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Die Innenstadt erstickte im Nebel, und irgendwo weit draußen hörte man Nebelhörner schwermütig tuten; die Schiffe fuhren über den Unterlauf der Themse aufs offene Meer. Nebel – eine Art von Nebel, wie man ihn anscheinend nur in London und nirgendwo sonst auf der Welt erlebte. Nebel, der die Alten und Kranken dahinraffte, der in den Straßen hing und der den Verkehr einer Weltstadt zum Erliegen brachte.

Paul Chavasse stieg bei Marble Arch aus dem Taxi; er stellte den Kragen seines Trenchcoats hoch, fing an, leise vor sich hin zu pfeifen und ging durch das große Tor in den Park. Er hatte den Nebel gern; es gab nur ein Wetter, das ihm besser gefiel als Nebel, und das war Regen. Eine Eigentümlichkeit, die, wie er glaubte, auf irgendwelche Erlebnisse in seiner Kindheit zurückzuführen war, aber vielleicht gab es auch eine viel einfachere Erklärung. Nebel und Regenwetter, so fand er, schlossen ihn in eine kleine Welt ein, in der man ganz für sich allein war; und das konnte manchmal sehr angenehm sein.

Chavasse blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. Er war groß und sah gut aus; sein Gesicht war so französisch wie die Place Pigalle in einer Samstagnacht; die typisch keltischen Backenknochen hatte er von seinem bretonischen Vater. Ein Parkwächter löste sich aus den weißgrauen Schatten und tauchte wortlos wieder in die Nebelschwaden ein; eine geisterhafte Erscheinung, wie sie einem unter diesen Umständen nur in England begegnen konnte. Chavasse ging unbeirrt weiter, er war durch nichts von seiner unerklärlich heiteren Stimmung abzubringen.

Das St.-Bede-Krankenhaus lag am unteren Ende des Parks; es war ein scheußliches viktorianisches Gebäude im imitierten gotischen Stil, aber es hatte in der ganzen Welt einen guten Ruf. Er wurde erwartet und meldete sich beim Portier. Ein blauuniformierter Wärter führte ihn durch grüngekachelte Korridore, die anscheinend überhaupt kein Ende nahmen.

Ein älterer Labortechniker, der in einem kleinen Büro mit Glaswänden saß, löste den Wärter ab; er begleitete ihn nach unten in die Leichenhalle, und sie fuhren mit einem erstaunlich modernen Fahrstuhl in das Kellergeschoß. Als sich die Fahrstuhltüren öffneten, schlug Chavasse ein penetranter antiseptischer Geruch entgegen, wie man ihn aus Krankenhäusern kennt; der geräumige Keller war eiskalt. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider. In die Wände waren zu beiden Seiten Stahlschubladen eingelassen; in jeder lag wahrscheinlich eine Leiche, aber der Techniker führte ihn zu einem Rolltisch, der mit einem Gummilaken bedeckt war.

»Er war in keine Schublade zu bekommen; eine dumme Geschichte«, sagte er. »Er ist zu aufgedunsen. Und stinken tut er wie der Fisch vom letzten Jahr.«

Als sie dicht davorstanden, wurde der Gestank fast unerträglich, obwohl man offenbar alles getan hatte, um den Geruch zu neutralisieren. Chavasse hielt sich ein Taschentuch vor den Mund.

»Ich verstehe.«

Er hatte den Tod schon oft und in vielen Variationen gesehen, aber so etwas war ihm noch nicht vorgekommen. Er runzelte die Stirn.

»Wie lange ist er im Wasser gewesen?«

»Sechs oder sieben Wochen.«

»Wissen Sie das genau?«

»Ja. Wir haben Urintests gemacht, den Grad des Gewebezerfalls gemessen und so weiter. Es war übrigens ein Neger, oder wußten Sie das?«

»Das hat man mir gesagt, aber von allein wäre ich nicht darauf gekommen.«

Der Techniker nickte. »Der lange Aufenthalt im Salzwasser nimmt der Haut jede Pigmentierung.«

»Das sieht man.« Chavasse trat einen Schritt zurück und steckte das Taschentuch wieder in seine Westentasche.

»Ich danke Ihnen. Ich habe alles gesehen; das genügt mir.«

»Können wir ihn dann wegschaffen, Sir?« fragte der Techniker.

