Hinter den schemenhaften Gestalten sah ich Vlad eine ungeduldige Handbewegung machen.

»Ich wollte euch nicht rufen«, fuhr ich fort, bevor er un-höflich werden konnte. »Ich, äh, bin wegen etwas anderem hier. Ich bitte um Verzeihung. Lasst euch einfach nicht stö-

ren und sagt niemandem, dass wir heute Nacht hier waren.«

Ohne ein Wort lösten die Geister sich auf, das kleine Mädchen ebenso schnell wie die anderen. Ich kämpfte gegen den inneren Drang an, sie zurückzurufen und zu fragen, ob jemand sich um die Kleine kümmerte. Uns lief die Zeit davon, und Vlad würde noch meine Klamotten in Brand stecken, wenn ich mich bei den anderen erkundigte, ob das kleine Mädchen hier draußen ganz allein oder unter ordnungs-gemäßer gespenstischer Aufsicht herumspukte.

Nachdem ich ganze zehn Minuten mit geschlossenen Augen herumgestanden, mich der unirdischen Energie in der Atmosphäre geöffnet und die Restwesen herbeigesehnt hatte, machte ich die Augen wieder auf und seufzte.

»Es funktioniert nicht. Wir müssen was anderes ausprobieren.«

Vlad zog die Augenbrauen hoch. »Wir? Ich kann dir dabei nicht helfen, Cat.«

»Doch, kannst du«, antwortete ich und näherte mich ihm.

»Erregung, Ärger oder ein Kampf können meine geborgten Kräfte aktivieren. Ich bin zwar nervös, aber eindeutig nicht genug. Also schlag mich, kräftig. Mal sehen, ob mich das ausreichend auf die Palme bringt.«

Bones hatte mich zum Fliegen animiert, indem er mich von der Brücke geworfen hatte - zweimal -, aber hier gab es keine Brücken. Wenn Vlad und ich uns jetzt einfach nur ein paar faire Sparringsrunden lieferten, wirkte das am Ende womöglich sogar kontraproduktiv, weil ich Spaß daran fand, mich mit dem Meistervampir zu messen. Setzte ich mich aber nicht zur Wehr, während er mich bearbeitete, würde das all meinen Kämpferinstinkten zuwiderlaufen. Und der Schmerz würde mich erst recht wütend machen, auch wenn mir die Logik hinter unserem Tun bewusst war.

Ich war noch aufrecht gestanden, als ich Vlad meine Überlegungen mitgeteilt hatte, aber bereits im nächsten Augenblick saß ich auf dem Hosenboden und verspürte einen brennenden Schmerz in der Brust, der sich anfühlte, als hätte Vlads Fausthieb mir sämtliche Rippen zertrümmert. Wie es aussah, musste ich Vlad nicht erst lange beknien, sein ritter-liches Verhalten vorübergehend abzulegen und mitzuspielen.

»Der war gut«, stieß ich hervor und zog eine Grimasse, als meine Knochen sich schmerzhaft wieder zusammenfügten. »Noch mal.«

Vlads braunes Haar fiel ihm über die Schultern, als er sich vorbeugte, um mir aufzuhelfen. »Gern.«

Diesmal war ich vorbereitet, was allerdings nur zur Folge hatte, dass ich stehen blieb, statt wieder auf dem Hintern zu landen, als Vlad seinen zweiten brutalen Hieb anbrachte, diesmal in mein weicheres Bauchgewebe. Theoretisch war ein Körpertreffer leichter zu verkraften als ein Schlag gegen den Schädel. Vlad zeigte sich also direkt zuvorkommend, aber alle Theorie verblasste, als der Schmerz mich durch-zuckte. Wenigstens hörte ich nicht meine Rippen brechen, wie beim letzten Mal.

»Verflucht, das tut weh«, murmelte ich vor mich hin, als ich mich reflexartig zusammenkrümmte.

Ich konnte sein Schnauben in meinem Haar spüren. »Ich dachte nicht, dass du gekitzelt werden möchtest.«

Mit diesen Worten schlug Vlad das nächste Mal zu, diesmal traf er mich seitlich am Rumpf. Knack machten ein paar meiner unteren Rippen. Ich taumelte rückwärts und wurde zornig.

»Kannst du mir nicht mal einen Augenblick Erholung gönnen, Tepesch?«

»Jetzt kommst du doch in Rage, was?«, gab er ohne die leiseste Reue im Tonfall zurück. »Hör auf rumzujammern, Gevatterin. Ich habe dich in der Schlacht gesehen. Du kannst weit Schlimmeres wegstecken.«

Na ja, in der Schlacht hieß es töten oder getötet werden, und das Adrenalin wirkte wie Morphin. Jetzt allerdings hatte ich Schmerzen wie ein Gaul. Aber Vlad hatte recht. Das und der Frust darüber, nicht zurückschlagen zu dürfen, machten mich wütend. So hatte ich auch früher schon meine geborgten Fähigkeiten wachkitzeln können.

»Wenn das schon alles war, was du draufhast, muss es wohl reichen«, sagte ich, um ihn aufzustacheln. Er musste mich schon kräftiger in die Mangel nehmen, wenn er mich richtig zum Kochen bringen wollte. »Nur dass du's weißt: Bones schlägt sehr viel härter zu als du.«

Vlad stieß ein bellendes Lachen aus, bevor sein nächster Hieb mich gegen einen Baumstamm und dann zu Boden schleuderte. Jetzt taten mir Vorder- und Rückseite weh.

Stinksauer wurde ich auch allmählich, aber von den Restwesen fehlte noch immer jede Spur. Entweder war meine Taktik verkehrt, oder ich musste noch viel wütender werden, und zwar schnell.

Ich schüttelte mich, sprang auf und sah, dass Vlad sich mir sehr viel langsamer näherte als bei einem echten Spar-ringskampf.

»Schon besser, aber hör auf zuzuschlagen wie ein Mädchen«, sagte ich. »Lass alles raus. Klopp mich bloß nicht gegen einen von den Grabsteinen. Ist ein hübscher Friedhof.

Sie zu beschädigen wäre taktlos.«

Vlad stieß einen Laut aus, der wie ein Seufzer klang. »Du hast es so gewollt.«

Ich kämpfte gegen den instinktiven Drang an, mich zu verteidigen, als er ausholte. Ich versuchte gar nicht, mich auf Vlads Schlag vorzubereiten, während ich mir dachte, wie gut es war, dass Bones uns jetzt nicht sehen konnte. Der wäre definitiv fuchsteufelswild geworden.

Doch alle Überlegungen waren vergessen, als Vlads Faust meinen Schädel traf. Vor meinen Augen flimmerte es, dann folgten sengender Schmerz und Schwärze. Als ich wieder sehen konnte, war ich ein wenig erstaunt darüber, nicht als Erstes kleine blaue Vögelchen zu erblicken, die über mir ihre Kreise zogen.

»Noch mal«, wies ich ihn an und fragte mich, ob ich vielleicht doch noch kotzen konnte. Dem Pochen in meinem Schädel nach zu urteilen, lag das durchaus im Bereich des Möglichen.

Der nächste Schlag traf mich am Kiefer. Meine Zähne schlugen so heftig aneinander, dass ich überrascht war, sie noch heil vorzufinden. Blut tropfte mir aus dem Mund. Vlad sah es und zuckte nur leichthin mit den Schultern, woraufhin ich ihm am liebsten eine gesemmelt hätte, während er die Faust auch schon zu seinem nächsten Schlag erhob.

Der mich nicht mehr traf. Eis schien mir durch die Adern zu strömen, als ein Schild aus transparenten Leibern sich über mir bildete und Vlads Schlag abfing, als bestünde er aus massivem Diamant statt zartem Nebel. Vlad starrte mich mit grimmigem Triumph im Blick an, während der Schild aus Restwesen sich zu einem Wall ausdehnte - und dann über ihm kollabierte.

»Gott, es hat geklappt«, stieß Vlad hervor, obwohl bereits sein ganzer Körper unter den Leibern begraben war. »Groß-

artige Waffe. Das sind Schmerzen ... überall.«

Ein Gewirr aus Stimmen umgab mich, manche leise und knurrend, andere so schrill, dass es sich anhörte, als würden Fingernägel über eine Schiefertafel kratzen. Vlad hatte recht; es hatte funktioniert. Jetzt kam der wirklich schwierige Teil. Ich hatte die Restwesen gerufen, nun musste ich sie dazu bringen, von Vlad abzulassen. Durch die Stimmen in meinem Kopf konnte ich mich kaum konzentrieren. Ich musste versuchen, mich mit den gleichen Techniken vor ihnen zu schützen wie vor den menschlichen Gedanken, die ich manchmal aufschnappte. Konzentriere dich auf eine Stimme. Stell dich auf sie ein. Lass alles andere in den Hintergrund treten.

»Vlad, rede«, drängte ich ihn. Es war besser, seine Stimme als Ankerpunkt zu nehmen, als mich in dem myriadenstar-ken Flüsterchor aus den Gräbern zu verlieren. Ich rappelte mich auf und merkte erst da, dass Vlad mich mit seinem letzten Schlag doch noch zu Boden geschickt hatte.

»Bin gerade ... etwas beschäftigt«, hörte ich ihn über das Getöse hinweg sagen.

»Ich brauche deine Stimme«, beharrte ich, krampfartig zitternd. Mir war so kalt. Ich war so müde. So hungrig.

»Feel it coming ... in the air«, krächzte Vlad in heiserem Singsang. »Hear the screams from everywhere ...«

Er musste noch ein bisschen weiter zitieren, bis ich glaubte, mich wieder einigermaßen im Griff zu haben - und Überraschung darüber empfinden konnte, dass Vlad den Text von Run This Town Tonight kannte. Ich verdrängte mein Erstau-nen und starrte ihn an. Sein ganzer Körper war von Restwesen bedeckt^ und ich versuchte, die Verbindung, die ich zu ihnen spürte, zu ignorieren. Die eisige, wilde Gier drohte, mich blind für alles andere zu machen.

»Fort von ihm«, befahl ich den sich windenden Gestalten.

Nichts geschah. Nicht eine unterbrach ihre Attacke auf Vlad, um mich anzusehen.

»Life's a game but it's not fair«, fuhr Vlad immer angestrengter fort. »I break the rules so I don't care ...«

»Fort von ihm«, wiederholte ich und legte all meine Angst vor dem, was geschehen würde, wenn sie es nicht taten, in meine Stimme.

Die Kreaturen glitten einfach weiter über Vlad, wanden sich auf ihm und durch ihn hindurch. Sein Körper krümmte sich auf eine mir allzu vertraute Art, die mir sagte, dass er grausame Schmerzen hatte, auch wenn er sich zwang, nicht aufzuschreien. Feuer brach auf seinen Händen aus, aber die Restwesen störten sich nicht daran, und die Flammen schienen ihnen auch nicht zu schaden, wenn sie durch sie hin-durchhuschten. Warum auch?, dachte ich in wachsender Panik. Sie bestehen aus Energie und Luft; zwei Elemente, denen Feuer noch nie etwas anhaben konnte.

»Geht in eure Gräber zurück, sofort«, versuchte ich es noch einmal, diesmal mit vor Verzweiflung schneidend klingender Stimme. Die Kreaturen wurden allerdings weder langsamer, noch schienen sie mich überhaupt zu hören. Ich hatte sie aus dem Jenseits geholt, und genau wie ich befürchtet hatte, war ich nicht in der Lage, sie zu kontrollieren. Das Worst-Case-Szenario spielte sich vor meinen Augen ab. Ich musste mit ansehen, wie Vlad sich wand, vergeblich bemüht, sich den Restwesen zu entziehen, die sich nur weiter an ihm labten, gestärkt durch seinen Schmerz und seine Energie, während er selbst immer schwächer wurde.

Als ich die Flammen auf seinen Händen sah, kam mir eine Idee. Den Restwesen konnten sie nichts anhaben, mir aber schon.

»Vlad, beschieße mich mit einem Feuerball«, keuchte ich.

»Ich glaube, beim letzten Mal ist meine Verbindung zu den Restwesen abgerissen, als ich ohnmächtig geworden bin.«

Versuchen konnte man es ja. Wenn ich nicht länger mit ihnen in Verbindung stand, würden die Kreaturen vielleicht automatisch dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen waren. Ich musste es ausprobieren. Meine Befehle waren wirkungslos, und Vlad würde nicht mehr lange durchhalten.

»Nein.« Ein Wort, ausgestoßen voller Schmerz und dennoch entschieden. »Du wirst lernen ... sie zu beherrschen ...

und wenn ich dabei draufgehe.«

»Du wirst draufgehen, verdammt«, fauchte ich panisch.

»Nicht rumzicken ... lernen«, krächzte Vlad. Dann schloss er die Augen, als hätte er genug von mir. »Ich weiß, ich bin lecker. Happi... happi«, raunte er den Restwesen zu, die sich an ihm gütlich taten. Noch immer erzeugten seine Hände Flammen, aber er schickte sie nicht in meine Richtung. Entsetzen und Wut packten mich, als ich zusah, wie die Wesen sich immer schneller durch seinen Körper bohrten. Sie wurden stärker, erhielten die Energie, die sie brauchten, um ihn zu töten, und ich ließ sie gewähren.

»Verdammt, du wirst sterben, wenn du mich nicht mit deinen Flammen abschießt! Denk an deine Leute!«, rief ich und wurde immer verzweifelter, als ich merkte, dass ich nicht einmal etwas erreichte, wenn ich mit beiden Händen an den Kreaturen zerrte.

In dem Augenblick riss Vlad die Augen auf. Smaragdgrün funkelten sie mich voller Schmerz und Entschlossenheit an.

»Ich denke ... an sie. Also lerne«, stieß er hervor.

Völlig frustriert schrie ich auf. Was ich auch sagte, ich konnte Vlad nicht dazu bringen, mir etwas anzutun. Nicht, solange er glaubte, er würde seine Leute schützen, indem er sich selbst opferte.

Also schön. Wenn Vlad mich nicht k.o. schlagen wollte, musste ich es eben selbst tun.

Ich ballte die Faust und schlug mir so fest wie möglich gegen den Schädel. Ich sah Gras in Nahaufnahme, als ich zu Boden ging, aber ein Blick auf Vlad zeigte mir, dass die Restwesen sich nicht von ihm weggerührt hatten. Scheiße.

Ich brauchte etwas Härteres als meine Fäuste.

Ein breiter Grabstein mit Engelsgravur fiel mir ins Auge. Ich entschuldigte mich im Geiste bei demjenigen, der darunter lag, und schickte noch schnell ein Stoßgebet zum Himmel, um Gott um Unterstützung für meinen Plan zu bitten.

Dann preschte ich in gebückter Haltung, so schnell ich konnte, auf den Grabstein zu, wie der Stier auf das berühm-te rote Tuch.

Explosionsartig setzte der Schmerz ein. Mein Schädel war offensichtlich nicht das Einzige, was Schaden genommen hatte, wie ich aus den Granitbrocken schließen konnte, die ich sah, als ich die Augen öffnete. Ich hatte den Grabstein zerschmettert und war im Gras dahinter gelandet. Als ich den Kopf schüttelte, um wieder zur Besinnung zu kommen, spürte ich, wie mir das Blut in dünnen Rinnsalen vom Scheitel rann, und drehte mich abrupt um, um noch einen Blick auf Vlad zu werfen.

