13. May Poling

Rebecca steuerte den alten Cadillac auf die Route 290. Der spätnachmittägliche Verkehr war voller Pendler. Hinter ihnen leuchtete die Sonne und brachte die beiden Hochhäuser der Stadt wie Diamanten zum Funkeln.

Charlie schaltete Rebeccas Handy aus und gab es ihr zurück.

»Und? Hat Paul dir die Adresse gegeben?«

»Ja. Sie ist in der Water Street. Zehn Minuten von hier.« Charlie spielte mit seiner Türverriegelung.

»Könntest du das lassen, bitte?«

»Entschuldigung.«

Er schaute über die Schulter nach hinten zu Rose, die mit unergründlicher Miene starr aus dem Fenster guckte. Er begann am Reißverschluss seiner Jacke zu fummeln.

»Du bist nervös.«

»Die letzten Tage waren ziemlich seltsam.«

»Man käme nie auf die Idee, dass sie nicht echt ist«, sagte Rebecca leise. »Das heißt, ich meine, nicht menschlich.«

Charlie nickte.

»Die von Paul ist ganz anders als sie.«

»Sie hat eine Menge durchgemacht«, sagte Charlie.

»Ja.«

Rebecca bog zur Water Street ab, in die staubigen, leeren Seitengassen. Zeitungen wehten wie Steppenläufer-Unkraut die Straße entlang. Sie fuhren an unfreundlichen Torwegen und finsteren Vorhallen vorbei, an blätterndem Gipsputz und Backsteinfassaden, an mit schweren Gardinen verhängten Fenstern und Schildern von längst verschwundenen Bäckereien und Hotdog-Buden.

»Siebenhundertfünfzigeinhalb«, sagte Charlie. »Da ist es.«

Rebecca fuhr an den Straßenrand.

Das Gebäude war schmal wie ein Bleistift und verfallen, es nahm die eine Hälfte eines verwilderten Grundstücks zwischen zwei großen Lagerhallen ein.

»Rose?«

Rose tauchte abrupt aus ihrer Tagträumerei auf. »Oh. Danke, Rebecca.«

»Immer gerne, Süße.« Sie lächelte warm in den Rückspiegel. »Ruf mich an, ja? Wir machen wieder was zusammen.«

»Gern.«

Rose stieg aus. Charlie räusperte sich.

Er und Rebecca sprachen gleichzeitig:

»Hör mal …«

»Schau mal …«

»Wir hatten keine Gelegenheit, zu reden«, wagte sich Charlie vor. »Ich bin nicht sehr geschickt, was das Reden mit Mädchen angeht.«

»Du kannst ja mit Rose reden.«

»Sie ist … also, sie ist wohl die einzige Freundin, die ich habe«, sagte Charlie. »Ziemlich schlapp, was?«

»Na ja, du solltest schon mindestens zwei haben.«

Er sah Rebecca über die Ränder seiner Brille an, und sie lächelte. »Ruf mich an, okay?«

»Mach ich.«

»Versprich es.«

»Ich verspreche es.«

Sie rollte mit den Augen. »Du bist auch nicht so furchtbar anders als andere Jungs, weißt du.« Sie stieß seine Tür auf. »Jetzt steig aus, du Penner.«

Charlie trat auf die Straße hinaus. Er beugte sich noch einmal durchs offene Fenster in den Wagen. »Danke, Rebecca.«

Sie lächelte, war unsicher, was sie sagen sollte – und warf ihm einen Filmsternchen-Kuss zu. »Wir sehen uns, Mister Sexprotz.«

Nummer 750 ½ hatte von außen eine schmutzige Rostfarbe. Eine Reihe stiftförmiger Schalterknöpfe war an der Wand im Eingangsbereich aufgereiht, Buchstaben von A bis Z. Charlie drückte auf P.

»Ja?«, antwortete die Stimme einer jungen Frau.

»Wir wollen zu May.«

»Hirr niemand heißt sso.« Sie hatte einen breiten Latinoakzent.

Charlie drückte wieder auf den Knopf.

