ist«, brachte Olsen, quasi zu seiner Entschuldigung, hervor.

»Wo ist mein Bruder?«

»Jaja«, sagte Geyer.

»Wo ist mein Bruder? Wo ist Frau Lombard? Wo ist Delacorte?« fragte ich und fühlte mich schwach und elend, und Schweiß überströmte meinen Körper.

»So viele Fragen, tck, tck, tck!« Geyer schüttelte tadelnd den Kopf. Seine dicken Brillengläser funkelten. »Immer mit der Ruhe, mein Lieber, immer mit der Ruhe. Sie werden alles erfahren. Aber lassen Sie sich um Himmels willen Zeit. Seien Sie nicht ungeduldig. Behalten Sie die Nerven. Das ist jetzt das Wichtigste, verstehen Sie.«

Olsen knurrte: »Haben Sie das gehört, Mark? Nerven behalten. Ist wirklich das Wichtigste. Geyer hat was gegen Leute, die schlechte Nerven haben und sie verlieren. So wie Scherr.«

»Was ist mit dem?« Den geistesschwachen negroiden Gefängnisaufseher hatte ich völlig vergessen.

»Tot ist der«, sagte Olsen. »Weil er so schlechte Nerven hatte. Wollte doch glatt ausreißen … zur Polizei, was weiß ich wohin, bloß weil die Bonanza nicht auf die Minute pünktlich kam und er ein wenig warten mußte. Die mußten alle warten, da vor dem Wäldchen beim Bremer Flughafen. Die haben auch alle gewartet. Auf Frau Lombard und mich. Wir kamen nicht zum Spaß zu spät. Mußten nochmal umkehren und in Frankfurt landen, weil eine Tür nicht richtig eingerastet war.«

Vor uns, im Sonnenglast, tauchte ein Palmenhain auf. Wir fuhren direkt auf ihn zu.

Ich sagte zu Olsen: »Sie kamen mit Frau Lombard raufgeflogen?«

»Na ja klar, wer denn sonst? Idiot, dieser Scherr. Alles in bester Ordnung. Jedermann hatte seinen prima falschen Paß bekommen. Bessere falsche Pässe, als wir hatten, gibt es nicht. Frau Lombard brachte sogar noch einen mit. Den gaben Sie ihr freundlicherweise. Also hatte sie zwei.«

»Welchen nahm sie?«

»Ihren. Das Foto darauf war besser.«

»Und was geschah mit Scherr?«

»Wurde unruhig«, sagte Geyer. »Wurde laut. Wollte türmen. Blieb mir nichts übrig.« Er hob die Pistole und ließ sie wieder sinken.

»Sie haben ihn erschossen?«

»Natürlich«, sagte Geyer. »Was hätte ich tun sollen?«

»Wir hatten so mehr Platz in der Bonanza«, bemerkte Olsen. »Wäre fast zu voll gewesen mit dem Halbidioten. War so voll genug. Fünf Personen. Sechs mit dem Piloten. Dazu das Gepäck.«

»Wo haben Sie Scherr erschossen?« fragte ich.

»In dem Wäldchen. Man wird ihn bald finden. Ich habe ihn nur ein wenig eingescharrt und Laub und Äste über ihn gelegt. Gott hab ihn selig, er war ein wirklicher Schwachkopf. Werde es nie fassen, daß er Delacorte so glatt aus dem Knast rausbrachte. Hatte da immer die größten Bedenken.«

»Der Knast war sein Heim«, sagte Olsen. Der Palmenhain war sehr nahe gekommen. Ich sah viele blühende Sträucher zwischen den Bäumen. »Da mußte er sich einfach auskennen. Was mich verblüfft hat, das war, wie er den Doktor im Krankenhaus erledigte. Da gehörte doch was dazu.«

»Reine Reflexe, sonst nichts. Das blöde Schwein«, sagte Geyer. »Und dabei haben wir ihm versprochen, daß wir ihn hier unterbringen. Wäre glänzend aufgehoben gewesen.«

»Wo wollten Sie ihn unterbringen?« fragte ich.

Geyer überging die Frage.

»Besser, er ist tot. Immer eine Belastung so was. Und schließlich, er war ein Mörder. Ein zweifacher, nicht? Den im Gefängnis, den hatte er doch auch auf dem Gewissen, diesen U-Gefangenen.«

Ich dachte, daß der Kriminalinspektor Geyer auch ein zweifacher Mörder war, aber ich sagte nichts.

Wir hatten nun den Hain erreicht. Plötzlich wurde es kühler. In dem Dattelpalmenwäldchen standen ein paar weiße Villen in großen Gärten. Hier schienen reiche Leute ihre Landsitze zu haben, es sah nach Geld und Luxus aus. Blumen blühten in leuchtenden Farben.

Wir bogen von der Hauptstraße in einen asphaltierten Weg ein, der auf ein gelbgestrichenes Haus mit grünen, geschlossenen Fensterläden und flachem Dach zulief. Auf dem Dach mußten Gartenschläuche liegen, denn von oben floß Wasser über die Mauern des Hauses und färbte das helle Gelb dunkel. Das Grundstück war von einer hohen Mauer umgeben. Der Weg führte zu einem schmiedeeisernen Tor, durch welches man die Villa sah. Olsen hupte kurz. Aus einem Häuschen neben dem Tor, drinnen im Park, kam ein Araber in Hemd und Hose und öffnete. Wir fuhren weiter. Der Araber grüßte. Der Weg beschrieb einen Bogen zu einer Auffahrt unter einem Säulenvorbau, auf dem ein Balkon ruhte. Olsen hielt.

»Raus«, sagte Geyer. Er stieß mir die Pistole in die Seite. Ich kletterte aus dem Wagen. Die grüngestrichene Eingangstür öffnete sich. Ein weißhäutiger junger Mann stand uns gegenüber.

»Das ging ja fein«, sagte er in akzentfreiem Deutsch. Er trug einen Khakianzug und ein offenes Hemd. Im Innern des Hauses war es dunkel. Elektrisches Licht brannte in einer großen Halle, in der es viele Teppiche und alte europäische Möbel gab.

»Wohin mit ihm?« fragte Geyer.

»In den Salon«, sagte der junge Mann und wies mit dem Kinn zu einer seitlichen Tür. Geyer gab mir wieder einen leichten Stoß mit der Pistole. Ich marschierte auf die Tür zu. Der junge Mann ging voraus, klopfte und öffnete. Er ließ uns in einen Raum treten, der mit Chippendale-Möbeln eingerichtet war. Hier brannte ein Kronleuchter. Die Fensterläden waren geschlossen. Vor einem Kamin gab es eine große Sitzgarnitur mit Stühlen, einer langen Rohrgeflechtbank und einem Tisch, der eine Marmorplatte besaß. Teegeschirr stand auf diesem Tisch. Neben dem Kamin erblickte ich einen Mann, untadelig gekleidet in einen weißen Tropenanzug, das fahlblonde Haar makellos gekämmt, elegant und souverän, mit hoher Stirn, hellen Augen, hellem Schnurrbart und einem wulstigen Schmiß, der sich vom linken Mundwinkel bis zum Backenknochen emporzog.

»Willkommen«, sagte der Euthanasie-Massenmörder Dr. Victor Delacorte.

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»Krieg! Es ist Krieg!«

Mit diesem Ruf ist Wachtmeister Stalling vor fünf Minuten in meine Zelle gestürzt.

Das zweitemal schon, heute, daß er mit Neuigkeiten kommt.

Vor dem Friseur waren es die Landtagswahlen in Niedersachsen.

Nach dem Friseur ist es nun der mit ungeheurer Wucht losgebrochene, lange vorbereitete und lange erwartete Krieg, den Ägypten gegen Israel angezettelt hat.

Wachtmeister Stalling war völlig außer Atem.

»Heute früh ist es losgegangen! Aber wie! Das arme Israel! An allen Fronten wird gekämpft! Und gegen wen die Juden alles kämpfen müssen! Die Ägypter! Die Jordanier! Gegen Syrien! Gegen — ich habe mir nicht alle merken können! Panzerschlachten in der Wüste und im Gaza-Streifen! Luftangriffe! Dieser verfluchte Nasser! Aufhängen müßte man den Kerl! Kriegsverbrecher der! Was haben die Juden da unten irgendwem getan? Fleißig und still haben sie ihr Land aufgebaut. Und jetzt, wo es ein Garten ist, ein blühender, jetzt möchte er es haben, der Saukerl! Diese ganzen Saukerle, das Gesocks da unten! Mistzeug! Ich sage Ihnen, Herr Mark, wenn sich da jetzt nicht wirklich die ganze freie Welt zusammentut und den Juden hilft, dann kann Amerika aber einpacken, dann habe ich genug von dieser freien Welt! Jawohl! Und nicht nur ich! Alle, denen ich vom Krieg erzähle! Der Herr Jakowski hat gesagt, das, was da mit den Juden geschieht, ist das größte Verbrechen unserer Zeit! Er ist völlig außer sich vor Empörung, der Herr Jakowski! Kairo soll bombardiert worden sein! Das gönne ich ihnen, den Hunden. Knapp davor sollen sie noch auf den Straßen getanzt und gesungen haben vor lauter Begeisterung über den heiligen Scheißkrieg, den sie führen wollen! Der Herr Jakowski, ich, alle im Bau, wir haben nur einen Wunsch: daß die Juden sie zu Klump schlagen, daß sie Kleinholz aus ihnen machen, daß nichts übrigbleibt von dem Drecksgesindel, dem verfluchten!« Damit ist Wachtmeister Stalling fortgestürzt, um die Nachricht weiter im Bau zu verbreiten.

Krieg im Nahen Osten.

Seit Tagen, seit Wochen hat man auf ihn gewartet. Nun ist er da. Was wird geschehen? Was immer geschehen wird, ich kann nichts daran ändern. Aber es ist doch ein unheimliches Gefühl, das mich beschleicht, wenn ich nun daran denke, daß ich in meinem Bericht eben wieder in Ägypten angelangt bin, wo nun Panzerschlachten toben, Granaten explodieren, Bomben fallen, Sirenen heulen, Menschen kämpfen und sterben; daß ich da unten gewesen bin, in Ägypten, in Kairo, das heute früh seinen ersten Luftangriff erlebt haben soll — daß ich da war, vor einem halben Jahr. Ja, fast auf den Tag genau vor einem halben Jahr saß ich dem Professor Delacorte gegenüber in dem kühlen Salon der eleganten Villa am Rande eines Palmenhains, irgendwo in der Nähe von Heliopolis …

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Ein ägyptischer Boy in Weiß hatte eisgekühlten Tee serviert. Eine große Thermoskanne stand auf dem Marmortisch. Delacorte und ich saßen uns gegenüber — er gepflegt und sauber, ich verschwitzt und schmutzig. Nach der Hitze draußen war es wirklich sehr kühl hier im Salon, in dem der elektrische Kronleuchter brannte. Leise hörte ich das Wasser über die Hausmauer plätschern.

»Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug«, sagte Delacorte, Tasse und Untertasse in den Händen, die kalte Flüssigkeit nippend. Auch ich trank durstig.

»Man wird Ihnen natürlich andere Kleidung besorgen müssen … Herr Peter Horneck.«

»Hören Sie damit auf«, sagte ich. »Sie heißen ja auch nicht mehr Delacorte. Sie heißen jetzt alle anders. Wie heißen Sie denn?«

»Das ist doch für Sie wirklich uninteressant.«

»Wo bin ich hier?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen.«

»Sie können nicht, oder Sie wollen nicht?«

»Ich kann nicht. Ich wurde, vom Flughafen fort, hierher gebracht wie Sie. Auch ich wurde erwartet.«

»Von zwei Herren mit Pistolen?«

»Das nicht. Etwas Gebäck? Nein? Sollten Sie versuchen.« Er knabberte an einem Keks. »Nein, nicht von Herren mit Pistolen.«

»Sondern?«

»Sondern von … Freunden.« Er lächelte und verneigte sich leicht. »Sie vergessen, daß ich hier erwartet wurde … als Freund.«

»Ich nicht.«

»Nein, Sie nicht. Noch Tee?«

»Bitte.«

Er füllte meine Tasse umständlich nach.

»Wo ist Frau Lombard? Wo ist mein Bruder?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß es wirklich nicht.« Er hob die ausdrucksvollen, schönen Hände. »Erregen Sie sich nicht. Sie geraten nur in Schweiß. Und es ist doch gänzlich sinnlos. Wann und wie Sie hier wieder fortkommen, das steht nicht bei Ihnen und nicht bei mir. Darüber entscheiden jetzt …«

»Ihre Freunde.«

»Nun ja.« Er räusperte sich. »Sie müssen das verstehen. Es wäre doch zu gefährlich, Sie frei in der Gegend herumlaufen zu lassen … wenigstens sofort, in der allerersten Zeit nach meiner Flucht. Wer weiß, was Sie in Ihrer begreiflichen Erregung anstellen würden? Das kann man nicht riskieren.«

»Wer ist man?«

»Wir alle«, sagte Delacorte. Ein feiner Geruch nach guten Eau de Toilette ging von ihm aus. Er strich sich über das schöne Haar.

»Dieses Haus gehört, der ›Spinne‹, ja?«

»Wie bitte? Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

»Sie wissen sehr gut, wovon … ach was! Und Sie? Ihnen ist es egal, wo sich Lillian aufhält?«

In seinem Gesicht zuckte es. Er biß sich auf die Lippe. Ich überlegte, ob er Theater spielte, aber ich hatte nicht den Eindruck.

»Ich habe Sie etwas gefragt!«

Er stand auf und ging zu einem der Fenster, die auch noch mit schweren Stores verhängt waren. Er wandte mir den Rücken. Die Finger seiner Hände flocht er ineinander, während er sprach.

»Es ist mir durchaus nicht egal. Lillian … Lillian war der Preis für meine Freiheit.«

Ich stellte die Teetasse hin, weil meine Hand zu zittern begonnen hatte. Er drehte sich nicht um.

»Ich will es Ihnen erzählen. Von Anfang an. Zunächst einmal: So wurde ich befreit …«

Er gab mir einen kurzen Bericht. Hier erfuhr ich alles über den Ausbruch aus dem Untersuchungsgefängnis. Delacorte sprach etwas angestrengt.

»Ich verrate auch kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, daß wir alle, Lillian, Ihr Bruder, Geyer, Olsen und ich, zusammen von Bremen über Zürich hierher nach Kairo geflogen sind.«

»Nein, da verraten Sie kein Geheimnis.«

»Nun, unterwegs hatte ich genügend Zeit, mit Lillian und Ihrem Bruder Werner zu sprechen. Es ist ganz einfach. Lillian hat mich, seit sie mich kennt, mit Ihrem Bruder Werner betrogen. Ich habe so viele Männer verdächtigt, weil sie es so geschickt anfing, mich zu betrügen … aber sie war eine treue Betrügerin, treu Ihrem Bruder. Nicht einmal mit Ihnen betrog sie mich. Und das will doch, nach allem, was ich von ihr weiß, etwas heißen.«

»Verstehe ich nicht.«

»Daß ich Ihnen damals im ‘Kaiserhof’, vor meiner Verhaftung, Lillian ans Herz legte und Sie bat, auf sie zu achten, das war doch ein zynischer Witz, nicht wahr? Ausgesprochen im Zug des Plans, Sie anzusehen und auf Ihre Eignung zu prüfen. Die Partitur der Neunten schenkte ich Ihnen auch nicht aus spontaner Sympathie, sondern weil sie das Kennzeichen dafür war, daß Sie mir geeignet erschienen.«

»Das weiß ich inzwischen.«

»Ich war davon überzeugt, daß Sie Lillian liebten. Genau wie ich davon überzeugt war, daß Lillian Sie nicht liebte. Sie waren nur noch eine sentimentale Erinnerung für sie, sonst nichts. Siehe das Medaillon mit den Telefonnummern. Siehe den Anruf bei Ihnen, als sie sich vergiftet hatte …«

»Das spricht mir aber doch für etwas mehr als für Sentimentalität«, sagte ich erregt.

Er sah mich grübelnd an.

»Sie haben recht. Es war mehr … Sie bedeuteten Lillian gewiß etwas … Ich weiß nicht, was … jedenfalls war ich nicht als Mann auf Sie eifersüchtig, verstehen Sie? Dazu sprach Lillian von Ihnen allzuoft wie von einem guten alten Bekannten, einem treuen Freund … ja, wie von einem kleinen ergebenen Jungen, einem Hündchen, das einem nachläuft und mit dem man tun kann, was man will … Nicht doch, bleiben Sie sitzen, ich meine es nicht verletzend … Wir sind beide Betrogene, wenn Sie wollen. Lillian hat sich niemals von Ihrem Bruder Werner lösen können, und er sich niemals von ihr.«

»Das haben die beiden Ihnen gesagt?«

»Auf dem Flug, ja.« Delacortes Gesicht war jetzt weiß. Er litt, man konnte es sehen. »Sie verabscheut mich, sagte Lillian. Nun, da sie weiß, wer ich einmal war, verabscheut sie mich. Es graut ihr vor mir. Sie ekelt sich vor sich selbst, wenn sie daran denkt, einmal meine Geliebte gewesen zu sein.« Er fuhr mit einer Hand durch die Luft. »Alles Geschwätz und Hysterie natürlich. Sie kennen Lillian. Ich weiß, daß Sie sie lieben, wie ich sie liebe … trotz allem.« Er hustete und drehte mir wieder den Rücken. »Trotz allem und immer weiter, ja«, sagte er. »Ich nehme an, Ihnen geht es genauso … selbst nach dem, was ich Ihnen jetzt gesagt habe. Selbst nach dem, was Lillian Ihnen eben angetan hat. Man hört nicht auf, eine Frau zu lieben, bloß weil sie eine Hure ist, wie?«

Mir war schlecht.