»Das hätte ich fast vergessen.« Chavasse nahm ein gedrucktes Schriftstück aus der Brieftasche. »Er wird eingeäschert, und die Papiere sollen bis morgen ans Home Office gehen.«

»Die Mediziner von der Universität wollten ihn eigentlich unters Seziermesser nehmen.«

»Sagen Sie ihnen, sie sollten es mit Burke und Hare versuchen.« Chavasse streifte sich seine Handschuhe über. »Asche zu Asche für diesen Kameraden; und kein Belustigungszirkus. Ich finde allein nach draußen.«

Als er gegangen war, zündete sich der Techniker eine Zigarette an. Er runzelte die Stirn. Er dachte über Chavasse nach. Er wirkte wie ein Ausländer, war aber offenbar Engländer. Ein ganz netter Kerl soweit – ein Gentleman, um es altmodisch auszudrücken. Aber etwas war eigenartig an ihm. Das waren die Augen, ja. Diese schwarzen Augen, die so vollkommen ausdruckslos waren. Sie blickten vollkommen leer, so als ob man gar nicht da war. Dieselben Augen hatte jener japanische Oberst gehabt in dem Lager in Siam, wo der Techniker die schlimmsten drei Jahre seines Lebens verbracht hatte. Ein komischer Kerl, dieser Japaner. Manchmal konnte er nett und freundlich sein wie die Humanität in Person; und im nächsten Augenblick rauchte er seelenruhig eine Zigarette, während sie vor seinen Augen einen Gefangenen wegen einer Nichtigkeit zu Tode prügelten.

Der Techniker zuckte die Achseln und entfaltete das Papier, das Chavasse ihm gegeben hatte. Es war vom Innenminister selbst unterzeichnet. Das genügte. Er steckte es in seine Brieftasche und schob den Rolltisch nach nebenan in das Krematorium. Genau drei Minuten später schloß er die Glastür von einem der drei Spezialöfen und drehte den Schalter. Flammen züngelten um die Leiche; sie fing sofort an zu brennen.

Der Techniker zündete sich noch eine Zigarette an. Professor Henson war sicher nicht sehr erbaut, aber nun war die Sache erledigt; und schließlich hatte er ja die Anweisung schriftlich. Er ging wieder nach nebenan, pfiff fröhlich vor sich hin und machte sich eine Tasse Tee.

 

Es war fast zwei Monate her, daß Chavasse das Haus in St. John’s Wood zuletzt betreten hatte; und nun kam er sich vor, als sei er von einer langen Reise nach Hause zurückgekommen. Das war gar nicht so seltsam, wenn man bedachte, was er in den letzten zwölf Jahren als Agent dieses Büros für ein Leben geführt hatte. Es war eine fast völlig unbekannte Abteilung des britischen Geheimdienstes, die sich mit außergewöhnlichen Fällen befaßte.

Er stieg die Treppen hoch und drückte auf den Klingelknopf neben der Messingplatte mit der Aufschrift BROWN & CO – IMPORT & EXPORT. Die Tür wurde fast im selben Augenblick von einem großen Uniformierten mit grauen Haaren geöffnet, der gleich ein strahlendes Begrüßungslächeln aufsetzte.

»Ich freue mich, daß Sie wieder da sind, Mr. Chavasse. Sie sehen gut erholt aus; richtig braun geworden sind Sie.«

»Ich freue mich auch, George.«

»Mr. Mallory fragt laufend nach Ihnen, Sir. Miss Frazer hat schon alle paar Minuten bei mir angerufen.«

»Also wieder mal wie immer, George.«

Chavasse stieg eilig die enge Wendeltreppe empor. Es hatte sich nichts verändert. Nicht die geringste Kleinigkeit. Immer war es so gewesen. Lange Zeit passierte überhaupt nichts, und dann kam plötzlich irgendwas an die Oberfläche, und der Tag hätte siebenundzwanzig Stunden haben müssen.

Er ging in das kleine Vorzimmer am Ende des engen Korridors. Jean Frazer saß an ihrem Tisch. Sie sah auf, nahm ihre schwere Lesebrille ab und begrüßte ihn mit einem Lächeln, das für Chavasse immer um eine Nuance herzlicher war als für die andern.

»Paul, gut siehst du aus. Ich bin ja so froh, daß du wieder da bist.«

Sie stand auf und kam um den Tisch herum; eine kleine, schwermütige Frau von ungefähr dreißig Jahren. Sie sah auf eine sehr eigene Art attraktiv aus. Chavasse nahm ihre Hände und gab ihr einen Kuß auf die Wange.