Ein erleichterter Aufschrei entfuhr mir, als ich sah, dass alle Restwesen von ihm abgelassen hatten und aufsahen. Ihre Blicke waren auf mich gerichtet, ihr vernichtender Angriff ge-stoppt. Vlad wich zurück, aber sie machten keine Anstalten, ihn erneut zu attackieren, sahen mich einfach nur weiter in stierer Erwartung an. Ich stutzte kurz, weil ich mir nicht sicher war, was letztendlich den Ausschlag gegeben hatte. Ohnmächtig konnte ich nicht geworden sein; sie waren noch alle da. Hatte die Zerstörung des Grabsteines etwa den Zauber bewirkt? Als ich dann jedoch wieder die feuchten Rinnsale auf meinem Gesicht spürte, traf mich die Erkenntnis.

Blut. Das war die Fernbedienung, mit der man sie lenken konnte. Die Restwesen waren erst aufgetaucht, als Vlad mir die blutige Lippe verpasst hatte, genau wie damals, als Marie sich mit ihrem Minidolch die Hand aufgeritzt hatte. Um sie zu bannen, musste sie es, von mir unbemerkt, noch einmal getan haben. Was ihr nicht schwergefallen sein durfte, da ich die ganze Zeit über entsetzt Bones angestarrt hatte, statt auf sie zu achten. Das frische Blut aus meiner Kopfver-letzung reichte aus, um sie von Vlad abzulenken, aber wie vorhin meine Lippe würde auch diese Wunde bald verheilt sein. Ich durfte nicht zulassen, dass die Kreaturen sich ein zweites Mal auf Vlad stürzten. Er war am Ende seiner Kräfte.

Ich machte mir nicht erst die Mühe, eines meiner Messer hervorzuziehen, sondern schlug die Hand gegen einen der scharfkantigen Grabsteinsplitter, was mir eine tiefe Schnittwunde einbrachte.

»Also schön, ihr mordlustigen kleinen Spukgestalten«, murmelte ich. »Mama sagt: Jetzt ist Schlafenszeit

Ich schloss die Autotür, lehnte mich kurz dagegen und dachte, dass ich, wenn es im Leben gerecht zuginge, jetzt nach oben gehen und die längste und heißeste Dusche der Geschichte nehmen könnte, um die Eiseskälte zu vertreiben, die mir noch immer in jeder einzelnen Körperzelle steckte. Aber wir hatten nur einen kurzen Zwischenstopp eingelegt, damit ich mir etwas anderes anziehen konnte. Hätte mir schließ-

lich keiner abgenommen, dass ich mir bloß einen lustigen Abend machen wollte, wenn ich blutüberströmt durch die Kneipen gezogen wäre.

»Ihr seid früh zurück«, bemerkte jemand trocken.

Ich hob den Blick und sah Mencheres in der Haustür stehen. Vlad stieg aus, warf die Autotür ein wenig heftiger als nötig zu und bedachte den ägyptischen Vampir mit einem müden Blick.

»Autopanne«, sagte er in einem Tonfall, der jede weitere Nachfrage im Keim erstickte.

»Du bist selbst ziemlich früh daheim. Irgendwas Interessantes aufgetan?«, erkundigte ich mich, bemüht, Mencheres von der offensichtlichen Tatsache abzulenken, dass ich selbst zwar voller Blut war, dem Auto aber offensichtlich gar nichts fehlte.

»Nichts, was Dave nicht bereits entdeckt hatte«, antwortete Mencheres mit leichtem Schulterzucken.

Ich seufzte nicht, hätte es aber am liebsten getan. Wäre auch ein bisschen zu viel des Guten gewesen, wenn mir das Schicksal, sozusagen zum Ausgleich für den entsetzlichen Abend, Apollyons Adresse als Graffiti auf der Hauswand hinterlassen hätte.

»Sei nicht enttäuscht, Cat. Ich hatte nicht erwartet, etwas zu finden. Aus diesem Grund bin ich nicht gegangen«, meinte Mencheres und hielt uns die Tür auf.

Ich zog die Augenbrauen hoch, trat aber ein, weil ich es für besser hielt, die Unterhaltung nicht im Garten fortzusetzen.

Vlad beäugte Mencheres ebenfalls neugierig, folgte mir aber nach drinnen. Als die Tür ins Schloss gefallen war, warf ich einen sehnsüchtigen Blick auf die Couch, blieb aber stehen.

»Willst du uns nicht erzählen, warum du sonst gegangen bist?«, erkundigte ich mich.

»Weil es dumm gewesen wäre, mich nicht zu vergewissern, ob meine Vermutung stimmt«, antwortete Mencheres. Er lehnte ganz lässig am Türrahmen. »Und wenn ich nicht gegangen wäre, hättest du ja auch keine Chance gehabt, deine neu erworbenen Fähigkeiten auszuprobieren, nicht wahr?«, fügte er hinzu.

»Das hast du gewusstl«, rief ich und war mir nicht sicher, was ich erstaunlicher finden sollte: die Tatsache, dass Mencheres über meine Fähigkeiten Bescheid wusste, oder dass er sie mich ausprobieren ließ, ohne Bones etwas zu verraten.

»Hast du es gesehen?« Wie schön, vielleicht hatte er ja das zweite Gesicht zurückerlangt ...

Der Blick, den Mencheres mir - und, wie ich feststellte, auch Vlad - zuwarf, sprach Bände. »Nein. Aber ich habe euch heute Morgen ebenfalls reden hören, sodass ich keine hell-seherischen Fähigkeiten brauchte, um zu wissen, was Vlad tun würde, wenn man ihm genug Zeit mit dir allein lässt.

Der Charakter einer Person ist manchmal aufschlussreicher als jede Zukunftsvision.«

Vlad ließ ein überraschtes Kichern hören. »Du hast mich reingelegt, du Fuchs! Da dachte ich, ich wäre schlauer als du, dabei hast du mich ausgetrickst.«

Mencheres schenkte ihm ein spitzbübisches Grinsen. Verblüfft starrte ich ihn an. Ich hatte den stets so reservierten Mega-Meister noch nie so schalkhaft erlebt.

»Du vergisst, dass ich es war, der dir deine Tricks erst beigebracht hat, Vlad. In ein paar Jahrhunderten bist du vielleicht so weit, dass du mich überlisten kannst, aber jetzt noch nicht.«

Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder mir zu, und sein Gesicht wurde wieder ernst. »Du hast dich offenbar verletzt, aber ist es dir gelungen?«

Ich warf Vlad einen Blick zu, bevor ich antwortete, und stellte am Kräuseln seiner Lippen fest, dass er die Details unseres Erfolges lieber unerwähnt lassen wollte.

»O ja. Blut ist der Schlüssel. Das hätte ich wissen können, was? Bei den Untoten geht es immer um Blut. Vampire er-nähren sich davon, und für die Ghule ist es auch wichtig, weil man zur Erschaffung eines Ghuls zwar ein Ghul-Herz transplantieren muss, vorher und nachher aber noch Vampirblut braucht.«

Und durch Blut hatte auch Marie ihre Kräfte erlangt. Sie war eine zur Ghula gewordene Mambo, deren Fähigkeiten durch die Verwandlung dauerhaft erhalten geblieben waren.

Wenn ich so zurückdachte, hätte ich wirklich gleich darauf kommen müssen.

Andererseits, mischte sich mein Verstand ein, ist es Vlad auch nicht aufgefallen, und der hat in solchen Sachen immerhin sehr viel mehr Erfahrung als du. Vielleicht sollte ich einfach aufhören, mir Vorwürfe zu machen und akzeptieren, dass man es im Nachhinein immer besser wusste.

»Wir wissen jetzt, wie es funktioniert, aber mir geht es elend«, fuhr ich fort. »Mir ist so kalt, dass mir die Zähne klappern würden, wenn sie noch könnten. Und meine Gier ist noch immer so groß, dass ich allmählich richtig scharf auf euch werde.«

Vlads Lippen kräuselten sich. »Kommt jetzt der Teil, wo ich dich daran erinnern soll, dass da nur die Restenergie aus dir spricht und du Bones gar nicht betrügen willst?«

»Nicht diese Art von Gier!«, keuchte ich, entsetzt, weil Vlad dachte, ich hätte vor, mal eben so mir nichts dir nichts einen flotten Dreier mit ihm und Mencheres zu schieben.

»Ich meinte, dass ich gierig auf euer Blut bin. Nicht auf ...

ihr wisst schon.«

Unwillkürlich ging mein Blick zu den betreffenden Körperstellen und huschte dann schnell wieder weg, als mir mein Missgeschick auffiel. Meine Wangen prickelten vor Scham, als Vlad lange und herzhaft lachte. Der höflichere Mencheres tat, als fände er den Türrahmen plötzlich ungeheuer faszinierend, aber ich sah, wie seine Lippen zuckten.

»Meine liebe Gevatterin«, meinte Vlad noch immer lachend. »Hast du uns gerade abgecheckt ...«

»Nein!«, rief ich sofort und sprintete fast Richtung Treppe. »Ich bin müde und noch benommen von den Restwesen, und ... Ach, scheiß drauf, ich nehm eine Dusche. Keine kalte Dusche natürlich, die brauche ich nämlich nicht...« O Jesus, ich machte es immer schlimmer. »Ich meine, mir ist ja schon kalt, und ich muss mich anheizen. Ich meine aufwärmen.

Ach, halt einfach die Klappe!«

Vlads Gelächter begleitete mich die Treppe hinauf. Wenigstens war er nach seiner Nahtoderfahrung inzwischen wieder besser drauf, auch wenn seine Erheiterung auf meine Kosten ging. Arroganter Rumäne. Ich hatte gar keinen Blick auf seine oder - Gott bewahre! - Mencheres' Kronjuwelen werfen wollen. Die beiden trugen ja nicht mal enge Hosen, sodass es eh nichts zu sehen gab.

Allein der Gedanke ließ mir wieder die Wangen prickeln.

Grundgütiger, ich musste wirklich fix und fertig sein, sonst wäre mir so was nie passiert, nicht mal versehentlich. Andererseits hatte ich Vlad vorhin beinahe umgebracht, da sollten ihm seine Macho-Witze ausnahmsweise einmal ge-gönnt sein. Seine Sticheleien über mich ergehen zu lassen, war wohl das Mindeste, was ich als Wiedergutmachung tun konnte.

Und Mencheres würde meinen indiskreten Blick vermutlich als ausgleichende Gerechtigkeit betrachten. Er hatte mich immerhin schon ganz nackt gesehen, sodass er sich nicht beschweren konnte.

Als ich in meinem Zimmer angekommen war, sprang ich allerdings nicht gleich unter die Dusche. Vom schlechten Gewissen geplagt zog ich mein Handy hervor.

»Bones«, meldete ich mich, als er am Apparat war. »Ich weiß, wir haben uns heute Morgen erst gesehen, aber, wow, wie ich dich vermisse!«

Drei Tage später saß ich gerade auf der Couch und kraulte meinen Kater an seiner Lieblingsstelle hinter den Ohren, als ein leises Prickeln in der Atmosphäre mich aufsehen ließ.

Ich konnte inzwischen schon besser vorhersehen, wenn ein Geist auftauchte, der stark genug war, den stinkigen Schutz-wall aus Hasch und Knoblauch zu durchdringen, mit dem ich mich umgab.

»Besuch«, rief ich. Das war meine neueste Methode, Vlad und Mencheres vorzuwarnen, falls sie gerade etwas Verfängliches besprachen. Meines Wissens hatten die Gespenster, denen ich es befohlen hatte, tatsächlich nichts ausgeplau-dert, aber wir mussten das Schicksal ja nicht herausfordern, indem wir uns offen darüber unterhielten, in welche Bar wir als Nächstes gehen wollten.

Obwohl es vermutlich auch nicht weiter schlimm gewesen wäre. Seit dem Abend im Autokino hatten wir keine Ghul-Fanatiker mehr zu Gesicht bekommen. Vielleicht mieden sie die Orte, an denen sie sich sonst immer getroffen hatten, nachdem einige aus ihren Reihen verschwunden waren. Womöglich steckte aber auch etwas viel Einfacheres dahinter. Apollyons Spießgesellen bekamen ihre Nahrung samt und sonders frei Haus geliefert, sodass sie nicht mehr rausmussten, um sie sich zu beschaffen. Wir zogen trotzdem Abend für Abend los. Laut Dave waren Scythe und die Ghul-Bande, die ihn aufgenommen hatte, noch vor Ort. Irgendwann mussten sie sich zeigen.

Augenblicke später tauchte eine schattenhafte Gestalt in der Tür auf, noch so verschwommen, dass ich keine indivi-duellen Züge ausmachen konnte. Aus den nebligen Umris-sen formte sich schließlich ein schlanker Mann mit braunem Haar und Koteletten, wie man sie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts getragen hatte.

»Fabian!«, rief ich, aber meine Wiedersehensfreude wich der Angst, als ich sein grimmiges Gesicht sah. »Ist Dave okay?«, erkundigte ich mich sofort.

»Noch«, stieß der Geist beinahe seufzend hervor. »Aber er will etwas sehr Dummes machen.«

Mein Kater fauchte, als ich aufstand und ihn dabei von meinem Schoß schubste. »Was?«

»Sich als Spion ertappen lassen«, antwortete Fabian.

Mencheres und Vlad kamen nach unten. Ich warf ihnen einen düsteren Blick zu, während ich bereits in meine Stiefel schlüpfte. »Wir müssen Dave holen, sofort«, informierte ich sie.

»Hat er vor, das in der nächsten Stunde durchzuziehen?«, wollte Mencheres wissen und legte mir beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Glaube nicht.« Fabian bedachte mich mit einem hilflosen Blick. »Er weiß nicht, dass ich hier bin. Ich habe ihm versprochen, es dir erst zu verraten, wenn er in ihrer Gewalt ist.

Aber ich habe dir geschworen, ihn zu beschützen und kann meinen Schwur nicht brechen, obwohl ich jetzt ihn hintergehe, indem ich dir Bescheid sage.«

»Du hintergehst ihn nicht, du rettest ihn«, antwortete ich im Brustton der Überzeugung, weil ich in der Vergangenheit selbst schon viele Fehlentscheidungen getroffen hatte. »Manchmal glauben die Leute, sie hätten keine andere Wahl, als sich selbst zu opfern, aber das heißt nicht, dass das auch stimmt. Und jetzt erzähl mal, warum Dave plötzlich meint, er müsste sich für uns vor den Zug werfen. Was ist passiert?«

»Gestern Abend wurde er auf eine außerplanmäßige Versammlung mitgenommen, während der Scythe angekündigt hat, dass er Memphis verlassen will, weil seine Arbeit hier erledigt ist. Seinen Anhängern hat er nahegelegt, sie sollten hierbleiben und an ihren Überzeugungen festhalten, weil ihre Bewegung bald so stark sein würde, dass sie offen gegen die Vampire vorgehen könnten.«

»Scheiße«, stöhnte ich, und Vlad stimmte mir grummelnd zu. In jeder Stadt, in die die Ghule zogen, infizierten sie andere mit ihrem Hass. Scythe hatte zwar einen relativ hohen Rang in Apollyons Organisation inne, aber er stand nicht allein, wenn es darum ging, die paranoiden Wahnvorstel-lungen seines Gurus zu verbreiten. Noch schlimmer war, dass wir erst wissen würden, wo es die Ghule als Nächstes hinzog, wenn Berge von Vampirleichen uns den Weg wiesen, und dann war es bereits zu spät. Die alte Weisheit, der zufolge eine gute Verteidigung sinnvoller war als jeder Angriff, beruhigte mich auch nicht, wenn derart viel auf dem Spiel stand.