Ich stützte den Kopf in die Hände.

Was für eine Lügnerin, was für eine Schauspielerin, was für eine wirkliche Hure war Lillian doch, wenn das stimmte, was Delacorte da sagte. Lillian … vor zwei Tagen hatte sie noch mit mir im Bett gelegen, nackt, keuchend vor Lust. In Treuwall hatte sie mich und die Polizei beschworen, ihr meinen Bruder vom Leib zu halten.

»Ich will ihn nicht sehen! Ich kann seinen Anblick nicht ertragen! Nie wieder will ich ihn sehen!«

Eine gute Schauspielerin, das mußte man ihr lassen. Ich war auf das Theater hereingefallen. Die Polizei auch. Vermutlich selbst Paradin.

Wenn es die Wahrheit war, was Delacorte da erzählte …

Wer sagte mir, daß es Wahrheit war?

Kein Mensch! Immer noch konnte ich mich nicht entschließen, zu glauben, daß Lillian mich verraten hatte.

»Wir müssen zusammenbleiben. Für immer. Nur wir beide. Ich liebe dich, Ritchie. Du weißt, ich habe immer nur dich geliebt …«

Das hatte sie gesagt. Aus freien Stücken. Niemand hatte sie dazu gezwungen. Aber vielleicht zwang man sie jetzt zu vielen Dingen? Sie hatte es doch nicht notwendig gehabt, mich zu belügen, zu betrügen! Warum sollte sie es doch getan haben? Warum? Etwas steckte dahinter. Ich kannte immer noch nicht die Wahrheit, nein, immer noch nicht. Lillian war keine solche Lügnerin, keine solche Schauspielerin. Keine solche Hure, nein!

Ich fühlte leichte Benommenheit. Erst die Hitze, nun die Kühle, die Aufregung, der weite Flug, die Angst, die Hoffnung, die Ungewißheit, die Gefangenschaft — es war alles ein wenig viel auf einmal. Die Benommenheit wuchs. Ich kämpfte gegen sie an und trank meine Tasse wieder leer. Delacorte goß Tee nach.

»Danke«, sagte ich.

»In der Maschine erfuhr ich also die Wahrheit. Und man stellte mich vor die Wahl.«

»Was für eine Wahl?«

Er hob die Schultern.

»Sehen Sie, mein Freund, ich soll hier die Leitung einer großen Nervenklinik in … egal, wo … übernehmen. Praktisch unbegrenzte Mittel. Jede Forschungsmöglichkeit. Sie brauchen Fachleute hier. Sie haben nicht genug. Nun, diese Position steht mir zu. Ich kann sie haben, jederzeit. Wenn ich auf Lillian verzichte. Ein für allemal. Wenn ich sie nie wiedersehe. Das ist die Bedingung. Gehe ich darauf ein, ist es gut. Gehe ich nicht darauf ein …« Er brach ab.

»Was dann?«

Er sagte langsam: »Man hat mir im Flugzeug erklärt — eindringlich erklärt —, daß man mich wieder aus Ägypten fortbringen und den deutschen Behörden in die Hände spielen wird, wenn ich nicht einwillige.«

»Mein Bruder hat Ihnen das erklärt?«

»Ja. Er ist ein Mann, der sehr viel Macht haben muß. Sehr, sehr viel Macht.«

Er ist auch ein Mann, der hervorragend blufft, dachte ich. Der beste Pokerspieler weit und breit. Aber das weißt du nicht, du armer Idiot. Du bist ihm auf den Leim gegangen. Was hieß hier armen Idiot? Ich war Werner genauso auf den Leim gegangen. Genauso!

Delacorte sagte: »Ich habe Vergleichsmöglichkeiten — was die Tüchtigkeit und Entschlossenheit Ihres Bruders und seiner Freunde angeht. Immerhin wurde ich aus dem Gefängnis geholt Immerhin bin ich jetzt hier, ein freier Mann mit einer glänzenden neuen Karriere vor mir. Immerhin …«

Mein Kopf begann zu schmerzen. Vor meinen Augen flimmerte es. Ich sah kleine goldene Pünktchen tanzen. Und meine Benommenheit stieg immer weiter.

»Schon gut«, sagte ich. »Sie haben Lillian also aufgegeben.«

»Ja«, sagte er. Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß er immer größer und größer wurde. Der Raum hingegen schien enger und enger zu werden. Kreiste der Kronleuchter leise?

»Ist Ihnen nicht gut?«

»Nicht sehr …«

»Die Hitze. Trinken Sie noch etwas Tee.« Er hielt mir die Tasse hin. Ich trank gehorsam.

»Sie haben Lillian aufgegeben?« wiederholte ich und merkte, daß ich mit schwerer Zunge sprach. Auch meine Glieder fühlten sich plötzlich schwer wie Blei an. Ich machte einen Versuch, mich zu erheben. Der Versuch mißlang.

»Bleiben Sie sitzen«, sagte Delacorte. »Ja, ich habe Lillian aufgegeben. Es gibt Situationen, in denen einem keine andere Wahl bleibt.«

»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte ich, und nun fiel es mir schon schwer, die Wörter deutlich auszusprechen.

»Das ist schade«, meinte Delacorte. »Dabei sage ich einmal die Wahrheit. Sie werden mir noch glauben. Sie werden noch Verständnis für mich haben, o ja, viel Verständnis werden Sie für mich haben …«

Mein Schädel begann zu dröhnen. Ich sank in meinem Stuhl zurück. Auf einmal war Delacortes Gesicht dicht vor mir. Alles andere sah ich nur noch verschwommen, in Schlieren und hinter Schlieren. Allein Delacortes Gesicht war da, klar und gewaltig. Sein Mund erschien mir, während er nun sprach, so groß wie sein ganzes Gesicht.

»Ich verabschiede mich jetzt von Ihnen, mein Lieber. Ich denke nicht, daß wir uns wiedersehen werden. Ich hoffe es jedenfalls nicht.«

»Was … heißt … verabschieden?«

»Sie waren sehr unaufmerksam. Ich kann es verstehen. Zu aufgeregt. Ich habe Ihnen mit jeder Tasse Tee eine kleine Pille gegeben. Ein sehr starkes Medikament. Sie werden nun lange schlafen, o ja, lange …«

»Ich …«

»Seien Sie ohne Sorge. Schlafen habe ich gesagt. Nicht sterben. Ganz gewiß nicht. Im Gegenteil. Man wird um Ihre Gesundheit besorgt sein. Es sind zwei ausgezeichnete Ärzte im Haus. Nein, nein, es geschieht Ihnen nichts Schlimmes. Das haben Sie übrigens unserer guten Lillian zu verdanken.«

»Lillian …«

»Sie bestand darauf. Ihr Bruder und die anderen Herm hatten … hm … andere Pläne mit Ihnen. Aber Lillian machte ihnen eine furchtbare Szene … Ihr Bruder gab nach … Nur, daß Sie jetzt eine Weile aus dem Weg sein müssen, um keinen Unfug anzurichten, das sah Lillian ein … Es genügt, nicht wahr? Sie verdanken ihr das Leben. Ist das nichts? Was für eine seltsame Frau … Sie betrug sich wie eine Irre. Wahrscheinlich ist sie eine … Man hätte glauben können, Sie seien Ihr Geliebter. Nun ja …« Sein Gesicht war nun ein Gebirge, sein Mund eine Schlucht, die Zähne waren Felsen. Seine Worte klangen wie aus einem Meer von Watte. »Diese Kur ist sehr gesund … besonders für Menschen mit strapazierten Nerven … Noch einmal: Es wird Ihnen nichts geschehen … hier. Danach hängt alles von Ihnen ab. Man wird von Ihnen verlangen …«

Das Ende dieses Satzes hörte ich nicht mehr.

Hier endet meine Erinnerung.

Zum zweitenmal in vierundzwanzig Stunden verlor ich das Bewußtsein.

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Über das, was danach geschah, meine Herren Richter, Herr Verteidiger, kann ich nur wenig berichten. Meine Erinnerung versagt hier noch immer. Vier oder fünf Tage sind fast ganz aus meinem Gedächtnis gelöscht. Sie müssen eine Art Schlafkur mit mir gemacht haben.

Ich weiß, daß ich in einem Bett lag, als ich wieder zu mir kam. Und es war Tag. Und graues Licht fiel durch ein vergittertes Fenster. Der Himmel war bedeckt, daran erinnere ich mich. In dem Zimmer stand nur das Bett, sonst nichts. Die Tür hatte keine Klinke. Ein Mann in einem weißen Ärztekittel saß an meinem Bettrand und beobachtete mich. Ein älterer Mann mit grauem Haar und einem kleinen Bart am Kinn.

»Na also«, sagte er, »da sind Sie ja. Wie geht es?«

Ich versuchte, mich zu bewegen, aber ich hatte nicht die Kraft dazu.

»Schwach«, sagte ich. »Durst.«

Er drückte auf eine Klingel.

Eine junge Frau in Weiß, mit einem Schwesternhäubchen, erschien.

»Er bekommt jetzt zu essen und viel Orangensaft«, sagte der Arzt. Ich dachte, daß ich keinen Bissen hinunterbringen würde, doch als man mir dann ein Tablett voll Essen und einen Krug mit frischem Orangensaft brachte, trank und aß ich gierig. Die Schwester stützte mich dabei. Allein hätte ich nicht im Bett sitzen können. Nach der Mahlzeit kam der Arzt wieder, maß meinen Blutdruck, fühlte den Puls und ging. Die Schwester erschien mit einem rosaroten Kunststoffschälchen. Darauf lagen drei kleine kaffeebraune, bohnenförmige Pillen.

»Nein«, sagte ich.

»Dann muß ich den Doktor rufen, und Sie bekommen eine Injektion. Ist Ihnen das lieber?« Sie war hübsch, und sie sprach fließend deutsch.

Ich schluckte die Pillen.

Zehn Minuten später schlief ich wieder, tief, traumlos, ohne etwas wahrzunehmen. Ich muß viele Stunden geschlafen haben. Als ich zu mir kam, saß ein anderer Arzt, ein junger, an meinem Bett, und eine andere Schwester, eine häßliche, brachte mir Essen und Fruchtsaft, und danach erhielt ich wieder drei von den kaffeebraunen Pillen. Da war es Nacht, das elektrische Licht brannte, die Läden vor dem vergitterten Fenster waren geschlossen. Gleich nachdem ich das Medikament geschluckt hatte, versank ich wieder in tiefen Schlaf.

Es war ein seltsamer Schlaf. Er entspannte vollkommen. Ich dachte an überhaupt nichts, ich träumte nicht, ich hatte keine Sorgen, keine Ängste, keine Beschwerden. In gewissen Abständen kam ich zu mir. Dann erhielt ich Essen, Fruchtsaft und neue Pillen. Es waren auch hellblaue und gelbe darunter und manchmal rote. Die Ärzte und die Schwestern wechselten, Tag und Nacht wechselten.

»Was für ein Tag ist heute?« fragte ich einmal einen der Ärzte.

»Was spielt das für eine Rolle?« fragte er.

Er hatte recht. Was spielte es für eine Rolle? Ich wußte überhaupt nicht mehr, wo ich mich befand und was geschehen war, mit Mühe entsann ich mich noch, wie ich hieß und wer ich war. Aber es interessierte mich auch nicht. Nach einiger Zeit nahm ich die verschiedenen Pillen schon gern, denn der Schlaf tat so wohl. Auch die beiden Ärzte und die beiden Schwestern hatte ich gern. Ich träumte noch immer nicht. Wenn der Tod ein so angenehmer Zustand ist, dann freue ich mich jetzt schon auf ihn.

Einmal erhielt ich weiße Pulver, und der junge Arzt sagte: »Nun müssen wir aber auch einmal wieder aufwachen.«

»Was für ein Tag ist heute?« fragte ich wieder.

»Mittwoch«, sagte er.

»Mittwoch, der wievielte?«

»Der siebente Dezember.«

»Wann bin ich hier angekommen?«

»Am zweiten. Vorigen Freitag, Sie Siebenschläfer. Wir müssen Sie jetzt langsam wieder munter kriegen, langsam, nicht zu schnell. Und dann müssen wir sehen, daß Sie wieder laufen lernen.«

Sie gaben mir weniger Medikamente. Am achten Tag, abends, gaben sie mir kein Mittel mehr. In dieser Nacht schlief ich unruhig, zum erstenmal, und zum erstenmal kehrte die Erinnerung in dieser Nacht zurück, die Erinnerung an alles.

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Am Morgen des neunten Tages ließen sie mich aufstehen, und der Arzt und eine Schwester führten mich eine Weile im Zimmer herum. Ich war sehr schwach, und meine Beine fühlten sich weich an, aber der Arzt sagte: »Robuste Natur. Ich habe es mir viel ärger vorgestellt. Morgen können Sie schon in den Garten. In drei Tagen haben wir Sie soweit.«

An diesem Tag wanderte ich noch stundenlang in dem vergitterten Zimmer herum, zuletzt allein, mit einem Stock. In dem Maß, in dem ich wieder klar wurde, kehrten auch meine Sorgen zurück. Angst und Hilflosigkeit waren groß, aber ich bemühte mich, nichts davon zu zeigen. Ich war schon wieder so weit, daß ich mir sagte: Hier hast du keine Hilfe zu erwarten.

Dann führten sie mich in den Garten, in dem es schöne Wege zwischen den Hibiskussträuchern mit dem satt blutenden Karmin der Kelche und den Palmen gab. Auf gepflegten Beeten wuchsen blühende Rosen, Weihnachtssterne, Nelken, Oleander, Christusdorn, und ich sah auch ein paar Granatapfel- und Zitronenbäume. Das Grundstück besaß sehr hohe und dichte Hecken, die es einschlossen.

Es gab da einen Mann im Overall, der alle möglichen Arbeiten verrichtete, und der führte mich spazieren. Zuerst mußte ich mich alle zehn Minuten auf eine der zahlreichen Bänke des Parks setzen; aber diese Schwäche ging schnell vorbei, ebenso der Rest meiner Benommenheit. Der Mann im Overall war ein Araber, der kein Wort verstand, das ich zu ihm sprach, oder der wenigstens so tat. Er lächelte stets, aber er sagte nie ein eigenes Wort. Es war warm in diesen Tagen, doch nicht so heiß wie bei meiner Ankunft. Das Haus war größer, als ich gedacht hatte; nun sah ich es, und es lebten eine Menge Leute in ihm, Weiße und Farbige. Oft kamen Autos mit Besuchern. Ich bemerkte, daß auf dem Dach der Villa große Antennen angebracht waren.

Am zweiten Tag konnte ich schon allein im Garten umhergehen, und ich fühlte, wie meine Kräfte zurückkehrten. Am dritten Tag untersuchte mich der ältere Arzt gründlich, er machte sogar ein EGK in einem weißgestrichenen Raum, in dem viele Apparate herumstanden.

»Wieder in Ordnung von mir aus«, sagte er. »Gehen Sie jetzt auf Ihr Zimmer.« Inzwischen kannte ich mich ein wenig im Haus aus, jedenfalls in einem Flügel. Auf dem gleichen Stockwerk, auf dem der Untersuchungsraum lag, befanden sich mehrere Zimmer, die alle keine Klinken hatten, auch außen nicht. Die junge Schwester führte mich zu meinem Zimmer und ließ mich mit einem Steckschlüssel ein. Auf dem Fußboden lag mein Reisesack, auf dem Bett lag mein Kamelhaarmantel. Ich sah die Sachen flüchtig an. Es fehlte nichts. In den Taschen des Mantels fand ich meine Brieftasche, meine falschen Papiere, mein Geld und mein Flugticket.

Ich setzte mich auf das Bett und sah durch das vergitterte Fenster in den blühenden Garten hinaus und dachte nach. Nun schrieb man also den 11. Dezember. Das war ein Sonntag, der dritte Advent. Im Zimmer des Arztes hatte ich einen Kalender an der Wand gesehen. Man hatte mich seit dem 2. Dezember hier festgehalten. Um Zeit zu gewinnen. Damit ich keinen Unfug anrichten konnte, wie Delacorte gesagt hatte. Wo war der? Längst verschwunden, längst in seiner Klinik natürlich. Wo waren die anderen? Geyer? Olsen? Mein Bruder? Lillian? Alle verschwunden vermutlich, dachte ich. Das war also ihr großer Plan gewesen. Aber ich dachte falsch. Eine Stunde später wurde die Tür aufgeschlossen. Olsen, in einem Khakianzug, trat ein und lächelte.