»Ich bin doch immer noch nicht dazu gekommen, mein Versprechen einzulösen und dich für einen Abend in die Scheune einzuladen. Aber ich hab’s noch nicht vergessen.«

»Oh, das habe ich auch nie bezweifelt.« Sie sah ihn skeptisch an. Dann sagte sie: »Hast du die Nachricht bekommen?«

»Meine Maschine hatte Verspätung, aber der Bote hat vor meiner Wohnung auf mich gewartet. Ich habe noch nicht einmal meine Koffer auspacken können. Ich bin im St.-Bede-Krankenhaus gewesen und habe mir die Leiche angesehen. War sehr unangenehm. Er hatte schon ziemlich lange im Wasser gelegen. War ausgebleicht wie frische Wäsche; das sah natürlich ziemlich eigenartig aus, wenn man bedenkt, wie du ihn mir beschrieben hast.«

»Erspar mir die Einzelheiten.« Sie schaltete die Sprechanlage ein. »Paul Chavasse ist da, Mr. Mallory.«

»Er soll hereinkommen.«

Die Stimme war kalt und klang, als ob sie aus einer anderen Welt käme – einer Welt, die Chavasse während der zweimonatigen Kur fast vergessen hatte. Ein unbehagliches Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Er machte die Tür auf und ging hinein.

 

Mallory hatte sich überhaupt nicht verändert. Er trug immer noch denselben grauen Flanellanzug von demselben teuren Schneider; dieselbe Krawatte von der Schule, auf der man gewesen sein mußte; kein graues Härchen, das nicht an seinem Platz lag; derselbe frostige Blick über den oberen Rand der Brille. Ihm gelang nicht einmal ein Lächeln.

»Hallo, Paul, ich freue mich, Sie wiederzusehen«, sagte er, und es klang, als ob jedes Wort gelogen wäre. »Was macht das Bein?«

»Wieder soweit in Ordnung, Sir.«

»Keine Nachwirkungen mehr?«

»Bei feuchtem Wetter schmerzt es ein bißchen, aber die Ärzte haben mir gesagt, das gebe sich mit der Zeit.«

»Sie können von Glück sagen, daß Sie noch auf zwei Beinen gehen. Mit Magnumkugeln ist nicht zu spaßen. Wie geht’s Alderney?«

Chavasses englische Mutter lebte als Pensionärin auf der schönsten aller Inseln im Kanal, und er hatte die Kur bei ihr verbracht und sich bei ihrer sachkundigen Pflege gut erholt. Ihm fiel plötzlich ein, daß sie gestern um diese Zeit noch auf dem weißen Strand von Telegraph Bay Picknick gehalten hatten; es hatte kaltes Huhn und Salat gegeben, und sie hatten eine Flasche Liebfrauenmilch getrunken, eiskalt aus dem Kühlschrank, und die Flasche in ein feuchtes Tuch gewickelt; gegen jede Tischsitte, aber die einzige Möglichkeit, ihn zu genießen.

Er seufzte. »Gut, Sir. Sehr gut.«

Mallory kam dann zum Dienstlichen. »Haben Sie die Leiche im St.-Bede-Krankenhaus gesehen?«

Chavasse nickte. »Weiß man, wer er war?«

Mallory legte eine Akte auf den Tisch und schlug sie auf.

»Ein westindischer Neger namens Harvey Preston aus Jamaika.«

»Und wie haben Sie das herausgefunden?«

»Wir hatten seine Fingerabdrücke.«

Chavasse hob die Schultern. »Seine Finger waren geschwollen wie Bananen, als ich ihn gesehen habe.«

»Die Leute im Labor haben eine spezielle Technik für solche Probleme. Sie lösen die Haut von den Fingern und lassen sie mit Hilfe von Chemikalien auf normale Größe zusammenschrumpfen. Das ergibt dann brauchbare Abdrücke.«

»Da haben sich die Leute ja eine Menge Mühe gemacht mit der Leiche eines Unbekannten, die nach sechs Wochen angeschwemmt wird. Aus welchem Grund?«

»Zunächst einmal ist die Geschichte nicht ganz so passiert. Man hat ihn aus dem Netz eines Fischerbootes aus Brixham geholt, und er war mit einer siebzig Pfund schweren Kette gefesselt.«

»Also wahrscheinlich ermordet?«

»Tod durch Ertränken.«

»Keine schöne Art zu sterben.«

Mallory schob ein Foto über den Tisch. »Das ist er, die Aufnahme ist 1967 bei seinem Prozeß im Old Bailey gemacht worden.«

»Wie lautete die Anklage?«

»Raubüberfall auf ein Spielkasino in Birmingham, die Beute: zweiundfünfzigtausend Pfund. Der Staat hat den Prozeß damals verloren. Er wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die Zeugen kamen nicht mit der Sprache heraus. Die übliche Geschichte.«