»Bitte. Sie muss meiner Freundin helfen.«

»Ssie nicht da. Danke. Widerrssehn.«

»Was machen wir jetzt?«, wollte Rose wissen.

»Weiß ich nicht.«

»Deine Frreundin haben Nummerr?« Die Stimme war wieder da.

»Entschuldigung. Was?«

»Ssie haben Nummerr? Auf ihrre Hand?

»Eine Nummer auf ihrer Hand?«

Rose hielt ihre Hände hoch. Da waren keine Nummern. Charlie sah genau hin. »Zeig mal deine Handflächen«, sagte er und nahm ihre Hand. Er untersuchte ihren Leberfleck. Wenn er ihn hin- und herdrehte und die Augen zusammenkniff …

»Ja!«, sagte Charlie und drückte auf den Knopf. »Sie hat eine Nummer.«

»Tatsächlich?«, sagte Rose und dehnte die Hautpartie. »Wo denn?«

»Was fürr Nummerr?«

»Es ist eine Eins. Sie hat eine Eins auf der Handfläche.«

»Nurr eine Einss?«

»Nur die Eins«, sagte Charlie.

Eine lange Pause entstand. Als die Stimme wieder sprach, war der Akzent verschwunden. »In Ordnung, kommt rauf.«

Ein dumpfes Summen ertönte, und die Tür ging auf. Sie stiegen eine schmuddelige Treppe hinauf, gingen an graffitibeschmierten Wänden entlang. Leere Flaschen und Plastikbecher sammelten sich in den Ecken. Schließlich erreichten sie die Tür, die mit P gekennzeichnet war. Sie stand einen Spaltbreit offen.

Das Apartment war sauber und sehr hell. Schwarz-Weiß-Fotos von alten Gebäuden hingen an den Wänden. Ein Couchtisch mit Zeitschriften stand da, ein Sofa und Klappstühle. Es sah aus wie in einer Arztpraxis.

Sechs Paare saßen dort und warteten. Charlie erkannte Martin Clark, einen weiteren Neuntklässler von Saint Seb, und Derek Fini aus seiner Klasse. Derek hatte ein Muttermal; Martin hatte eine fast irritierend hagere Statur und ausgemergelte Gesichtszüge. Die übrigen vier Jungs – Charlie kannte sie nicht von Saint Seb – waren übergewichtig, verpickelt oder teigig blass. Jeder war auf irgendeine Weise unattraktiv, aber neben jedem saß ein ausgesprochen hübsches Mädchen, eine echte Granate, die ihrem Partner hingebungsvoll die Hand streichelte, seinen Arm hielt oder ihm die Hand aufs Knie legte.

Als sie zur Tür hereinkamen, hoben sich ein Dutzend Augenpaare und sahen ihnen entgegen.

»Oh.« Das Wort kullerte Rose aus dem Mund wie eine Luftblase und stieg zur Zimmerdecke auf.

»Komm, suchen wir uns einen Platz.«

Sie setzten sich gegenüber von Derek und einer Platinblonden mit der Figur eines Supermodels, seiner Gefährtin.

Sie war identisch mit der Gefährtin von Paul Lampwick.

»Hey, Charlie«, sagte Derek. Er hielt die Hand seiner Gefährtin mit schraubstockartigem Griff umklammert. Es schien sie nicht zu stören. »Ich wusste nicht, dass du eine hast.«

Rose und Charlie tauschten verlegene Blicke.

Dereks Blick wanderte zwischen ihnen hin und her, dann nickte er. »Ah, ich verstehe. Sie ist brandneu, was? Genau. Ich hab meine letzte Woche gekriegt. Ich will ein Full House. Knutschen, anfassen, alles. Na ja, ich weiß, du kannst nicht alles mit ihnen machen. Aber du kannst eine Menge machen auch ohne eine … du weißt schon.«

»Wie heißt du?«, fragte Rose die Gefährtin von Derek. Ihr Gesicht hellte sich auf, und sie wandte sich Rose zu.

»Hallo, ich bin Lily.« Sie streckte eine Hand zum Händeschütteln vor.

