KAPITEL DREIZEHN
Ansa fragte sich, ob dieser furchtbare Ritt überhaupt einen Sinn hatte. Würde er Shazad erreichen, ehe Goss Königin Larissa ihrem Gemahl übergab? Trotzdem käme er zu spät. Er musste Shazad finden und sie dazu bringen, ihre Flotte den Flüchtenden hinterherzuschicken. Waren selbst die besten Cabos schneller als ein Schiff, das von starken Winden nach Norden getrieben wurde? Ein jeder hatte behauptet, die fremden Schiffe wären allen anderen überlegen.
Seine einzige Hoffnung bestand darin, dass auch die besten Schiffe vom Wetter abhängig waren. Selbst um diese Jahreszeit konnte sich der Wind unvermittelt drehen oder abflauen. Ein Sturm mochte sie zwingen, die Segel einzuholen, oder sie vom Kurs abbringen.
Dagegen waren die geborgten Cabos die besten der Welt, aus den königlichen Ställen und seit Generationen auf Schnelligkeit gezüchtet. Sie hatten niemals unter den Entbehrungen gelitten, derentwegen die Steppencabos zäher und kleiner blieben. Die Tiere seiner Heimat waren widerstandsfähiger, wenn es um karge Lebensbedingungen ging, aber niemals hätten sie sich mit der Ausdauer dieser Cabos beim Langstreckenrennen messen können. Wann immer ein Cabo ermüdete, bestieg er ein neues und tauschte auch die Sättel aus, wie man es ihn bereits als Kind gelehrt hatte. Wenn ihn irgendeine Macht der Welt rechtzeitig zu Shazad brachte, dann waren es diese Tiere.
Was den Reiter anging, war er sich nicht so sicher.
Seine Wunden bluteten, aber er hatte Schlimmeres erwartet. Immer wieder musste er sich ermahnen, dass ein Krieger Schmerzen ertrug und seine Verletzungen nur oberflächlich waren. Die inneren Organe waren unversehrt geblieben. Die entsetzlich scharfe Klinge von Gasams Speer hatte nicht die Muskeln, die seine Eingeweide schützten, durchtrennt. Die Nerven waren heil geblieben. Wenn er heimkehrte, konnte er die längste Narbe vorzeigen, die ein Angehöriger seines Volkes besaß. Dazu kamen noch viele kleinere, aber er würde nicht sterben. Das sagte er sich immer wieder.
Der Tag wurde zur Nacht; die Sonne ging auf – Ansa bemerkte es kaum. Er war sich nur der Straße bewusst, des schwankenden Sattels und des Tiers, auf dem er ritt. Auch wenn er nicht wusste, ob die Sonne schien oder ob es regnete, so merkte er doch sofort, ob sein Cabo ermüdete, wie es atmete und wie schnell es ging. Ein Steppenkrieger durch und durch, gaben ihm die Cabos Kraft. An Bord des Schiffes hatte er halb tot in der Koje gelegen und sich kaum bewegt. Jetzt machte er den Ritt seines Lebens, wenngleich er sich dafür einen besseren Gesundheitszustand gewünscht hätte.
Er war sich nicht sicher, wie lange er schon unterwegs war, als er die Mauern der Hafenstadt erblickte. Der Ort war nicht groß, aber weitläufig genug, um wenigstens drei Tore zu besitzen. Er ritt zum südlichsten Tor und blieb zum ersten Mal seit vielen Tagen wirklich stehen.
Entgeistert starrten ihn die Torwächter an und ein Offizier eilte herbei, um sich das königliche Siegel anzusehen.
»Wie steht es in der Stadt?«, erkundigte sich Ansa.
»Alles ist ruhig. Keine Fortsetzung der Feindseligkeiten«, antwortete der Mann. »Die Gesandtschaft weilt noch im Palast.«
Das hörte sich viel versprechend an. Sicher wäre Gasam sofort zum Angriff übergegangen, wenn er Larissa bei sich hätte. Das Tor wurde geöffnet und Ansa ritt mit seinen Cabos hindurch. Er erinnerte sich daran, dass sich Shazads Hauptquartier auf der Spitze des Hügels befand, aber schon bald wünschte er, nach › dem Weg gefragt zu haben. Der landeinwärts gelegene Hang bestand im Gegensatz zur Seeseite aus einem unendlichen Gewirr von Häusern, Tempeln und mehrstöckigen Gebäuden, die schmale gewundene Gassen säumten. Die Soldaten, denen er begegnete, kannten sich auch nicht gut aus und die Einheimischen sprachen einen Dialekt, der schwer zu verstehen war.
Endlich ritt er über den gepflasterten Platz vor dem riesigen Gebäude. Der Springbrunnen in der Mitte plätscherte heiter vor sich hin, als wäre die Welt in Ordnung, aber ringsumher standen Soldaten, deren Cabos ihre Nasen ins Wasser steckten. Ein Soldat nahm Ansa die Zügel ab und sein Kamerad kümmerte sich um die anderen Tiere. Ansa schwenkte das königliche Siegel, stieg steifbeinig aus dem Sattel und wunderte sich, dass er noch gehen konnte. Sekundenlang stand er auf tauben Füßen und das Pflaster fühlte sich unter den weichen Sohlen der kniehohen Stiefel seltsam an.
»Brauchst du Hilfe?«, fragte ein besorgter Soldat. Er war nur ein einfacher Kavallerist, aber wie alle Mitglieder der königlichen Leibgarde aus gutem Hause und mit besten Manieren ausgestattet.
»Bitte hilf mir, die Waffen vom Sattel zu nehmen. Ich kann allein gehen.« Er hängte sich das Schwert und den Dolch um und schritt leicht auf die Lanze gestützt zum Palast. Der Wachoffizier musterte ihn misstrauisch, als er die Treppen hochhumpelte und das Siegel vorzeigte.
»Lass mich ein. Ich habe dringende Nachrichten für die Königin.«
»Ich rufe Graf Junis. Er ist der Haushofmeister«, sagte der Offizier ungerührt.
»Ich weiß, wer Graf Junis ist! Ich bin Prinz Ansa! Das ist das Siegel der Königin.«
»Richtig, aber du gehörst nicht zum königlichen Kurierkorps. Warte hier, bis Graf Junis kommt.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und sein roter Umhang flatterte im Wind. Mit schnellen Schritten eilte er davon und ließ den wütenden Ansa zurück.
»Soll ich einen Arzt rufen?«, fragte ein junger Soldat und zeigte auf die Vorderseite von Ansas Tunika. Er sah an sich herab und erblickte verkrustete Blutspuren und frisches Blut, das durch den staubbedeckten Stoff drang.
»Es ist nicht schlimm«, sagte er und rief sich ins Gedächtnis, dass er dem Ruf seines Volkes gerecht werden musste.