»Dann hat er wohl eine Menge Schmiergelder gezahlt.«

Mallory nahm sich eine von seinen türkischen Zigaretten und lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Harvey Preston ist 1938 in England eingewandert; er war damals zwanzig und diente bei Ausbruch der Krise in München in der Royal Army. Seine Mutter und sein Vater kamen ein paar Monate später mit seiner jüngeren Schwester nach, und Preston kaufte ihnen ein kleines Häuschen in Brixton. Er war in Aldershot bei einer Versorgungskompanie als Lastwagenfahrer stationiert. Seine Mutter brachte noch einen Sohn zur Welt, er bekam den Namen Darcy; das war im September 1939. Eine Woche später wurde Harveys Kompanie nach Frankreich verlegt. Auf dem großen Rückzug, als die deutschen Panzer durchgebrochen waren, wurde seine Einheit dann fast aufgerieben, und er bekam zwei Schüsse ins rechte Bein. Er konnte sich nach Dünkirchen durchschlagen und kam nach England zurück, aber sein Bein blieb gelähmt, daß man ihn mit einer Pension entließ.«

»Was hat er dann gemacht?«

»Er nahm eine Stelle als Fahrer bei der Feuerwehr an, aber dann erlebte er wie so viele Leute damals eine furchtbare persönliche Tragödie. Das Haus in Brixton bekam einen Volltreffer ab, und der einzige Überlebende war sein kleiner Bruder. Von da an ist dann mit Preston alles anders geworden.«

»Was hat er dann gemacht?«

»Alles. Schwarzmarkthandel, Prostitution. Nach dem Krieg besaß er eine ganze Reihe von illegalen Spielkasinos. Er spielte damals in der Unterwelt eine wichtige Rolle. 1959 stieg er ins professionelle Verbrechen ein. Die Polizei war überzeugt, daß er hinter einer sehr erfolgreichen Entführerorganisation steckte; aber man konnte ihm nie etwas nachweisen. Er war auch an verschiedenen Überfällen auf Lohngelder beteiligt und betrieb mit ziemlicher Sicherheit Rauschgifthandel.«

»Ein vielseitiger Mensch. Was geschah nach seinem Freispruch im letzten Jahr? Ist er ausgewiesen worden?«

Mallory schüttelte den Kopf. »Dazu war er schon zu lange im Land. Aber Scotland Yard hat ihn dann unter Druck gesetzt. Man entzog ihm die Lizenz für seine Spielkasinos, damit war er aus dem Geschäft. Sie haben ihn auf Schritt und Tritt beobachtet; er hat kaum noch gewagt, aus dem Haus zu gehen. Man wollte herausfinden, wo das Geld von dem Überfall auf das Spielkasino in Birmingham geblieben war. Ihm war zwar nichts vorzuwerfen, was für eine Anklage gereicht hätte; aber bei der ständigen Beschattung konnte er das erbeutete Geld auch nicht ausgeben.«

»War er verheiratet?«

»Nein, er lebte allein. Aber er war ganz normal. Ab und zu brachte er ein Mädchen mit zu sich nach Hause, das dann die Nacht bei ihm blieb.«

»Was ist mit dem Bruder geschehen, der den Bombenangriff überlebt hat?«

»Der kleine Darcy?« Mallory grinste zum erstenmal.

»Das ist eine komische Geschichte. Harvey behielt den Jungen bei sich. Er schickte ihn als Tagesschüler in die St.-Paul’s-Kathedrale. Das muß ein eigenartiges Leben für ihn gewesen sein. Tagsüber war er mit den Söhnen der oberen Zehntausend zusammen und nachts mit den übelsten Gestalten von ganz London. Er entschloß sich, Jura zu studieren und hat sein Referendarexamen vor drei Jahren abgelegt. Nach Harveys Prozeß ist er nach Jamaika zurückgegangen.«

»Und was hat Harvey gemacht?«

»Er ist vor zwei Monaten nach Rom geflogen. Auf dem Londoner Flughafen hat man ihn und sein Gepäck buchstäblich auseinandergenommen, aber nicht die geringste Kleinigkeit gefunden. Sie mußten ihn passieren lassen.«

»Und wohin ist er dann von Rom aus gefahren?«

»Interpol hat ihn bis Neapel verfolgt; dort hat man ihn aus den Augen verloren.«

»Bis er dann zwei Monate später in einem Fischernetz vor der englischen Küste an Land gezogen wurde. Interessant. Was glauben Sie, was er für ein Spiel gespielt hat?«

»Ich dachte, das sei Ihnen schon deutlich geworden.«

Mallory hob die Schultern. »Er wollte illegal nach England einreisen. Solange die Polizei nicht wußte, daß er im Land war, konnte er in aller Ruhe an sein Geld und dann das Land wieder auf dieselbe Weise verlassen, wie er gekommen war.«