Ich wusste nicht, was Scythe unter »bald« verstand, wenn er von der offenen Revolte sprach. Wenn Untote »bald« sagten, konnte das Wochen, Jahre oder auch ein ganzes Jahrzehnt bedeuten. Aber wie ihr Zeitplan auch aussah, ich konnte nicht zulassen, dass er und Apollyon ihr Ziel erreichten.

Dave wusste ebenfalls um die Gefahr und war daher bereit, das Risiko einzugehen, sich bewusst schnappen zu lassen.

»Dave setzt darauf, dass ihn jemand verhören wird, der vielleicht über Apollyons Aufenthaltsort Bescheid weiß.

Wenn du dann also Mencheres, Vlad und mir sagst, wo er ist, können wir rechtzeitig da sein, um ihn zu befreien und uns die bösen Buben zu schnappen, richtig?«, erkundigte ich mich.

Der Geist nickte bekümmert.

Vlad runzelte nachdenklich die Stirn, woraufhin ich rief:

»Auf keinen Fall.«

»Es ist ein vertretbares Risiko«, beharrte er.

»Ist es nicht, weil sie Dave vermutlich den Kopf abhacken und sich aus dem Staub machen werden, bevor sie ihm auch nur eine Frage gestellt haben«, schoss ich zurück. »Apollyons Leute brauchen keine Antworten von Dave. Was gibt es denn, das sie noch nicht wissen? Sie wissen, dass wir hinter ihnen her sind, sie glauben zu wissen, wo Bones und ich uns aufhalten ... Sie haben keinen Grund, Dave lange genug am Leben zu lassen, dass wir ihm zu Hilfe kommen können.

Und wenn Dave sich nicht so idiotisch heldenhaft aufführen würde, wäre ihm das längst selbst klar.«

Vlad zuckte mit den Schultern. »Dann sollte Fabian sich schleunigst auf die Socken machen und Dave raten, gleich zu Anfang auszupacken, dass eigentlich gar nicht du mit Bones zusammen in Ohio bist. Das dürfte das Interesse der Ghule so weit wecken, dass sie mehr wissen wollen.«

»Es ist trotzdem zu gefährlich«, fauchte ich.

Vlads Blick wurde streng. »Ein Leben zu riskieren, um Tausende zu retten, ist nicht zu gefährlich. Wenn du zu schwach bist, das einzusehen, hast du kein Recht, auch nur für ein einziges der Leben Verantwortung zu tragen, das dir in Bones' und Mencheres' Sippe unterstellt ist.«

»Wirklich?« Ich machte eine ausladende Handbewegung, die den ganzen Raum einschloss. »Und warum unterstützt du dann nicht die Ghule, die mir die Rübe wegblasen wollen, um den Krieg zu verhindern, bevor er ausbricht? Meines ist auch nur ein einzelnes Leben. Würde mein Tod Apollyon nicht gehörig den Wind aus den Segeln nehmen?«

Vlads Augen leuchteten grün, als er vortrat und mich packte. »Du bist meine Freundin«, stieß er zwischen zusam-mengebissenen Zähnen hervor. »Ich habe nicht viele Freunde, aber glaub ja nicht, ich würde dich nicht bereitwillig opfern, wenn ich der Meinung wäre, dieser Krieg ließe sich dadurch tatsächlich verhindern.«

Vlad hatte so fest zugedrückt, dass meine Schultern brannten, als er ebenso abrupt wieder von mir abließ. »Ich glaube allerdings, dass es Apollyon nicht aufhalten würde«, fuhr er fort, wirbelte herum und entfernte sich von mir. »Er würde einfach behaupten, du wärst gar nicht tot, und wir wollten ihn nur zum Narren halten. Lebend nützt du der Vampirwelt im Augenblick außerdem sehr viel mehr. Dank deiner neuesten ... Fähigkeit.«

Ich starrte Vlad an. Er hatte mir den Rücken zugekehrt, sein langes Haar war noch in Bewegung, weil er so hektisch gelaufen war. Es war allerdings nicht die zur Schau getrage-ne Kälte, mit der er meinen und Daves Tod in Betracht zog, die mich traurig machte, als ich ihn so ansah. Ich fand es bedauerlich, dass er, Jahrhunderte nachdem der Verlust eines Lebens ihn, wie er selbst sagte, gebrochen hatte, noch immer nicht bereit war, sich einzugestehen, dass man ein Leben immer nur in letzter Konsequenz opfern sollte. Nicht, weil es die bequemste und naheliegendste Lösung war.

»Wenn wir keine Wahl hätten, würde ich dir zustimmen, dass Dave das Risiko auf sich nehmen sollte. Aber wir haben unsere Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft, also sage ich Nein. Und wenn du den Wert eines Lebens noch immer nicht ermessen kannst, solltest du dir vielleicht selbst einmal Gedanken darüber machen, ob man dir eine Sippe anver-trauen kann«, antwortete ich in ruhigem, aber unterschwellig stählernem Tonfall.

Vlad drehte sich um und durchbohrte mich mit einem Blick, der mich eigentlich dazu hätte veranlassen müssen, ein paar Schritte rückwärts zu machen. Was ich nicht tat. Ich starrte ihn ebenso unnachgiebig an. Niemals würde ich mich kleinkriegen lassen oder entschuldigen, wenn ich wusste, dass ich recht hatte.

»Wenn du älter bist, wirst du besser verstehen, was es heißt, Opfer zu bringen«, murmelte Vlad nach einigen Augenblicken angespannter Stille.

»Es ist kein Opfer, wenn es einem nichts bedeutet, und wenn das Leben eines Freundes für dich keinen Wert hat, verlierst du nichts, wenn du es hingibst«, schoss ich zurück.

Sein Blick ging nach rechts zu Mencheres, der neben mir stand und unseren Wortwechsel mit undurchdringlicher Miene verfolgt hatte. Mencheres' Verhalten in der Vergangenheit nach zu urteilen, war er skrupellos genug, sich Vlads Meinung anzuschließen und das Risiko, das Dave einging, als vertretbar einzustufen, ohne lange nach anderen Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Mann, wenn Mencheres danach war, konnte er mich zwingen, machtlos hier herum-zustehen, während Dave den unwiderruflichen Schritt tat.

Ein Aufflackern seiner telekinetischen Fähigkeiten, und ich hätte mich nicht mehr von der Stelle rühren können, geschweige denn das Haus verlassen, um meinem Freund bei-zustehen.

Ein Aufflackern meiner neu erworbenen Fähigkeiten, und Mencheres hätte allerdings mal richtig was zum Grübeln gehabt. Ich begegnete dem Blick des Meistervampirs und sah an seinen leicht zusammengekniffenen Augen, dass er wusste, was mir durch den Kopf ging. Die kurze Distanz zwischen uns schien sich zu einem langen, gefahrvollen Pfad auszudehnen, während wir einander durch das Zimmer hindurch anstarrten.

Von meinen Lippen verdeckt kamen meine Fänge hervor.

Ihre scharfen Spitzen berührten meinen Zungenrand. Ein Biss, und ich konnte mit meinem Blut die Restwesen hervor-locken, sodass weder Vlad noch Mencheres in der Lage sein würden, mich davon abzuhalten, Dave zu schützen. Die Frage war, ob Mencheres mich schnell genug mit seiner Macht fesseln konnte, um diese winzige Bewegung zu verhindern?

Und wichtiger noch: Wollte ich die Restwesen als Waffe gegen meine Freunde einsetzen, selbst wenn ich damit einem anderen Freund das Leben rettete?

Nach einigen Augenblicken schenkte Mencheres mir ein feines Lächeln und neigte den Kopf. »Das Leben eines Freundes ist in der Tat zu wertvoll, um es zu opfern, es sei denn, man hat keine Wahl. Wir werden Dave an seinem Vorhaben hindern und versuchen, eine andere Lösung zu finden.«

Meine Anspannung ließ noch nicht nach. War das ein Trick? Würde Mencheres mit seiner Macht zuschlagen und meine Leichtgläubigkeit belächeln, sobald ich die Fänge zu-rückzog?

Vlad glaubte das offenbar nicht. Er stieß ein frustriertes Stöhnen aus. »Kira hat dich weichherzig gemacht.«

»Sie hat mir die Augen geöffnet«, widersprach Mencheres kühl. »Und du, mein Freund, protestierst zu viel. Bevor du von Cats neuer Fähigkeit wusstest, hättest du sie leicht vor ausreichend ghulischen und vampirischen Zeugen in deine Gewalt bringen und töten können. Dann hätte Apollyon nicht behaupten können, sie wäre noch am Leben. Du hättest zwar Ärger mit mir, aber deine Leute wären in Sicherheit, und der Krieg wäre abgewendet. Solltest du also wirklich der Meinung sein, das Leben eines Freundes hätte keinen Wert, würdest du mich jetzt nicht so finster anblicken.«

Vlad murmelte etwas in einer mir unbekannten Sprache.

Was es auch war, es klang nicht wie »Gut gekontert, der Herr!«, und der böse Blick, den er Mencheres zuwarf, ließ vermuten, dass er kurz davor war zu explodieren.

»Ooch, wer ist jetzt hier das Weichei?«, neckte ich ihn und spürte, wie die Furcht ein wenig aus mir wich. Natürlich würde es schwer werden, aber wir würden eine andere Möglichkeit finden, Apollyon, Scythe und all den anderen hasserfüllten Kriegstreibern das Handwerk zu legen. Hatte Bones mir in der Vergangenheit nicht wiederholt versichert, dass es immer eine andere Möglichkeit gab?

»Im Grunde genommen, Gevatterin, mache ich mir über deinen Tod im Augenblick keine Gedanken«, stieß Vlad hervor.

Ich ignorierte ihn. Vlad konnte sich aufplustern, wie er wollte, er bewies doch immer aufs Neue, dass er nur brutal war, wenn die Umstände es erforderten. Trotz seiner furcht-erregenden Reputation war er eher für seine Loyalität als für seine Bosheit bekannt. Ich wandte mich Fabian zu, der während der letzten Minuten geschwiegen hatte.

»Erst holen wir Dave. Und dann«, ich warf Mencheres einen Blick zu, »feiern wir beide Wiedersehen mit unseren besseren Hälften, denn wenn Scythe und die Gang sich aus Memphis zurückziehen, gibt es für uns auch keinen Grund mehr hierzubleiben.«

Ich hatte mir gerade fertig die Stiefel angezogen, um sie -

und andere meiner Kleidungsstücke - mit Waffen zu bestü-

cken, als ich ein vertrautes Vibrieren an der Hüfte spürte. Ich zückte mein Handy, nahm den Anruf an und meldete mich mit »Ja?«, ohne nachzusehen, wer am Apparat war.

»Cat.«

Täte sagte lediglich meinen Namen, aber etwas in seiner Stimme ließ mich so abrupt erstarren, als hätte die ganze Wucht von Mencheres' telekinetischer Energie mich getroffen.

»Geht es um Don?«, hauchte ich, während es mir schmerzhaft die Brust zuschnürte. Das kann nicht sein. Ich habe doch erst vor ein paar Tagen mit ihm gesprochen, und er klang wie immer!, wollte ich die Realität leugnen.

»Ja«, antwortete Tate knapp, klang dabei aber so mitgenommen, wie ich mich fühlte. »Komm zur Luftwaffenba-sis in Memphis. Dort wartet ein Heli auf dich.«

Ich musste zweimal schlucken, bevor ich antworten konnte. »Ich bin unterwegs.«

Mit gefühllosen Fingern schaltete ich das Handy ab. Mencheres' dunkle, verständnisvolle Augen blickten mich an, als ich aufsah. Er hatte offenbar mitgehört.

»Geh«, sagte er. »Vlad und ich holen Dave und kommen dann nach.«

Vlad nickte mir zur Bestätigung kurz zu. Ich hörte auf, mich zu bewaffnen, und ging nach oben. Auf der Frisierkommode lag mein roter Diamantring. Er war so auffallend, dass ich ihn bei der Ghul-Jagd nicht hatte tragen können, jetzt aber steckte ich ihn mir auf den Finger und fand Trost in seinem vertrauten Gewicht. Dann schnappte ich mir die Katzenbox. Ich wusste, dass ich nicht zurückkommen wür-de, und bis auf meinen Kater und meinen Ehering ließ sich alles ersetzen.

Du schaffst es rechtzeitig.

Das sagte ich mir im Auto und in der Luft die ganze Zeit über vor. Bis zu Dons Stützpunkt war es zwar nicht weit -

einmal quer durch Tennessee, um genau zu sein -, aber ich war dennoch starr vor Angst, weil ich nicht zu spät kommen wollte. Der Helikopter landete, etwa zwei Stunden nachdem Tate mich angerufen hatte. Alles in allem war das kaum ein Wimpernschlag, aber mir kam es dennoch vor, als schleppten sich die Sekunden unbarmherzig dahin.

Auf dem Dach der Militärbasis erwartete mich ein Vampir, dessen dunkles Haar vom Sog der Rotorblätter gepeitscht wurde. Nicht Bones, obwohl ich ihn angerufen hatte und er unterwegs war. Es war meine Mutter, die wortlos meine Hand nahm, als ich aus dem Helikopter sprang, um sogleich mit mir nach drinnen zu eilen. Ich schirmte mich so gut es ging energetisch ab, weil ich glaubte, ich würde es nicht ertragen, einen zufälligen Gedanken aufzuschnappen, der mir sagte, dass Don schon nicht mehr am Leben war. Ich schaffte es nicht einmal, meine Mutter anzusehen, als wir zum Aufzug strebten, geschweige denn, ihr die Frage zu stellen, die mir auf der Zunge brannte. Ich hatte zu viel Angst vor der Antwort.

»Er lebt noch, Catherine«, sagte sie leise.

Ich unterdrückte das erleichterte Schluchzen, das sich mir entringen wollte, und brachte ein Nicken zustande, während die Tränen mir bereits die Sicht raubten. Die Aufzugtüren öffneten sich, und als ich in die Kabine trat, fiel mir ein, dass ich zuletzt im Ritz mit dem Aufzug gefahren und dabei von Ghulen überfallen worden war.

»Ist es der Krebs oder etwas anderes?«

Es sollte besser etwas anderes sein, fügte ich im Stillen hinzu. Ich hatte Don alle paar Tage angerufen, um zu erfahren, wie es ihm ging, und mich dazu noch regelmäßig von Tate über den Gesundheitszustand meines Onkels infor-mieren lassen. Niemand hatte auch nur mit einem Wort er-wähnt, dass es mit ihm bergab ging. Falls Dons Zustand sich in den vergangenen Wochen stetig verschlechtert hatte und alle mich angelogen haben, würde ich mit dieser Drecksban-de kein Wort mehr wechseln, meine Mutter eingeschlossen.

»Er hatte vor ein paar Stunden einen Herzinfarkt.«

Ich schloss die Augen und ertrug den Schmerz, der über mich hereinbrach. Ein Herzinfarkt konnte an sich schon tödlich sein. Was das für den ohnehin geschwächten Don bedeutete, war mir klar.

Kühle Finger schlossen sich um meine. »Er hält durch«, sagte meine Mutter. »Er weiß, dass du kommst.«

»Er ist wach?« Das überraschte mich, aber wie hätte er sonst wissen können, dass ich unterwegs war.

Meine Mutter sah auf den Boden und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Er war es, als ich ihn zuletzt gesehen habe.« Außer Angst, Sorge und Kummer lag noch etwas anderes, mir wohl Vertrautes in ihrem Tonfall.