Wenig später erschien ein graubärtiger Mann in wallenden Gewändern. Er streckte die Hände aus. »Prinz Ansa!« Er ergriff Ansas Hände, während sich ein Soldat der Lanze annahm. »Du bist der Letzte, den wir hier erwarteten! Du solltest dich doch erholen! Hoheit, du bist ja verletzt!«
»Es ist nicht schlimm«, wiederholte Ansa. »Ich muss sofort zur Königin. Ich bringe äußerst wichtige Neuigkeiten!«
»Natürlich, natürlich. Komm mit. Nein, warte. Ich lasse eine Sänfte holen. Du solltest nicht gehen.«
»Ich gehe. Bitte führe mich zu ihr.«
»Dann folge mir.« Sie durchquerten eine große Halle und beim Anblick der hochnäsig herumlungernden Shasinn sträubten sich Ansa die Haare. Dann fielen ihm die Verhandlungen ein. Natürlich, es befand sich eine Gesandtschaft im Haus.
»Wie verlaufen die Verhandlungen?«, erkundigte er sich.
»Ach … höchst ungewöhnlich, junger Prinz. Die Königin … ist nicht mehr sie selbst, aber das wirst du merken.«
»Was?« Eine schreckliche Vorahnung befiel ihn. »Ist die Seuche zurückgekehrt? Ist sie krank?«
»Nein, als Krankheit würde ich es nicht bezeichnen, aber … nun, du wirst schon sehen.«
Je länger sie durch die labyrinthischen Gänge schritten, umso schlechter fühlte sich Ansa. Überall standen Soldaten und Gruppen von Höflingen. Alle unterhielten sich verstohlen mit leisen Stimmen. Ein Unbehagen lag in der Luft, das nichts mit dem Krieg zu tun hatte. Er hatte nevanische Adlige erlebt, die auch während einer Katastrophe größten Wert aufs Protokoll legten. Ein Krieg war nichts Ungewöhnliches. Diese Menschen sahen sich mit etwas konfrontiert, das ihnen fremd war, und wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Die Soldaten blickten grimmig drein. Sie hatten keine Schlacht verloren und keinen Kampf geführt. Dennoch stimmte etwas nicht, als wären alle in Ungnade gefallen.
Im Thronsaal teilte sich die Menge, als Ansa und Junis eintraten. Nevaner und Shasinn standen bunt gemischt. Endlich erblickte er Shazad, die am Fuße ihres Thronsessels stand und sich mit einem hoch gewachsenen Krieger unterhielt. Sie drehte sich um und das Rascheln ihres Kleids war in der plötzlich entstandenen Stille deutlich zu hören. Erschrocken starrte sie den Neuankömmling an, aber ihr Schreck war gering im Vergleich zu jenem, den Ansa verspürte, als er den Krieger erkannte.
»Gasam!«, brüllte er, ohne sich dessen bewusst zu sein. Instinktiv griff er zum Schwert und zog es aus der Scheide. Sofort kreuzten sich zwei Shasinnspeere vor seiner Kehle. Ein dritter Speer legte sich über seinen Nacken und schloss ihn in einem tödlichen Dreieck aus Stahl ein. Ein Ruck und er würde geköpft.
Shazad legte Gasam die Hand auf den Arm. »Tut ihm nichts«, sagte sie leise. »Er hat nicht erwartet, dich hier zu sehen.«
Gasam lächelte sanft und sagte etwas in seiner Heimatsprache. Die Speere verschwanden. Er wandte sich an Shazad. »Keine Angst, meine Königin. Er sieht müde aus und ist nicht bei Sinnen.«
Langsam steckte Ansa das Schwert in die Scheide und ließ die Hand sinken. Im Saal herrschte eine noch angespanntere Atmosphäre als im Rest des Hauses. Er musterte Shazad, deren Hand noch immer auf Gasams Arm ruhte, bemerkte die Blicke, die sie wechselten, und die Art, wie sie nebeneinander standen. Ansa begriff.
»Prinz Ansa, was führt dich so unerwartet hierher? Du bist noch nicht genesen.«
»Ich habe eine dringende Nachricht für Ihre Majestät«, antwortete er mit betont ruhiger Stimme. »Sie ist nur für deine Ohren bestimmt.«
Shazad sah Gasam an.
»Natürlich. Wenn es sein muss, meine Königin. Bitte ziehe dich zurück, um dir seinen Bericht anzuhören. Vielleicht solltest du Ärzte rufen lassen. Ansonsten weilt mein junger Freund nicht mehr lange unter uns.«
Sie benimmt sich, als brauchte sie seine Erlaubnis, dachte Ansa. Shazad verließ den Thronsaal und er folgte ihr. Sie betraten einen überaus luxuriös eingerichteten Raum, den er für ihr Privatgemach hielt. Sie wandte sich ihm zu.
»Ist etwas mit deinem Vater? Ist König Hael tot?«
»Nichts in der Art. Was ist passiert? Warum ist Gasam hier?«
»Gasam beschloss, die Gesandtschaft anzuführen, wie es sein gutes Recht ist. Der König und sein Gefolge stehen unter meinem Schutz. Vergiss das nicht.«
»Ich meinte, was geht zwischen euch beiden vor?«, fragte er wütend.
Ihre Miene wurde eisig. »Das geht dich nichts an. Ich bin hier, um mir deinen Bericht anzuhören, nicht umgekehrt. Jetzt sage, was du zu sagen hast, oder ziehe dich zurück.«
»Was ich gerade sah, macht es mir leichter, es dir mitzuteilen: Du hast Larissa verloren! Sie ist auf dem Weg zu ihrem Mann!«
Shazad wurde leichenblass. Sekundenlang sah sie aus, als würde sie ohnmächtig. »Wie?« Das Wort klang eher wie ein Schluchzen. Rasch berichtete er ihr, was geschehen war. Nach geraumer Zeit beruhigte sich Shazad und strich ihm sanft über den Arm.
»Du bist trotz deiner Verletzungen den ganzen Weg hierher geritten? Ich schicke sofort die schnellsten Schiffe aus, um sie aufzuhalten.«
»Natürlich werden sie den Hafen meiden«, sagte Ansa und lächelte beinahe, »und nach der Insulanerarmee suchen. Aber jetzt hast du Gasam.«
Sie sah ihn traurig an. »Gasam steht unter meinem Schutz. Wenn er möchte, muss ich ihn ziehen lassen, andernfalls verliere ich meine Ehre. Jetzt werde ich den Offizieren Befehle erteilen. Meine Diener bereiten dir ein Bad und später werden sich die Ärzte um dich kümmern. Ich weiß nicht, wie du das überlebt hast. Haels Blut muss – genau wie Gasams – mehr als menschlich sein.« Sie ging zur Tür und sah ihn mit unendlich trauriger Miene an. »Ansa, ich weiß nicht mehr, für wen mein Herz schlägt.« Dann war sie verschwunden.
Diener halfen ihm in einen prächtigen Baderaum. Dampf stieg aus Becken mit unterschiedlich heißem Wasser. Man zog ihm die Kleider aus und er schritt die Stufen zu dem heißesten Becken hinab. Dann legte er die Waffen auf den Mosaikboden und lehnte sich zurück, während die Diener ihn sanft mit weichen Schwämmen abrieben.