»Rose«, sagte Rose. Lily verlegte sich wieder darauf, ins Leere zu starren.

Derek strahlte. »Ist sie nicht großartig?«

Lily sah aus wie ein Zombie. Alle Mädchen sahen so aus. Die Hellbrünette, die Martins Arm hielt, schien halb zu schlafen. Es standen nur ein paar Modelle zur Auswahl. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums, neben einem Jungen mit Ohren so groß wie Autotüren, saß eine weitere Lily. Es gab zwei identische Brünette mit schokoladenfarbener Haut. Zwei mit nachtschwarzem Haar und milchweißer Haut.

Rose kam ihr Albtraum wieder in den Sinn – die endlosen Reihen von Körpern. Sie hatte im Traum die Gesichter nicht gesehen, jetzt konnte sie es. Reihen von Blondinen, Reihen von Brünetten, Reihen von Mädchen mit Haaren wie ein Ölteppich. Und sie wusste auch ihre Namen. Lily. Andere Namen tauchten vor ihr auf wie zu Boden schwebende Blütenblätter. Violetta. Daisy. Sakoras kleine Blumen. Hintereinander aufgereiht.

Aber es gab sonst keine Rose.

»Bin ich … bin ich auch so?«, flüsterte sie Charlie ins Ohr.

»Nein«, flüsterte Charlie zurück. »Kein bisschen.«

Am entgegengesetzten Ende des Raums öffnete sich quietschend eine schwere Metalltür. Ein klein gewachsenes junges Mädchen mit kurzen schwarzen Haaren tauchte auf. Sie trug Latzhosen, ein Batik-T-Shirt und offene Sneakers. Grinsend streifte sie ein Paar Schweißerhandschuhe ab. Das, dachte Charlie, musste May Poling sein. Die auf Gefährtinnen spezialisierte Schwarzmarkt-Technikerin.

»Fein, fein, Leute, wer ist als Nächstes dran?«

Derek hob die Hand.

Mays wasserblaue Augen wanderten durch den Raum und blieben an Charlie und Rose hängen. Ihr Grinsen Marke ›verrückte Wissenschaftlerin‹ verschwand.

»Holla, Moment mal.« Mit drei Schritten war sie bei ihnen. »Wer ist denn dieses Traumbild

»Äh …«, sagte Charlie.

»May Poling.« Sie schüttelte Rose die Hand. »Ich bin Sternzeichen Fisch und sehr geschickt mit den Händen. Und du bist« – sie betrachtete Rose von oben bis unten – »ein absolutes Prachtstück

Roses Wangen nahmen die Farbe ihrer Haare an. »Oh … vielen Dank.«

»Komm, du zuerst«, sagte sie und zog Rose hoch. »Du kannst deinen Jungen mitnehmen«, sagte sie und machte eine vage Handbewegung in Charlies Richtung.

»Aber …«, wandte Derek ein. »Aber wir warten schon seit einer Stunde hier.«

»Ts, ts, Mister Fini. Alles zu seiner Zeit.«

Im angrenzenden Raum standen Arbeitstische aufgereiht. Regale mit Metallteilen bedeckten die Wände. Erinnerte das Wartezimmer an eine Arztpraxis, so war das Labor eine Autowerkstatt. Drahtrollen hingen von der Decke, klobige Geräte piepsten und summten und ließen winzige Lichter aufblinken. Ein paar von ihnen trugen noch verblasste rosafarbene Kirschblüten, auch wenn der Schriftzug weggekratzt oder, wie in einem Fall, mit einer roten Zielscheibenmitte übermalt worden war.

»Ihr werdet das Durcheinander entschuldigen«, sagte May. Sie bemerkte, wie Charlie ihre Gerätschaften anstarrte. »Ja, okay, ich hab ein paar Souvenirs mitgenommen, als ich bei Sakora aufgehört habe. Nennt es weltanschauliche Differenzen. Lösungen fürs Leben«, sagte sie in abfälligem Ton. »Als ob das Leben ein Problem wäre! Bitte, setzt euch. Reden wir ein bisschen.«

Sie setzten sich auf ein durchhängendes senffarbenes Sofa. May ließ sich in einen Krankenrollstuhl fallen, kippte ihn nach hinten und legte ihre Sneakers auf einer Bank ab.