»Freue mich, Sie wiederzusehen«, sagte er. »Packen Sie Ihre Sachen. Wir fahren.«

»Wohin?«

»Nach Kairo.«

»Wer sagt das?«

»Stellen Sie nicht so viele Fragen. Ich habe den Auftrag, Sie nach Kairo zu bringen. Also!«

Also packte ich meine Sachen. Das Haus war leer, als wir es verließen, jedenfalls wirkte es so. Ich sah keinen der Ärzte, keine Schwester, niemanden. Vor der Auffahrt parkte der gelbe Plymouth. Olsen, der meinen Reisesack getragen hatte, warf ihn in den Fond. Ich warf meinen schweren Mantel darauf. Es war ein trüber, schwüler Tag. Gegen Mittag fuhren wir über dieselbe Straße, die wir gekommen waren, entlang an den armseligen Feldern, auf denen zerlumpte Männer, Frauen und Kinder arbeiteten und Wasserbüffel, denen die Knochen unter der Haut hervorstachen, vorsintflutliche Pflüge zogen.

Wir fuhren bis fast an die Flughafengebäude von Heliopolis heran, dann bogen wir in eine breite Chaussee ein, die, Wegweisern zufolge, nach Kairo führte.

»Bringen Sie mich zu meinem Bruder?«

»Ich bringe Sie ins Hotel ›Imperial‹«, sagte Olsen. »Alles Weitere werden Sie dort erfahren. Ich verabschiede mich heute von Ihnen. Wir werden uns nicht mehr sehen. Sie waren kein unangenehmer Kunde, Mark.«

Auf dieser Straße herrschte viel Verkehr, es gab hier noch Felder, aber auch schon Fabriken und Vorstadtsiedlungen von großer Häßlichkeit. Zerlumpte Kinder spielten mit leeren Konservenbüchsen. Vor uns, im Dunst, lag Kairo, ich konnte die Türme einiger Moscheen erkennen.

»Sie bleiben hier?«

»Hier nicht«, sagte Olsen. »Im Lande wohl. Ich sollte schon seit einiger Zeit hierher überführt werden.«

»Von der ›Spinne‹?«

Er zuckte die Achseln.

»Und jetzt ergab sich eine gute Gelegenheit, ich verstehe«, sagte ich. »Auch für Geyer. Der mußte ja dringend aus Deutschland ‘raus. Ist der schon weg?«

»Ja.«

»Auch eine besondere Mission, was? Hoffentlich bekommt er wieder mit der Ertüchtigung von Knaben zu tun, der alte Päderast.«

Olsen lachte gutmütig.

»Was ist seine Aufgabe?«

»Was wird sie schon sein? Die brauchen hier Spezialisten. Er und ich, wir können Französisch und Englisch. So verständigen wir uns. Arabisch müssen wir jetzt eben lernen. Gibt viel zu tun hier unten.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte ich.

Wir erreichten die Außenbezirke von Kairo. Olsen fuhr sehr sicher. Er sagte:

»Hören Sie, Mark, Sie sind mir sympathisch. Spielen Sie jetzt nicht den gottverfluchten Helden. Das bringt nichts ein. Nie. Und in Ihrer Lage schon gar nicht. Sie haben hier keine Chance. Tun Sie, was man von Ihnen verlangt.«

»Das kommt darauf an, was man verlangt.«

»Also doch der Held. Ich sage Ihnen, da fallen Sie nur auf die Nase. Sie werden an meine Worte denken.«

Nun waren wir im Zentrum, fuhren am Hauptbahnhof vorüber und erreichten den Midan el-Tahrir, den Befreiungsplatz, in den zehn Avenuen münden. In Riesenbeeten wachsen hier viele Blumen. Sykomoren, Tamarisken und Palmen stehen in Gruppen. Ihre Fächer und Wedel hingen reglos herab. Olsen steuerte den Wagen durch eine schmale Seitenstraße auf die Nile Corniche. Plötzlich sah ich den Fluß vor mir und die Semiramis-Brücke, die zu der Insel Gezireh hinüberführt. Olsen bog nach rechts ein und fuhr, an mehreren großen Hotels vorbei, die Prachtstraße von Kairo entlang, an deren Rändern viele Palmen, Jacarandas, Flamboyants, Johannisbrot-, Lebbach- und Lotosbäume wachsen. Wir glitten am »Shepheard’s« vorüber und an seiner Anlegestelle für die großen, glasgedeckten Ausflugsmotorboote. Dann hielt Olsen vor dem »Imperial«.

Es ist ein seltsames Gefühl, diese Worte zu schreiben und zu denken, daß sich zur gleichen Zeit im »Imperial« und im »Hilton« und in den anderen internationalen Hotels von Kairo verängstigte Ausländer drängen, die der Krieg überrascht hat und die das Land nicht mehr verlassen konnten. Düsenbomber der Israelis donnern über die menschenleeren Straßen von Kairo, während ich diese Worte schreibe, in Luftschutzkellern hocken die Menschen, und in der Wüste draußen tobt der Krieg, in dieser Minute, in diesen Sekunden. Seltsames Gefühl …

Ein Hoteldiener kam aus dem »Imperial« und holte mein Gepäck.

Ich sagte: »Woanders gab es keine Zimmer, wie?«

»In den größten Hotels sind Sie am sichersten«, sagte Olsen. »Und Geld genug haben Sie ja bei sich.« Ich stieg aus. Olsen sagte: »Seien Sie klug, Mark.«

»Ja«, sagte ich.

»Nur so bleiben Sie am Leben«, sagte er, nickte mir zu und fuhr weiter. Ich ging in die Hotelhalle hinein. Es war eine sehr große und luxuriös eingerichtete Halle. Ich ging zur Reception.

»Guten Tag«, sagte ich energisch. »Mein Name ist Peter Horneck.«

»Ah, Herr Horneck«, sagte der Portier lächelnd und mit einer leichten Verbeugung. »Wir haben Sie schon erwartet.« Er sah kurz auf den Plan, der vor ihm lag. »Sie haben das Appartement 907. Page!« rief er. Ein uniformierter Araberjunge kam herbeigeeilt. »Bringe Herrn Horneck auf 907«, sagte der Portier in englischer Sprache.

»907, jawohl. Wollen Sie mir bitte folgen, Sir«, sagte der kleine Page.

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Das Appartement 907 lag an der Vorderseite des »Imperial«. Es war groß und komfortabel eingerichtet und bestand aus Salon, Schlafzimmer, Badezimmer und einem kleinen Vorraum. Es hatte Doppeltüren, moderne Möbel und im Salon einen großen Deckenlüster. Ich sah aus dem Fenster des Salons und erblickte die Corniche, die Semiramis-Brücke und die Flußinsel Gezireh, die ich von meinen früheren Besuchen her kannte. Ich sah die Luxusvillen und Parks im Norden, den Gezireh-Sporting-Club mit seinem Schwimmbad, den Golf-, Tennis-, Polo-, Kricket- und Hockeyplätzen in der Mitte, und im Süden, etwa auf der Höhe des »Imperial«, den phantastischen Andalusischen Garten und das Amerikanische Hospital, und, an der Inselspitze, den schönen kleinen Palast, der einmal dem fetten König Panik gehört hatte. Ich kannte das alles. Nur im »Imperial« hatte ich noch nie gewohnt. Ich überlegte, dann kritzelte ich etwas auf einen Briefumschlag, ging zum Telefon und gab ein Telegramm auf. Es war an Boris Minski adressiert und hatte diesen Wortlaut: »Gut gelandet stop herzliche Grüße Ritchie.«

Das sollte genügen. Wir hatten vereinbart, daß ich »Gruß Ritchie« telegrafieren würde, wenn es mir gut, und »Herzliche Grüße«, wenn es mir schlecht ging. Ich wußte nicht, was Minski tun konnte, um mir zu helfen. Ich hoffte zu Gott, daß ihm etwas einfiel. Natürlich stand er längst unter scharfer Bewachung, und das Telegramm würde natürlich auch in Paradins Hände geraten, der dann also wußte, daß ich in Kairo und das Telegramm im »Imperial« aufgegeben worden war. Damit konnte Paradin nur sehr wenig anfangen. Die Bundesrepublik unterhält keine diplomatischen Beziehungen zu Ägypten, und selbst wenn sie es getan hätte: Menschen mit Delikten meiner Art liefert Ägypten nicht aus. Eine Interpol-Fahndung nach uns allen war gewiß längst angelaufen. Sie war nur in gewissen Ländern ganz sinnlos. Zum Beispiel in Ägypten.

Ich hatte kaum den Telefonhörer in die Gabel gelegt, da läutete der Apparat. Ich hob ab. »Da bist du ja endlich«, sagte die Stimme meines Bruders.

»Ja, da bin ich«, sagte ich. »Von wo sprichst du?«

»Aus dem Hotel. Ich wohne auch hier.«

»Und wo wohnt …«

»In einem anderen Hotel. Nicht am Telefon. Ich muß dich sprechen. Auch nicht unbedingt im Hotel.«

»Warum nicht?«

»Nicht gleich nach deiner Ankunft. Später können wir uns kennengelernt haben. Später …«

»Aber das ist doch …«

Er unterbrach mich kurz: »Kannst du in einer Viertelstunde im Ägyptischen Museum sein?«

»Ja.« Das Ägyptische Museum lag direkt hinter dem Hotel.

»Gut. Ich warte auf dich im Erdgeschoß. Saal 42.«

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Das Erdgeschoß des Ägyptischen Museums enthält die größten Denkmäler vom Beginn der altägyptischen Geschichte bis in die römische Zeit. Man betritt zunächst eine Rotunde. Saal 42 ist der erste auf der Westseite hinter dieser Rotunde, er enthält Meisterwerke des Alten Reiches. Ich war schon einmal hier gewesen, vor Jahren, ich kannte mich ein wenig aus.

Mein Bruder wartete auf einer kleinen Bank vor der Dioritstatue des Königs Chêphren, die man aus dem Torbau seiner Pyramide hierhergebracht hat. Es ist ein gewaltiges Monument. Der König sitzt auf einem löwengestaltigen Thron, der die Bilder der Lilie und der Papyrusstaude trägt. Das waren die Wappenzeichen für Ober- und Unterägypten. An beiden Seiten des Throns findet sich darum auch eine Hieroglyphe, die für den Begriff »vereinigt« steht — zum Zeichen, daß dieser König in beiden Hälften Ägyptens regiert hat. Im Nacken sitzt dem Herrscher ein Falke — das Bild der Gottähnlichkeit Pharaos.

Es waren nur wenige Menschen in dem großen Saal — ältere amerikanische Ehepaare, Engländer, eine deutsche Familie mit zwei Kindern. Ich setzte mich neben meinen Bruder, der einen silbergrauen Anzug aus leichtem Stoff trug und etwas angestrengt wirkte. Er sprach leise und eintönig, ohne Modulation: »Wir wollen nicht über das reden, was war. Nur über das, was ist und was sein muß.«

»Einverstanden«, sagte ich. König Chêphren sah hochmütig und gottähnlich über uns hinweg.

»Alles, was geschehen ist und was nun geschehen muß, hast du dir übrigens selber zuzuschreiben. Warum bist du uns nachgekommen?«

Ich antwortete nicht. Ich hatte mir eine gewisse Strategie für dieses Gespräch zurechtgelegt, keine große. Sie lief darauf hinaus, meinen Bruder, wenn möglich, so zu reizen, daß er die Fassung verlor und mehr sagte, als er wollte und verantworten konnte — und im übrigen Zeit zu gewinnen. Ich brauchte jetzt Zeit. Ich war eben erst in Aktion getreten. Ich fühlte mich wieder kräftig, aber ich durfte den Kopf noch nicht zu schnell bewegen, sonst wurde mir schwindlig, und ich konnte auch noch nicht zu lange stillstehen, ohne taumelig zu werden.

»Die Männer, für die ich arbeite, wollten dich sofort erledigen. Sofort nach der Ankunft hier. Lillian hat das verhindert. Sie hat sich große Verdienste erworben um unser aller Flucht … unter anderem verriet sie uns, daß du ein Flugzeug bereitgestellt hattest, und wir konnten es benützen. Und so wurde also beschlossen, dich nur so lange außer Gefecht zu setzen, bis sich die Verhältnisse konsolidiert hatten, und dir noch eine Chance zu geben.«

»Sehr freundlich«, sagte ich.

»Der Professor hat dir von Lillian erzählt? Von Lillian und mir?« Seine Stimme klang zum erstenmal etwas lebhafter.

»Ja«, sagte ich.

»Und?«

»Ich glaube es nicht«

»Welchen Grund …?«

»Hundert Gründe.«

»Der Professor hat es geglaubt.«

»Ihr ließt ihm keine Wahl. Bei mir liegen die Dinge anders. Ich verlange Lillian zu sehen. Sie soll mir das alles selber noch einmal erzählen … unter vier Augen.«

»Das kommt nicht in Frage.«

Ich stand auf. Das gehörte zu meiner Strategie. Keine Angst zeigen. Ich hatte große Angst, natürlich.

»Was ist los?«

»Wenn es nicht in Frage kommt, daß ich Lillian sehe, ist dieses Gespräch sinnlos«, sagte ich.

»Was willst du dann tun?«

Ich hatte mir schon überlegt, was ich darauf antworten mußte: »Ich habe Freunde in Kairo.« Ich wünschte, ich hätte welche gehabt. »Sie haben gesehen, daß ich bei der Landung verschleppt wurde. Sie haben ein Gespräch zwischen Geyer und Olsen abgehört — verzeih, ich weiß, ihr habt jetzt alle andere Namen, aber ich kenne sie nicht —, und aus diesem Gespräch ging hervor, daß man mich für ein paar Tage auf Eis legen, aber mir nichts tun wollte. Nichts Ernsthaftes.« Ich beobachtete ihn scharf. Er glaubte mir nicht. Aber er zweifelte, ob es richtig war, mir nicht zu glauben. Es war immerhin möglich, was ich erzählte. »Daraufhin haben meine Freunde dem Anwalt ein Telegramm mit vorbesprochenem Inhalt geschickt. Daß er noch warten soll.«

»Was ist das für ein Anwalt? Ich heiße übrigens Steinberg. Thomas Steinberg.«

Ein älterer Herr mit einem dicken Museumskatalog setzte sich neben uns auf die Bank. Wir standen auf und wanderten durch den Saal zur Holzstatue eines wohlbeleibten hohen Beamten und Großgrundbesitzers aus der Fünften Dynastie. Sein Haar ist kurz geschoren, die Augen sind aus mattem und durchsichtigem Quarz zusammengesetzt und eingelegt, die Lidränder aus Bronze gefertigt. Er trägt einen langen Schurz mit Vorderfalten. Die Arme sind mit Stiften angesetzt.

»Das ist ein Anwalt in Frankfurt. Ich habe nicht mir für dich Tonbänder besprochen, sondern auch für ihn. Ich habe alles gesagt, was es zu sagen gab … bis zum letzten Moment. Die Bänder habe ich ihm vor meinem Abflug nachts noch in die Wohnung gebracht. Es wurde verabredet, daß er, wenn er einmal länger als drei Tage von mir keine telegrafische Nachricht erhält — von mir oder meinen Freunden —, daß er die Bänder dann der Polizei übergibt.«

Diese Lüge sollte verhindern, daß sie mich jetzt umbrachten. Lillians Einfluß hatte ohne Zweifel seine Grenzen.

»Das ist eine Lüge«, sagte mein Bruder.

Ich zuckte die Achseln.

»Aber gut, angenommen, es ist die Wahrheit …«

»Es ist die Wahrheit.«

»… was versprichst du dir davon?«

»Daß mir so nichts geschieht. Es wäre deinen Auftraggebern gewiß sehr unangenehm, wenn die Bänder bei der Polizei landen.«

Ich war aufgeregt und noch nicht wieder ganz in Ordnung, deshalb beging ich nun einen Fehler: Ich sagte: »Zu deiner Beruhigung: Gleich als ich ins Hotel kam, habe ich dem Anwalt ein Telegramm geschickt. Er wartet also weiter. Das wäre dies. Und was hast du mir zu sagen?«

»Du mußt verschwinden. Du mußt weg hier.«

»Wohin?«

»Nach Argentinien. Da kann Paradin dich nicht belangen. Du wolltest doch nach Argentinien, wenn etwas schiefging. Nach Ägypten oder Argentinien. So jedenfalls hat Lillian es mir erzählt. In Ägypten kannst du nicht bleiben.«

»Nicht, daß ich besonders scharf darauf bin. Ich gehe auch nach Argentinien. Aber mit Lillian.«

»Aber sie geht nicht mit dir.«

»Das soll sie mir selber sagen.«

»Warum?«

»Weil ich dir nicht glaube.«

»Nach dem, was dir Delacorte erzählt hat? Nach dem, was Delacorte getan hat?«

»Was hat er getan?«

»Er hat Lillian geglaubt. Er hat aufgegeben.«

Ich sagte: »Es ist meine Überzeugung, daß du mit deiner Drohung, ihn sonst den deutschen Behörden in die Hände zu spielen, geblufft hast. Du hast damit deine Befugnisse überschritten. Gib es zu.«

Er grinste plötzlich.

»Aber es hat gewirkt«, sagte er.