Während sie sein Haar sorgfältig wuschen, untersuchten mehrere Ärzte seine Wunden und äußerten großes Staunen über den schnellen Heilungsprozess. Sie meinten, Ansa wäre so zäh wie ein Langhals. Ein Barbier rasierte ihn gründlich, was nicht lange dauerte, da sein Vater einem bartlosen Volk entstammte. Nach einer Weile schickte er alle fort und lag im heißen Wasser. Jetzt gab es nichts mehr zu tun. Er hatte keinen Einfluss auf die kommenden Ereignisse. Das Gefühl war angenehm und er fragte sich, ob es einem Krieger ähnlich erging, wenn er nach dem Kampf auf dem Schlachtfeld lag und sein Lebensblut verströmte.
Allmählich döste er ein und die Bilder der letzten Monate glitten durch seine Träume, als wären die Schranken der Zeit aufgehoben und Chaos ausgebrochen. Alles geschah unabhängig voneinander, kein Erlebnis war mit einem anderen verbunden. Er sah, wie Gasams Speer auf ihn zuschwebte und wie die Mezpaner mit ihren albernen, aber gefährlichen Waffen schossen. Er sah, wie die Piraten den Kaufleuten die Kehlen durchschnitten und sich selbst, wie er friedlich durch Shazads Gärten in Kasin ritt. Er galoppierte verzweifelt durch eine stürmische Nacht und hob goldene Ketten vom Boden auf. Dann lag er in einem heißen Bad und jemand lehnte im Türrahmen. Ansas Hand glitt zum Schwertgriff.
»Du verfügst ohne Hemmungen über die Räume der Königin, Gasam. Ich wette, du verfügst auch noch über andere Dinge.«
»Richte nicht über die Lebensweise von Königen und Königinnen, Kind. Wir sind nicht wie gewöhnliche Menschen.« Er lehnte am Türpfosten, die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf leicht gesenkt, die Beine lässig gekreuzt. Wie eine Riesenschlange löste er sich aus dieser Haltung und betrat den Raum, ohne sich von der Waffe beeindrucken zu lassen. Er grinste, als er die lange Narbe sah, die sich wie eine Schärpe über Ansas Körper zog. »Wir haben einander Ehrenmale zugefügt.« Seine Finger berührten die eigene Narbe. »Das ist nur recht, denn dein Vater und ich sind Brüder.«
»Ziehbrüder als Kinder«, verbesserte ihn Ansa. »Brüder einer Kriegerbruderschaft. Aber keine richtigen Brüder.«
Gasam hockte sich neben dem Becken nieder. Er bewegte sich so geschmeidig, als wollte er dem Verletzten seine Kraft beweisen. »Hael und ich sind durch mehr verbunden als Blutsverwandtschaft. So haben wir etwa den gleichen Geschmack, was Frauen betrifft.«
Ansa zuckte die Achseln. »Das ist wenig Gemeinsames.«
»Dann ist da noch unsere Herrschaft über andere Menschen. Ich vertrieb ihn von den Inseln, ehe er sich seiner Macht bewusst wurde. Damals war er noch ein Knabe und jünger, als du es jetzt bist.«
»Ich kenne die Geschichte. Du hast ihn in eine Falle gelockt und dazu gebracht, ein heiliges Tier zu töten. Sein Mut und seine Geschicklichkeit rissen ihn ins Unglück.«
Gasam nickte lächelnd. »Das stimmt.«
»Er wurde verstoßen, als er deiner Frau das Leben rettete. Er tötete einen riesigen Langhals, eine Tat, die kein Shasinn jemals schaffte. Du hast die Gelegenheit ergriffen, um ihn loszuwerden. Kennt ihr eigentlich weder Scham noch Ehre, du und Larissa?«
»Nein, die kennen wir nicht«, versicherte ihm Gasam lachend. »Beides überlassen wir Narren und minderwertigen Menschen, die andere brauchen und sich nur sicher fühlen, wenn man eine gute Meinung von ihnen hat.« Er sah auf und starrte an die Mosaikwand, als sehe er in die Ferne.
»Wir waren Kinder: Hael, Larissa und ich. Sie war die Tochter des Häuptlings, ich war der Sohn eines einfachen Kriegers. Hael war nichts, nur ein Waisenkind. Elternlose Kinder wurden vom Stamm verachtet. Meine Familie nahm ihn auf, weil die Sitten es so verlangten. Er wollte nie ein Krieger sein, sondern ein Geistersprecher. Waisen durften aber nicht Geistersprecher werden und so trat er der Kriegerbruderschaft bei, als er alt genug war. Larissa konnte zwischen zwei Brüdern wählen und sie wählte den besseren. Sie wählte mich. Sie wusste, dass wir füreinander bestimmt waren. Ich bin der zukünftige Weltherrscher und im Vergleich zu mir ist Hael nichts wert. Jetzt weiß das auch Shazad.«
Ansa war völlig entspannt und wunderte sich, dass er keine Angst hatte.
»Wo ist Harakh?«
»Bei der Flotte, wie es seine Pflicht erfordert.« Er lachte glucksend. »Nein, er kann mich nicht zum Duell im Dornenkreis fordern oder was auch immer die Nevaner in solchen Fällen tun. Er ist nur der Prinzgemahl und das ist weniger als ein König oder auch ein Prinz. Eine regierende Königin kann ihren Gemahl fortschicken und sich einen neuen nehmen, wenn er keine Kinder zeugt. Das ist ganz gebräuchlich, und bisher haben die beiden noch keine Gören für den Thron hervorgebracht.
Das ist wirklich ein Problem für sie. Der Adel weiß, dass sie nicht ewig lebt, und sie hat keinen Erben. In einem Reich wie Neva wetzen die vornehmen Familien die Messer. Wenn sie stirbt, entbrennt der Kampf um den Thron. Einige werden versuchen, sie vorher umzubringen. Für eine Königin in dieser Lage ist es von unschätzbarem Wert, einen großen Krieger an ihrer Seite zu haben.«
»Sie hat meinen Vater, der ihr immer ein guter Freund war«, entgegnete Ansa.
»Ach, Hael liegt doch im Sterben. Ich erholte mich, aber er schwebt zwischen Leben und Tod. Falls er noch nicht gestorben ist, wird es nicht mehr lange dauern. Shazad ist vernünftig. Ein toter Verbündeter ist gar kein Verbündeter. Hael liegt in der Schlucht. Ich bin hier. Haels Krieger sind über die ganze Steppe verstreut und sehen ihn vielleicht nicht mehr als ihren König an. Meine Krieger befinden sich in Shazads Königreich und sind mir treu ergeben.«
Er sah auf Ansa herab, die Augen halb geschlossen, die Lippen kälter als Stahl. »Sage mir eines, Junge: Wer von uns ist die bessere Wahl für eine Königin, die mit dem Hintern auf einem wackligen Thron sitzt?«
»Was wird Larissa von der ganzen Sache halten?«, fragte Ansa und hoffte, den überheblichen Mann ein wenig zu verletzen.