Chavasse sah nun größere Zusammenhänge. »Sie vermuten also, daß ihn jemand im Kanal über Bord geworfen hat?«

»So ungefähr muß es gewesen sein. Mit diesem nächtlichen Fährverkehr wird eine Menge Geld gemacht, seit das neue Einwanderungsgesetz erlassen ist. Pakistanis, Inder, Westinder und Australier – alles Leute, die auf normalem Weg kein Einreisevisum bekommen, lassen sich die Überfahrt viel Geld kosten.«

»Da hat neulich so ein Fall in der Zeitung gestanden«, sagte Chavasse. »Die Royal Navy hat vor Felixstowe einen alten Kutter mit zweiunddreißig Pakistanis an Bord aufgebracht. Sie hatten jeder dreihundertfünfzig Pfund für die Überfahrt bezahlt. Kein schlechter Verdienst für den Fährmann.«

»Das sind Amateure«, sagte Mallory. »Die haben kaum eine Chance. Die Professionellen schöpfen den Rahm ab, die Leute, die organisiert sind. Es gibt da geheime Verbindungen, die sich bis Neapel zurückverfolgen lassen. Die italienische Polizei hat sich um die Sache bemüht und einen sehr aufschlußreichen Bericht über ein Schiff namens Anya geschickt; dieses Schiff befährt regelmäßig die Route Neapel-Marseille unter panamaischer Flagge.«

Chavasse sah sich die Akte an und ging die Schriftstücke und Fotos durch. Da waren mehrere von Harvey Preston aus den letzten Jahren; eins zeigte ihn vor dem Old Bailey nach seinem Prozeß. Im Arm hielt er seinen jüngeren Bruder. Chavasse überflog die Berichte und sah dann auf.

»Das ist doch Arbeit für die Polizei. Was haben wir damit zu tun?«

»Die Spezialabteilung von Scotland Yard hat uns um unsere Hilfe gebeten. Sie meinen, diese Aufgabe sei so schwierig, daß man einen unserer Agenten damit beauftragen müßte.«

»Als sie uns das letztemal um Hilfe gebeten haben, habe ich sechs Monate in dreien der schlimmsten Löcher von ganz England verbracht«, sagte Chavasse. »Außerdem hätte ich dabei fast ein Bein verloren. Können die Leute denn ihre schmutzige Arbeit nicht allein machen?«

»Wir haben eine sehr brauchbare Rolle für Sie ausgearbeitet«, sagte Mallory ungerührt. »Sie werden Ihren eigenen Namen benutzen. Sie sind australischer Staatsbürger französischer Herkunft. Sie werden in Sydney wegen bewaffneten Raubüberfalls gesucht.« Er schob einen Schnellhefter über den Tisch. »Da ist alles drin, was Sie brauchen; auch ein Zeitungsartikel, der über den Raubüberfall berichtet. Sie sind natürlich bereit, jeden Preis zu zahlen, um nach England zu kommen, wenn man Ihnen keine dummen Fragen stellt.«

Chavasse hatte wie immer das Gefühl, als würde eine riesige Welle über ihm zusammenschlagen. »Wann soll ich fahren?«

»Sie nehmen den Flug nach Rom um 15.30 Uhr vom Londoner Flughafen. Wenn Sie sich beeilen, sind Sie eine Viertelstunde vor Abflug der Maschine am Flughafen. Draußen steht ein Koffer für Sie, fertig gepackt. Sie brauchen sich um nichts weiter zu kümmern.« Er erhob sich und streckte ihm die Hand hin. »Ich wünsche Ihnen viel Glück, Paul. Und bleiben Sie wie üblich mit uns in Verbindung.«

Mallory setzte sich wieder, nahm seine Lesebrille und vertiefte sich in eine Akte. Chavasse nahm seinen Schnellhefter unter den Arm und ging. Als er die Tür hinter sich zumachte, grinste er in sich hinein.

»Was ist denn so lustig?« fragte Jean Frazer.

Er beugte sich über ihren Tisch und kitzelte sie unter dem Kinn. »Die hübscheste Mieze, die mir über den Weg gelaufen ist, seit ich nicht mehr in Sydney bin«, sagte er in einem ziemlich echt klingenden australischen Slang.

Sie sah ihn verständnislos an. »Bist du verrückt geworden?«

Er nahm seinen Koffer und lachte. »Das muß ich wohl, Jean. Ich muß wirklich verrückt sein«, sagte er und ging.