»Nicht bei mir«, sagte ich. »Mit mir kannst du so etwas nicht machen. Du wirst es auch nicht noch einmal wagen, so etwas zu machen. Deine Auftraggeber würden gewiß recht böse werden, wenn du dir dauernd derartige Extratouren erlaubst.«

»Für meine Auftraggeber bin ich sehr wertvoll. Die verzeihen mir allerhand.«

»Unersetzlich bist du nicht. Niemand ist unersetzlich. Wenn du es zu weit treibst, wird man sich deiner annehmen«, sagte ich und bemerkte mit Freude, daß er zusammenzuckte. Er spielte Poker mit mir, davon war ich jetzt überzeugt, er versuchte sein Glück — skrupellos. Es war nicht wahr, was er von Lillian erzählte. Es konnte nicht wahr sein. Hätte sie sich sonst derart für mich eingesetzt?

Das deutsche Ehepaar und die beiden unruhigen, müden Kinder kamen heran. Wir gingen weiter zur Kalksteinstatue eines Schreibers mit untergeschlagenen Beinen, eingelegten Augen und schöner Bemalung, der ein Papyrusblatt beschreibt.

Ich sagte: »Ich verlange, daß Lillian mit mir spricht.«

»Sie geht nicht mit dir, niemals!«

»Sondern sie bleibt bei dir.«

»Ja«, sagte er, und sein Gesicht zuckte. Zum erstenmal, seit ich Werner kannte, tat er mir für einen Moment leid. Dieser Mann liebte Lillian, das erkannte ich plötzlich. Vielleicht liebte er sie mehr als ich. Oder anders.

»Und was machst du?« fragte ich.

»Ich habe viel zu tun.«

»Wo?«

»Überall hier.«

»Was?«

Er sagte: »Ich habe auch Tonbänder, mein Kleiner. Deine. In einem guten Versteck.«

»Warum Versteck?«

»Wer diese Bänder besitzt, hat Macht, viel Macht. Du hast die Namen all der Männer darauf genannt, die in diese Geschichte verwickelt sind … in hohen und höchsten Posten. Paradin nannte dir die Namen. Er ermittelt gegen diese Männer. Aber er hat keine Beweise gegen sie, wird nie welche haben. Wir sammeln nun Beweise, verstehst du. Dann können wir alle diese Männer erpressen, dann haben wir sie alle in der Hand.«

»Erpressen — das ist euer Geschäft.«

»Das ist heute das Geschäft der ganzen Welt. Wer am besten erpreßt, hat die meiste Macht. Wir erpressen sehr gut — und sehr viel. Unsere Organisation wird immer mächtiger. Längst ist sie nicht mehr nur daran interessiert, Typen wie den Professor zu retten. Längst mischt sie in der großen Politik mit. Es ist ein erregendes Spiel. Siehst du, ich werde auch erpreßt — du weißt, womit. Nun soll ich das Belastungsmaterial gegen mich zurückerhalten. Damit ich es auch ganz sicher zurückerhalte, ließ ich dich die Bänder vollsprechen. Ich wußte, die Organisation würde sie unbedingt haben wollen. So ist es auch. Ich bekomme meine Anzeige von einst — das Protokoll — gegen die Bänder. Dann bin ich ein gleichberechtigter Partner, den man zu großen Aufgaben einsetzen wird, der freiwillig mitmacht, den man nicht mehr erpreßt und die schmutzige Arbeit tun läßt …« Er hatte sich in Erregung geredet. »Ich bleibe nur so lange hier, bis ich mit dir ins reine gekommen bin. Bis dein Fall erledigt ist. Dann mache ich eine kleine Reise. Man braucht mich schon dringend anderswo. Aber bevor ich Kairo verlasse, wird die alte Rechnung in Ordnung gebracht. Sie geben mir mein Protokoll zurück — ich gebe ihnen die Bänder. So machen wir das.« Werner war richtig atemlos geworden. Er wanderte aus dem Saal in eine riesige Galerie, welche die ganze Seitenwand des Museums entlangläuft, auf sechs große Holzpaneele zu. Sie stammen aus den Nischen eines Grabes in Sakkâra und zeigen den Grabherrn, fünfmal stehend, einmal sitzend, in verschiedener Kleidung, immer aber mit der Schreibpalette als dem Abzeichen seiner Beamtenwürde. Flach sind in Hieroglyphen Namen und Titel des Toten in Form von Bildern als Relief angebracht.

»Und was wird das für Arbeit sein?«

»Ich gehe in die Politik. Und zurück zu meinem alten Beruf. PK-Mann war ich. Propaganda, das ist es, was ich wieder machen werde. In größtem Stil! Mit allen finanziellen Mitteln!« Seine Stimme wurde wieder lebhafter. »Planen! Vorbereiten!«

»Was?«

»Es wird etwas vorbereitet, mein Kleiner, in der ganzen Welt, das weißt du, das wissen wir alle … Aber diesmal mischen wir mit … ich und meine Kameraden …«

»Deine Kameraden, das sind auch Geyer und Olsen. Mörder und Verräter.«

»Man kann sich seine Kameraden nicht aussuchen, weißt du. Wichtig ist heute nur, ob einer nützlich ist, ob er brauchbar ist. Die beiden sind es … auf ihren Gebieten. Ich bin es auf meinem. Ich werde viel zu tun haben hier. Ich war niemals ein besserer Schreiber als zur Zeit des Krieges. Romane kotzen mich an. Was sollen heute noch Romane? Wenn einer schreiben kann wie ich, dann muß er diese Fähigkeit anders nützen! Propaganda! Propaganda ist alles! Besonders hier unten … zunächst einmal. Der ganze Mittlere Osten wird mein Arbeitsfeld sein …«

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Ich lese die letzten Zeilen noch einmal, und ich erinnere mich an die heutigen Zeitungsmeldungen, denen zufolge die Israelis in ihrem Kampf gegen die gesamte arabische Welt nach anfänglichen unglaublichen Siegen und einem Vormarsch von unvergleichlicher Schnelligkeit nunmehr in blutige Gefechte verwickelt sind und die Friedensbereitschaft Kairos geringer erscheint denn je zuvor.

Trotzdem wird Israel diesen Krieg gewinnen — in einfach phantastischer Weise, das steht schon jetzt fest. Die Araber haben sich wieder einmal verrechnet. Man kann die wirklichen Hintergründe und das, was noch kommt, nicht erkennen.

Ich denke an Geyer, ich denke an Olsen, ich denke daran, wie ihre Tätigkeit in diesem letzten halben Jahr wohl ausgesehen hat da unten. Und ich denke mit Schaudern an den Anteil, den mein Bruder gehabt hätte an der Aufwiegelung der Araber zu Haß, Haß, Haß gegen Israel, wenn ihm nicht die Kehle durchgeschnitten worden wäre — vier Tage nach unserem Gespräch im Ägyptischen Museum.

Es ist, als brauchte ich noch Dokumentationsmaterial zu meinem Bericht!

Gestern gab, lese ich in der Zeitung, der berühmte Naziverbrecher-Jäger Simon Wiesenthal, der auch Adolf Eichmann fing, in Wien eine Pressekonferenz. Ich erwähne sie hier, weil sie direkt im Zusammenhang steht mit meinen Erlebnissen, in Zusammenhang mit Olsen, Geyer, Delacorte, meinem Bruder Werner.

An Hand einer Namensliste hat Wiesenthal in einer ursprünglich schon vor Ausbruch des Krieges in Nahost angesetzten Pressekonferenz nachgewiesen, daß arabische Länder sich im Kampf gegen Israel prominenter ehemaliger NS-Größen bedienen.

Nach Wiesenthals Darstellung stehen von den rund sechs- bis achttausend in den arabischen Staaten lebenden Deutschen mehrere hundert als Kriegsverbrecher auf Fahndungslisten. Er nannte Beispiele: Zwei Männer sind ehemalige engste Mitarbeiter Eichmanns.

Bevollmächtigte für Judenvernichtung in Griechenland und der Slowakei, ehemalige Abteilungsleiter des Reichspropagandaministeriums und ehemalige Gestapochefs sind in der Propagandaabteilung in Kairo beschäftigt, der sich mein Bruder als Starautor verschreiben wollte.

Männer, die einst höchste SS-Ränge bekleideten, üben militärische Ausbildungsfunktionen aus.

Gauleiter, SS-Standartenführer und Gestapo-Chefs beraten die ägyptische Staatspolizei.

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»Die Welt ist in Bewegung«, sagte mein Bruder Werner, nervös die Handflächen aneinanderreibend. »Es wird nicht nur hier Krisen und Kriege geben. Die große Wende steht bevor, wirklich schon ganz nahe.«

»Was für eine Wende?«

Er lächelte und zuckte die Achseln, und mir fiel ein, was er einst geschrieben hatte, als schon alles verloren war: »Der Sieg ist wirklich ganz nahe …«

»Und was geschieht, wenn ich nicht ohne Lillian nach Argentinien gehe?« fragte ich. Wir standen nun vor dem großen Fragment des Reliefs aus dem Totentempel der Pyramide des Königs Sahuré, das die Darstellung eines königlichen Sieges abschließt: Über vier Reihen erbeuteter Tiere sieht man drei Reihen gefangener libyscher Heerführer, unter den Tieren einen vierten. Die Libyer sind erkenntlich an Kreuzband, Bart und Phallustasche. In der rechten oberen Ecke des Reliefs registriert die Göttin des Schreibens die Beute …

»Dann wird man dich töten«, sagte mein Bruder.

»Dann wird mein Anwalt die Tonbänder der Polizei übergeben.«

»Ich sage, ich glaube nicht, daß es diese Tonbänder gibt.«

»Laß es darauf ankommen!«

Ein amerikanisches Ehepaar ging vorbei.

Der Mann sagte: »Fed up. I’m telling you, I’m fed up with this goddamn stuff. I want to get out of here and have a bottle of beer but quick!« Seine dicke Frau, bebrillt, mit Obsthut, trippelte ihm ärgerlich nach.

»Warum willst du mich unbedingt weghaben?«

Er fuhr herum. Jetzt war sein Gesicht haßverzerrt.

»Weil du immer und immer und immer zwischen mir und Lillian gestanden hast — darum!«

Plötzlich fühlte ich mein Herz heftig klopfen. So war das also. So …

»Du darfst nicht mehr dasein! Nicht mehr erreichbar für sie … unter keinen Umständen. Nie mehr. Ich will sie für mich allein haben!«

»Sei ein wenig leiser«, sagte ich. »Ich verlange mit Lillian zu reden.«

»Nie …«

»Du hast es gehört. Ich erwarte, daß du ihr das sagst und daß du mir dann sagst, wo ich sie treffen kann. Bilde dir nur nicht ein, daß du schon gewonnen hast. Wirst du Lillian also fragen?«

Er schwieg lange, dann sagte er stockend: »Ich habe jetzt wichtige Verabredungen. Ich werde Lillian nicht vor dem späten Nachmittag sehen.«

»Ich kann sie jederzeit treffen. Ich warte im Hotel. Du wohnst ja auch da. Also?«

Wieder schwieg er lange.

»Du hörst von mir«, sagte er endlich. Damit ließ er mich stehen und ging mit hallenden Schritten die Galerie hinunter, zu einem Seitenausgang in die Rotunde. Ich blickte ihm nach und hatte das Gefühl, einen ersten kleinen Sieg errungen zu haben. Ich betrachtete noch einmal die Darstellung des königlichen Sieges. Die gefangenen libyschen Heerführer hatten enorme Phallustaschen. Ich sah sie nun schon ein paarmal, aber es erstaunte mich immer wieder.

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Hinter dem Andalusischen Garten liegt auf der Flußinsel Gezireh der sogenannte Turm von Kairo. Er ist einhundertachtzig Meter hoch, besitzt Spezialfahrstühle, an der Spitze ein großes drehbares Restaurant und, ein Stockwerk tiefer, eine Bar, die sich gleichfalls dreht — in dreißig Minuten einmal herum. Von da oben kann man über ganz Kairo blicken, seine Paläste und Moscheen, die Zitadelle, den Aquädukt und die Gräber der Kalifen, die City, den Strom, die Schiffe, die anderen Flußinseln, die Sphinx und die Pyramiden drüben in der Wüste. Ein großer Teil der Sehenswürdigkeiten Kairos ist nachts angestrahlt, die Stadt hell erleuchtet, und von der Höhe des Turms erblickt man die funkelnden Schlangen der Autoströme auf den großen Boulevards.

Lillian und ich saßen in einer Fensternische der Bar. Es war halb zehn Uhr abends an diesem Sonntag. Wir hatten zuvor im Restaurant oben gegessen und dabei nur über belanglose Dinge gesprochen. Lillian trug ein enges, gerafftes schwarzes Kleid, das die Schultern freiließ, das Haar hatte sie hochgesteckt, und sie war sehr geschminkt. Sie sah ermüdet aus, und das machte sie noch schöner. Sie trank Armagnac und Mokka, ich trank Whisky.

Wenn man aus den großen Fenstern sah, erblickte man das Lichtermeer der Stadt, das sich ganz langsam vorbeidrehte. Mein Bruder hatte mich gegen sechs Uhr im Hotel angerufen und gesagt, daß ich Lillian um halb acht vor dem Turm erwarten solle. Er werde sie hinbringen. Er machte ein lächerliches Geheimnis daraus, wo sie wohnte. Nachdem er sie, in einem Taxi, angebracht und sich verabschiedet hatte, waren wir mit dem Expreßlift nach oben gefahren. Lillian trug Schmuck und ein Nerzjäckchen — sie hatte überlegt und echt weiblich in ihren Fluchtkoffern nur wertvollen Besitz mitgenommen.

»Wo wohnst du?« hatte ich sie, noch im Lift, gefragt.

»Bei den Pyramiden, im ›Mena House‹.«

Es überraschte mich, wie ruhig und gelassen wir beide waren. Wir aßen und ließen uns Zeit dazu, und wir brachten es tatsächlich fertig, nur über triviale Dinge zu sprechen. Nun, in der Bar, in der eine Fünf-Mann-Kapelle leise spielte, kam mir das Irrsinnige unserer Situation plötzlich zu Bewußtsein. Menschen waren ermordet worden, wir hatten einen Massenmörder befreit und ihm zur Flucht verholfen, wir waren selber auf der Flucht und nur im Augenblick davor sicher, zur Verantwortung gezogen zu werden, über uns wachte eine Geheimorganisation großen Ausmaßes, es ging um tödlich ernste Dinge, es ging um unsere Zukunft — und da saßen wir, feierlich gekleidet, in einer guten Bar und tranken und bewunderten den Rundblick auf Kairo am Abend …

Lillian war es, die zuerst sprach.

»Du weißt, wie es steht«, sagte sie. Ihre Stimme war flach und ausdruckslos, sie lächelte mechanisch, aber sie sah mich jetzt nur noch selten an, meistens sah sie aus dem Fenster, und dann erlosch das Lächeln. »Delacorte hat dir viel erzählt … und dein Bruder den Rest.«

»Ja«, sagte ich.

»Es tut mir leid, Ritchie.«

»Es braucht dir nicht leid zu tun«, sagte ich, und es war, als sprächen wir über das Schicksal von fremden Menschen, über Romanfiguren. »Diese Dinge passieren. Dir passieren sie dein Leben lang. Ich habe es viele Jahre hindurch mitansehen können.«

»Ich bin verflucht«, sagte Lillian.

»Sag das noch einmal«, sagte ich.

Sie sah mich an und lachte dann heiser.

»Ich glaube, ich möchte noch etwas trinken«, sagte sie.

Ich winkte einen Kellner herbei und sagte ihm, er solle noch einmal das gleiche bringen. Wir tranken doppelte Drinks.

»Kein Kinodialog«, sagte ich.

»Nein«, sagte Lillian. »Wir wollen ganz aufrichtig reden.«

»Bitte.«

»Aber beschwere dich nachher nicht. Sei nicht beleidigt. Du hast es verlangt.«

Der Kellner kam schnell mit den Drinks zurück. Wir tranken beide. Dann sagte Lillian, und ihre Stimme war rauh: »Es wäre jetzt leicht, melodramatisch zu werden, sentimental oder auch tragisch. Wir haben keine Zeit. Und ich habe auch keine Lust. Dazu bedeutest du mir zuviel. Verzeih also, wenn ich brutal rede. Ritchie, seit ich deinen Bruder kenne, seit ich das erstemal mit ihm im Bett war, komme ich nicht mehr los von ihm.«

Ich trank einen Schluck. Eben kam wieder der Strom mit seinen vielen erleuchteten Schiffen und den erleuchteten Avenuen an den Ufern vorbeigeglitten.

»Ich habe das noch mit keinem anderen Mann erlebt … Du hast gesagt, ich soll offen sprechen …«

»Natürlich.«

»Mit keinem anderen Mann. Es ist unbeschreiblich. Ich glaube jedesmal, daß ich dabei sterben werde. Hast du dir dieses Gespräch so vorgestellt?«

»So ähnlich, ja. Es war die nächstliegende Erklärung für alles.«

Lillian sagte: »Ich kann nichts dafür. Dieser Mann und ich … es kann keinen anderen Mann in der Welt geben, mit dem es so ähnlich, auch nur so ähnlich wäre …«

»Du hast ja genügend Vergleichsmöglichkeiten.«

»Gewiß. Und vor allem habe ich es immer wieder mit dir versucht. Immer wieder, wenn wir uns trafen.«

»Ich hatte nicht den Eindruck, daß es dir mißfiel.«

»Es war wunderbar, auch mit dir, Ritchie. Ich … ich habe immer gehofft, es würde einmal so wunderbar sein wie mit ihm.«

»Und das war es nie?«

»Nein.«

»Schade.«

»Du wolltest die Wahrheit hören …«

»Natürlich will ich sie hören. Und das … das ist also das Wichtigste im Leben einer Frau?«

»Ich weiß nicht, ob es das Wichtigste ist. Hoffentlich nicht. Aber mir raubt es den Verstand. Ich weiß nicht, was ich tue, wenn er in der Nähe ist … ich habe es nie gewußt. Ritchie, der Schweiß tritt mir auf die Handflächen, wenn ich nur seine Stimme am Telefon höre!«

»Kein angenehmer Zustand.«

»Ihm geht es genauso. Das ist noch meine Rettung.« Sie leerte ihr Glas.