»Ich sagte es dir bereits: Richte nicht über die Lebensweise von Herrschern, denn sie sind anders als gewöhnliches Volk. Wenn ich Larissa wiederhabe, wird auch sie es als einen guten Weg ansehen, unseren Zugriff auf das Festland zu festigen.« Er stand mit einer geschmeidigen Bewegung auf. Ansa bemerkte, dass seine Gelenke nicht knackten. Gasam ging zur Tür, drehte sich aber um, als Ansa sprach.
»Gasam, sind Larissa und du überhaupt Menschen?«
Gasam grinste vergnügt und schüttelte den Kopf. »O nein. Wir sind etwas viel besseres.« Dann verschwand er.
»Galeere steuerbord!«, brüllte der Ausguck. Larissa trat an die Reling und erblickte ein langes schmales Schiff. Die Ruder glänzten in der Sonne und bewegten sich rhythmisch auf und ab. Sie fand, dass sie wie die Flügel eines wunderschönen Insekts aussahen. Graf Goss gesellte sich zu ihr.
»Glaubst du, es holt uns ein?«, fragte sie.
»Nein, wir haben den Wind im Rücken. Sie können gar nicht schnell genug rudern, um uns einzuholen.
Selbst wenn sie es könnten, hätten sie keine Chance gegen uns.«
Ihr gefiel sein Selbstbewusstsein, obwohl sie ihn als Mann verachtete. »Es ist ein immerhin Kriegsschiff.«
Er lächelte überlegen. »Diese Nevaner mit ihren Rudergaleeren, groben Masten und einfachen Segeln! Wir kennen Geheimnisse der Seefahrt, von denen sie nichts ahnen. Wir sind allen überlegen, die über das Meer segeln.«
Warte, bis du den Mezpanern begegnest, dachte sie. Larissa beobachtete die feindliche Galeere, die sich große Mühe gab, sie einzuholen. Sie stellte sich das Dröhnen der Trommeln vor, die schwitzenden Ruderer und den Kampf von Holz gegen Wasser. Ein anregendes Bild. Sie hatte immer gern an Deck gesessen und den Ruderern zugesehen. Im Gegensatz zu Shazads Leuten waren ihre Ruderer natürlich Sklaven gewesen.
Larissa trug nur ein dünnes Tuch, das im Wind flatterte. Die Ketten waren verschwunden, aber die Ringe um den Hals, die Handgelenke und Knöchel waren noch vorhanden. Goss hatte angeboten, sie zu entfernen, aber sie hatte abgelehnt. Es war eine interessante Erfahrung gewesen, als Gefangene in Ketten zu liegen. Shazads eisige Höflichkeit und die Forderung, dass man sie mit königlicher Hochachtung behandelte, hatte sie enttäuscht. Sie hätte gerne ein paar leichte Misshandlungen ertragen. Der Junge hätte ihr liebend gerne Schlimmeres zugefügt, aber er war viel zu krank gewesen. Wir hätten ihn töten sollen, dachte sie und bedauerte die verschenkte Gelegenheit.
»Du bist hier in Sicherheit«, verkündete Goss. »Ich werde dich deinem Mann unversehrt zurückgeben.« Sein Lächeln war zweideutig, fast schon gierig. Sein Benehmen, die dauernde Nähe und die häufigen Berührungen stießen sie ab. Da sie daran gewöhnt war, dass sich Männer in sie verliebten, wusste sie genau, wie sie mit ihm umgehen musste.
»Noch eine Galeere – genau vor uns!«, schrie der Ausguck und zeigte über das Bugspriet. Larissa sah nach Norden. Eine Felsnase ragte ins Meer. Noch während das südliche Schiff einen Bogen beschrieb, um ihr auszuweichen, tauchte eine leichte Galeere dahinter auf.
»Sie werden uns einholen«, meinte Larissa.
»Das denkt der Kapitän«, höhnte Goss. »Gleich siehst du, was ich mit der Überlegenheit unserer Schiffe meinte. Majestät sollte besser unter Deck gehen. Vielleicht schießen sie mit Pfeilen auf uns.«
Sie schüttelte den Kopf. »Man hat von meiner Flucht erfahren, daher werden sie nicht riskieren, mich zu töten. Sie haben Befehl, mich gefangen zu nehmen. Nein, ich denke, sie rammen und entern uns.«
»Wie du meinst. Dann sieh zu. Es wird sicher amüsant.« Er stellte sich neben den Steuermann. Der Dreimaster segelte weiter und versuchte auch nicht auszuweichen, als wollte Goss gerammt werden.
Die Galeere kam immer näher. Bei jedem Ruderschlag waren weitere Einzelheiten zu erkennen. Das Wasser schäumte über einen Rammsporn, der wie der Kopf eines Cabos aussah. Die Bronze war grün angelaufen und mit Algen bedeckt. Der Rumpf strahlte in bunten Farben und die Rüstungen und Waffen der Soldaten funkelten im Sonnenlicht. Der Kapitän stand im Bug, zeigte mit einer Lanze und erteilte dem Steuermann Befehle. Neben ihm stand ein Trompeter, der seine Anweisungen an den Rudermeister weitergab.
Larissa stählte sich für den Aufprall, der in wenigen Augenblicken erfolgen würde. Goss sagte etwas zu seinem Steuermann und der Bug des Schiffes schwang nach steuerbord. Der Kapitän der Galeere brüllte einen Befehl, woraufhin sich der Rhythmus der Ruderschläge änderte.
»Siehst du, wie schnell das Schiff auf das Steuer reagiert?«, meinte Goss. Seine Augen glühten, und zum ersten Mal begriff Larissa, wie grausam dieser Mann war. Bei seinem nächsten Befehl schwang das Schiff wieder zurück. Der Kapitän der Galeere glaubte, sein Ziel zu verfehlen; er ließ sein Boot längsseits drehen und das Tempo verlangsamen. Larissa dachte, die Schwimmender Vogel würde um das Heck der Galeere gleiten und sich davonmachen. Sie irrte sich.
Das größere Schiff führte die Drehung nach steuerbord fort, bis das Bugspriet über dem Mittelpunkt der Galeere aufragte. Die Männer an Bord des kleineren Schiffes schrien und schleuderten ein paar Speere, als könnten sie das Unglück damit abwehren. Larissa klammerte sich an die Reling, bis ihre Fingerknöchel weiß hervortraten, und erwartete einen furchtbaren Zusammenstoß. Stattdessen hörte sie das ohrenbetäubende Splittern von Holz und lautes Plätschern. Der Dreimaster erbebte, wurde aber kaum langsamer. Holzplanken und zerbrochene Ruder flogen durch die Luft, als das Schiff die Galeere unter sich zermalmte.
Larissa blickte entgeistert nach unten, als die Hälfte des feindlichen Schiffs an ihr vorüberglitt, säuberlich von der anderen Hälfte getrennt. In dem zerborstenen Rumpf erblickte sie schreiende Männer, viele schwer verletzt, die krampfhaft versuchten, sich aus dem Wrack zu befreien. Dann segelten sie weiter und ließen die zerstörte Galeere hinter sich zurück. Die Hälften füllten sich mit Wasser und sanken. Nur ein paar Köpfe und Planken trieben auf den Wellen.