Trotz. Die Aufzugtüren öffneten sich im zweiten Untergeschoss, wo der Sanitätstrakt lag, aber ich rührte mich nicht von der Stelle.

»Was verschweigst du mir, Mom?«

Sie ließ meine Hand los und deutete auf die Katzenbox.

»Es ist unhygienisch, ein Tier mit in Dons Krankenzimmer zu nehmen. All die Haare. Ich bringe deinen Kater in dein altes Büro, während du ...«

»Was verschweigst du mir?«, wiederholte ich und klatschte mit der Hand gegen die Aufzugtüren, als diese sich wieder schließen wollten.

»Crawfield.«

Wir rissen beide die Köpfe hoch, aber Tates indigoblaue Augen waren einzig auf meine Mutter gerichtet, während er uns entgegenstrebte.

»Raus aus dieser Etage, Crawfield. Ich habe Ihnen den Befehl erteilt, sich von Don fernzuhalten. Cat«, Tates Tonfall wurde weicher. »Komm mit mir.«

»Erst, wenn mir jemand sagt, was hier vor sich geht, und wie wir alle wissen, bin ich in Eile«, knurrte ich. Meine Mutter durfte sich Don nicht nähern ? Was zur Hölle war passiert ?

»Sie hat gegen seinen ausdrücklichen Patientenwillen gehandelt«, antwortete Täte, der meine Mutter inzwischen aus grünen Augen anfunkelte.

»Und er wäre schon längst tot, wenn ich es nicht getan hätte!«, zischte sie zurück, Täte wütend anstarrend, während sie mir einen flehenden Blick zuwarf. »Nur deshalb habe ich ihm das Blut verabreicht ...«

»Wozu Sie kein Recht hatten. Sie wussten, dass er es anders verfügt hat«, fauchte Tate.

Als ich aus ihrem Wortwechsel schloss, was passiert war, traten mir erneut die Tränen in die Augen. »Don hatte also eine Patientenverfügung, in der stand, dass er keine Wie-derbelebung wünscht, und du hast ihm trotzdem etwas von deinem Blut verabreicht, um ihn zurückzuholen, nachdem er den Herzinfarkt hatte?«, krächzte ich und sah meine Mutter durch einen pinkfarbenen Tränenschleier hindurch an.

Sie senkte den Blick. »Ich wusste doch, dass du ihn noch ein letztes Mal sehen wolltest.«

Ich stellte die Katzenbox ab, fiel ihr um den Hals und drück-te sie so fest an mich, dass sie ein überraschtes »Uff« ausstieß, was Tate mit einem entrüsteten Schnauben quittierte.

»Umarme sie, so viel du willst, aber sie ist bis auf Weiteres suspendiert. Und jetzt machen Sie, dass Sie aus dem Sanitätstrakt verschwinden, Crawfield, bevor ich Sie rauswerfe.«

Ich löste mich von meiner Mutter, um mich zornig Tate zuzuwenden. »Selbst unter den gegebenen Umständen kannst du nicht aufhören, dich wie ein Arschloch aufzuführen! Was ist bloß los mit dir, Tate?«

Ich hatte die Stimme erhoben. Das medizinische Personal hielt inne, um zu uns herüberzusehen, bevor es mit der Arbeit fortfuhr.

»Ich bringe deinen Kater in dein Büro, wie besprochen«, murmelte meine Mutter, trat wieder in den Aufzug und drückte einen Knopf.

Tate ergriff meinen Arm und führte mich durch den Flur, und nur, weil ich nicht wusste, ob Don wach war und uns hören konnte, verzichtete ich darauf, ihn mit Schwung über den steril glänzenden Fußboden zu schleudern.

»Die Umstände sind egal; das war Ungehorsam«, antwortete Tate leise. »Wenn sie zum Team gehören will, muss sie lernen, Befehle zu respektieren, auch wenn sie sie nicht gutheißt.«

»Es gibt Wichtigeres als Befehle«, zischte ich zurück und blieb stehen, bevor wir dem Zimmer meines Onkels zu nahe kamen. »Für dich ist Don vielleicht nur dein Boss, aber mir bedeutet er ein bisschen mehr. Meine Mutter hat das im Gegensatz zu dir wenigstens erkannt!«

»Untersteh dich«, keuchte Täte und trat so nah an mich heran, dass unsere Nasenspitzen sich fast berührten. »Un-

tersteh dich, hier aufzutauchen und zu tun, als wärst du die Einzige, die ein Familienmitglied verliert. Ich bin von Pflegefamilie zu Pflegefamilie durchgereicht worden, bis ich achtzehn wurde und der Armee beitreten konnte. Die nächsten fünf Jahre habe ich damit verbracht zu vergessen, was vorher war. Mit dreiundzwanzig hat Don mich unter seine Fittiche genommen. Er war der verdammt noch mal erste Mensch, dem ich irgendetwas bedeutet habe, der an meine Geburtstage gedacht und mir Karten geschickt hat. Der sich denken konnte, dass ich die Feiertage allein verbringen wür-de, wenn er nicht vorbeikam und vorgab, etwas Dienstliches mit mir besprechen zu wollen. Da hast du ihn noch nicht einmal gekannt.« Tate war so außer sich, dass seine Stimme belegt klang. »Ich würde jederzeit für diesen Mann töten und sterben. Bilde dir also bloß nichts ein.«

»Und warum lässt du ihn dann einfach krepieren?«, wollte ich wissen. Beim letzten Wort brach meine Stimme, so groß war mein Schmerz.

»O Cat.« Tate seufzte und sackte in sich zusammen, als hätte ihm jemand die Luft abgelassen. »Weil die Entscheidung nicht bei mir liegt. Don muss sie treffen, und das hat er. Sein Entschluss gefällt mir nicht, ich heiße ihn auch nicht gut, aber ich muss ihn verdammt noch mal respektieren.«

Und du auch, konnte ich ihn fast sagen hören, obwohl er es nicht tat. Ich sah zum Zimmer meines Onkels am Ende des Flurs und hörte das Piepsen des EKG-Geräts, das sehr unregelmäßig klang.

»Ich werde deine Mutter schleifen, bis sie begriffen hat, dass sie einen Befehl nicht einfach ignorieren kann, Cat.«

Tate hob die Hand, als wollte er mich berühren, ließ sie dann aber wieder sinken. »Und obwohl mir ihr Verhalten miss-fällt, bin ich froh, dass du es noch rechtzeitig geschafft hast«, fügte er hinzu und wandte sich mit inzwischen ebenfalls glänzenden Augen ab.

Mein Zorn sackte in sich zusammen. Es wäre mir leichter gefallen, daran festzuhalten, mich in meinen Groll über Tate und alles, was mich je an ihm genervt hatte, hineinzustei-gern. Aber es wäre doch nur der Versuch gewesen, mich über meinen Kummer hinwegzutäuschen. Tate liebte Don auch, das wusste ich. Es war mir sogar bewusst gewesen, als ich ihm unterstellt hatte, er wäre für ihn nicht mehr als ein Vor-gesetzter. Abgesehen von mir litt Tate im Augenblick wohl am meisten, aber er bewältigte seinen Kummer, wie er es immer tat — wie ein guter Soldat. Und auch ich bewältigte meinen Schmerz wie immer - indem ich voller Wut und Unglauben vor ihm davonlief. Wenn man uns beide so ansah, hatte ich also am allerwenigsten Grund, in puncto Trauer-arbeit große Töne zu spucken.

Langsam streckte ich die Hand aus, ließ sie über Tates Wange gleiten und spürte die kurzen Bartstoppeln, die mir sagten, dass er sich heute nicht rasiert hatte; dabei legte er doch sonst so großen Wert auf eine militärisch korrekte und tadellose Erscheinung.

»Don liebt dich auch«, flüsterte ich.

Dann ließ ich Tate stehen und strebte dem Zimmer meines Onkels entgegen.

Ich wusste, wie kritisch Dons Zustand war. Dass er bereits tot wäre, hätte meine Mutter nicht in letzter Sekunde einge-griffen. Aber bevor ich sein Zimmer betrat und alles Leugnen zwecklos wurde, hatte ich trotz allem irgendwie nicht akzeptieren können, dass er im Sterben lag.

Ausschlaggebend war nicht die bläuliche Blässe in Dons Gesicht, als er so dalag. Auch nicht der Patientenkittel, den er bisher nicht hatte tragen wollen, das EKG-Gerät, das seinen erschreckend niedrigen Blutdruck anzeigte, oder der schwere Geruch, von dem ich inzwischen wusste, dass er vom Krebs ausging. Nicht einmal sein unregelmäßig schlagendes Herz war es, das mir bewusst machte, dass ich meinen Onkel gerade zum letzten Mal sah. Nein, es war das Rollschränkchen, das man in eine Zimmerecke geschoben hatte - weder Telefon noch Laptop noch Akten lagen darauf -, das mir das Herz zerriss wie mit tausend Silbermessern.

Vor ein paar Tagen noch hast du mit ihm geredet! , rief eine Stimme in mir. Wie hatte das alles nur so schnell gehen können?

Ich verkniff mir das Schluchzen, das sich mir entringen wollte, trat an Dons Bett und fuhr ihm ganz sacht mit der Hand über den Arm. Ich fürchtete, meine Gegenwart könnte ihn aufwecken, und hatte ebenso große Angst davor, dass sie es nicht tat. Er war an ein EKG-Gerät angeschlossen, und in seiner Nase steckten Schläuche, aber er atmete selbständig in flachen Zügen, die ihm nicht genug Sauerstoff zuführten, wie man an seiner blassen Haut erkennen konnte.

Eine halbe Stunde lang saß ich stumm da und beobachtete ihn, während ich mir die Zeit seit unserer ersten Begegnung bis jetzt in Erinnerung rief. Wir hatten gute und schlechte Tage gehabt, aber die Fehler der Vergangenheit verblassten angesichts der Überzeugung, dass Don immer versucht hatte, das Richtige zu tun. Deshalb war er nicht immer ein guter Onkel gewesen, aber er war wie wir alle - ein Mensch mit Schwächen, der sich bemüht hatte, in harten Zeiten sein Bestes zu geben. Ich hegte keinen Groll gegenüber der Vergangenheit. Stattdessen war ich dankbar, dass Don überhaupt in mein Leben getreten war, und wünschte mir, er müsste es jetzt nicht schon wieder verlassen.

»Cat.« Ein hauchfeines Lächeln geisterte über Dons Lippen, als er aufwachte und mich an seinem Bett stehen sah. »Hätte nicht gedacht, dass ich dich noch einmal sehen würde.«

Ich atmete tief durch. Sonst wäre es mit meiner ohnehin fragilen Selbstbeherrschung ganz vorbei gewesen, und ich hätte unkontrolliert zu schluchzen begonnen.

»Hättest du ja auch nicht, aber wie ich höre, hast du im Augenblick eine ziemlich eigensinnige Rekrutin am Hals«, antwortete ich und rang mir ein Lächeln ab, obwohl ich das Gefühl hatte, mein Gesicht würde auseinanderfallen.

Don stieß ein kleines, gequältes Lachen aus. »Wie es aus-sieht, liegt deiner Mutter der Gehorsam ebenso wenig wie dir.«

Sein sarkastischer Kommentar war so typisch für das Verhältnis, das wir zueinander hatten, dass ich bei dem Gedanken, Don zu verlieren, noch trauriger wurde. Mein Vater und ich hatten nur Hass füreinander empfunden, aber Don hatte mein Herz erobert, bevor ich überhaupt gewusst hatte, dass ich mit ihm verwandt war.

»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, du weißt schon«, gab ich zurück. Dann geriet ich doch aus der Fassung und vergoss ein paar Tränen, obwohl ich mir alle Mühe gab, sie zurückzuhalten.

Ach Cat, wein doch nicht.

Don hatte das nicht laut gesagt, aber ich hörte die Worte in seinen Gedanken so deutlich, als hätte er sie mir ent-gegengeschrien. Er führte die Hand an meine und tätschelte sie, bevor er die Augen schloss.

»Alles wird gut«, flüsterte er.

Und ich hörte noch etwas, das er nicht sagte, das aber in meinem Geist deutlicher widerhallte, als mir lieb war.

Wie schön, dass die Schmerzen bald vorbei sind ...

»Don.« Ich beugte mich vor und streichelte flehentlich seine Hand. »Du hast zwar Nein gesagt, aber es ist noch nicht zu spät, falls du deine Meinung geändert hast. Ich kann immer noch ...«

»Nein«, fiel er mir ins Wort und öffnete die Augen. »Mein Leben dauert jetzt schon länger, als es sollte. Versprich mir, dass du mich gehen lässt und mich nicht wieder zurück-holst.« Ich bin müde, so müde, seufzte es in seinem Kopf.

In meinem Herzen brach etwas, aber ich hielt seinem Blick stand, nickte und zwang mich zu antworten, während ich mir eine Träne von der Wange wischte.

»Ich versprech's.«

Braves Mädchen. Bin stolz auf dich. So stolz.

Ich stand auf und lief hektisch im Zimmer auf und ab, damit er nicht sah, dass ich noch mehr weinen musste, als ich das hörte. Ich hatte schon viele Schlachten geschlagen, aber ihn gehen zu lassen, erforderte eine Stärke, von der ich nicht wusste, ob ich sie besaß.

»Du weißt nicht, wie sehr du mir fehlen wirst«, flüsterte ich, ihm den Rücken zugewandt, während ich versuchte, mir die Tränen wegzuwischen, die einfach nicht aufhören wollten zu fließen, egal wie sehr ich gegen sie ankämpfte.

Er schnaubte leise. »Doch. Du wirst mir auch fehlen.« Hab dich lieb, Nichte. Hätte ich dich doch früher kennengelernt.

Hätte mir nicht so lange Zeit lassen sollen ...

Als ich seine Gedanken hörte, entfuhr mir ein erstickter Laut. Ich bohrte mir die Fingernägel in die Handflächen in der Hoffnung, der leichte körperliche Schmerz würde mich ein wenig von meinen emotionalen Qualen ablenken. Aber es half nichts. Es schnürte mir das Herz zusammen. Gegen diese seelische Verletzung konnten selbst meine übernatürlichen Selbstheilungskräfte nichts ausrichten.

Augenblicke später hörte ich das vertraute Geräusch schwerer Stiefel auf dem Flur und spürte ein Energiefeld in der Luft, das ich überall erkannt hätte. Gott, Bones war schnell hergekommen. Was meine Selbstbeherrschung, mit der es im Augenblick ohnehin nicht weit her war, noch mehr ins Wanken brachte. Bones war so schnell gekommen, weil er wusste, dass es mir dreckig ging, und dafür liebte ich ihn um so mehr, auch wenn es mir erst recht bewusst machte, wie schlimm mein Schmerz sein würde, wenn Don tot war.

Dann war Bones an meiner Seite, erfasste mit einem kurzen Blick seiner dunklen Augen die Lage und streckte die starken Arme nach mir aus, um mich an sich zu ziehen. Ich gestattete mir ein paar kostbare Sekunden, in denen ich mich einfach nur seiner Umarmung hingab, ohne die Starke zu spielen, bevor ich mich wieder Don zuwandte und ihm ein krampfhaft fröhliches Lächeln schenkte.

»Sieh mal, wer noch hier ist.«

»Ich seh's.« Ein Hustenanfall schüttelte meinen Onkel.

Bones ergriff meine Hand, als mehrmals bedrohliche Pausen zwischen seinen Herzschlägen entstanden. »Du hast dich als anständiger erwiesen als gedacht«, krächzte Don, nachdem er sich wieder gefasst hatte.