»Noch einmal dasselbe, bitte. Nüchtern kann ich darüber nicht reden.«

Ich gab dem Kellner ein Zeichen.

»Werner würde für mich jede Gemeinheit begehen, jedes Verbrechen, das weiß ich. Das hat er schon bewiesen. Er würde noch mehr und Schlimmeres tun.«

»Und du?«

Sie sah mich offen an.

»Ich fürchte, ich auch. Ich bin eine maßlose Enttäuschung für dich, nicht wahr?«

Der Kellner kam mit dem neuen Armagnac und dem neuen Whisky.

»Glaubst du, daß das jetzt ehrlich war?«

Ich schwieg.

»Wir wollten doch immer ehrlich zueinander sein.«

»Du bist es nicht ganz«, sagte ich.

Jetzt wanderten draußen langsam, majestätisch und von Scheinwerfern angestrahlt, die Pyramiden und die Sphinx von El Giza vorbei. Auch das erleuchtete »Mena House« konnte man sehen.

»Was heißt nicht ganz?«

»Du hast nur vom Bett gesprochen. Nicht von dem, was es sonst noch gibt. Sonst gibt es noch meinen Bruder als Persönlichkeit, als Mann, als Menschen. Ist er da auch dein Idealbild?«

»Nein.«

»Siehst du.«

»Einmal, vor langer Zeit, nach dem Krieg, da warst du mein Idealbild, Ritchie … damals, als es ihn noch nicht gab …«

»Es muß etwas übriggeblieben sein aus dieser Zeit«, sagte ich vorsichtig, denn ich fühlte meine Chance, meine Chance, wenn ich nur vorsichtig war. »Es muß noch immer etwas dasein von deinem alten Gefühl … eine Menge … Sonst würdest du nicht immer wieder zu mir zurückgekommen sein … Sonst hättest du nicht meine Telefonnummer wie eine letzte Rettung stets bei dir getragen. Sonst würdest du Werner und nicht mich gerufen haben, als du im Sterben lagst, da in Treuwall. Sonst hättest du dich nicht zu mir geflüchtet. Sonst hättest du zugelassen, daß sie mich umbringen. Sonst säßen wir nicht hier. Sonst …«

»Hör auf.«

»Es stimmt, nicht wahr?«

Sie sah mich an mit ihren riesenhaften dunklen Augen, und nichts in ihrem Gesicht bewegte sich.

»Es stimmt«, wiederholte ich.

Zustimmend schloß und öffnete sie die Lider. Ihre Hand zitterte, als sie das Glas wieder zum Mund führte.

»Wir sind nicht umsonst Brüder«, sagte ich. »Was dem einen fehlt, das hat der andere für dich. Im Grunde brauchst du uns beide. Wenn wir eins sein könnten, ein Mensch — das wäre die Lösung. Aber das geht leider nicht. Und so, wie es aussieht, ist das Bett doch nicht das Wichtigste, trotz allem, was du behauptest und angestellt hast. Nicht für immer. Nicht jederzeit. Nicht jetzt«, sagte ich leise und legte eine Hand auf ihre. »Nicht in dieser Minute. Oder doch?«

Sie sah mich an und schüttelte den Kopf, und ihre Augen wurden feucht.

»Ich bin verrückt«, sagte sie. »Du weißt es ja, verrückt. Geh weg, Ritchie. Geh weit weg von mir, so weit weg wie möglich. Ich bringe dir nur Unglück.«

»Ich werde nicht weggehen«, sagte ich. »Nicht ohne dich. Du wirst mit mir kommen …«

»Nein!«

»… nach Argentinien.«

»Nein, Ritchie! Ich komme nicht mit. Bitte, hör auf damit! Es würde doch immer nur so weitergehen wie bisher …«

»Werner wäre nicht mehr da.«

»Dann würde ich dich wieder verlassen … und zu ihm gehen … Ich bin verflucht, wirklich … so kitschig das klingt … Finde ein anderes Wort dafür … du weißt, was ich meine … Ich kann nichts gegen mich selber tun …«

»Lillian«, sagte ich, »mein Bruder hat Verbrechen begangen. Er wird weiter Verbrechen begehen. Er ist ein schlechter Mensch.«

»Das weiß ich alles. Das hat er mir alles selbst erzählt. Mehr als dir vielleicht. Er ist meiner so sicher … es macht ihm Freude, mir das alles zu erzählen … und dann zu sehen, daß er mich nur anrühren muß, um mich zu besitzen, weil mir egal ist, was er tut und was er getan hat und was er noch tun wird und wie ich mit ihm leben werde und wo und unter welchen Gefahren … sobald er mich nur anrührt. Ein schönes, offenes Gespräch.«

»Schön nicht«, sagte ich, »aber offen, Gott sei Dank.«

Jetzt zogen die Luxushotels der Nile Corniche an dem Fenster vorbei. Ganz leise vibrierte der Boden der Bar. Die Kapelle spielte »Strangers in the Night«.

»Warum starrst du mich so an?« fragte ich Lillian.

»Weil du dir das alles anhörst und dich nicht aufregst und nicht tobst oder mich ohrfeigst.« Sie preßte beide Hände an die Schläfen. »Das ist unerträglich.«

»Gewiß ist es nicht einfach für dich«, sagte ich.

»Was ich getan habe in meinem Leben und vor allem in der letzten Zeit, das ist so gemein, daß jeder Mensch mich eigentlich nur noch anspucken kann.«

»Ich kann das nicht«, sagte ich. »Ich habe mir immer alles so oder so ähnlich vorgestellt.«

Das war die Wahrheit.

»Und mich trotzdem geliebt?«

»Ja«, sagte ich. »Trotzdem. Schau mal, noch bist du jung. Aber du wirst es nicht ewig bleiben. Ich werde auch immer älter. Und auch Werner. Es gibt Dinge, die vergehen im Leben, und Dinge, die bleiben. Ich weiß, was in deinem Leben vergehen wird, vergehen muß. Und was verbindet dich dann noch mit Werner? Nichts. Dann werden da nur noch Haß und Ekel und Abscheu sein. Was dich mit mir verbindet, Lillian, verschwindet nicht mit dem Älterwerden. Nicht mehr, wenn es so lange gedauert hat. Es bleibt bestehen. Das ist meine Chance. Deshalb werde ich zuletzt doch stärker als Werner sein. Und deshalb wirst du, trotz allem, mit mir nach Argentinien fliegen.«

»Nie.«

»Ich will jetzt nicht weiterreden. Denk über das nach, was ich sagte. Ich habe nicht mehr viel Zeit, aber ein, zwei Tage habe ich noch. In diesen Tagen wirst du dich entscheiden … für mich.«

Sie flüsterte: »Wenn ich nur wüßte … wenn ich nur wüßte, ob ich es ohne ihn aushalten könnte … immer ohne ihn …«

»Du hast es ohne ihn ausgehalten, bevor er auftauchte.«

»Das ist kein Argument.«

»Richtig. Aber man kann Menschen auch wieder vergessen.«

»Kann man das, Ritchie?«

»Wenn einem geholfen wird dabei …«

»Ich bin jetzt betrunken«, sagte Lillian. »Ich kann jetzt nicht mehr denken. Laß mir wirklich noch Zeit, etwas Zeit.«

»Natürlich.«

»Und wenn ich mich doch für ihn entscheide … wirst du die Entscheidung akzeptieren?«

»Ja.«

»Und mich nicht mehr quälen, indem du mir zeigst, wie alles wirklich ist?«

»Quäle ich dich damit?«

»Sehr …«

»Wann höre ich von dir?«

»Das weiß ich noch nicht … ich weiß gar nichts mehr …«

»Wann höre ich von dir?« fragte ich noch einmal.

»Bald«, flüsterte sie, die Augen mit einer Hand bedeckend, »bald …«

»Schluß jetzt!« sagte Werners Stimme.

Ich sah auf, Lillian fuhr mit einem leisen Schrei hoch. Mein Bruder stand dicht vor uns. Seine Augen glühten.

»Was fällt dir ein …«, begann ich, aber er unterbrach mich: »Halt das Maul! Das hat lange genug gedauert. Ihr hattet Zeit, euch auszusprechen. Lillian kommt nun mit mir. Ich bringe sie heim.«

»Ich bringe sie heim!« sagte ich, mich erhebend. Mir war alles gleich in diesem Moment. Und wenn es jetzt eine Prügelei gab!

»Es hängt doch wohl von Lillian ab, von wem sie heimgebracht werden will«, sagte mein Bruder. Er nahm die Nerzjacke und legte sie um Lillians Schulter. Sie schauderte unter seiner Berührung zusammen. Nun hatte sie Tränen in den Augen. Sie erhob sich unsicher. Werner stützte sie.

»Gute Nacht, Ritchie«, flüsterte Lillian. Dann ging sie, am Arm meines Bruders, davon. Einmal sah sie sich noch um. Sie nickte, fast unmerklich, mit dem Kopf dabei. Ich rührte mich nicht.

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Ich ging durch den nächtlichen Andalusischen Garten, der von vielen kleinen Scheinwerfern erleuchtet war. Blumen dufteten. Es war recht warm. Ein schwankender Mann, der vor sich hinbrabbelte, kam mir entgegen. Er schien mächtig betrunken zu sein. Die wenigen Menschen, die zu dieser Stunde hier noch spazierengingen, sahen sich nach ihm um. Ich versuchte, dem Mann auszuweichen, aber er stieß mit mir zusammen.

»Sorry, bud …« murmelte er.

Im nächsten Moment fühlte ich, daß er einen Zettel in meine rechte Hand schob. Er taumelte weiter. Ich ging, das Papier in der Hand, bis vor zur Semiramis-Brücke. Dort war ich allein. Im Licht eines Brückenkandelabers las ich, was auf dem Zettel stand: »Rufen Sie sofort ›American Press Service‹ an. Aber keinesfalls von Ihrem Hotel oder aus einem Restaurant. Benützen Sie nur öffentliche Telefonzellen. Nennen Sie Ihren richtigen Namen!« Darunter war noch die Nummer der Nachrichtenagentur angegeben.

Ich ging zuerst in mein Hotel und ließ mir ein Telefonbuch in englischer Sprache geben. Hier suchte ich die Nummer von APS. Sie stimmte mit der Nummer auf dem Zettel überein. Nun machte ich einen Spaziergang zum Hauptbahnhof. In der Halle gab es viele Zellen. Ich trat in eine und wählte die Nummer der Nachrichtenagentur. Sogleich meldete sich eine Frauenstimme: »American Press Service!«

»Richard Mark.«

»Wir haben schon auf Ihren Anruf gewartet. Sie können ruhig sprechen. Unsere Beziehungen zu den ägyptischen Behörden sind nicht die besten. Deshalb haben wir eine kleine Apparatur in unsere Telefonzentrale eingebaut. Sie verzerrt alle Gespräche, die wir führen, bis zur Unkenntlichkeit für jeden, der die Leitung anzapft. Sie dürfen aber stets nur von öffentlichen Zellen aus sprechen. Verstanden?«

»Verstanden!«

»Sie dürfen nie hierher in das Büro kommen. Es kann auch niemals jemand von uns direkt mit Ihnen in Verbindung treten.«

»Was ist eigentlich los?« fragte ich. »Was wollen Sie von mir?«

»Sie haben heute Ihrem Freund Boris Minski in Frankfurt ein Telegramm geschickt. Minski hat sofort Ihren Freund Homer Barlow in Berlin angerufen. Der telefonierte mit Clark Watts, unserem Mann in Bonn. Und Watts schickte uns einen Funkspruch. Wir sollen alles tun, was in unserer Macht steht, um Ihnen zu helfen. Er beschrieb Sie uns genau und sagte, daß Sie im ›Imperial‹ wohnen. So konnte einer unserer Leute Sie entdecken und verfolgen und Ihnen den Zettel zustecken …«

Boris Minski und Homer Barlow!

Mir wurde heiß vor Freude. Ich war nicht allein. Ich war nicht mehr allein. Meine alten guten Freunde Boris und Tiny …

»Wie können wir Ihnen helfen? Was ist los mit Ihnen?«

»Das ist eine längere Geschichte.«

»Erzählen Sie sie kurz und präzise«, sagte eine Männerstimme. Da hörte also noch ein Nachrichtenmensch zu.

Ich erzählte so präzise und kurz wie möglich. Es dauerte trotzdem eine Viertelstunde. Ich unterbrach das Gespräch ein paarmal und wechselte die Zellen. Ich erzählte den Leuten von APS wahrhaftig alles, auch was mir in Ägypten widerfahren war, daß Delacorte, Olsen, Geyer, mein Bruder und Lillian hier waren, und unter welchen Namen mein Bruder und Lillian hier waren und wo sie wohnten und wie sie aussahen. Es gab zuletzt nichts mehr, was ich noch hätte erzählen können.

Die Männerstimme sprach nun: »Verflucht gute Story. Verflucht heiße Story. Was wollen Sie damit machen?«

Da hatte ich die Idee.

»Wenn Sie mir helfen, schenke ich sie Ihnen:«

»Ihre Erzählung genügt nicht. Sie hilft. Aber was wir wirklich brauchen würden, das sind natürlich die Bänder, die Sie für Ihren Bruder besprochen haben.«

Na also. So hatte ich mir das vorgestellt. Selbstverständlich wollten sie die Bänder.

Skrupellos antwortete ich: »Die besorge ich Ihnen.«

»Wie?«

»Ich besorge sie Ihnen. Ich weiß schon wie. Es wird ein bißchen dauern, aber ich kriege sie.« Ich hatte keine Ahnung, wie ich an die Bänder herankommen konnte, aber es war mir klar, daß die Leute von APS so lange an mir Interesse haben würden, wie sie hoffen konnten, die Bänder und damit eine große Story zu erhalten. Ich hatte nun keinerlei Hemmungen mehr, zu lügen, zu schwindeln, hochzustapeln. Es ging um meine Zukunft. Mir war jetzt jedes Mittel recht.

»Sie kriegen dafür eine Bombengeschichte. Wenn Sie nicht wollen …«

»Wie?«

»Sie müssen auf mich achtgeben — ein wenig. Auf mich und auf meinen Bruder und auf Frau Lombard. Ich muß wissen, was die tun. Ich muß wissen, ob ich beschattet werde und von wem. Immerhin hat mir mein eigener Bruder mit dem Tod gedroht, wenn ich nicht tue, was er von mir verlangt.«

»Es wird nicht leicht sein, Ihre Wünsche zu erfüllen …«

»Sie kriegen dafür eine Bombengeschichte. Wenn Sie nicht wollen …«

»Langsam, langsam«, sagte der Mann. Na also. »Ein wenig können wir uns schon einschalten, klar. Allerdings müssen wir vorsichtig sein. Wir sind hier mehr oder weniger nur geduldet. Man ist nicht gut auf Amerikaner zu sprechen in letzter Zeit. Wir müssen uns vorsehen. Okay, wir übernehmen den Job unter der Voraussetzung, daß Sie die Bänder uns und sonst niemandem geben, wenn Sie sie haben. Das versprechen Sie?«

»Das verspreche ich.« Wie gesagt: Ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung, auf welche Weise ich an die Bänder je herankommen würde, aber zu diesem Zeitpunkt war mir so ziemlich alles egal.

»Wenn Sie uns reinlegen, liegen Sie selber sehr schnell drin, das glauben Sie mir doch hoffentlich?«

»Ich lege Sie nicht rein. Ich bin doch nicht verrückt! Sie sind die einzigen hier in Kairo, die …«

»Ja, schon gut. Rufen Sie von nun an mehrmals am Tag an. Eine Dame wird mit Ihnen sprechen. Die von vorhin. Sie wird immer über die neuesten Entwicklungen Bescheid wissen. Aber rufen Sie stets aus Automaten an. Und vergessen Sie die Bänder nicht. Die Bänder sind das Wichtigste für uns.«

»Das haben Sie mir oft genug erklärt«, sagte ich frech. Die hatten angebissen, das fühlte ich.