»Ein feines Manöver, nicht wahr?«, fragte Goss, der wieder neben ihr stand. Seine Männer hingen in der Takelage und jubelten aus voller Kehle.
»Aber dein Schiff hat keinen Rammsporn!«, entgegnete Larissa, die völlig aus der Fassung geraten war.
»Es braucht keinen. Derartige Kampftechniken haben wir schon vor vielen Jahren eingemottet. Eine Galeere muss ganz leicht gebaut sein, sonst ist sie unbeweglich. Bei schlechtem Wetter eilt sie in den Hafen und bleibt immer in Küstennähe. Ein Dreimaster wie die Schwimmender Vogel ist viel schwerer gebaut, um den Druck der Segel und des offenen Meeres auszuhalten.« Er klopfte mit Besitzerstolz auf die Reling. »Das Holz ist dick; der Kiel liegt tief im Wasser. Ein Dreimaster muss höher, breiter und tiefer sein als eine Nussschale von Galeere. Dieses Schiff ist doppelt so groß wie das deiner Feinde, verfügt aber mindestens über die dutzendfache Masse. Man muss sich ein wenig mit Geometrie auskennen. Es ist, als werfe man einen großen Stein in einen Korb.«
Sie nickte, von der Vorführung überwältigt. »Ich habe dich mit dem Anblick meiner Schatzkammer und mit meinem Waffenarsenal beeindruckt. Jetzt hast du mich beeindruckt.«
Er grinste und schwenkte den Federhut. »Wie schön, wenn man sich so gut versteht wie wir.«
Sie erreichten die kleine Bucht, in der man sie entführt hatte. Voller Freude erspähte Larissa am Strand ein großes Lager der Insulaner. Als sie das Schiff entdeckten, sprangen sie in die Kanus und paddelten auf sie zu. Die Schwimmender Vogel senkte die Segel und ging vor Anker. Die Krieger standen in den Kanus, sangen ein Kampflied und schwenkten bedrohlich die Speere. Urplötzlich schwiegen sie, als ihr Blick auf die kleine Gestalt an der Reling fiel. Sie strahlte und winkte mit beiden Armen. Ohrenbetäubender Jubel brach aus. Ein Kanu mit ihrer Leibwache ruderte längsseits und die Jungen streckten ihr die Arme entgegen.
»Majestät«, sagte Goss, »würdest du deine Krieger bitten, sich zurückzuhalten? Ich lasse ein Boot ins Wasser, um dich an Land zu bringen.«
»Nicht nötig.« Leichtfüßig sprang sie auf die Reling, ging in die Hocke und streckte die Arme nach hinten.
»Nicht!«, brüllte Goss entsetzt.
Larissa beachtete ihn nicht. Mit einem anmutigen Sprung tauchte die Königin der Inseln in die Tiefe. Es sah aus, als wollte sie fliegen. Dann fiel sie in den Wald aus Speeren. In letzter Sekunde wichen die tödlichen Spitzen zur Seite und sie wurde von dreißig oder vierzig Händen aufgefangen.
Lachend stellten die Männer sie auf die Beine und die Königin umarmte sie, als wären es sehnlichst vermisste Liebhaber. Sie berührten sie, als könnten sie nicht fassen, sie zu sehen. Schließlich hoben die Krieger sie auf und stemmten sie hoch über ihre Köpfe, während sich die übrigen Kanus im Kreis um sie versammelten. Mit fröhlichem Gesang paddelten sie zum Strand zurück. Larissa winkte Graf Goss zu. Er winkte mit der grau behandschuhten Hand zurück, ein ironisches Lächeln auf den dünnen Lippen.
Larissa sprang an Land und brauchte geraume Zeit, um die jubelnden und singenden Männer zu beruhigen. »Wo ist der König?«, schrie sie. Im gleichen Augenblick betrat eine Gruppe Offiziere das Lager. Sie sah Gasam nicht, aber der Anführer war ihr gut bekannt.
»Was ist das für ein Lärm?«, brüllte der hoch gewachsene General. Dann fiel sein Blick auf Larissa. »Meine Königin!« Mit einem Freudenschrei rannte er auf sie zu und ergriff ihre Hände.
»Pendu, wo ist mein Mann? Diese Idioten sind so aufgeregt, dass ich nichts aus ihnen herausbekomme.«
»Wie bist du entkommen? Ach, erzähle es mir später. Ich habe viel zu berichten, aber das ändert jetzt natürlich alles.«
»Ändert was?«, fragte sie lachend und mit funkelnden Augen. »Komm, gehen wir irgendwo hin, wo wir uns in Ruhe unterhalten können.«
Sie verließen die jubelnde Menge und gingen ein Stück weit in den schattigen Wald hinein. Hier waren nur Vögel und umherhuschende kleine Tiere zu hören.
»Der König weilt in jener Stadt, in der die Flotte von Neva vor Anker liegt. Ihr müsst an ihm vorübergesegelt sein.«
Sie blieb entgeistert stehen. »Was macht er dort?«
»Er führt eine Gesandtschaft an, die über deine Freilassung verhandeln soll.«
»Sicher, Verhandlungen leuchten mir ein, aber warum ist er selbst gegangen? Nicht einmal Gasam ist so verrückt!«
»Doch, ich fürchte, das ist er, Majestät. Dieser Pirat, Ilas von Nar, setzte ihm die Idee in den Kopf. Wie immer machte der König einen kleinen Feldzug daraus.«
Immer war es die Idee eines anderen, grübelte Larissa. Nie hätte sie gedacht, dass Gasam auf jemanden wie Ras hören würde. Sie seufzte. »Erzähle mir alles.«
»Ich gehörte zur ersten Gruppe. Wir wagten uns in die Höhle der Löwin und vertrauten auf das Versprechen der Königin. Ich hätte ihr niemals vertraut, aber der König behauptete, man könne sich auf ihr Ehrenwort verlassen. Als ich ihm sagte, ihre eifersüchtigen Adligen wären vielleicht weniger empfindlich, lachte er nur vergnügt.«
»In mancher Beziehung wird Gasam nie erwachsen. Sprich weiter.«
Pendu erzählte von den Feierlichkeiten und Festessen, wie die Königin Gasam gegenüber aufgetaut war und dass die Offiziere jetzt frei zwischen der Stadt und dem Lager hin und her eilten.
»Jetzt hängt Shazad also an seinem Arm und lächelt ihn an?« Sie grub die Zehen in den weichen Waldboden. Nach den langen Tagen an Bord war es ein gutes Gefühl.
Pendu fühlte sich außerordentlich unbehaglich. »Ja, meine Königin. Es tut mir leid.«
»Leid? Mein Gemahl tat, was er für richtig hielt, um mich zurückzubekommen. Von mir aus kann er fünfzig Königinnen in sein Bett holen, wenn es seinem Vorteil dient. Er ist kein gewöhnlicher Mann. Glaubst du etwa, dass Dinge, die er mit einer gewöhnlichen Frau tut, etwas zwischen ihm und mir ändern?«
»Natürlich nicht, meine Königin«, erklärte Pendu hastig.