Bones sah meinen Onkel mit stetem, ernstem Blick an.

»Du auch, mein Alter.«

»Bones und ich haben uns unterhalten«, sagte ich und versuchte zu lächeln, damit ich nicht in Tränen ausbrach, weil mir klar war, dass das ihre Art war, einander Lebewohl zu sagen. »Weißt du noch, wie du gesagt hast, du wolltest mich zum Traualtar führen? Na ja, wir würden dein Angebot gern annehmen.«

Dons Lippen verzogen sich zu einem wehmütigen Lä-

cheln, bevor sein Gesicht wieder einen verkniffenen Ausdruck annahm und seine Gedanken mir verrieten, dass er Schmerzen in der Brust hatte. Ich warf einen Blick auf das EKG-Gerät, obwohl ich wusste, was es anzeigte. Das Blut meiner Mutter hatte Don ins Leben zurückgeholt, aber nicht für lange. Sein Herz versagte direkt vor meinen Augen.

»Deine Hochzeit werde ich wohl nicht mehr miterleben, Cat«, murmelte er und schloss die Augen.

»Doch, das wirst du«, sagte ich mit so viel Nachdruck in der Stimme, dass Dons Augen sich wieder öffneten und sogar offen blieben. »Weil wir hier und jetzt unser Ehegelübde erneuern werden.«

»Cat.« Dons Gesicht wirkte vor Kummer ganz verhärmt.

»Du wolltest doch ein großes Fest, wenn alles ... vorüber ist.

Du musst dir das nicht kaputt machen ...«

Er verstummte und schloss die Augen, woraufhin sein Herzschlag kurz aussetzte. Ich biss mir auf die Unterlippe und drückte Bones' Hand, bis ein knackendes Geräusch mich dazu brachte, meinen Griff zu lockern.

»Das sind wirklich nicht die richtigen Umstände«, sagte mein Onkel schließlich mit einer vagen Handbewegung in Richtung der Apparate an seinem Bett.

Ich dachte daran, wie ich mir als kleines Mädchen meine Hochzeit vorgestellt hatte. Ein weißes Kleid war natürlich auch vorgekommen. In meiner Vorstellung hatte mein Großvater an seiner Fliege herumgezupft wie immer, wenn er eine tragen musste, und meine Großmutter hatte ihn beruhigt und ihm gesagt, dass sie gerade saß, und dabei die Augen verdreht. Meine Mutter war natürlich auch da und lächelte, weil sie sich so für mich freute, und Freundinnen hatte ich auch, die mir das Kleid zurechtzupften, bevor ich zum Traualtar schritt. Mein Brautstrauß bestand aus Rosen und Wildblumen, das Haar hatte ich hochgesteckt, und meinen künftigen Ehemann lächelte ich durch einen duftig weißen Schleier an, der erst gelüftet wurde, nachdem wir zu Mann und Frau erklärt worden waren.

Damals hatte ich natürlich noch nicht gewusst, dass es Vampire gab, geschweige denn, dass ich zur Hälfte selbst einer war. Bones hatte sich nach Kräften bemüht, diesen Traum für mich wahr werden zu lassen, aber das Leben, das wir führten, verhinderte jedes Mal, dass ich meine Wunsch-hochzeit bekam.

Ich würde nie so heiraten, wie ich es mir als Kind erträumt hatte. Und schon gar nicht jetzt, im Sanitätstrakt einer geheimen Regierungsbehörde, deren Aufgabe es war, die Aktivitäten der Untoten zu überwachen. Meine wirkliche Hochzeit hatte in einer blutgetränkten Arena stattgefunden, vor den Augen hunderter Vampire, denen ich nie zuvor begegnet war, nicht im Kreis meiner Freunde und Angehörigen.

Mein Bräutigam hatte auch nicht meinen Schleier gelüftet, nachdem wir zu Mann und Frau erklärt worden waren. Er hatte sich in die Hand geschnitten, sie mir gereicht und bei seinem Blut geschworen, dass ich für immer seine Frau sein würde, wenn ich ihn zum Mann nahm.

Das war meine Hochzeit gewesen. So ziemlich das exakte Gegenteil dessen, was ich mir erträumt hatte, aber im Nachhinein wollte ich daran nichts mehr ändern oder den Akt durch etwas anderes ersetzen. Ich würde nie das Leben haben, das ich mir als Kind ausgemalt hatte, und mir war erst vor Kurzem klar geworden, dass es okay war zu sein, wer ich war. Bei meiner Hochzeit hatte ich statt eines schönen weißen Kleides zwar einen schwarzen Nuttenfummel getragen und blutige Finger anstelle eines Brautstraußes gehabt, aber als Bones mir seine Hand entgegengestreckt und mich zu seiner Frau erklärt hatte, war ich die glücklichste Person auf Erden gewesen.

»Die Umstände sind unwichtig«, antwortete ich, noch immer bemüht, meine Tränen zurückzuhalten, während ich versuchte, all das in Worte zu fassen, was mir selbst erst vor so kurzer Zeit klar geworden war. »Hier geht es um Familie.«

Don hatte meine Hochzeit nicht miterlebt. Meine Mutter auch nicht, und meine Großeltern waren damals schon Jahre tot gewesen. Aber wenigstens die Angehörigen, die ich noch hatte, konnten jetzt dabei sein. Ich wollte die Zeremonie nicht für mich wiederholen, sondern für sie.

»Machst du es?«, fuhr ich fort.

Dons Blick war verklärt. Aus seinen Gedanken erfuhr ich, wie viel meine Bitte ihm bedeutete, auch wenn er zur Antwort nur ein einziges Wort sagte: »Ja.«

»Tate.« Ich drehte mich zur Tür, weil ich wusste, dass er die ganze Zeit über im Flur gewartet hatte. »Meinst du, du könntest mal eine Ausnahme machen und der ungehor-samen Rekrutin gestatten, kurz herzukommen?«

Mit einem Schnauben, das halb Lachen, halb Ausdruck von Unglauben war, erschien Tate in der Tür. »Herrgott, Cat.«

»Eine religiöse Zeremonie soll es eigentlich nicht werden«, gab ich müde lächelnd zurück, »aber deinen Segen nehme ich trotzdem gern an.«

Tates Blick wanderte zu Bones und dann zu unseren ineinander verschränkten Händen. »Seit wann bedeutet euch beiden mein Segen etwas?«, war seine trockene Entgegnung.

»Ich habe ihn mir nie erbeten und brauche ihn auch nicht«, antwortete ich ruhig. »Aber du bist mein Freund, Tate, also bedeutet er mir etwas.«

Sein Gesicht musternd wartete ich, ob er den Ölzweig ergreifen würde, den ich ihm entgegenstreckte, oder ihn mir ins Gesicht schleudern würde wie so oft. Während er mich aus dunkelblauen Augen ansah, glitten Emotionen über seine ausdrucksstarken Züge wie Wellen über einen Teich. Erst Bedauern, dann Entschlossenheit und schließlich Akzeptanz.

»Ich wünsche euch, dass ihr sehr glücklich seid«, sagte er mit leiser, aber aufrichtig klingender Stimme. Dann kam er zu meiner Überraschung mit ausgestreckter Hand näher.

Aber nicht zu mir, sondern zu Bones.

Bones ergriff Tates Hand und schüttelte sie, ohne meine dabei loszulassen, was keine große Sache war, weil ich seine linke Hand in meiner rechten hielt. Als der Händedruck vorbei war, warf Tate mir leise lächelnd einen Blick zu und sagte: »Keine Bange. Ich frage ja gar nicht, ob ich die Braut küssen darf.«

Dann sah er Don an, der während unserer Unterhaltung die Augen geschlossen hatte, obwohl seine Gedanken mir sagten, dass er nicht schlief. Die Schmerzen in seiner Brust machten ihm zu stark zu schaffen, und jetzt strahlten sie auch schon wieder bis in seinen Arm aus wie vor ein paar Stunden schon einmal. Und doch kannte ich seine Antwort bereits, bevor Tate fragte: »Kann's losgehen?«

Mein Onkel ahnte nicht, dass ich seine Gedanken hören konnte. Doch nun wusste ich: Er war viel glücklicher, so zu sterben, und nicht allein mit dem steten Piepsen des EKG-Geräts; und er war auch froh darüber, dass meine Mutter seinen Wunsch nicht respektiert hatte. All das hörte ich, und obwohl mir die Kehle vor ungeweinten Tränen brannte, sagte ich nichts. Tat nichts, obwohl mein eigenes Blut Dons nächsten Herzinfarkt sicher noch hätte verhindern können.

Er hatte seine Entscheidung getroffen. Ich verabscheute sie - und wie! -, weil sie mir meine einzige Vaterfigur nahm, aber Tate hatte recht. Ich musste sie respektieren.

»Also los«, antwortete Don. Seine Stimme war heiser vor Schmerz, aber das Lächeln, das er mir schenkte, war trotzdem echt.

Tate nahm den Hörer des Telefons, das an Dons Bett stand, und bellte einen Befehl: »Crawfield soll herkommen, und zwar sofort.«

Um nicht völlig die Fassung zu verlieren, während ich hörte, wie Dons Herz immer unsteter schlug und er sich in-nerlich gegen das zunehmende Engegefühl in seiner Brust zu wappnen versuchte, begann ich, ihm die komplizierte vampirische Ehezeremonie zu erklären.

»Wenn zwei Vampire heiraten wollen, läuft das ungefähr so ab wie zu Zeiten, als Geschäfte noch per Handschlag be-siegelt wurden. Ein Vampir, für gewöhnlich erst der Mann, nimmt ein Messer, schneidet sich in die Handfläche und sagt dann...«

Als meine Mutter eintraf, hatte ich Don bereits den Treueschwur vorgetragen und meine Hochzeit mit Bones beschrie-ben, ohne die etwas unschönen Details zu erwähnen. Sie sah unsere Vierergruppe etwas verwirrt an, aber Tate gab ihr keine Chance, etwas zu sagen. Er packte sie am Arm, zog sie in den Flur und erklärte ihr alles so leise, dass Don nichts mitbekam, wobei er ihr schlimmstes Unheil androhte, für den Fall, dass sie auch nur ein Wort des Protests äußerte.

Ich war froh, dass Don wieder die Augen geschlossen hatte, weil ich so nicht mehr dagegen ankämpfen musste, in Tränen auszubrechen. Tate konnte der Vorstellung, mit ansehen zu müssen, wie ich Bones zum zweiten Mal die Treue schwor, noch weniger abgewinnen als meine Mutter. Aber hier stand er und forderte sie in strengem Tonfall auf, sich anständig zu benehmen, Herrgott noch mal, und Don nicht den Augenblick zu ruinieren, weil ihm nicht mehr viel Zeit blieb.

Was grausam offensichtlich war. Der Atem meines Onkels ging immer schwerer, und aus seinen Gedanken wusste ich, dass er das Gefühl hatte, ihm würde ein Auto die Brust eindrücken, aber er hatte den festen Willen, noch lange genug durchzuhalten, um diese letzte Sache zu Ende zu bringen.

Aufgeregt begann das EKG-Gerät zu piepsen, als könnte ich nicht aus Dons Gedanken und dem sporadischen Schlagen seines Herzens schließen, was los war. Noch mehr Tränen liefen mir über die Wangen, ein steter Strom, der mir das Top durchnässte und den Fußboden unter mir immer dunkler rosa färbte.

Ich nahm die Hand meines Onkels, fand es schrecklich, wie kühl sie durch den rapide abfallenden Blutdruck geworden war, und drückte sanft seine Finger.

Bones legte die Hand auf meine, und ich hatte das Gefühl, seine Stärke würde aus ihm heraus- und in meinen Körper hineinfließen. Was für ein krasser Gegensatz zu Dons rasch dahinschwindender Lebenskraft und seinen kälter werdenden Fingern.

»Donald Bartholomew Williams«, sagte Bones feierlich.

Das »Bartholomew« überraschte mich. Dons vollen Namen hatte ich noch nie gehört. Klar, dass Bones ihn kennt, dachte ich vage, während ich versuchte, ein Schluchzen über Dons zunehmend unsteter werdenden Herzschlag zu unterdrü-

cken. Bones hatte umfassende Nachforschungen über Don angestellt, als er herausgefunden hatte, dass er der Mann war, der mich dazu gezwungen hatte, all die Jahre für seine Einheit zu arbeiten.

»Gibst du mir deine Nichte, Catherine, zur Frau?«, fuhr Bones fort und ließ kurz die Finger über Dons Hand gleiten.

Die Augen meines Onkels öffneten sich, sein Blick ging zu mir, Bones und dann Tate, der noch immer in der Tür stand.

Mir war bewusst, wie groß Dons Schmerzen waren und dass es ihn sichtbare Mühe kostete, aber er brachte trotzdem ein Lächeln zustande.

Als seine Hand sich schließlich um meine schloss, wurden seine Schmerzen unerträglich, was ich an dem plötzlichen Aufschrei seiner Gedanken erkennen konnte. Sein ganzer Körper versteifte sich, und sein Mund öffnete sich zu einem kurzen, scharfen Keuchen - dem letzten, das er je aussto-

ßen würde. Dons Augen, grau wie meine, verdrehten sich nach hinten, während aus den Piepsern des EKG-Apparats ein einzelner anhaltender, grässlicher Ton wurde.

In einem Wimpernschlag durchquerte Tate das Zimmer und packte das Bettgitter so fest, dass es in seinen Händen zerbrach. Das war das Letzte, was ich sah, bevor alles hinter einem pinkfarbenen Schleier verschwamm und ich den Schluchzern freien Lauf ließ, die ich die ganze Zeit über zu-rückgehalten hatte.

Doch selbst als der tödliche Herzinfarkt Don schon fest im Griff hatte, erwies sich der Wille meines Onkels noch als stärker als sein gebrechlicher Körper. Er hatte sich geschworen, lange genug zu leben, um mich Bones zur Frau geben zu können, und er schaffte es, auch wenn Bones und ich die Einzigen waren, die es wussten.

Dons letzter Gedanke war ein einziges, in die Länge gezogenes Wort.

Jaaaaa.

Bones hielt mir die Tür auf, und ich betrat das, was streng genommen unser Zuhause war, obwohl wir im vergangenen Jahr kaum dort gewesen waren. Mein Kater teilte meine mangelnde Begeisterung über unsere Heimkehr nicht. Kaum hatte ich die Tür seiner Transportbox geöffnet, sprang er auf die Rückenlehne der Couch und sah sich auf eine Art und Weise um, die ich nur als hellauf begeistert interpretieren konnte.

Fairerweise musste man sagen, dass er hier mehr Zeit als wir verbracht hatte, was unter anderem daran lag, dass wir ihn im Vorjahr monatelang in der Obhut eines Haussitters zurückgelassen hatten. Vielleicht war er aber auch einfach nur froh, sich endlich wieder frei bewegen zu können. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Als Denise einmal die Gestalt einer Katze angenommen hatte, war sie stundenlang in einer Transportbox gefangen gewesen und erinnerte sich nicht gern an diese Erfahrung.

Während ich mich im Wohnzimmer umsah, dachte ich, dass ich schon mal die Überwürfe von den Polstermöbeln nehmen oder Möbelspray und ein paar Lappen holen sollte; die Staubschicht auf dem Kaminsims und den Beistell-tischen war inzwischen so dick, dass ich darauf meinen Namen hätte schreiben können. Aber ich tat nichts dergleichen.