»Also, als Erstes müsst ihr wissen, dass ich an die freie Entscheidung glaube«, sagte May. »Ich finde, ein Mädchen sollte selbst entscheiden, welche Art von Berührungen in Ordnung sind und welche nicht. Was ich hier tue, tue ich also für die Gefährtin, nicht für den Kerl.«

Charlie räusperte sich. »Wir sind nicht deswegen gekommen.«

May sah Charlie an, dann Rose. »Wer ist dein Partner?«

»Charlie Nuvola«, sagte Charlie. »Und ich bin nicht ihr Partner.«

May zog eine Augenbraue hoch.

»Und sie ist nicht meine Partnerin«, fügte er rasch hinzu. »Wir sind lediglich befreundet.«

»Und ist das euer Problem?«

Rose räusperte sich ebenfalls. »Ich habe meinen Partner verloren.«

Mays Miene wurde ernst. »Wie?«

»Er will mich nicht mehr haben.«

May kratzte sich an der Nase. »Warum nicht?«

Charlie rutschte auf seinem Platz herum.

»Weil er keinen Sex mit mir haben konnte«, sagte Rose.

May dachte darüber nach. »Erzähl weiter.«

»Ich möchte wissen, ob du ihn herausholen kannst«, sagte Rose. Sie tippte sich an die Schläfe. »Hier heraus.«

»Aha.«

»Schon mal so was gemacht?«, erkundigte sich Charlie.

Ihre nachdenklich-kritische Miene verwandelte sich in ein Grinsen. »Nein. Aber ich kann’s kaum erwarten, es auszuprobieren.«

Charlie lehnte sich zurück. Rose drückte seine Hand. »Ähm, wie viel nimmst du dafür?«, fragte er. »Ich hab nicht besonders viel Geld.«

»Ich mach es für einen guten Latte Macchiato. Oder für ’ne Latte, wie einige der Jungs sagen.« Sie rollte mit den Augen. »Jungs.«

Charlie schüttelte den Kopf, um einen klaren Gedanken zu fassen. Er fand es schwierig, ihr zu folgen. »Ich fühl mich irgendwie … komisch.«

May beugte sich vor. »Ach, richtig, mach dir nichts draus. Du bist lediglich leicht bekifft.« Sie lachte, ein Schwall aufgedrehten Gekichers. »Tut mir leid, ich hätte es euch sagen sollen. Das verdanken wir alles der guten alten Bessie hier.« Sie klopfte mit der Faust gegen einen metallenen Wasserbehälter, dessen Sockel mit einer dicken schwarzen Zuleitungsschnur verbunden war. »Hier im Stutzen ist Gras. Das Ding ist so eingestellt, dass nur das THC verbrennt. Kein Rauch. Einfach selige Wonne.« Sie schenkte ihnen ein schräges Grinsen. »Ziemlich klasse, was?«

Rose beäugte das verbeulte Gefäß. Es erinnerte in nichts an die Gerätschaften von Charlies Vater. »Du bewahrst Graspflanzen dadrin auf?«

Noch einmal Gekicher, diesmal in noch höherer Tonlage. »Ach, Herzchen. Wir müssen dir echt mal ein bisschen Bildung verpassen, was?«

»Herrgott.« Charlie rieb sich die Schläfen. »Es fühlt sich an, als hätte ich Watte im Kopf.«

May holte mit dramatischer Geste Luft. »Ja, das ist ziemlich guter Stoff. Ich kann euch was davon verkaufen, wenn ihr wollt …«

»Nein.« Seine Worte kamen langsam, schleppend. »Zieh einfach … die Sache durch, damit wir hier wegkommen.«

»Wie ihr wollt.« May kam zu ihnen herübergeschlendert. »Steh auf, mein Engel. Dann wollen wir dich mal anschauen.« Sie zog eine Taschenlampe aus ihrem Werkzeuggürtel. Sie war ein gutes Stück kleiner als Rose und musste sich auf Zehenspitzen stellen, um ihr mit der Lampe in die Augen zu leuchten.