»Lass mich eine Weile allein.«
»Wie Majestät befiehlt.« Er verneigte sich und ging davon. Sie wusste, dass ihre Krieger den Wald außer Sichtweite durchkämmten, um sie vor jeder Gefahr zu schützen.
Jetzt verstand sie, was geschehen war. Sie dachte an Shazad und sah die wunderschöne junge Prinzessin vor sich, die sie mit großer Freude als Sklavin gehalten hatte. Selbst damals war sie eine wilde, leidenschaftliche Frau gewesen, tapfer genug, den eigenen Vater zu retten. Sie hatte seine verräterischen Offiziere töten lassen und die Flucht des alten Königs gedeckt, wobei sie selbst in Gefangenschaft geraten war. So war sie Larissa in die Hände gefallen.
Inzwischen war sie eine Frau mittleren Alters. Die Jahre und die Verantwortung hatten ihre Spuren hinterlassen. Dabei hatte sie an innerer Kraft gewonnen, musste aber die Feuer ihrer Leidenschaft unterdrücken, wie es sich für eine zivilisierte Herrscherin ziemte. Larissa wusste besser als jede andere, dass bestimmte Leidenschaften niemals versiegten. Sie hatte ihre Gelüste immer ausgelebt. Bei Shazad war es, als glühten heiße Kohlen unter einer Schicht Asche.
Gasam hatte die Frau auf den ersten Blick durchschaut. Er durchschaute sie noch immer. Er war einfach in ihren Palast spaziert und hatte die Asche fortgeblasen. Ihr Leben lang hat sie darauf gewartet, dachte Larissa. Gasam in sich zu spüren war schon immer ihr geheimster Traum. Er war die gesichtslose Kreatur, die ihr des Nachts erschien und sie mit schmerzenden Lenden erwachen ließ. Gasam, Shazad, Larissa, Hael … ihre Schicksale und Körper hatten sich im Laufe der Zeit miteinander verwoben und die Welt verändert.
Sie war Pendu gegenüber nicht ehrlich gewesen. Gewöhnliche Frauen – aber Shazad war keine gewöhnliche Frau. Sie war nicht so schön wie Larissa, besaß aber mehr Leidenschaft, als man ihr zutraute. Außerdem war sie eine mächtige Königin. Shazad sah sich sicherlich an Gasams Seite sitzen, Thron an Thron. Das durfte nicht sein.
Larissa zweifelte keine Sekunde an Gasams Liebe. Ihm war es bestimmt, die ganze Welt zu erobern, mit ihr an seiner Seite. Sollte Shazad die kleine Liebelei noch ein wenig genießen. Sie und Larissa waren seit Jahren Erzfeindinnen und Shazad sollte einmal im Leben erfahren, wie wahre Ekstase aussah. Dann würde Larissa sie töten.
Sie verscheuchte die finsteren Gedanken. Alles änderte sich, wie Pendu gesagt hatte. Was geschah, wenn Shazad erfuhr, dass Larissa lebte und sich wieder inmitten ihrer Shasinn befand? Würde sie Gasam gefangen nehmen? Larissa teilte sein Vertrauen in Shazads Ehrenwort nicht. Sie musste ihm eine Nachricht schicken und ihn so schnell wie möglich aus der Stadt holen. Sie überlegte fieberhaft und dachte an Hael.
Ansa fühlte sich fast wieder gesund. Seit der Rückkehr in den Palast war die Heilung atemberaubend schnell fortgeschritten. Ein königlicher Medikus erklärte, der lange Ritt hätte die Heilkräfte der Natur, die in der Leber saßen, angeregt. Ansa war der Meinung, dass nichts so gut wie der Ritt auf einem feinen Cabo war, um wieder zu Kräften zu kommen. Steppenkrieger und Cabo waren eins und gaben einander Kraft und Ausdauer. Aus welchem Grund auch immer, seine Schmerzen ließen nach und die Wunden bluteten nicht mehr. Die lange Narbe, die sich über seinen Körper zog, leuchtete in grellem Rot und auch die übrigen kleineren Wunden verblassten allmählich. Er trainierte Tag für Tag, um die Muskeln geschmeidig zu halten. Er ritt und übte sich mit Schwert, Dolch, Bogen und Lanze. Wenn es zum Kampf kam, wollte er bereit sein.
Es konnte nicht mehr lange dauern. Während Shazad mit Gasam herumtändelte, spitzte sich die Lage zu. Die Soldaten murrten über die Untätigkeit und langweilten sich zu Tode. Die Anwesenheit der Shasinn und die ungewöhnliche Tatenlosigkeit der Königin verstörten den Hofstaat.
Schlimmer noch: Das Flüchtlingsschiff war auf dem Weg nach Norden gesichtet worden. Ein Bericht besagte, dass es eine nevanische Galeere versenkt hatte. Letzteres war unglaublich, aber die Ausländer wussten um seemännische Geheimnisse, die kein Einheimischer kannte. Sicher befand sich Larissa längst bei den Insulanern.
Ansas einzige Hoffnung bestand darin, dass Graf Goss Larissa als Geisel hielt und eine gewaltige Belohnung aus den legendären Schatzkammern der Shasinn auf den Inseln forderte. Das würde zum Charakter des Verräters passen. Allerdings glaubte Ansa nicht, dass sich diese Hoffnung erfüllte. Eine Königin von Neva mit ihrer ganzen Macht war eine Sache. Aber dass ein Mann wie Goss mit einem einzigen Schiff und dessen Besatzung Larissa ihren Kriegern vorenthielt, war fast unmöglich. Zehntausende würden mit Freude ihr Leben für sie hingeben.
Eines Nachmittags, als er außerhalb der Stadtmauern ritt und ein wildes Krummhorn jagte, wurde er auf dem Rückweg zum Osttor aufgehalten. Vier Berittene versperrten ihm den Weg. Zwei von ihnen kannte er: einen hohen Beamten des Hofes und einen General der Fußtruppen. Der dritte Mann trug die Uniform eines Marineoffiziers, der vierte kostbare Zivilkleidung. Er zügelte sein Cabo und hielt den Bogen schussbereit am Sattel.