»Es ist das Entscheidende. Wenn wir die Bänder haben, und noch Fotos von Ihnen und Aussagen in Ihrer Handschrift und so weiter, und so weiter, dann können wir das Ding hochgehen lassen. Sie wollen doch nach Argentinien, wie?«

»Nicht allein.«

»Nein, mit der Dame natürlich. Aber Sie wollen da hin?«

»Ja.«

»Gut. Dann müssen Sie aber vorher hier die Bänder beschaffen. Alles andere können wir drüben erledigen. Unser Büro in Buenos Aires. Dann lassen wir die Bande platzen. Dann haben wir den Paukenschlag. Das ist doch in Ihrem Sinne, wie?«

»Vollkommen in meinem Sinne.«

»Okay. Wir geben uns Mühe. Sie geben sich auch Mühe, mit den Bändern.«

»Natürlich«, sagte ich, Im nächsten Moment hatte ich das ganz bestimmte Gefühl, daß ich die Bänder auch bekommen würde. Ich wußte nicht, wie. Ich hatte keine Ahnung. Aber das Gefühl war richtig. Ich bekam die Bänder wirklich — zuletzt.

___________

Die Israelis sind bis zum Suezkanal gestürmt. Sie haben den Golf von Akaba freigekämpft, den Gazastreifen besetzt, Jerusalem genommen. Sie haben die jordanische Wehrmacht dermaßen zerschlagen, daß Jordanien einen Waffenstillstand wünscht. Im Weltsicherheitsrat sind sich die USA und die Sowjetunion einig. Sie erließen einen sofortigen Feuereinstellungsbefehl ohne Bedingungen für Israel. Das bedeutet: In zweiundsiebzig Stunden errang das winzige Land gegen eine ungeheure Übermacht von Feinden einen Sieg, wie er in der Geschichte der Welt nur ganz selten errungen wurde.

Wachtmeister Stalling hat das heute morgen auf seine Weise zum Ausdruck gebracht.

»Phantastisch, diese Juden, einfach phantastisch! Gestern abend habe ich es im Fernsehen gesehen! Das haben sie von unserem Rommel gelernt! Blitzkrieg, Blitzsieg! Die ganze Organisation — uns abgeschaut! Also, ich habe zu Muttchen gesagt, das war der größte Fehler vom Führer, daß er die Juden rausgejagt und umgebracht hat! Wer weiß, ob wir mit den sechs Millionen den Krieg nicht gewonnen hätten? Das jetzt, das hätte er noch erleben sollen, der Führer und alle die anderen — zur Lehre.«

___________

Am Montagvormittag rief ich aus einer Telefonzelle wieder das Büro von APS an. Die Frauenstimme sagte: »Es ist nicht viel, was wir Ihnen zu bieten haben. Wenn Sie oder Ihr Bruder oder Frau Lombard beschattet werden, dann von erstklassigen Spezialisten. Unsere Leute konnten niemanden entdecken.«

»Vielleicht werden wir nicht beschattet.«

»Vielleicht nicht. Ihr Bruder verbrachte die letzte Nacht im ›Mena House‹.« Das tat weh. »Er verließ das Hotel erst gegen zehn Uhr vormittags. Er hat dauernd Besprechungen mit Geschäftsleuten und Beamten. Sie können sich gewiß denken, was das für Leute sind. Was haben Sie für Pläne?«

»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen.«

»Was ist mit den Bändern?«

»Da müssen Sie mir noch Zeit lassen.«

»Rufen Sie wieder an.«

»Ja, natürlich.«

Am Nachmittag blieb ich im Hotel. Lillian rief gegen sieben Uhr abends an. Ihre Stimme klang heiser, sie war betrunken: »Ich kann nicht«, sagte sie. »Bitte, sieh es ein. Ich kann nicht mit dir gehen. Ich kann dich auch nicht mehr sehen. So etwas wie gestern abend ertrage ich nicht mehr. Verzeih mir. Bitte, verzeih mir. Ich bleibe bei Werner.«

»Ist er jetzt bei dir?«

»Nein.«

»Lüg nicht!«

»Ja, er ist hier …«

»Gib ihn mir.«

Meines Bruders Stimme meldete sich: »Du hast es jetzt also gehört. Hast du nun genug?«

»Nein.«

»Was heißt nein?«

»Komm auf den Turm, und ich werde es dir sagen.«

»Wann?«

»In einer halben Stunde bin ich in der Bar oben.«

Ich nahm ein Taxi nach Gezireh hinüber. Mein Bruder war pünktlich. Wir saßen in der Nische, in der ich am Abend zuvor mit Lillian gesessen hatte. Mein Bruder sagte: »Bevor du anfängst — das mit den Bändern und deinem Anwalt war Bluff. Unsere Leute haben Freunde auch im Hotel. Die interessierten sich mal für die Telefonzentrale. Du hast Minski telegrafiert, nicht deinem Anwalt.«

»Minski soll immer den Anwalt verständigen«, log ich und verfluchte mich für meine Blödheit, jemals dieses Telegramm, das ich im Hotel aufgegeben hatte, erwähnt zu haben.

»Nicht sehr überzeugend.«

»Aber wahr.«

»Ich habe mit meinen Leuten gesprochen. Sie sind auch davon überzeugt, daß du lügst. Die kleine Ungewißheit nehmen sie in Kauf. Was hast du also noch zu sagen, bevor du nach Argentinien verschwindest?«

»Daß ich verschwinden werde … aber nicht nach Argentinien.«

»Sondern?«

»Sondern nach Deutschland.«

»Du gehst nach Deutschland zurück … freiwillig?«

»Ja«, sagte ich. »Ich gehe zurück und stelle mich Paradin und lasse mich einsperren … und packe aus.«

Er wurde blaß.

»Das würdest du nie tun! Du hast doch nicht den Verstand verloren! Du gehst doch nicht viele Jahre ins Zuchthaus!«

»Lillian bleibt bei dir. Mir ist jetzt alles egal. Nur dich, dich möchte ich gerne noch verrecken sehen.«

»Ein Wunsch, der auf Gegenseitigkeit beruht«, sagte Werner.

»Wenn ich rede, werden sie viele von euch kriegen, viele in Deutschland. Und auch euch hier. Man wird euch nicht ausliefern, gewiß — aber sie werden euch kriegen. Sie haben ihre Leute für so etwas, das weißt du so gut wie ich. Ihr habt auch eure Leute. Und es gibt nichts, was ein richtiger Agent nicht tut.« Damit stand ich auf und verließ ihn. Ich verbrachte eine sehr schlechte Nacht im Hotel, und ich hatte große Angst. Denn wenn sie mir die Geschichte mit dem Anwalt nicht glaubten, dann war ich jetzt an der Reihe.

Aus einer anderen Telefonzelle rief ich am Dienstagvormittag wieder das »American Press Service« an.

»Ihr Bruder und die Dame planen etwas«, sagte die Frauenstimme.

»Was?«

»Die Dame hat einen Mercedes gemietet, Koffer, Kleider und Wäsche gekauft und bereitet sich für eine Reise vor. Unsere Leute beobachteten die Dame und Ihren Bruder, wie diese gestern nacht einen geeigneten Parkplatz für den Mercedes auf Gezireh suchten. Sie fanden ihn auch. In einem Seitenweg der Allee, die von der Brücke hinunter zu dem ehemaligen Schloß Faruks führt.« Die Frauenstimme beschrieb genau die Stelle. »Sie versuchten mehrere Schneisen und entschieden sich dann für diese. Die Dame lenkte den Wagen ein paarmal vor und zurück in den Seitenweg, bis sie es gut konnte. Einer unserer Leute hörte Ihren Bruder zu ihr sagen, daß sie unter allen Umständen hier auf ihn warten müsse, und wenn es noch so lange dauere. Es könne bei der Besprechung mit Ihnen alles mögliche dazwischenkommen …«

»Was reden Sie da? Was heißt Besprechung?« Das Wort klang schrecklich in meinen Ohren. Ich hatte Angst.

»Ich sage Ihnen nur, was wir herausbekamen. Wir können nichts tun, um Sie zu schützen. Sie können auch nicht zur Polizei gehen. Man würde sich ohne jeden richtigen Beweis für eine Bedrohung — und Sie haben keinen einzigen, Sie haben nur meinen Bericht, den Sie nicht zitieren dürfen —, man würde sich höchstens für Ihre Person und für Ihren Paß interessieren. Und dann, wie wir die Behörden hier kennen, genau jene Leute verständigen, mit denen Ihr Bruder arbeitet. Es tut mir leid, Sie sind weiterhin allein auf sich gestellt.«

»Ich habe begriffen. Bitte, sprechen Sie weiter.«

»Ihr Bruder war mit einem Inder zusammen. Einem Süchtigen. Ein Rauschgifthändler, der unseren Leuten bekannt ist, hat die beiden zusammengebracht. In einem Café in der Altstadt.«

»Und?«

»Wir haben nicht viel herausbekommen … nur, daß Ihr Bruder und dieser Inder sich grundsätzlich über irgend etwas einig geworden zu sein scheinen. Einer unserer Leute saß in der Nähe. Er konnte aufschnappen, daß die beiden sich noch einmal treffen wollen, um Einzelheiten zu besprechen.«

»Wann?« fragte ich. »Wo?«

»Morgen, Mittwoch, um dreiundzwanzig Uhr. Bei dem Nilometer an der Südspitze der Insel Roda. Kennen Sie den Ort?«

»Ja.«

»Wir können da nicht hin.«

»Das verstehe ich.«

»Seien Sie so vorsichtig wie möglich. Und sehen Sie zu, daß Sie endlich die Bänder bekommen. Wenn wir die Bänder haben, können wir Ihnen besser helfen — sobald Sie aus dem Land sind. Aber wir brauchen die Bänder, wir brauchen Beweise, wir brauchen Sie als Zeugen, in Argentinien.«

Ich sagte wieder, ich würde die Bänder beschaffen. Ich hatte immer noch keine Ahnung, wie ich das tun sollte; in meinem Kopf drehte sich alles. Die Frauenstimme sagte, daß die Leute von APS die Bänder, wenn ich sie hatte, erst außerhalb Ägyptens, in einem Flugzeug beispielsweise, entgegennehmen könnten. Alles andere sei zu riskant. Die Agentur dürfe nicht riskieren, verboten zu werden. Ich versprach, rechtzeitig die Maschine zu nennen, mit der ich fliegen würde. Ich hatte allerdings keine Ahnung, welche Maschine das sein sollte. Plötzlich gelang es mir, einen kalten, klaren Gedanken zu fassen: Ich mußte heute abend um dreiundzwanzig Uhr auch auf der Insel Roda, da bei dem alten Nilometer, sein und hören, was mein Bruder mit dem Inder besprach. Erst dann konnte ich weiterplanen.

»Unser Mann wird im Flugzeug als sein Erkennungszeichen Ihre Partitur der Neunten Symphonie von Beethoven bei sich tragen.«

»Meine Partitur?«

»Die Sie von so illustrer Seite zum Geschenk erhielten, ja.«

»Aber … aber wie kommen Sie zu der?« fragte ich verblüfft. »Ich habe sie doch …«

»… bei Ihrem Freund Boris Minski in Frankfurt gelassen, ja.«

»Und?«

»Und Ihr Freund Minski gab sie Homer Barlow, als er erfuhr, in welcher Lage Sie sich befinden, und der schickte sie uns. Sie kennen Ihre Partitur doch gut. Barlow meinte, wenn unser Mann sie als Erkennungszeichen trägt, werden Sie ihm unbedingt vertrauen.«

Boris und Tiny

Wieder Boris und Tiny!

Nach diesem Telefonat hatte ich beschlossen, zu kämpfen.

Nachts war ich dann auf der Flußinsel Roda. Ich stand in einer Nische der Kaimauer, fünf Meter unter dem alten Nilometer, vor dem sich mein Bruder und der betelkauende Inder trafen, und ich hörte meinen Bruder seinen Mörder gegen Bezahlung fragen, wie dieser den Mord zu begehen gedachte.

»Auf die ehrwürdige Weise«, antwortete der Inder. »Mit einem malaiischen Kris. Das ist am sichersten und geht am schnellsten. Ein einziger Schnitt genügt. Genügte noch jedesmal.«

»Gut«, sagte mein Bruder. Sie sprachen englisch miteinander.

»Ich hatte es natürlich stets mit Menschen zu tun, die im Bett lagen oder schliefen.«

»Natürlich«, sagte mein Bruder Werner.

»Das ist die Voraussetzung«, sagte der Mörder, den Werner sich genommen hatte.

»Tiefer Schlaf. So tief wie möglich. Betrunkene machen es mir leicht. Sich auch.«

»Ich werde Whisky nehmen«, versprach mein Bruder.

Schwarzblau war der Himmel in dieser Nacht. Die Sterne leuchteten, als sei es noch August. Das Licht des Mondes war gespenstisch grün. Grün sah der Strom, grün sah ganz Kairo aus. Grün waren die hohen Segel der Falluka-Boote im Alten Hafen, links von der Inselspitze, grün die Sphinx und die Pyramiden von Giza zur Rechten, drüben in der Wüste, wo auch das »Mena House« stand, wo Lillian wohnte …

Ich hörte das ganze Gespräch der beiden mit an. Danach wußte ich Bescheid. Der Inder sollte in der nächsten Nacht, um ein Uhr früh, in mein Appartement 907 im Hotel »Imperial« kommen. Mein Bruder mußte dafür gesorgt haben, daß ich dann, betrunken und zusätzlich durch ein Schlafmittel betäubt, im Bett lag, damit der Inder mir leicht die Kehle durchschneiden konnte. Um das zu erreichen, sollte Werner zuerst mit mir zu Abend essen und dann auf meinem Zimmer mit mir trinken — und das Schlafpulver in den Whisky schütten. Dreitausend ägyptische Pfund im voraus mußte mein Bruder dem Inder bezahlen, denn diese Geschäfte beruhten, wie der Mörder sagte, auf Vertrauen.

Ich kam spät ins Hotel und wollte eben zu Bett gehen, als Lillian anrief. Ihre Stimme war ganz klar.

»Ritchie, ich bleibe bei dir.«

»Was?« Ich ließ mich auf das Bett fallen, neben dem das Telefon stand.

»Ich bleibe bei dir. Ich habe überlegt und überlegt und mich herumgequält, tagelang jetzt. Mein Entschluß steht fest. Ich kann nicht bei Werner bleiben … Ich … ich muß immer an das denken, was du mir auf dem Turm gesagt hast … über das Älterwerden … Ich kann nicht bei ihm bleiben … und ich will es nicht … Willst du mich noch, Ritchie?«

Langsam, sagte ich zu mir, ruhig, ganz ruhig. Sie lügt. Das ist eine Falle. Das ist die größte und gemeinste Lüge, die sie je ausgesprochen hat. Alles ist mit Werner verabredet. Sie wollen dich in Sicherheit wiegen. Vorsichtig jetzt. Vorsichtig.

»Ritchie!«

»Ja.«

»Warum sagst du nichts?«

»Ich … ich bin … ich bin vollkommen überwältigt. Nach dem, was war …«

»Vergiß es. Ich habe es mir überlegt. Zum letztenmal. Wir bleiben zusammen. Wir fliegen zusammen fort.«

»Wann?«

»Bald. Sehr bald. Ich muß nur noch mit Werner sprechen.«

»Er weiß es noch nicht?«

»Nein. Ich wollte es dir zuerst sagen. Ich … natürlich habe ich etwas Angst vor dieser Aussprache … Aber ich rede mit ihm … morgen schon, Ritchie …«

»Wann morgen?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich komme mit dir. Ist das nicht das Wichtigste?«

»Ja, natürlich.«

»Ich rufe dich morgen wieder an. Wenn ich mit ihm gesprochen habe. Ich liebe dich, Ritchie. Mehr als ihn. Jetzt weiß ich es. Gute Nacht. Schlaf gut, Liebster.«

»Du auch, Liebste«, sagte ich und legte auf.

Ich schlief nicht eine Minute in dieser Nacht.

Am nächsten Vormittag war ich sehr beschäftigt. Bei einem Hehler in einer schmutzigen Gasse, nahe der Ibn Tlûn-Moschee, erwarb ich eine automatische 38er Police Special mit Schalldämpfer und dazu sechs Rahmen Munition. Im Lufthansa-Büro in der Rue Talaat Harb 9 buchte ich einen Platz in einer Boeing 720 B, die aus Tokio kam, um 3 Uhr 45 in Heliopolis landete und um 4 Uhr 40 nach Rom weiterflog. Ab Rom war ich mit einer anderen Lufthansa-Maschine zum Weiterflug nach Zürich vorgebucht, die um 6 Uhr 30 römischer Zeit startete. Ich mußte, bevor ich nach Argentinien flog, noch einmal nach Zürich, um mein Vermögen zu transferieren. Wenn ich die festangelegten IIO-Beträge auch mitnehmen wollte, dann war es nötig, persönlich in der Bank zu erscheinen.

Ich rief wieder APS an, und nun bluffte ich bereits mächtig. Ich sagte, ich würde die Bänder abends haben. Ich war davon überzeugt, daß es mir gelingen werde, sie nun zu erhalten. Ich war in einen gefährlichen Zustand geraten, in dem ich mir fast alles zutraute. Mein Haß auf Werner, meine Verzweiflung über Lillians Verrat hatten jedes vernünftige Maß überschritten. Wenn die beiden heute nacht flüchten wollten — und das wollten sie nach den Vorbereitungen, die sie trafen —, dann mußte mein Bruder die Bänder zur Verfügung haben, um sie seinen Auftraggebern überreichen zu können, im Austausch gegen das belastende Protokoll, das er einst in Berlin angefertigt hatte. Und er hatte doch gesagt, er werde den Tausch vornehmen, sobald er mit mir »ins reine« gekommen sei.