Ich stand nur da, sah mich um und fragte mich, wo ich Don am besten hinstellen sollte.

Nicht auf einen der Beistelltische oder den Kaminsims; da sprang der Kater manchmal drauf, und ich wollte die Überreste meines Onkels nicht vom Boden aufwischen müssen, wenn seine Urne versehentlich herunterfiel. Der Küchen-tisch war auch kein guter Platz; das schickte sich nicht. In den Schrank; das war unhöflich. Das Schlafzimmer oben ging schon gar nicht; ich wollte ja nicht, dass Don unser Treiben dort drinnen aus der ersten Reihe beobachten konnte. Und ins Bad konnte ich Don auch nicht stellen. Was, wenn er durch den Wasserdampf feucht wurde?

»Ich weiß nicht, wohin damit«, informierte ich Bones.

Er legte mir sacht die Hände auf die Schultern und drehte mich zu sich um.

»Gib sie mir, Kätzchen.«

Meine Finger schlossen sich fester um die Messingurne, die ich während der Reise von Tennessee, wo Dons Gedenkgottesdienst stattgefunden hatte, bis hierher in der Hand gehalten hatte. Natürlich hatte mein Onkel verbrannt werden wollen. Er hatte wohl nicht das Risiko eingehen wollen, dass einer von uns ihn doch noch aus dem Grab holte, wenn er sich an einem Stück bestatten ließ.

»Erst, wenn ich den richtigen Platz für ihn gefunden habe«, beharrte ich. »Er ist keine Pflanze, die man einfach auf die Fensterbank in die Sonne stellen kann, Bones!«

Er hob mein Kinn, bis ich ihn entweder ansehen oder mich trotzig gegen seine Hand stemmen musste. Ich entschied mich für Ersteres, obwohl mir eher nach Letzterem zumute war.

»Dir ist doch bewusst, dass das in deinen Händen nicht Don ist«, stellte Bones mit einem mitfühlenden Blick aus seinen dunklen Augen fest. »Du wolltest seine sterblichen Überreste hierherbringen, damit ihnen nichts geschieht, wenn wir unterwegs sind, aber das da ist genauso wenig dein Onkel, wie ich mein Mantel bin, Kätzchen.«

Ich warf einen Blick auf Bones' Ledermantel mit den vom vielen Tragen leicht abgewetzten Säumen. Ich hatte ihn Bones ganz zu Anfang unserer Beziehung als Weihnachts-geschenk gekauft, ihn aber nicht selbst überreichen können, weil ich Bones damals verlassen hatte.

»Nein, du bist nicht der Mantel«, antwortete ich und spürte ein allzu vertrautes Brennen in den Augen. »Aber du hast ihn damals trotzdem unter dem Schrank hervorgezo-gen, weil er alles war, was du von mir noch hattest. Na ja, das hier ist alles, was ich noch von Don habe.«

Mit dem Daumen streichelte Bones mein Kinn, während er die andere Hand sinken ließ, bis sie über der Urne lag.

»Das verstehe ich«, sagte er leise. »Und wenn du willst, bauen wir ein ganzes Zimmer an, damit alles genau so ist, wie du es dir wünschst. Aber jetzt, Schatz, musst du erst einmal loslassen.«

Er zog so sacht an der Urne, dass ich sie leicht hätte festhalten können, wenn ich es gewollt hätte. Ich sah auf das kleine Messingbehältnis und die bleichen Hände — meine und Bones' - hinab, die es hielten.

Es. Nicht Don. Mein Verstand wusste das, aber der Teil von mir, der sich noch nicht mit dem endgültigen Abschied abgefunden hatte, wollte nicht wahrhaben, dass ich nicht mehr in Händen hielt als Asche in einem Metallgefäß. Vier Tage waren seit Dons Tod vergangen, und doch hatte ich noch immer das Gefühl, mich in einem Traum zu bewegen.

Selbst sein Gedenkgottesdienst und die Trauerrede, die ich gehalten hatte, kamen mir völlig unwirklich vor, denn Don konnte doch unmöglich wirklich fort sein. Mann, ich hätte schwören können, dass ich ihn aus dem Augenwinkel ein paarmal gesehen hatte, wie er mir einen seiner typischen, leicht genervten Blicke zuwarf.

Bones zog noch einmal an der Urne, und ich ließ sie mir aus den Händen nehmen, während ich mir die Tränen wegblinzel-te, die dieses Loslassen im metaphorischen, nicht im eigentlichen Sinn mir in die Augen trieb. Bones beugte sich vor, ließ die Lippen über meine Stirn gleiten und verschwand dann ins Obergeschoss. Vielleicht war es das Beste, wenn Bones einen Platz für Dons sterbliche Überreste aussuchte. Ich wäre am Ende noch auf die Idee gekommen, mir seine Asche zusammen mit dem Knoblauch und dem Hasch in die Klamotten zu packen, weil ich glaubte, dass sie nur dort wirklich sicher war.

Ich rieb mir die Hände, als mir düster bewusst wurde, wie leer sie sich ohne die Urne anfühlten, die ich während der vergangenen Stunden pausenlos umklammert gehalten hatte. Schließlich rollte ich die Ärmel meiner dem Gedenkgottesdienst angemessenen schwarzen Bluse hoch. Wenigstens den gottverfluchten Staub konnte ich schon mal von den Möbeln wischen.

Die fieberhaften Putzaktivitäten, in die ich verfiel, um mich von meinem Kummer über Dons Tod abzulenken, erwiesen sich nicht nur in puncto Trauerbewältigung als nützlich.

Mencheres rief an, um uns zu sagen, dass er uns einen Besuch abstatten würde, weil er uns etwas Wichtiges mitzutei-len hätte. Bones zufolge hatte er nicht geklungen, als wäre Apollyons Leiche mit einem Zettel daran gefunden worden, auf dem stand: »Vorzeitig alles Gute zum Geburtstag, Cat!«

Offen gestanden fühlte ich mich nicht in der Verfassung, schon wieder eine schlechte Nachricht verkraften zu können, da man aber im Leben nicht einfach auf »Pause« drü-

cken konnte, würde ich mich Mencheres' Neuigkeiten stellen, egal, wie es in mir aussah.

Wenigstens war das Haus blitzsauber, und es roch nicht mehr so muffig. Was natürlich auch auf das Grünzeug zu-rückzuführen sein konnte, das Bones besorgt hatte, während ich noch dabei gewesen war, meinen Reinlichkeitsfimmel auszuleben. Ich war jetzt stolze Besitzerin mehrerer streng riechender Knoblauchzwiebeln sowie einiger fluffiger Topf-pflanzen. Wo Bones Letztere herhatte, wagte ich nicht mal zu fragen. Hatte er eine illegale Pflanzung erschnüffelt und sie dort ausgegraben? Oder sie dem freundlichen Drogen-dealer von nebenan abgekauft?

Gott, ich konnte es nicht erwarten, die Nebenwirkungen von Maries Blut loszuwerden. Hoffentlich würde ich mein Lebtag nie wieder Knoblauch oder Pot riechen müssen. Unser neues Heimdekor hatte allerdings den Vorteil, dass ich die porösen Säckchen aus den Taschen nehmen konnte, die ich in letzter Zeit mit mir hatte herumschleppen müssen.

Und das war eine ziemliche Erleichterung.

»Sie sind da, Kätzchen«, rief Bones einen Stock tiefer.

Ich konnte noch nichts hören, da ich aber wusste, dass Bones aufgrund des Machtaustauschs, der zwischen Mencheres und ihm stattgefunden hatte, über eine äußerst starke emotionale Verbindung zu seinem Mitregenten verfügte, glaubte ich ihm unbesehen. Mir blieb keine Zeit mehr, Make-up aufzulegen, aber das würde wohl niemand merken. Geschweige denn sich daran stören. Ich war frisch geduscht, trug saubere Klamotten, und das Haus war aufgeräumt. Die drei wichtigsten Vo-raussetzungen, wenn man Gäste erwartete.

Es sei denn, die Gäste hatten Hunger.

»Wir haben kein Blut im Haus«, sagte ich zu Bones, als ich die Treppe herunterkam.

Er ließ den Blick über meinen Körper schweifen, wobei er bestimmte Areale besonders wohlgefällig beäugte. Mein Kleid war kaum als sexy zu bezeichnen. Es war ein schlichtes Modell aus schwarzer Baumwolle mit Dreiviertelärmeln, das mir bis zu den Füßen reichte. Aber entweder betonte es genau die richtigen Körperstellen, oder an Bones zeigten sich bereits die Auswirkungen einer Woche ohne Sex. Zu behaupten, ich hätte nach Dons Tod keine Lust gehabt, wäre eine Untertreibung gewesen.

»Das erwarten sie auch bestimmt nicht. Sie wissen ja, dass wir erst angekommen sind.«

Genau. Und sie kamen ja auch nicht zum Vergnügen.

»Wahrscheinlich will er, dass wir Daves Plan in Kraft setzen«, murrte ich. »Wir hätten uns eine Möglichkeit aus-denken sollen, an ein paar von Apollyons Anführer heranzukommen, ohne dass Dave sich als Spitzel outen muss, aber das ist in dem ganzen Durcheinander irgendwie auf der Strecke geblieben.«

Kann sein, sagten Bones' hochgezogene Augenbrauen. Er wusste, worum es ging. Dave hatte ihm kurz nach Dons Tod davon erzählt, als er vom Kummer überwältigt erst recht etwas gegen Apollyon hatte unternehmen wollen, aber Bones hatte es ihm ausgeredet. Mir war allerdings klar, dass er die Idee trotzdem gut fand.

Ich stand Daves Plan allerdings noch negativer gegenüber als zuvor. Ich wollte nicht auch noch einen guten Freund verlieren. Außerdem war Dave von Dons Tod noch genauso geschockt wie wir alle und damit nachlässiger. Das war die harte Realität. Ich fragte mich, ob Don gewusst hatte, wie wichtig er für uns alle gewesen war. Ich bezweifelte das allerdings. Er stand nicht gern im Mittelpunkt.

Minuten vergingen, in denen ein Wagen die kurvige Auffahrt zu unserem Haus herauffuhr, dessen Motorgeräusch in der relativen Stille der uns umgebenden Wälder fast schon laut wirkte. Die abgeschiedene Lage des sechs Hektar großen Grundstücks an dem Berg, auf dem unser Haus stand, war es ja auch gewesen, die es für uns so interessant gemacht hatte. Jetzt, da ich Gedanken lesen konnte, wusste ich diese Einsamkeit erst recht zu schätzen.

»Ahnherr, Kira, willkommen«, begrüßte Bones unsere Gäste, als sie vor der Tür standen.

Mit einem Seufzer fiel mir auf, dass Mencheres eine elegante lederne Reisetasche bei sich trug. Natürlich würden sie die Nacht bei uns verbringen. Mencheres war extra hergekommen, um uns seine Nachricht zu übermitteln; da wäre es mehr als unhöflich gewesen, ihn auszuquetschen und einfach wieder fortzuschicken. Außerdem wollte er sicher noch unsere weitere Vorgehensweise besprechen, was ich ihm ebenfalls nicht verdenken konnte. Wie chaotisch mein Pri-vatleben zur Zeit auch sein mochte - wir hatten doch einen Krieg zu verhindern.

»Hi, Leute«, sagte ich und umarmte die beiden als Wiedergutmachung für meinen egoistischen Wunsch, sie würden gleich wieder abhauen.

»Tut mir leid, das mit deinem Onkel«, flüsterte Kira und tätschelte mir die Schulter, als ich mich von ihr löste. »Wenn es etwas gibt, was wir tun können ...«

»Danke«, sagte ich, mir ein Lächeln abringend. »Die Blumen, die ihr geschickt habt, waren wundervoll.« Das traf auf alle Trauerbouquets zu, aber nach dem Gedenkgottesdienst hatte ich sie samt und sonders einer Klinik gespendet. Die gestandenen Mannsbilder aus Dons Team waren nicht gerade scharf darauf gewesen, sie mit nach Hause zu nehmen, und ich hatte auch keinen Platz für so viele Blumengebinde, Sträuße und Kränze.

»Das war doch das Mindeste, was wir tun konnten«, antwortete Mencheres reserviert höflich wie immer. »Es tut mir wirklich sehr leid, dass wir dir unter diesen Umständen zur Last fallen müssen, aber ...«

»Schon okay«, unterbrach ich ihn, abermals gezwungen lächelnd. »Ich weiß ja, dass sich die bösen Buben keine Auszeit nehmen, weil irgendwer stirbt. Danke, dass du dich die letzten paar Tage um alles gekümmert hast, aber es wird Zeit, dass Bones und ich wieder mitmischen.«

Ich bedeutete den beiden mit einer Handbewegung, sich zu setzen, und bot ihnen, ganz höfliche Gastgeberin, auch gleich etwas zu trinken an. Wie Bones vorhergesagt hatte, verlangten Mencheres und Kira keine »Bloody Mary«, sondern gaben sich mit Wasser zufrieden. Davon hatten wir zumindest reichlich.

Mencheres wartete ab, bis wir uns ebenfalls gesetzt hatten, bevor er zum Thema kam. »Ich habe herausgefunden, was Nadia Bissel zugestoßen ist«, verkündete er.

Ich starrte ihn verständnislos an. »Wem?«

Bones hob ebenfalls irritiert den Kopf. Wie gut, dass ich nicht allein auf dem Schlauch stand.

»Der Sterblichen, nach der ihr gesucht habt«, erklärte Mencheres. Als er mein unverändert verwirrtes Gesicht sah, seufzte er. »Sie hat mit dem Journalisten zusammengearbei-tet, mit dem du befreundet bist, und ist verschwunden, als sie Gerüchten über Vampire nachgegangen ist.«

»Oh!«, sagte ich, als mir endlich ein Licht aufging. Ich hatte ganz vergessen, dass ich ein Foto von Nadia zusammen mit ein paar Informationen über sie an Mencheres ge-337

schickt hatte, damit der es unter seinen Verbündeten he-rumzeigen und vielleicht etwas über ihren Verbleib herausfinden konnte.

»Ist sie tot?«, erkundigte ich mich resigniert. Armer Timmie. Er hatte so gehofft, dass sie noch am Leben war.

»Nein«, antwortete Mencheres zu meiner Überraschung.

»Soweit ich weiß, geht es ihr sogar sehr gut.«

»Und warum klingt deine Stimme dann so unheilschwanger?«, fragte ich argwöhnisch.

Seine Lippen kräuselten sich. »Meine Stimme klingt so unheilschwanger, weil du angedeutet hast, dein Bekannter hätte mehr als nur ein platonisches Interesse an Nadia, und sie inzwischen die Geliebte eines mächtigen Vampirs ist, der nicht gern teilt.«

»Oh«, sagte ich noch einmal, diesmal etwas nachdenklicher. »Seine willige Geliebte?«, erkundigte ich mich dann.

Es gab schließlich Vampire, die ein Nein nicht akzeptieren konnten.

»Ihre willige Geliebte«, korrigierte mich Mencheres.

Na ja. Timmies Chancen, bei Nadia zu landen, waren soeben von gering auf null geschrumpft. Ich war jedoch froh, dass sie am Leben war und nicht gegen ihren Willen festgehalten wurde. In Anbetracht der Tatsache, dass ich be-fürchtet hatte, Mencheres würde schlechte Nachrichten über Apollyon überbringen, war das fast schon ein Grund, die Champagnerkorken knallen zu lassen, wenn wir derartige Getränke im Haus gehabt hätten. Timmie würde zwar un-tröstlich sein, aber Nadia hätte weit Schlimmeres zustoßen können. Sie hatte sich auf die Suche nach Vampiren gemacht und dabei offensichtlich weit mehr gefunden als den bloßen Beweis für ihre Existenz.