»Guten Tag, werte Herren. Ihr habt keine Jagdwaffen bei euch. Reitet ihr zum Vergnügen aus?«
»Wir grüßen dich, Prinz Ansa der Steppe«, sagte der Beamte. »Wir und ein paar Gleichgesinnte möchten uns mit dir in einer höchst dringenden Angelegenheit unterhalten, bei der es um die Sicherheit unserer beider Länder geht. Erweist du uns die Ehre, uns zu begleiten?«
Ansa wusste, dass er mit etwas Derartigem hätte rechnen müssen. »Ist das Treffen geheim?«
»Ich fürchte, so ist es«, antwortete der Höfling. »Wenn du nicht mitkommen willst, sage es unumwunden und wir reden nicht mehr darüber. Wir bitten dich nur, der Königin nichts zu erzählen.«
»Zurzeit rede ich kaum noch mit der Königin. Ja, ich begleite euch.«
Sie folgten einem schmalen Pfad, der in die Hügel führte. Ansa fragte sich, was passiert wäre, wenn er sich geweigert hätte. Die Männer hatten ihm den Weg verstellt und vielleicht lauerten Bogenschützen in den Bäumen oder im dichten Unterholz. Prinz Ansa wäre einfach während eines Jagdausflugs verschwunden, vielleicht übereifrigen Insulanern oder umherstreunenden Banditen zum Opfer gefallen, die sich die Kriegswirren zunutze machten.
Sie erreichten eine Lichtung, auf der etliche Cabos angebunden waren. Männer standen oder saßen herum, manche hatten Klappstühle mitgebracht. An den kostbaren Rüstungen und Gewändern erkannte Ansa, dass es sich nur um hochrangige Leute handelte. Bei ihrer Ankunft erhob sich ein grauhaariger Veteran und begrüßte sie.
»Ich freue mich, dass du gekommen bist, Prinz Ansa«, sagte der General.
»Ich habe mit etwas Ähnlichem gerechnet, General Chutai.«
»Gut. Dann weißt du, worum es geht. Bitte geselle dich zu uns.« Ansa stieg aus dem Sattel und Chutai stellte ihm die anderen Männer vor. Die Hälfte der Anwesenden kannte Ansa bereits von Versammlungen. Die übrigen waren hohe Offiziere der Marine und der Armee.
»Wir dürfen uns nicht zu lange von unseren Posten entfernen«, begann Chutai. »Fassen wir uns kurz. Seit einiger Zeit benimmt sich die Königin sehr eigenartig.«
»Ich würde es anders bezeichnen«, warf der Beamte ein.
»Nun, wie man es auch nennt, die Lage ist gefährlich«, fuhr Chutai fort. »Gasam, der seit über zwanzig Jahren unser Todfeind ist, führt im Palast das Kommando.«
»Er beherrscht die Königin!«, rief ein Flottenadmiral, und die Männer stimmten ihm halblaut zu. Einige knurrten wütend.
»Sagen wir, die Ereignisse im Palast gehen weit über den Empfang einer Gesandtschaft hinaus. Es gibt keine Verhandlungen über die Freilassung der Gefangenen, obwohl die Herrscher viel Zeit miteinander verbringen.«
»Augenblick!«, unterbrach ihn Ansa. »Ich vermisse Admiral Harakh. Als Prinzgemahl und Kommandeur der Flotte sollte er hier sein!«
Unbehagliches Schweigen senkte sich über die Lichtung. Nach einer Weile sagte der Beamte: »Graf Harakh ist der tapferste und treueste Admiral der Flotte, aber in dieser delikaten Angelegenheit haben wir entschieden, dass seine Anwesenheit nicht angebracht ist.«
Eine höfliche Art zu sagen, dass der gehörnte Ehemann unzuverlässig ist, dachte Ansa.
»Genug davon!«, erklärte Chutai. »Was sollen wir tun? Ich möchte unsere Königin nicht verraten, aber ich halte sie im Augenblick für unzurechnungsfähig. Ich denke, es ist zu ihrem Besten, wenn wir sie wieder auf den richtigen Weg bringen.«
»Ich finde, wir sollten nicht vor extremen Maßnahmen zurückschrecken«, meinte der Höfling. »Die Ermordung einer Königin ist eine schreckliche Tat, aber es wäre viel schlimmer, wenn die Insulaner unser Land regieren.«
Ansa fragte sich, aus welcher Familie der Mann stammte. Er machte den Vorschlag sicher nur, weil er sich eigene Vorteile davon versprach.
Chutai schnaubte verächtlich. »Das würde einen Bürgerkrieg heraufbeschwören. Gibt es einen Thronanwärter, dessen Anspruch stark genug ist, um ohne Krieg auf den Thron zu kommen? Glaubt irgendjemand hier etwa nicht, dass sich die Insulaner einen Bürgerkrieg zunutze machen würden?«
»Nein, es gibt keine starken Anwärter«, antwortete ein General. »Königin Shazad hat sie schon vor Jahren beseitigt.«
»Das war auch gut so!«, erklärte Chutai voller Überzeugung. »Freunde, wir wollen etwas unternehmen, lieben einander aber nicht genug, um einen von uns als Nachfolger Shazads vorzuschlagen. Reden wir also vernünftig.«
»Ich glaube, Graf Chutai hat Recht«, sagte Ansa. »Ich bin Ausländer, aber mein Vater und Gasam sind seit ihrer Kindheit Feinde. Nachdem ich Larissa gefangen nahm, hatte Graf Chutai schon bei der ersten Versammlung Recht mit dem, was er sagte.« Er hielt es für klug, sie daran zu erinnern, wer die Frau entführt hatte. »Er sagte, sie solle getötet werden, und genau so hätte es sein sollen. Sie ist geflohen und Gasam weiß es bestimmt schon. Auch Gasam hätte sofort in Ketten gelegt oder umgebracht werden sollen. Ich respektiere das Ehrgefühl der Königin, aber was die beiden Ungeheuer angeht, so ist es unangebracht.«
»Aye, aye!«, stimmten viele Offiziere zu.
»Prinz Ansa«, meldete sich wieder der Beamte zu Wort, »während mein Respekt für dich grenzenlos ist und wir deinen Rat zu schätzen wissen, so bist du – wie du selbst gesagt hast – ein Ausländer. Deine Stellung als Prinz des Steppenvolkes ist für uns von größter Wichtigkeit. Dein Vater, König Hael, und unsere Herrscherin sind alte Freunde und Verbündete. Sie haben oftmals Seite an Seite gekämpft.«
»Wir möchten wissen«, unterbrach ihn Graf Chutai, »was dein Vater unternehmen wird, wenn wir gegen unsere Königin vorgehen. Wir möchten die Invasion der Insulaner nicht gegen einen Sturmangriff der Caboreiter eintauschen. Natürlich ist der Gesundheitszustand König Haels zu bedenken, aber noch vor wenigen Monaten hielten wir Gasam für einen toten Mann. Und was ist daraus geworden?«
»Alles hängt von der Art eurer Maßnahmen ab«, sagte Ansa, der seine Worte sorgfältig wählte. »Wenn Königin Shazad unter Arrest gestellt wird, bis die Angelegenheiten der Insulaner geregelt sind, wird mein Vater nichts unternehmen. Wird sie aber getötet oder schwer verletzt, müsst ihr Schlimmes erwarten.« Er war sich nicht sicher, ob das stimmte. So groß die Freundschaft zwischen Shazad und seinem Vater auch war – Hael mochte die Insulaner als zu große Bedrohung ansehen, um sich um Shazad zu sorgen. Ansa hoffte, mit seinen Worten die schlimmsten Hitzköpfe zur Vernunft zu bringen.