Selbst wenn er nun also Kairo verließ, ohne den Tausch hier zu vollziehen, mußte er die Bänder mitnehmen, überlegte ich. Man möge entschuldigen, wenn diese Gedankengänge nicht mehr ganz logisch waren — ich befand mich in hochgradiger Erregung.

Ich handelte unfair gegen APS, gewiß. Aber zuletzt, ich sagte es schon, trog mein Gefühl mich wirklich nicht, und ich kam in den Besitz der Bänder. Endlich hatte ich alle Vorbereitungen getroffen.

Wenn ich wirklich so geschickt war, wie ich sein mußte, und wenn der Mörder wirklich pünktlich war und meinen Bruder bestens bediente, dann kam ich mit allem, was ich dann noch zu erledigen hatte, zeitlich sehr gut zurecht. Ging um ein Uhr am Freitagmorgen alles glatt, konnte ich um halb zwei bei Lillian sein, drüben auf Gezireh, neben Faruks Palast. Sie würde da sein, das war gewiß — nach den Experimenten, die sie und mein Bruder veranstaltet hatten. Wenn alles gut lief, dann reichte meine Zeit. Natürlich konnte es noch unendlich viele Komplikationen geben; aber an die wollte ich nicht denken. Mein Plan war festgelegt: der letzte, der mir noch verblieb.

___________

»Ritchie?«

»Ja, Lillian?«

»Werner ist jetzt bei mir im Hotel. Ich habe es ihm gesagt«, erklang Lillians Stimme aus dem Telefonhörer. Da war es siebzehn Uhr am 15. Dezember 1966. Ich saß wieder auf meinem Bett und war nur noch neugierig auf die Formulierungen.

»Alles?«

»Ja.«

»Und?«

»Er … er hat sich großartig benommen.« Lillians Stimme klang erstickt. »Er hat nicht getobt, nicht geschrien. Er hat es ganz gefaßt aufgenommen. Völlig gefaßt. Aber ich, Ritchie, ich bin erledigt. Ich kann kaum noch reden. Ich … ich muß mich jetzt hinlegen und schlafen … Ich muß etwas nehmen … irgendein Mittel …«

Vielleicht gibt Werner dir eines von den Pulvern des Inders, dachte ich.

»Schlafen … nur schlafen …«

»Wann kann ich dich sehen?«

»Morgen.«

»Aber ich möchte …«

»Morgen, Ritchie. Versteh doch, bitte. Ich brauche Ruhe, Frieden, ich … ich kann nicht mehr … ich bin am Ende …«

Die Stimme meines Bruders erklang, gefaßt und männlich: »Na ja, mein Kleiner, ich habe also mein Fett weg. Pech. Kann man nichts machen. Du gewinnst.«

»Es scheint so«, sagte ich.

»Lillian muß ins Bett. Sie kann kaum noch auf den Beinen stehen. Wenn du wüßtest, wie sie aussieht …«

Nun mußte es doch bald kommen.

»Ich kümmere mich schon um sie. Ab morgen kümmerst du dich. Ich verreise.«

»Du verreist?«

»Ich habe dir doch schon davon erzählt. Ich muß weg.«

»Wann?«

»Heute noch, spät nachts. Hör zu: Wir essen zusammen! Wer weiß, ob wir uns sonst noch einmal wiedersehen. Einverstanden?«

Na also, da war es! So hatten sie das geplant. Alles lief ab wie nach einem Uhrwerk.

»Einverstanden«, sagte ich. »Wann?«

»Vielleicht so gegen halb neun? Wir nehmen noch einen Aperitif, und dann essen wir. Ich habe bis Mitternacht Zeit, lange genug. Paßt dir das?«

»Das paßt mir sehr gut«, sagte ich. »Gib mir noch einmal Lillian.«

»Warum?«

»Ich will ihr noch etwas sagen.«

»Ja, Ritchie?« Jetzt flatterte ihre Stimme.

Ich sagte: »Danke, Lillian. Ich danke dir.«

Dann legte ich auf.

___________

15. Dezember 1966, 23 Uhr 20.

Die schweren Leinenvorhänge im Salon und im Schlafzimmer meines Appartements waren zugezogen. Alle Lichter brannten. Mit geöffneten Hemdkrägen, die Krawatten herabgezogen, saßen mein Bruder und ich uns im Salon an dem großen Tisch der modernen Garnitur in bequemen Lehnstühlen gegenüber, Whiskygläser in der Hand. Der Tisch war einer von jener praktischen Sorte mit runder Platte, die sich drehen läßt. Aschenbecher standen auf ihm, mehrere Whisky- und Sodawasserflaschen, und ein großer silberner Thermosbehälter, der Eiswürfel enthielt. Zigarettenpackungen lagen herum, Asche war verstreut, auf der Tischplatte bildeten die Gläser feuchte Ringe. Es sah ein wenig wüst aus auf diesem Tisch.

»Ein Bruder«, sagte Werner mit schwerer Zunge, »ein Bruder bleibt eben ein Bruder. Das erkenne ich jetzt. Ich kann dich nicht hassen, weil du mir Lillian wegnimmst. Ich kann dir nicht einmal böse sein. Eben Fleisch von meinem Fleisch, Blut von meinem Blut. Läßt sich nicht verleugnen. Brüder, das sind wir. Seltsame Brüder. Aber Brüder. Auch die Frau, die wir beide lieben, bringt uns nicht auseinander, wie?«

»Nicht einmal die Frau, die wir beide lieben.«

»Obwohl es mir verflucht nahegeht, das kannst du mir glauben.«

»Glaube ich dir.«

»Ich nehme mich sehr zusammen, mein Kleiner. Sehr. Keine Lillian mehr. Kein Ritchie mehr. Deshalb habe ich wenigstens noch einmal ordentlich mit dir feiern wollen …«

Er war vor dem Abendessen mit einem Korb in meinem Appartement erschienen. Sechs Flaschen Whisky lagen darin. Ein Geschenk. Nach dem Essen, sagte er, wollten wir einen Abschiedstrunk nehmen. Nun nahmen wir ihn. Vier von den sechs Flaschen Whisky waren Johnnie Walker.

»Das können wir nicht alles aussaufen. Aber trinken müssen wir noch zusammen. Unbedingt. Das bist du mir schuldig. Für meine phantastische Haltung. Für meine Vernunft. Für meinen starken Charakter. Alles Lillians Formulierungen, bitte!«

Werner hatte schon beim Abendessen begonnen, den Angetrunkenen zu spielen, und er spielte ihn jetzt weiter. Ich tat dasselbe. Wir hatten zum Essen beide Wein genommen, aber wir vertrugen eine Menge, wir waren noch fast völlig nüchtern.

Werner hatte alles aufs beste vorbereitet. Er führte glänzend Regie. Nach dem Essen waren wir auf mein Appartement gegangen, und ich hatte Eis und Sodawasser bestellt. Werner hielt sich genau an den Zeitplan, den der Inder ihm gegeben hatte. Um zweiundzwanzig Uhr hatten wir zu essen begonnen. Um dreiundzwanzig Uhr tranken wir dann bereits. Wir tranken richtig und nicht zu knapp. Es brauchte eine sehr große Menge Whisky, um einen von uns beiden wirklich umzuwerfen.

»Wollen wir Lillian anrufen?« fragte ich.

»Was?«

»Lillian. Wollen wir sie nicht anrufen?«

»Die schläft doch.«

»Vielleicht nicht.«

»Nein, lassen wir sie in Ruhe.«

»Warum? Ich möchte ihr sagen, daß wir hier friedlich zusammensitzen und Abschied nehmen und trinken, und daß du uns vergeben hast.«

»Laß das sein. Sie schläft bestimmt. Wir dürfen sie nicht stören.«

Beim Kofferpacken, dachte ich. Nein, wir durften sie nicht stören. Die gute Lillian.

»Na schön«, sagte ich. »Trinken wir auf sie.« Und ich goß unsere Gläser wieder voll. Irgendwann mußte er ja nun das Schlafpulver in meinen Whisky schütten.

»Auf Lillian!«

»Auf Lillian«, sagte er.

»Wohin fährst du?« fragte ich.

»Nach Suez. Werde eine Weile dort bleiben. Dringende Arbeit.«

Also Suez, dachte ich. Ich glaube dir sogar, daß es Suez ist, du bist deiner so sicher, so verflucht sicher. Du hast vor, nach Suez zu fahren, sobald du hier alles erledigt und vorbereitet hast für deinen Mörder. Dann wirst du hinüber nach Gezireh eilen, wo Lillian auf dich wartet. Dazu hat sie also den Mercedes gemietet.

Nach Suez führt von Kairo aus über Heliopolis eine sehr gute Wüstenstraße, ich kannte sie, ich war sie auch schon einmal entlanggefahren, vor vielen Jahren. Die Entfernung beträgt etwa hundertvierzig Kilometer. Die Straße folgt teilweise einem alten Karawanenweg, der Ägypten mit Asien verbunden hatte und von Pilgern benützt worden war. Soweit ich mich erinnere, kam man auf etwa halbem Weg zur Linken an Hügeln vorüber, auf denen die Ruinen eines Schlosses standen.

Nach Suez also willst du, Brüderchen, dachte ich. Mit Gottes Hilfe wirst du niemals mehr dorthin kommen. Ich hatte mich bei den Portiers erkundigt. Werner hatte sein Zimmer bereits geräumt, das Gepäck war angeblich zum Bahnhof gebracht worden, zur Aufbewahrung. Damit erweckte er den Anschein, als wolle er einen Zug benützen. Vermutlich lag das Gepäck im Kofferraum des Mercedes. Er hatte seine Rechnung bezahlt. Wenn er mich hier für seinen Mörder präpariert hatte, würde er das »Imperial« verlassen — lange bevor der Mörder kam.

Damit hatte er sein Alibi.

Ich war sicher, daß er dieses Alibi noch nach vielen anderen Seiten ausgebaut hatte. Sicherlich besaß er auch eine Fahrkarte nach Suez, im Reisebüro des Hotels gekauft. Er mußte nur noch zu Lillian. Dann konnten sie losfahren. Es war prachtvoll arrangiert. Mit Lillian konnte man wirklich alles tun, wenn sie einen liebte. Selbst einen Mord vorbereiten. Eine bewundernswerte Frau, dachte ich, und dann dachte ich schnell an etwas anderes, denn ich mußte meine Fassung bewahren. Ich spielte nun den schon stärker Betrunkenen.

»Und was ist mit deinem großen Schatz, den Bändern?« fragte ich. »Nimmst du die mit?«

»Mit? Ich bin doch nicht verrückt!«

Das war nun nicht eben die Antwort, die ich brauchte.

Ich bohrte weiter: »Na, aber dalassen kannst du sie doch auch nicht.«

»Warum nicht? Wenn sie in einem guten Versteck sind? Und sie sind in einem verflucht guten Versteck! Aber da bleiben sie nicht! Mein Kleiner, wir müssen noch ein Gläschen trinken … heute ist ein großer Tag … Ich gebe den Brüdern heute noch die Bänder, und sie geben mir heute noch mein Protokoll.«

»Hier in Kairo?«

»Hier in Kairo … wird alles vor meiner Abreise erledigt …« Er dachte wohl, daß er mir das ruhig erzählen konnte, weil ich vor seiner Abreise erledigt sein würde. »Schon alles vorbereitet … ich gehe methodisch vor, immer …«

Das stimmte. Wenn auch diesmal nicht methodisch genug.

Ich dachte, daß es falsch gewesen wäre, jetzt zu sehr auf diesen Bändern herumzureiten, und deshalb goß ich uns wieder die Gläser voll. Wir tranken Johnnie Walker. So wie wir Johnnie Walker getrunken hatten an jenem Gewitternachmittag, da Werner mir vorschlug, meine Romane zu schreiben, so wie in Treuwall, wo er mich mit den Manuskripten dieser Romane erpreßt hatte, so tranken wir auch Johnnie Walker zusammen in der Nacht, in der ich nach seinem Willen getötet werden sollte. Ich warf eine fast leere Flasche in einen Papierkorb und öffnete eine neue, und danach stand ich auf und ging ins Badezimmer. Ich ließ die Schlafzimmertür offen, machte im Badezimmer kein Licht und stellte mich schräg vor den Spiegel, während ich die Wasserspülung der Toilette zog. Blitzschnell griff mein Bruder in seine Jacke — ich sah es genau im Spiegel —, holte die Schachtel hervor, die der Inder ihm gegeben hatte, und riß nacheinander drei der kleinen Kuverts auf, die darin lagen. Glitzernd floß das Pulver aus den Kuverts in die Johnnie-Walker-Flasche, die ich gerade geöffnet hatte. Mein Bruder stellte sie auf den Tisch, lehnte sich zurück und nahm wieder sein Glas. Ich wusch mir die Hände, dann kam ich in den Salon. Ich trank mein Glas leer. Das meines Bruders war noch halb voll.

»Na?« fragte ich.

»Ich trinke das erst aus«, sagte er.

»Schön«, sagte ich und goß in mein Glas Whisky aus der Flasche, in welcher sich das Schlafpulver gelöst hatte. Werner beobachtete mich, während er eine Zigarette anzündete. Seine Hände waren ganz ruhig. Ein ruhiger Mörder, mein Bruder. Ich neigte mich vor, um die Whiskyflasche zurückzustellen. Dabei spielte ich den Angetrunkenen. Indem ich die Flasche niedersetzte, stieß ich mit ihr gegen einen vollen Aschenbecher, und der ganze Inhalt, Asche und Kippen, fiel meinem Bruder auf die Hose. Er fluchte. Ich sprang auf, entschuldigte mich, lief ins Badezimmer, holte ein Handtuch und kniete dann vor Werner nieder, der an seiner beschmutzten Hose herumklopfte.

»Warte«, sagte ich. »Kaltes Wasser bringt das weg wie nichts. Laß mich machen.« Er ließ mich machen. »Halt den Stoff gespannt«, sagte ich. Er neigte sich vor und spannte den Hosenstoff über einem Bein. Ich hielt das Handtuch in der rechten Hand und wischte nach Kräften. »Straffer«, sagte ich. Mein Bruder beugte sich tiefer und zog den Hosenstoff straffer.

Der Tisch, ich sagte es schon, war einer von jener modernen, praktischen Sorte, deren Platte sich drehen ließ. Sie besaß an ihrer Unterseite mehrere Griffe und eine Feder. Zog man einen der Griffe, dann schwang die Platte herum. Zog man lange genug, schwang sie halb herum.

Während ich mit der rechten Hand an meines Bruders Hose rieb und putzte, tastete ich mit der linken Hand hinter mir an der Unterseite des kreisrunden Tisches herum, dessen Platte ich vor den Augen meines Bruders verdeckte, suchte kurz und fand dann einen der Griffe. Ich zog lange. Mit leisem Surren drehte sich die Platte um hundertachtzig Grad. Damit Werner das Surren nicht höre, redete ich auf ihn ein, er solle nun das andere Hosenbein straff halten. Er tat es. Er merkte nicht das geringste. Es war alles ganz einfach, weil ich Linkshänder bin. Mit der linken Hand kann ich noch geschickter arbeiten als mit der rechten.

»So«, sagte ich, mich erhebend, »das wäre in Ordnung.« Ich warf das Handtuch in eine Zimmerecke und setzte mich wieder in meinen Sessel. Die vollgeräumte Tischplatte hatte sich also gedreht. Das Glas voll Whisky, in dem sich das Schlafmittel befand, stand nun direkt vor meinem Bruder. Sein Glas stand vor mir. Ich hatte dafür gesorgt, daß beide Gläser ungefähr gleich voll waren.

»Cheerio«, sagte ich und hob mein Glas.

Wir tranken beide. Das Pulver schien wirklich geschmack- und geruchlos zu sein, genau, wie der Inder gesagt hatte. Es gab mir ein Gefühl großer Befriedigung, meinen Bruder ahnungslos den Whisky mit dem Betäubungsmittel trinken zu sehen, denn ich mußte daran denken, wie ahnungslos ich den von Delacorte präparierten Tee getrunken hatte, in jenem Haus vor Heliopolis. Nun war mein Bruder an der Reihe. Die Szene mit dem Aschenbecher hatte ich gut inszeniert. Es war aber auch ein großes Glück, daß die Natur mich einen Linkshänder hatte werden lassen.

___________

Unheimlich war zu beobachten, wie schnell das Pulver wirkte. Schon nach wenigen Minuten begann mein Bruder lallend zu reden, und seine Augen fielen immer wieder zu. Ich dachte, daß die Zeit gekommen war, neuerlich von den Bändern anzufangen. Immerhin ging mein Flugzeug in wenigen Stunden, ich hatte einen Mann von APS an Bord bestellt und bis jetzt immer noch keine Ahnung. Ich hatte ein wildes Hazardspiel getrieben — mit meinem Leben und mit den Leuten von APS, denen das Material fest versprochen war, damit sie mir immer weiter halfen.