»Ich fühle mich nicht … bekifft«, sagte Rose. »Ich meine, ich fühle mich überhaupt nicht, als hätte ich Watte im Kopf.«

»Nicht reden während der Untersuchung.« May knipste die winzige Taschenlampe aus und klemmte sie sich zwischen die Zähne. Rose konnte ihren Atem riechen – Mineralwasser und Maischips. Sie massierte Roses Schläfen und murmelte etwas Unverständliches.

»Das habe ich nicht verstanden.«

»Du wirst dich nicht bekifft fühlen«, sagte May und nahm die Taschenlampe aus dem Mund, »weil dir die entsprechenden Rezeptoren fehlen. Besser gesagt, du hast gar keine Rezeptoren. Deine Lungen sind schlicht zwei Blasebälge.« Ihre Augen wanderten über Roses Brust. Sie grinste. »Nette Teile, dem Aussehen nach.«

Charlie stand auf. »Ich gehe dann mal eine Runde.«

»Bring mir einen Schokoriegel mit«, rief May ihm hinterher. »Und Schokoküchlein! Bring auch Schokoküchlein mit! – Der arme Kerl«, sagte sie, sobald Charlie verschwunden war. »Manche flippen echt aus. Alles klar, Schwester. Rauf auf den OP-Tisch, bitte.« Sie zeigte auf die hohe, schmale Liege neben dem Fenster. »Mach’s dir bequem.«

Rose streckte sich aus. »Wird es wehtun?«

May lehnte sich über Roses Bauch, um die Jalousien zu verstellen.

Sonnenlicht fiel in Streifen auf die Liege.

»Ich bin mir nicht ganz sicher«, sagte sie und rückte einen Hocker an die Liegenkante. »Ich hab das noch nie gemacht. Aber das Betriebssystem ist immer das gleiche. Sakora ist raffiniert, aber nicht so raffiniert. Glaub mir, ich weiß Bescheid.«

»Bist du ganz sicher, dass du weißt, was du tust?«

May lächelte. Ihre Augen hinter den dicken Brillengläsern waren wie zwei wabbelige blaue Tümpel. »Süße, wenn ich einen sechzigzeiligen, zufallsgenerierten Code entschlüsseln kann und so den Annäherungs-Timer außer Kraft setze, dann kann ich sicherlich ein gebrochenes Herz reparieren.«

»Mit meinem Herz ist irgendwas nicht in Ordnung?«

May zögerte. »Süße, ist deine Satellitenverbindung unterbrochen?«

Rose sah zur Seite. »Ich … habe sie zerstört. Die Stimme hat mir die ganze Zeit gesagt, ich soll zu David zurückgehen. Da bin ich in einen See gesprungen.«

May blickte finster. »Du hättest dich umbringen können.« Sie seufzte. »Trotzdem, ich kann dir keinen Vorwurf machen. Eine Stimme in deinem Kopf, die dir sagt, dass alles, was du tust, falsch ist … Ich kenne mich damit aus, ich bin katholisch.« Sie lachte über ihren eigenen Witz.

»Danke, dass du das tust«, sagte Rose.

May schob ihre Brille in die Tasche der Latzhose. Ihre Augen waren klein, aber hübsch, die großen blauen Tümpel schrumpften zu winzigen Kristallen, durchsetzt mit grünen Äderchen.

»Also, es sieht so aus. Ich kann nicht einfach deine Haube hochklappen und anfangen, mit der Zange herumzuwerkeln. So funktioniert das nicht. Gefährtinnen werden nichtinvasiv programmiert, über Licht und Ton. Teils Hypnose, teils Lichtleitertechnik, teils … keine Ahnung, subliminaler Datentransfer.« Sie hielt die Taschenlampe erst über Roses rechtes Auge, dann über das linke.