»Ich werde nicht zulassen, dass unsere Königin verletzt wird«, bekräftigte Graf Chutai. Ein paar Männer nickten zustimmend. Andere sahen zweifelnd drein.
»Meine Freunde«, fuhr Ansa fort, »wir reden zu viel über Königin Shazad und ihr seltsames Benehmen. Gasam ist der wahre Bösewicht. Dieser Mann beeinflusst alle und jeden zum Schlechten. Die Shasinn waren ein einfaches Volk von Kriegern und Hirten, ehe er ihr König wurde. Er sieht die Welt als Spielplatz an und wurde nur von seinem Erzfeind Hael in die Schranken verwiesen.« Er sah, wie ein paar Offiziere sich empört aufrichteten, und setzte hinzu: »Und natürlich auch durch die tapfere Marine und die Armee von Neva. Fest steht eines: Beseitigt Gasam und die Königin kommt wieder zur Vernunft.«
»Ich bin dafür!«, rief Chutai.
»Wenn sie ihr Ehrenwort bricht, werden Köpfe rollen«, meinte der Beamte.
»Dann müsst ihr jetzt beweisen, welches Opfer ihr für euer Land bringen wollt.« Ansa sah sich um und entdeckte wenig Begeisterung.
»Leider ist der Insellanghals nicht so einfach zu töten«, sagte Chutai, »denn er ist von Shasinn umgeben. Zwar ist er kein von Dämonen geschützter Gott, aber ich halte es für möglich, dass er sich den Weg freikämpft, selbst wenn die ganze königliche Leibwache ihn bedrängt.«
»Meine Herren, vielleicht weiß ich eine Lösung«, erklärte der Höfling.
»Dann verrate sie uns.«
»Nun, die Königin würde nicht zögern, einen von uns hinzurichten, wenn er ihr Ehrenwort verletzt, aber bei unserem jungen Freund Prinz Ansa ist das etwas anderes. Er ist kein Untertan. Er ist König Haels Sohn und hat im Krieg vorzügliche Dienste geleistet, denn immerhin entführte er Königin Larissa.« Der Mann breitete die Arme aus. »Bestimmt würde unsere Königin ihn bloß für einige Jahre vom Hof verbannen, wenn er Gasam umbringt.«
Alle starrten Ansa an, der sich völlig entblößt vorkam.
»Ja, er kämpfte zweimal gegen Gasam«, meinte Chutai. »Das ist mehr, als jeder Lebende, von seinem Vater abgesehen, behaupten darf. Aber ich weise euch darauf hin, dass es ihm nicht gelang, Gasam zu töten, und bei der letzten Begegnung wurde er beinahe umgebracht.«
Der Beamte winkte ab. »Ich wollte nicht etwas so Törichtes wie ein Duell vorschlagen. Das ist viel zu riskant. Nein, die Steppenkrieger sind für ihre Schießkunst berühmt. Seht euch Prinz Ansas großen Bogen an, der am Sattel hängt. Gasam bewegt sich überall im Palast und in den Gärten völlig frei und wird ein gutes Ziel abgeben.«
»Das ist feige!«, rief ein Offizier.
»Dummes Zeug!«, blaffte Chutai. »Einen Insulaner zu töten ist nichts als Ungeziefervernichtung! Wenn Prinz Ansa das Untier mit einem Pfeil durchbohrt, schlage ich ihn für sämtliche Orden und Ehren vor, die es beim nevanischen Militär gibt. Niemand wird seinen Mut in Frage stellen.«
»Dann sind wir uns einig?«, fragte der Beamte so hastig, dass er Ansas Misstrauen erregte. Doch Ansa brannte auf eine Gelegenheit, die Welt ein für alle Mal von Gasam zu befreien. Er würde auf die Ehre verzichten, ihn im Zweikampf zu besiegen. Genau wie die anderen zweifelte er daran, es zu schaffen. Wenn es jedoch gelang, ihn aus dem Weg zu räumen, war Larissa sicher nicht in der Lage, die Inselarmee ohne den König lange zu befehligen.
»Wann?«, fragte Chutai. »Wahrscheinlich bereitet die Inselschlampe schon einen Angriff auf den Hafen vor. Vielleicht erfährt Gasam gerade, dass sie geflohen ist, und macht sich zur Abreise bereit.«
»Der Prinz muss ihn so schnell wie möglich töten. Alles andere erledigen wir«, sagte der Beamte.
»Was meinst du damit?«
»Wir sorgen dafür, dass dir nichts geschieht. Wir kümmern uns um die Shasinnleibwache.«
»Eine gute Idee. Auch wenn niemand zu sehen ist, wissen sie, nach wem sie suchen müssen, wenn ihr König von Pfeilen durchbohrt wird.«
Er sprach ruhig, aber mit tödlichem Ernst. Zwar hatte er sich gut erholt, war aber noch nicht in Bestform. Ein halbes Dutzend wütender Shasinn würde ihn mit Leichtigkeit erledigen.
»Wir kümmern uns darum«, versicherte der Höfling erneut. Ansa nahm sich vor, ihm keinesfalls zu trauen.
Er ritt in weitem Bogen durch die Hügel und zur Stadt zurück. Die Verschwörer kehrten auf unterschiedlichen Wegen zum Hafen oder zu ihren Einheiten zurück. Ansa entdeckte die zum Nordtor führende Straße und trabte angenehm erschöpft zum Hafen, ein fettes Krummhorn am Sattel.
Wenige Meilen vor dem Stadttor überholte ihn ein junger Shasinn. Er trug den Graskatzenumhang der Kuriere und an der Speerspitze hingen die weißen Federn, die seine Neutralität bekundeten. Er lief an dem Reiter vorbei, ohne ihm einen Blick zu schenken. Die bronzenfarbenen Haare waren in unzählige winzige Zöpfe geflochten, die im Takt der langen, mühelosen Schritte auf und ab hüpften.
Ansa befürchtete, dass der Junge auf dem Weg zu Gasam war. Er nahm den Bogen vom Sattel und legte einen Pfeil an die Sehne. Langsam spannte er sie, während seine frisch verheilten Wunden protestierten. Die Straße war schnurgerade – ein einfacher Schuss. Die Haut des Jungen schimmerte im Sonnenlicht wie pures Gold. Er war zierlich und höchstens vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Die anmutigen, geschmeidigen Bewegungen verliehen ihm einen Hauch von herzergreifender Schönheit.
Zoll für Zoll ließ Ansa die Sehne wieder zurückgleiten. Chutai hatte die Wahrheit gesagt, als er den Mord an Insulanern mit Ungeziefervertilgung verglich. Die Shasinn waren geifernde Bestien, Feinde aller Menschen. Dennoch war ihre natürliche Schönheit daran schuld, dass aus der unumgänglichen Vernichtung eine Tragödie wurde. Der Tod in der Schlacht war eine Sache, aber einen feigen Mord brachte Ansa nicht über sich. Er ließ den Jungen am Leben.
Ganz bestimmt würde er Gasam gegenüber keine Skrupel hegen. Gasam war anders.