»Was ist nun mit den Bändern?« sagte ich also. »Werden deine Freunde sich alle vorspielen, ehe sie dir das Protokoll geben?«

»Natürlich … sie … sie müssen ja wissen, ob wirklich was drauf ist … aber dann kriege ich das Protokoll sofort … heute nacht … Ich habe doch … noch ein Rendezvous mit den Brüdern … Glaube, ich soll nichts mehr trinken …«

»Einen letzten Schluck«, sagte ich. Er mußte alles austrinken, damit er genug Schlafpulver abbekam. Ich hob mein Glas: »Prost, Werner!«

»Prost, mein … Kleiner …«

Bei Gott, er trank alles aus. Er hatte noch immer keinen Argwohn geschöpft. Er sah mich breit grinsend an, nachdem ich getrunken hatte. Nun war er am Ziel, dachte er.

»Und wenn sie dich reinlegen?« fragte ich. »Wenn sie dir dein Protokoll nicht geben?«

»Ah, sie geben es mir schon. Dazu bin ich ihnen viel zu wertvoll. Keine Bange … heut nacht bekomme ich das Zeug … und kann es verbrennen … Noch bevor ich nach Suez fahre, bekomme ich es … weißt du, wo?«

Ich schüttelte den Kopf.

Er war seiner unheimlich sicher. Das soll man nie sein, heute weiß ich es. Ich war meiner auch unheimlich sicher gewesen.

»Hast bestimmt schon alles mögliche unternommen, um herauszukriegen, wo die Tonbandtasche geblieben ist, was?« Werner feixte. Dann bewegte er sich schwerfällig und holte einen seltsam gezackten Schlüssel aus der Uhrentasche seiner Hose.

»Schau mal …« Er konnte die Augen nur noch mit Mühe offenhalten. Dieses Schlafmittel mußte ganz besonderer Art sein. Werners Euphorie, seine Arglosigkeit hielten an. Er schien selbst überhaupt nicht zu merken, daß er knapp vor dem Einschlafen stand. »Was … ist das wohl?«

»Keine Ahnung.«

»Schlüssel zu einem Kofferfach im Hauptbahnhof. Da staunst du! … Da sind die Bänder drin …«

Ich sah ihn bewundernd an.

»Konntest du nicht herausbringen, Brüderchen«, grölte Werner. »Unmöglich, ganz unmöglich! Ich bin nie wieder zum Bahnhof gegangen. Freunde … hick … Freunde von mir werfen immer neue Piasterstücke nach. Köpfchen muß man haben, weißt du. Na, mach dir nichts draus. Nicht jeder kann eben eines haben …«

Ich dachte, daß in naher Zeit er keines mehr haben würde — oder nur noch eines, das ihm sehr lose auf dem Halse saß.

»Muß ich nun noch zum Bahnhof fahren und das Fach öffnen und …« Schlaf, der an Bewußtlosigkeit grenzte, traf ihn plötzlich, wie ein Blitz. Er sackte im Stuhl nach vorn. Der Schlüssel fiel ihm aus der Hand auf die Erde. Ich sprang auf. Als erstes nahm ich den Schlüssel und steckte ihn ein. Dann holte ich die Schachtel mit den restlichen Schlafpulvern aus Werners Jacke und steckte sie ebenfalls ein.

Ich zog meinen Bruder aus. Das war schwer, denn er war groß, und sein Körper entglitt mir immer wieder. Schließlich legte ich ihn auf den Teppich. Es war ein Stück Arbeit, bis er endlich nackt vor mir lag. Ich lief ins Schlafzimmer und holte meinen Pyjama, einen gelben. Den zog ich ihm an. Das war auch nicht einfach. Aber ich schaffte es. Ich packte ihn unter den Schultern und schleifte ihn durch den Salon ins Schlafzimmer und legte ihn in mein Bett und deckte ihn zu. Er lag auf dem Rücken, und ich sah ihn an und dachte mit einem Gefühl des Triumphes: Einmal bin ich stärker als du, Bruder. Einmal werde ich Sieger sein. Ich, ich, ich!

Dann eilte ich in den Salon zurück, sammelte alle seine Kleidungsstücke ein und brachte sie ins Schlafzimmer, wo ich den Anzug ordentlich aufhängte und die Wäsche über einen Sessel legte. Noch einmal ging ich in den Salon und sah mich genau um. Es schien alles in Ordnung zu sein.

Ich löschte die Lichter und ging ins Schlafzimmer, wo ich die automatische 38er Police Special aus meiner Brusttasche holte und auf ihren Lauf den Schalldämpfer schob, den ich in einer Jackentasche verwahrt hatte. Ich sah auf die Uhr. Es war 23 Uhr 55.

Ich löschte die Lichter im Schlafzimmer, ging ins Badezimmer und setzte mich hier auf den Wannenrand. Tief und gleichmäßig hörte ich meinen Bruder atmen. Nun mußte ich warten. Ich wartete geduldig, über eine Stunde lang.

Heute weiß ich, daß die Herren der »Spinne«, Werners Auftraggeber, ihm, wie wahrscheinlich allen Menschen und grundsätzlich mißtrauten. Sie hatten zweifellos nichts gegen seinen Plan, mich ermorden zu lassen. Aber ich glaube nicht, daß er ihnen und ihrem Druck je entkommen wäre, wenn er weitergelebt hätte. Ich glaube nicht, daß er in den Besitz seines Protokolls gekommen wäre, selbst nachdem er die Bänder übergeben hätte. Zuviel spricht dagegen. Sie bewachten uns beide. Sie taten das so gut, daß es den APS-Leuten nicht aufgefallen war. Sie mußten damit rechnen, daß meine Ermordung aus irgendeinem Grund mißlang. Und sie mußten auch damit rechnen, daß sie ein Erfolg wurde. Trotzdem hatten sie für beide Fälle vorgesorgt. Sie veranstalteten, wie ich dann später feststellte, auf alle Fälle scheinbar eine Party auf meinem Stockwerk; sie ließen das scheinbar so exemplarisch betrunkene schöne Mädchen mit den violetten Augen auf den Gang taumeln, sobald ich meine Appartementtür geöffnet hatte. Sie waren auf jede Möglichkeit vorbereitet. Das schöne Mädchen sah natürlich sofort, daß etwas schiefgegangen war. Das schöne Mädchen zerriß meinen Mantelrevers und kennzeichnete mich so für jenen fröhlichen großen Amerikaner mit der Igelfrisur, der mir dann auf der Semiramis-Brücke begegnete und später, im Flugzeug, die Tasche mit den Tonbändern abnahm.

Wie William S. Carpenter, Chef des römischen Büros von APS, auf dem Leonardo-da-Vinci-Flughafen bitter zu mir sagte. »Perfekte Organisation. Kein Wort gegen die Brüder. Sind immer noch die besten …«

Eine Minute nach ein Uhr früh öffneten sich ganz langsam und fast geräuschlos die beiden Eingangstüren zum Appartement 907 im neunten Stock des Hotels »Imperial«, in dessen Schlafzimmer mein Bruder lag und in dessen Badezimmer, im toten Winkel der Tür, ich stand, die 38er in der linken Hand.

Ich blickte in den Spiegel. Noch war es finster draußen. Dann sah ich eine Taschenlampe aufblitzen und hörte ein hohes, glückseliges Kichern. Meines Bruders Mörder war gekommen.

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Montag, 12. Juni 1967.

Heute durfte ich zum erstenmal Besuch empfangen. Der Herr Untersuchungsrichter und der Herr Oberstaatsanwalt Paradin hatten es erlaubt. Wachtmeister Stalling führte mich hinunter zu einem großen Raum, in dem ein sehr langer Tisch und ein paar Stühle stehen und in dem die Fenster dick vergittert sind. Stalling übergab mich einem Wachtmeister, den ich nicht kannte. Am anderen Ende des Raumes erblickte ich Boris Minski. Er sah aus, als wäre er in den letzten sechs Monaten um zwanzig Jahre gealtert. Gebückt stand er da, den Kopf gesenkt, das Gesicht war bleich und aufgeschwemmt, das wenige schwarze Haar wirkte ungepflegt, wie der ganze, stets so gepflegte Mann einen unordentlichen und vernachlässigten Eindruck machte. Er trug einen grauen Sommeranzug, dessen Hosen schlecht gebügelt waren, ein nicht ganz frisches Hemd, und die Tränensäcke unter seinen Augen waren riesengroß und dunkel.

Er hob den Kopf ein wenig schief zur Seite, sah mich an und lächelte mit dem Mund, nicht mit den Augen.

»Hallo, Ritchie!« sagte er.

»Boris!«

Ich machte zwei Schritte vorwärts.

Der fremde Wärter sagte, nicht unfreundlich: »Sie müssen sich bitte setzen, beide. Jeder auf den Stuhl vor sich. Die Hände müssen auf dem Tisch liegen. Und laut und deutlich sprechen.«

Also setzten wir uns, weit voneinander entfernt, an die Enden des langen Tisches und legten die Hände auf die Platte und sprachen laut und deutlich. Der Wachtmeister setzte sich an die Längsseite des Tisches, zwischen uns.

»Ich freu mich, daß ich endlich zu dir darf«, sagte Minski.

»Ich mich auch, Boris. Was hast du? Bist du krank?«

Er blickte mich lange an. Dann sagte er: »Ich wollte es dir gar nicht erzählen … aber wenn man es mir so ansieht … und wenn du gleich danach fragst … Rachel ist tot.«

»Was?«

»Hinsetzen!« sagte der Wachtmeister. »Wirklich, Sie müssen tun, was ich sage, Herr Mark.«

Ich setzte mich wieder.

»Rachel ist tot?«

Minski nickte. Seine Wangen waren eingefallen, die riesenhafte Nase erschien dadurch noch größer.

»Aber wie konnte das geschehen? Wann ist es geschehen? Wann ist sie gestorben?«

»Am fünften Dezember«, sagte Minski.

Am 5. Dezember — da hatte ich nahe Heliopolis in einem fremden Haus in tiefstem Schlaf gelegen …

»Woran?«

»Kannst du dich erinnern, wie sie überfallen worden ist, draußen im Garten von der Anstalt?«

»Ja …«

Minski sagte: »Damals hat sie eine halbe Stunde auf dem eiskalten Boden gelegen. Die Kopfverletzung, die war nicht schlimm. Ist rasch geheilt. Aber dann hat Rachel einen Schnupfen gekriegt, und dann eine eitrige Angina. Sie haben es mir nicht gleich gesagt. Sie haben immer gedacht, sie kriegen es weg, mit Antibiotika und so … aber es ist eine Lungenentzündung geworden. Am Tag nachdem du weg warst, bin ich hinaus nach Hornstein gezogen und draußen geblieben bis zum Ende. Das Geschäft hab ich geschlossen in der Zeit. Der Herr Professor und alle Ärzte und alle Schwestern haben sich solche Mühe gegeben. Umsonst. Am Montag, gegen sieben Uhr abends, ist sie gestorben. Sie war schon zwei Tage nicht mehr klar. Sie hat niemanden erkannt, nicht einmal mich. Aber ich war bei ihr bis zum Schluß …«

Seine Stimme versinterte.

Ich schwieg.

Der Wachtmeister sah verlegen auf seine Hände.

Endlich sagte ich mühsam: »Boris … du weißt, wie gern ich dich habe … Es ist furchtbar … es tut mir so leid … ich …«

»Du findest keine Worte, ich weiß. Ich find auch keine. Red nicht darüber. Man kann nichts tun. Am achten hab ich sie begraben.«

Ein Schmetterling, der im Raum herumgeflattert war, ließ sich vor Minski nieder. »Agrotis pronuba«, sagte der mechanisch, das kleine Wesen anstarrend. »Ein Hausmütterchen. Schon sehr müde.«

Der Schmetterling flog taumelnd wieder auf.

Ein langes Schweigen folgte.

»Was hast du gemacht in diesem halben Jahr?« fragte ich endlich, in einem verzweifelten Versuch, irgend etwas zu sagen, das nichts mit Rachel zu tun hatte.

»Das Geschäft weitergeführt. Die Arbeit lenkt mich ab. Ich hab auch was Neues für Vanessa gefunden … in Hamburg. Prima Mädchen. Ist nicht schuld daran, daß der Umsatz trotzdem zurückgeht. Das macht die Krise.« Immer weiterreden, dachte ich. Weg von Rachel reden. Plötzlich hatte ich meine eigene Misere vergessen, als ich Minski da hocken sah, zusammengebrochen, abwesend, nur noch ein Schatten, nur noch ein Gespenst seiner selbst.

»Was ist mit Vanessa?« fragte ich. »Was hörst du von ihr?«

»Schickt andauernd Briefe und Postkarten. Die ganz großen, bunten, weißt du. Von überall her. Aus der ganzen Welt. Immer an uns beide. Mit tausend Umarmungen und Küssen. Die ist selig, Ritchie, wirklich selig.«

Sonnenlicht flutete durch ein schwer vergittertes Fenster des Raums. Der kleine Schmetterling flog an das Glas, prallte dagegen, taumelte herab, stieg wieder empor und flog neuerlich gegen die Scheibe. Die Helligkeit zog ihn an. Er wollte hinaus.

»Selig«, sagte ich. »Unsinn. Selig mit der Schalke!«

»Wenn ich dir sag … zum erstenmal selig in ihrem Leben … und sie wird es bleiben … Die braucht Männer nicht mehr. Was uns allen auch immer passiert ist … Vanessa ist ein glücklicher Mensch geworden. Und wie geht es dir, mein Alter?«

»Ich kann nicht klagen«, antwortete ich. »Ich werde sehr gut behandelt. Lauter freundliche Menschen. Und das sage ich nicht, weil Sie da sitzen, Herr Wachtmeister, es ist wahr.«

»Aber wann kommt es endlich zu deinem Prozeß?«

»Tja, das steht noch nicht fest«, sagte ich. »Paradin rollt jetzt alle die Affären in Treuwall auf … und nicht nur in Treuwall … ich habe hier im Gefängnis aufgeschrieben, was ich alles erlebt habe und …«

»Ich weiß. Er hat es mir erzählt.«

»Das ist ein Riesenfall geworden. Es kann noch Monate dauern, bis er mit den Voruntersuchungen durch ist. Viele Monate. Und wenn dann mein Prozeß kommt und ich verurteilt worden bin, dann wird man mich immer wieder als Zeugen brauchen, bei den anderen Prozessen. Es ist noch gar nicht abzusehen, was mit mir geschieht. Nicht einmal die Anklage steht fest … in ihrem Umfang, meine ich.«

»Sie wird ganz schön hinhauen«, sagte Minski.

»Bestimmt«, sagte ich. »Nächste Woche soll ich einmal Lillian gegenübergestellt werden.«

»Hab ich vom Herrn Oberstaatsanwalt gehört«, sagte Minski.

Lillian ist in Frankfurt, auch in Untersuchungshaft, seit März. Im März haben die ägyptischen Behörden dem Ersuchen der deutschen Behörden stattgegeben und sie ausgeliefert. Es ist ihr, die ich in jener Nacht zum 16. Dezember 1966 gefesselt in der Scheune am Rande der Rennbahn und bei den Stallungen auf der Nil-Insel Gezireh zurückgelassen habe, nichts zugestoßen. Man hat ihr nichts getan, obwohl man mich in jener Nacht doch verfolgte und also ganz bestimmt wußte, wo Lillian war. Man hat ihr natürlich voll Überlegung nichts getan. Mein ermordeter Bruder genügte der »Spinne«, mehr konnte sie nicht brauchen. Die Sache sah so nach einem Dreiecksdrama aus.

Ich ahne nicht, was Lillian inzwischen angegeben hat. Jedenfalls sollen wir einander gegenübergestellt werden, in einigen Tagen. Seit ich das weiß, schlafe ich schlecht, und immerzu muß ich an Lillian denken. Wie sie wohl aussieht? Was sie wohl sagen, wie sie mich wohl anblicken wird? Vielleicht habe ich ihr Unrecht getan. Vielleicht hat mein Bruder sie damals, in Kairo, nicht ganz in seine Pläne eingeweiht. Vielleicht hat sie nicht gewußt, daß Werner mich ermorden lassen wollte. Vielleicht — es gibt so viele Möglichkeiten, die Lillian immer noch entlasten. So viele Möglichkeiten, wenn man an sie glauben will …

»Oj weh«, sagte Minski.

»Was ist?«

»Wie du ausschaust. Bloß weil du an Lillian denkst.«

Ich schwieg.

Er sagte: »Du weißt, daß du jeden Grund hast, aber auch jeden, diese Frau über alles zu hassen.«

»Ja«, sagte ich. »Aber ich weiß auch, daß ich diese Frau immer lieben werde. Immer weiter. Bis ich sterbe.«

Minski murmelte etwas. Er sah mich nicht an dabei.

»Und was für Pläne wir hatten«, sagte ich. »So gute Pläne, so schöne Pläne, nicht?« Minski zuckte die Achseln. »Ja doch«, sagte ich. »Alles hattest du vorbereitet für uns, alles hast du dir ausgerechnet.«

»Ausgerechnet«, wiederholte Minski, und sein Mund verzog sich zu einem traurigen Lächeln. »Ausgerechnet. Großer Gott, hab ich mich verrechnet!«

Die Sonne schien in den Raum, und der kleine braune Falter flog weiter gegen das Glas des Fensters. Immer wieder fiel er herab. Immer wieder kam er in die Höhe. Und immer wieder stieß er von neuem an die Scheibe. Zuletzt, dachte ich, würde er wohl auf das Fensterbord fallen und dort sterben. Minski hatte gesagt, daß dieser Schmetterling schon sehr müde war.