»Bleib einfach liegen und denk an London, Herzchen.«

Das Licht begann aufzublinken.

»Soll ich irgendetwas spüren …?«

»Das wirst du. Vertrau mir.«

Blink-blink. Blink-blink.

»Ich spüre überhaupt nichts.«

»Schau nicht mich an; schau in das Licht.«

Blink-blink. Blink-blink-blink.

»Nur Einsen und Nullen«, sagte May, sie flüsterte es fast. Fast wie eine Melodie. »Einsen und Nullen. Aus und an. Links und rechts. Ost und West.«

Blink-blink. Blink-blink.

»An und aus.«

Blink-blink.

Blink.

Da war nichts als Licht. Das Licht vor dem Beginn des Lebens.

Rose hörte Stimmen.

»Nummer?« Belegt, leise, müde.

»Eins.« Hell, abgehackt, irgendwie bekannt.

»Eins?«

»Die Erste ihrer Serie. Die Erste und Einzige.«

»Ort?«

»Westtown, Massachusetts.«

Der mit der belegten Stimme gähnte. »Okay, wie lautet der Name auf der Liste?«

»David Sun.«

»Sun wie Sun Enterprises? Ist er der Sohn des Multimillionärs?«

Die abgehackt sprechende Stimme stockte. »Ja, ich glaube schon.«

»Glückspilz.«

»In mehr als einer Hinsicht.«

»Was für ein Modell ist sie?«

»Ein neues.« Die abgehackte Stimme klang atemlos, begeistert. »Sie heißt Rose.«

»Sehr gut, Mr Foridae.«

»Ich werde sie sehr genau beobachten.«

Einen Augenblick lang kein Geräusch, nur das Licht, das Licht, das alles andere verdrängte, erdrückend, so schwer auf ihren Augen. Licht wie Steine.

»Gut. Soll ich sie hochladen?«, fragte die müde Stimme.

»Ja. Tun Sie das jetzt.«

Das Licht begann zu flackern, zu zucken.

Keuchen, Schwärze – intensive, köstliche, leere Zwischenräume zum Hineinatmen.

Blink-blink. Blink-blink-blink.

Atme, Rose, atme hinein.

Atme hinein!

Keuchend fuhr Rose hoch.

»Halt, langsam!«

May legte ihre Taschenlampe weg und drückte Rose eine stützende Hand in den Rücken. Rose fühlte sich, als hätte eine Hand in sie hineingegriffen – oder eine Zange – und sie inwendig umklammert, verbogen, zerschmettert. Sie fasste sich an die Brust, rang nach Luft und spürte, wie ihr Herz, der Blasebalg, die Dioden an ihren jeweiligen Platz zurücksprangen.

»Was war denn das?«

»Neuprogrammierung«, sagte May. Sie schob Rose mit sanftem Druck auf die Liege zurück. »Leg dich hin.«

»Es war schrecklich.«

»Tut mir leid. Das hab ich noch nie erlebt.«

»Ich habe … Licht gesehen. Und Stimmen gehört.«

»Stimuli, die mit dem Moment der Schöpfung verbunden sind.« Sie sprach leise, redete mit sich selbst. Ihre Finger betasteten Roses Gesicht, ihre Kopfhaut. »Faszinierend.«

»Hat es funktioniert?« Rose suchte in Mays Gesicht nach Anzeichen der Erleichterung, Befriedigung, nach irgendeinem Hinweis, dass sie nicht an diesen hell erleuchteten Ort zurückmusste.

May lehnte sich zurück, die Hände im Schoß. »Du kannst dich glücklich schätzen, dass du Charlie hast«, sagte sie. »Er wird dich gut behandeln.«

»Wie meinst du das?« Rose richtete sich langsam auf. Sie wollte May am Overall packen und schütteln. Sie dazu zwingen, eine einzige Äußerung von sich zu geben, die klar war, einen Sinn ergab.

»Es tut mir so leid, Schätzchen«, sagte May und nahm ihre Hand. »Es hat nicht funktioniert. Und wird es nie. Niemals.«

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