»Sind deine Quellen verlässlich? Besteht kein Zweifel daran, dass Nadia aus freien Stücken mit dieser Vampirin zusammen ist und nicht unter Hypnose bei ihr festgehalten wird?«

»Ich kenne die Vampirin«, antwortete Mencheres. »Es sähe Debra gar nicht ähnlich, eine Sterbliche durch Zwang an sich zu binden, nicht mal, wenn sie durch Schnüffelei von unserer Existenz erfahren hat. Sie hätte einfach Nadias Erinnerungen löschen und sie zurückschicken können.«

»Es sei denn, Nadia ist wie ich«, mischte Kira sich grinsend ein. »Meine Erinnerung konntest du ja auch nicht so einfach löschen, als wir uns begegnet sind.«

Auf ihre Bemerkung hin stieß Mencheres ein so leidenschaftliches Knurren aus, dass ich den Blick abwenden musste. »Aber am Ende ist doch etwas richtig Gutes dabei heraus-gekommen«, raunte er Kira zu.

Das leise Lachen, das ihr daraufhin entfuhr, sprach von Dingen, die besser ungesagt blieben. Im Grunde saßen die beiden einfach nur auf dem Sofa herum, aber die Atmosphä-

re, die sie umgab, war so aufgeladen, dass ich mir in meinem eigenen Haus fast wie eine Voyeurin vorkam. Ich wandte den Blick ab, um meine Fingernägel zu inspizieren, als hätte mich der plötzliche Wunsch nach einer Maniküre gepackt.

Aus dem Augenwinkel sah ich Bones in sich hineingrinsen.

Er wusste, wie unwohl ich mich fühlte, während ihn die Hitze, die von den beiden ausging, völlig ungerührt ließ. Bones war als Sohn einer Prostituierten in einem Bordell aufgewachsen, und wenn Mencheres und Kira jetzt vor seinen Augen übereinander hergefallen wären wie die Karnickel, hätte er sie vermutlich nur darauf hingewiesen, dass das Sofa, auf dem sie saßen, Gefahr lief umzukippen, wenn sie es zu wild trieben.

Falls Mencheres und Kira Lust verspürten, im Gästezim-mer eine Nummer zu schieben, konnten sie das auch gerne tun, aber hier unten musste ich ihnen die Stimmung versauen.

»Ist aber nicht nett von Nadia, einfach abzuhauen, ohne ihre Freunde wissen zu lassen, dass es ihr gut geht«, bemerkte ich mit einem Räuspern.

Mencheres zog seine Energie zurück, bis die Atmosphäre im Raum wieder jugendfrei war, statt an einen Softporno zu erinnern. »Debra hat sehr traditionelle Ansichten«, informierte er mich, während er sich von Kiras Anblick losriss und seine Aufmerksamkeit wieder mir zuwandte. »Sie will sicher nicht, dass Nadia Kontakt zu Leuten aus ihrem alten Leben aufnimmt, erst recht nicht zu solchen, die die Existenz unserer Rasse öffentlich machen wollen.«

Ihr altes Leben. Mir entfuhr fast ein Schnauben. Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, denn wer einmal mit der Welt der Vampire in Kontakt gekommen war, konnte nie mehr in ein normales Leben zurück.

Ich sah Bones' Profil an, sein lockiges Haar, die ausgeprägten Wangenknochen, dunklen Augenbrauen und Lippen, die markant genug waren, um männlich zu wirken und voll genug, um sinnlich zu sein. Auch mein Leben hatte sich von Grund auf verändert, seit ich in die Welt der Vampire einge-taucht war, aber ich wollte es nicht anders. Hoffentlich war Nadia in ihrer untoten Beziehung genauso glücklich wie ich in meiner.

»Ich rufe Timmie an und überbringe ihm die Nachricht«, sagte ich und stand auf.

»Der Ärmste hat wirklich Pech mit Frauen«, stellte Bones fest.

Als ich ihm in die braunen Augen sah, musste ich seit Tagen zum ersten Mal aufrichtig lächeln. »Er hat bloß noch nicht die Richtige kennengelernt, aber wenn es so weit ist, vergisst er alles, was davor war.«

Bones' Lächeln wurde verheißungsvoll, während seine Macht mich einzuhüllen begann wie ein sinnlicher Nebel.

»Stimmt«, pflichtete er mir mit tiefer, seidiger Stimme bei.

»Es lohnt sich über alle Maßen, auf die Richtige zu warten.«

Nun war es an Kira, die deutlich veränderte Atmosphä-

re im Raum mit einem Räuspern zu quittieren. Und als ich nach oben ging, um Timmie anzurufen und ihm zu sagen, dass ich sowohl gute als auch schlechte Nachrichten für ihn hatte, lächelte ich noch immer ganz verklärt vor mich hin.

Eine halbe Stunde später legte ich mit einem Seufzer den Hörer auf. Timmie hatte die Sache mit Nadia ganz gut weg-gesteckt, obwohl ich ihn von der Idee hatte abbringen müssen, sich persönlich mit ihr zu treffen, um sicherzugehen, dass es ihr auch wirklich gut ging. Schlussendlich konnte ich ihn auf ein Telefonat mit ihr herunterhandeln. Timmie hatte ja keine Ahnung, wie besitzergreifend Vampire sein konnten.

Wenn er nach Lust und unerwiderter Liebe riechend bei der verbrieftermaßen »traditionellen« Debra auftauchte, konnte er von Glück sagen, wenn er mit einem permanenten Hinken davonkam, falls er überhaupt noch weglaufen konnte.

»... habe vor Jahren schon mal Bekanntschaft mit ihnen gemacht, obwohl Marie mich damals nur bedrohen, nicht attackieren wollte«, sagte Bones gerade.

Ich spitzte die Ohren. Um die anderen nicht zu stören, war ich zum Telefonieren in mein Zimmer gegangen und hatte die Tür hinter mir geschlossen. Während ich Timmie seine gefährlichen Dummheiten ausgeredet hatte, war ich auch selbst so abgelenkt gewesen, dass alles andere in den Hintergrund getreten war. Drehte sich die Unterhaltung gerade um die Restwesen? Bones hatte mir nicht erzählt, dass er sie schon einmal zu Gesicht bekommen hatte, geschweige denn, dass Marie sie als Druckmittel gegen ihn eingesetzt hatte.

Als ich eilig ins Zimmer kam, meinte Bones gerade: »Wer weiß, vielleicht setzt sie sie öfter ein, nur dass die meisten es nicht überleben und es daher auch nicht herumerzählen können.«

»Ich könnte mir vorstellen, dass es Marie einige Mühe kostet, die Restwesen zu rufen und unter Kontrolle zu halten, sodass sie sie nicht allzu oft einsetzen kann«, warf Mencheres ein, um mich gleich darauf mit fragend hochgezogenen Augenbrauen anzusehen. »Du selbst warst danach sehr müde, wenn ich mich recht entsinne.«

Mit einem bestätigenden Schnauben setzte ich mich neben Bones. »Zumindest hatte Marie recht, und die Nachwirkungen waren weniger verheerend als beim ersten Mal.«

Als ich zusammen mit Vlad die Restwesen gerufen hatte, war ich zwar Stunden danach noch durchgefroren und ausgelaugt gewesen, aber wenigstens hatte ich mich trotz der vielen Stimmen in meinem Kopf konzentrieren können.

Nachdem ich Maries Blut getrunken hatte, war ich immerhin drei Tage nicht bei Sinnen gewesen.

Bones drehte sich zu mir um und starrte mich an. »Beim ersten Mal? Du hast sie noch einmal gerufen?«

O Mist. In letzter Zeit war so viel passiert, dass ich gar nicht dazugekommen war, Bones zu erzählen, was ich an jenem Abend mit Vlad auf dem Friedhof getan hatte. Jetzt dachte er, ich hätte es ihm verheimlichen wollen.

»Vor knapp einer Woche habe ich mal einen kleinen Pro-belauf in Sachen Restwesen-Beschwörung gestartet«, sagte ich und hob die Hand, als ich seinen Unglauben spürte. »Bevor du dich jetzt aufregst, lass dir sagen, dass ich dich nicht hintergehen wollte. Es hat sich so ergeben. Und nein, es hat mich nicht so mitgenommen wie beim ersten Mal, und sex-gierig bin ich auch nicht wieder geworden.«

»Und du hast mir das aus welchem Grund nicht erzählt?«, hakte er nach, während ich spürte, wie ein Anflug von Zorn meine Sinne streifte.

»Weil ich dich erst wieder gesehen habe, als Don im Sterben lag«, antwortete ich mit fester Stimme. »Und es war auch nicht gerade ein Thema, das ich mal eben so mir nichts dir nichts am Telefon mit dir besprechen wollte.«

Mit einem langgezogenen Zischen stieß Bones den Atem aus, während sein Zorn sich zur Missbilligung abschwächte.

»Du wusstest davon?«, fragte er Mencheres.

Ein schiefes Schulterzucken. »Hinterher.«

Mit größter Mühe schaffte ich es, mir ein Schnauben zu verkneifen. Er hatte hinterher Gewissheit gehabt, aber sehr wohl schon vorher gewusst, was Vlad mit mir vorhatte. Das hatte er bei unserer Heimkehr selbst zugegeben. Mencheres'

Gesicht allerdings war völlig ohne Arg, als er Bones jetzt aus kühlen dunklen Augen ansah. Merke: Er drückt sich mit be-wundernswerter Raffinesse davor, Klartext zu reden.

»Na schön«, sagte Bones schließlich in resigniertem, aber nicht länger wütendem oder missbilligendem Tonfall. »Wie war es diesmal, Kätzchen?«

»Nach wie vor irgendwie irre«, antwortete ich mit einem Schaudern. »Wir haben ein paar Sachen ausprobiert, aber dann herausgefunden, dass man sie durch Blut herbeirufen und kontrollieren kann. Als ich sie wieder gebannt hatte, war ich völlig durchgefroren und ausgehungert - nach Nahrung«, fügte ich mit einem demonstrativen Blick auf Mencheres hinzu, der ganz unschuldig aus der Wäsche guckte.

»Also nicht zu vergleichen mit letztem Mal.«

Ich wollte zwar nicht, dass die Erinnerung einsetzte, aber sie kam trotzdem. Eiseskälte in mir. Dieser furchtbare Hunger. Die lauten Stimmen in meinem Kopf, die irgendwann zu einer Art weißem Rauschen wurden ...

Nur eine Stimme war seltsamerweise deutlich zu verstehen. Sie zupfte an den Rändern meiner Erinnerung, honig-süß mit südkreolischem Akzent. Tanzte inmitten des Chaos jener Nacht, in der ich das ganze Ausmaß von Maries Macht über die Toten zu spüren bekommen hatte. Ja richtig, Marie hatte mir eine Frage gestellt, die zu diesem Zeitpunkt gar nicht bis in mein Bewusstsein vorgedrungen war, weil ich das Gefühl gehabt hatte, Maries Macht würde mich er-sticken. Jetzt allerdings hörte ich ihre Frage so deutlich, als würde sie sie mir soeben ins Ohr flüstern.

Hast du dich nie gefragt, wie Gregor aus Mencheres' Ge-fängnis entkommen konnte?

Was für eine seltsame Frage. Mencheres hatte mich Gregor entrissen, alles, was ich mit ihm erlebt hatte, aus meinem Gedächtnis gelöscht, und Gregor zur Strafe eingesperrt.

Aber irgendwie war Gregor die Flucht geglückt, sodass er sich mir zwölf Jahre später wieder an die Fersen heften und behaupten konnte, er und nicht Bones sei mein Ehemann.

Damals hatten wir andere Sorgen gehabt, als herauszufinden, wie Gregor aus seinem Gefängnis entkommen war. Der Flüchtige hatte uns schließlich jede Menge Ärger gemacht.

Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht mehr viel an Gregor gedacht, seit ich ihm mit Vlads pyrokinetischen Fähigkeiten die Rübe weggeblasen hatte. Warum stellte Marie mir gerade diese Frage? Sie wusste doch, dass ich keine Ahnung hatte, wie Gregor Mencheres entkommen war. Niemand wusste das, nicht einmal Mencheres selbst. Und die Antwort hatte mich zu dem Zeitpunkt auch herzlich wenig interessiert.

»Heilige Scheiße!«, rief ich und sprang so abrupt auf, dass die Couch umkippte.

Bones war bereits auf den Beinen und sah sich hektisch im Zimmer um, das Messer schon in der Hand. Ich stapfte mit derart energischen Schritten auf ihn zu, dass ich eigentlich Löcher im Boden hätte hinterlassen müssen, und schob es mit einer fast fieberhaften Handbewegung beiseite.

»Gregor.« Ich packte Bones bei den Schultern, nur am Rande registrierend, dass seine Augenbrauen bei der Nen-nung des Namens in die Höhe schossen. »Er ist Mencheres entkommen. Ein Kunststück, das niemandem hätte glücken dürfen, so gerissen und mächtig wie der gute Opa Pharao ist, nicht wahr? Aber Gregor hat es geschafft, und niemand hat je herausgefunden, wie. Verstehst du denn nicht? Wir sind immer davon ausgegangen, dass er selbst einen genia-len Fluchtplan ausbaldowert hat, dabei hat der Wichser gar nichts gemacht!«

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Mencheres und Kira besorgte Blicke mit Bones austauschten.

»Kätzchen«, sagte Bones in dem Tonfall, den ich ihn auch schon Traumatisierten gegenüber hatte benutzen hören, wenn er glaubte, sie stünden knapp davor, komplett durch-zudrehen. »Die Ereignisse der letzten Zeit haben dich sehr mitgenommen. Es ist ganz natürlich, sich auf etwas aus der Vergangenheit zu besinnen, wenn einem die Gegenwart übermächtig erscheint ...«

Ich fing an zu lachen wie eine Irre, was Bones dazu brachte, noch besorgter die Stirn zu runzeln.

»Süße, vielleicht ...«, versuchte er es noch einmal.

»Niemand kann sich vor dem Tod verstecken«, fiel ich ihm ins Wort und spürte, wie tiefe Befriedigung mich erfüllte, als mir endgültig ein Licht aufging. Marie hat das gesagt, aber ich habe es mir nicht wie versprochen zu Herzen genommen. In den letzten Tagen war ich so außer mir über den Verlust von Don, dass ich an nichts anderes denken konnte.

Davor war ich zu beschäftigt damit gewesen herauszufinden, wo Apollyon steckte, und mir die Geister vom Leib zu halten - und stinksauer auf Marie war ich außerdem.

Niemand, nicht einmal unsereins, hatte sie betont. Der Tod durchstreift die ganze Welt und dringt selbst durch die dicksten Mauern, mit denen wir uns zu schützen versuchen ... Wenn du die wahre Bedeutung meiner Worte verstehst, weißt du, wie man Apollyon bezwingen kann.

Gott, sie hatte mir alle Hinweise gegeben. Ich hatte bloß nicht eins und eins zusammengezählt.

»Marie hat das gesagt, bevor sie dir die Restwesen auf den Hals gehetzt und mich gezwungen hat, ihr Blut zu trinken«, fuhr ich mit lauter werdender Stimme fort. »Ich dachte, das wäre bloß eine kryptisch formulierte Drohung - sie macht ja gern einen auf geheimnisvoll; dabei hat sie nur versucht, uns zu helfen.«

Gregor war Mencheres nicht aus eigener Kraft entkommen. Marie hatte ihn aufgespürt, indem sie das Einzige nach ihm ausgesandt hatte, vor dem niemand sich verstecken konnte: Geister. Um ihn zu befreien, hatte sie vermutlich die Restwesen eingesetzt; gegen die hätten nicht einmal Mencheres' Wachleute eine Chance gehabt. Marie hatte Gregor vielleicht gehasst, aber er war ihr Erschaffer, den sie aus Loyalität nicht hatte im Stich lassen können.

Das passte zu ihrem eisig nüchternen Wesen. Marie hatte von Gregor frei sein wollen, was unmöglich war, solange er weggesperrt blieb, und sie hatte zugegeben, dass sie den Grund für seine Strafe kannte. Marie hatte Gregor - der nichts Eiligeres zu tun hatte, als die Jagd nach mir wieder-aufzunehmen - in dem Wissen zur Flucht verholfen, dass Bones ihn umbringen würde. Was er zwar nicht getan hatte, dafür aber ich. Sie hatte ihr Ziel erreicht, und zwar ganz ohne sich dabei offen gegen ihren Erschaffer zu stellen.

Der Teufel steckt im Detail, hatte ich zu den Ghulen im Autokino gesagt. So war es in der Tat, und die clevere Voodoo-Königin schien sich diese Weisheit besonders zu Herzen genommen zu haben. Maries Loyalität war es gewesen, die sie damals davor hatte zurückschrecken lassen, Gregor selbst umzubringen, und eben diese Loyalität verhinderte nun, dass sie sich in dem aufkommenden Konflikt gegen ihre Artgenossen stellte. Aber wieder einmal hatte Marie einen Ausweg aus dem Dilemma gefunden. Sie hatte mich gezwungen, ihr Blut zu trinken, und so ihre Macht auf mich übertragen. Auf diese Weise hatte sie uns eine Waffe gegen Apollyon an die Hand gegeben, die unmöglich mit ihr in Verbindung gebracht werden konnte. Immerhin hatte sie uns mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass wir Still-schweigen über das bewahren sollten, was zwischen ihr und mir auf dem Friedhof passiert war.

»Gott, diese Frau ist wirklich um einiges gerissener, als ich dachte!«, rief ich.

Bones nickte Mencheres über meine Schulter hinweg kaum merklich zu. Ich entfernte mich von ihm mit den Worten: »Keine Bange. Er muss nicht wieder die unsichtbare Zwangsjacke rausholen. Ich bin nicht verrückt geworden. Hab's bloß erst jetzt kapiert.«

Bones machte noch immer ein Gesicht, als fragte er sich, ob es vielleicht doch klüger wäre, Mencheres' Macht gegen mich einzusetzen, also ließ ich mich seelenruhig neben Kira nieder und faltete die Hände im Schoß. So. War ich nicht ein Musterbild an Gemütsruhe und Vernunft?

»Apollyon ist so gut wie geschnappt«, verkündete ich und erwiderte den Blick seiner braunen Augen mit einer Entschlossenheit, die mich praktisch zu durchdringen schien.

»Er weiß es nur noch nicht.«

»Sind der Knoblauch und das Gras weg?«, fragte ich Bones, als er zur Haustür hereinkam. Von dem Knoblauch mal abgesehen, klang ich wie ein Teenager, der versuchte, vor dem Eintreffen der Eltern die Spuren einer ausgelassenen Party zu beseitigen, wie mir auffiel.

»Weit weg«, antwortete Bones. »Bin losgeflogen und hab das Zeug über einem See abgeworfen. Entweder es versinkt, oder irgendein Glückspilz wird beim Angeln sein blaues Wunder erleben.«

Ich hatte mir in der Zwischenzeit die oberste Hautschicht zusammen mit dem Kräutergestank vom Leib geschrubbt und alle Klamotten weggeworfen, die mit den Pflanzen in Berührung gekommen waren. Nun war ich gerüstet.

»Also schön«, sagte ich, während ich Bones, Mencheres und Kira ansah. »Zeit, die Toten zu wecken.«

Ich trat auf die Veranda hinaus und sah zum Himmel empor, um den Kopf freizubekommen. Die Sterne strahlten hier auf dem Land wirklich viel heller als in der Stadt. Aber ich war nicht hier, um das funkelnde Schauspiel zu bewundern. Ich hatte vor, ein richtig fettes übernatürliches Will-kommensschild in die Höhe zu halten, um eben jene Wesen anzulocken, die ich während der letzten Wochen unbedingt hatte verscheuchen wollen. Die Gegend hier war zwar nur dünn besiedelt, aber ich wusste, dass die Toten ganz in der Nähe waren. Das Fehlen menschlicher Stimmen machte es mir leichter, mich auf das Summen in der Atmosphäre zu konzentrieren, das nicht von den drei Vampiren ausging, die zusammen mit mir auf der Veranda standen. Das hier war etwas anderes, es kam aus der Erde.

Ich schloss die Augen und versuchte, mir die geisterhaf-ten Lichtblitze vorzustellen, die ich gesehen hatte, als ich in New Orleans zum ersten Mal mit dem Jenseits in Verbindung getreten war. Etwas, das sich anfühlte wie Gänsehaut, breitete sich über meinen Körper aus. Ich war ganz ruhig, weil ich wusste, dass sie dicht bei mir waren. Kommt, dachte ich und schickte suchend die Macht aus, die durch meine Adern floss. Kommt.

Hinter mir gab Kira einen zischenden Laut von sich, während Bones mit ruhiger Stimme sagte: »Vier sind gerade aufgetaucht, Süße.« Ich hielt die Augen geschlossen und lä-

chelte, damit die Neuankömmlinge wussten, dass sie willkommen waren, während ich mich auf die Kraft konzentrierte, die in mir war. Um die Fähigkeiten, die ich von Vlad oder Mencheres in mich aufgenommen hatte, zu aktivieren, hatte ich Wut, Angst oder Schmerzen verspüren müssen, jetzt aber war alles anders. Ruhe, nicht Gefühlsaufruhr, rief die Geister aus ihren Gräbern.

»Wieder fünf«, verkündete Bones. Die Frage, die in seinem Tonfall mitschwang, beantwortete ich nicht laut. Nein, ich war noch nicht fertig. Da waren noch mehr, ganz in der Nähe. Ich konnte sie spüren.

Ein kalter Hauch durchdrang die laue Sommerluft. Nicht eisig, sondern angenehm wie ein frostiger Kuss auf fieber-heißer Stirn. Ich lud ihn ein, näher zu kommen, und er kam, eine Kühle, die sich mit angenehm schleppender Lethargie über mich senkte. Sie breitete sich in mir aus, wollte, dass ich mich ihr ergab. Ich kämpfte nicht dagegen an, überließ mich ihr einfach, damit sie mich ganz durchdringen konnte.

»Wieder acht«, erklang Bones' beinahe knurrende Stimme.

Ich hörte sie, reagierte aber auch diesmal nicht darauf. Ich ließ mich in die weiße Leere fallen, die bis in mein Innerstes vorgedrungen war. Je mehr ich mich von meiner Angst, meinem Kummer und meinem Stress löste, desto größer wurde diese innere Sphäre, ersetzte alle negativen Emotionen durch ein herrlich kühles Nichts. Was für eine Erleichterung es doch war, alle Last von mir abfallen zu lassen, damit die wohltuende Leere sie aufsog. Wie hatte ich all den Schmerz nur so lange ertragen können? Jetzt, da er fort war, fühlte ich mich, als wäre ich schwerelos.

Bones sagte wieder etwas, aber diesmal hörte ich es nicht.

Wellen des Seelenfriedens brachen über mich herein und hielten alles fern außer der kühlen, erholsamen Stille in meinem Innern. Das war Glücksseligkeit. Das war Freiheit.

Ich schwelgte in dem Gefühl, wollte, dass es nie endete.

Ein Faden drang in mein Bewusstsein und zog mich zu-rück. Bones' Stimme klang harsch vor Kummer. Sie vertrieb etwas von der wundervollen Leere, ersetzte sie durch Sorge. Es war so ruhig und friedlich, dort, wo ich war, aber ich wollte nicht, dass er so klang.

Wieder ertönte Bones' Stimme, drängender diesmal.

Sandsäcke aus Schmerz schienen sich über mir zu stapeln, mich aus dem schwebenden Gefühl befreiender Leere zu verdrängen. Sie bildeten einen Pfad, dem ich folgte, jeder Schritt ein Teil des Schmerzes, den ich eben hatte abfallen lassen, aber ich machte nicht kehrt. Bones stand am Ende dieses Pfades. Das war wichtiger als die Glücksseligkeit des Nichts, die hinter mir lag.

Plötzlich bestand Bones nicht mehr nur aus einer Stimme. Sein Gesicht war nur Zentimeter entfernt von mir. Die dunklen Brauen hatte er zusammengezogen, als er meinen Namen sagte, lauter, und mich mit starken Händen an den Schultern rüttelte.

»Ich bin ja da, kein Grund, so zu brüllen«, murrte ich.

Bones schloss kurz die Augen, bevor er weitersprach. »Du bist kreidebleich geworden und zusammengebrochen. Ich habe zehn Minuten deinen Namen gerufen, um dich wieder zu Bewusstsein zu bringen.«

»Oh.« Ich rieb mein Gesicht an seinem. »Tut mir leid.«

Ich spürte etwas Nasses, berührte meine Wange und be-sah mir dann die rosa glitzernden Tropfen auf meinen Fingern.

Tränen. »Ich habe geweint?« Seltsam. Ich konnte mich nicht entsinnen, traurig gewesen zu sein.

»Ja«, krächzte Bones. »Hast du. Und dabei immerzu ge-lächelt.«

Das klang irgendwie gruselig. »Hat es funktioniert?«

Mir fiel wieder ein, dass er sie vorhin gezählt hatte, aber ich wusste nicht, ob die Geister noch da waren. Ich lag auf dem Fußboden der Veranda, und Bones' Körper verdeckte mir die Sicht.

»Oh, und wie«, antwortete er. Dann setzte er sich auf und zog mich mit sich. Die übrige Veranda und der umliegende Garten kamen in Sicht.

Ich konnte mir ein erstauntes Keuchen nicht verkneifen, als ich Aberdutzende transparenter Gestalten um unser Haus schweben sah. Nicht einmal einzelne Gesichter konnte ich ausmachen, weil die Geister so zahlreich waren, dass ihre Züge ineinander übergingen. Grundgütiger! Es war wie damals in New Orleans. Wie war das möglich? Mit Vlad zusammen hatte ich nur fünf Gespenster angelockt, und da war ich verdammt noch mal sogar auf einem Friedhof gewesen!

»Sind das diese Restwesen, über die ihr vorhin gesprochen habt?«, erkundigte sich Kira offensichtlich verwirrt.

»Nein.« Meine Stimme klang noch immer erstaunt. »Das sind normale Gespenster.«

Eine der undeutlichen Gestalten kam durch den Garten auf die Veranda gesaust. »Cat!«

Es dauerte einen Augenblick, aber dann wurde aus den schemenhaften Zügen ein vertrautes Gesicht.

»Hey, Fabian«, sagte ich und versuchte, ihn mit einem Scherz aufzuheitern. »Wie ich sehe, hast du meine Nachricht erhalten.«

Er streckte .die Hand aus und fuhr mir mit den Fingern durch die Wange. »Deine Tränen waren wie ein Schrei«, antwortete er lediglich, bevor er die Hand wieder sinken ließ.

War das nicht ironisch? Durch Blut konnte man die Restwesen rufen und lenken, wohingegen auf Geister offensichtlich Tränen eben diese Wirkung hatten. Das musste die Lösung sein. Als ich zusammen mit Vlad auf dem Friedhof gewesen war, hatte ich geblutet, war zornig, frustriert und traurig gewesen, aber Tränen hatte ich nicht vergossen. Jetzt hingegen hatte ich nur zehn Minuten lang die Stille in meinem Innern anzapfen und weinen müssen, und schon befand sich ein veritables Geisterheer in meinem Garten.

»Mir geht's gut«, beruhigte ich Bones und Fabian, die mich beide mit sorgenvollen Gesichtern musterten. »Ehrlich«, fügte ich hinzu. »Und wo jetzt alle so schön beisam-men sind, fangen wir doch mal an.«

Ich stand auf und trat an das Ende der Veranda, von dem aus die meisten Geister zu sehen waren. Die Unruhe in den hinteren Reihen, wo der Wald anfing, ließ allerdings vermuten, dass der Zustrom noch nicht abgeebbt war.

»Danke, dass ihr gekommen seid«, sagte ich und versuchte, einen zuversichtlichen Tonfall anzuschlagen. »Ich heiße Cat.

Ich muss euch um einen äußerst wichtigen Gefallen bitten.«

»Tagchen, die Dame«, meldete sich eine mir vage vertraut vorkommende Stimme zu Wort. »Hätte nicht gedacht, dass wir uns noch mal wiedersehen.«

Ich hob den Kopf und sah, wie ein Geist sich zwischen den anderen hindurch nach vorn drängte. Er hatte leicht an-gegrautes braunes Haar, einen Bierbauch und vor seinem Tod anscheinend schon eine Weile keinen Rasierapparat mehr gesehen. Irgendwie kam er mir in der Tat bekannt vor.

Woher bloß ...?

»Winston Gallagher!«, grüßte ich den ersten Geist, der mir je begegnet war.

Enttäuscht betrachtete er meine leeren Hände. »Kein Selbstgebrannter? Wie grausam, mich herzurufen und einfach verdursten zu lassen.«

So eine Kleinigkeit wie der Tod kann ein ausgewachsenes Alkoholproblem eben nicht kurieren, dachte ich, als mir all der billige Fusel wieder einfiel, den das Gespenst mir bei unserer ersten Begegnung aufgezwungen hatte. Dann wurden meine Augen schmal, und ich bedeckte schützend meinen Unterleib, als ich sah, wie die Augen des Geistes dorthin wanderten.

»Denk nicht mal dran, noch einmal in meinem Slip he-rumzuspuken«, warnte ich ihn, bevor ich mit lauterer Stimme hinzufügte: »Und das gilt für alle Anwesenden.«

»Ist das der Mistkerl?« Bones war schon dabei, die Ve-randatreppe hinunterzustürmen, während Winston zurückwich. »Komm her, du mieser kleiner ...«

»Bones, nicht!«, unterbrach ich ihn. Schließlich wollte ich nicht, dass er mit seinen deftigen Flüchen andere Existenz-behinderte verschreckte.

Er hielt inne, bedachte Winston mit einem letzten bösen Blick, während er mit den Lippen die Worte: ich, Exorzist formte und sich dann wieder zu mir gesellte.

Ich schüttelte den Kopf. Vampirisches Besitzdenken. Es kam wirklich immer zur falschen Zeit ins Spiel.

»Wie gesagt müsst ihr etwas sehr Wichtiges für mich tun.

Ich bin auf der Suche nach einem Ghul, der einen Krieg zwischen den Untoten anzetteln will, und er hat noch eine ganze Menge stinkwütender, vampirhassender Ghule im Schlepptau.«

Es war wirklich eine Herausforderung, aber wenn es Marie gelungen war, mithilfe der Gespenster Gregor aufzuspü-

ren, obwohl sie nicht die geringste Ahnung gehabt hatte, wo er sich verbarg, dann sollte sich Apollyon mit den Anhalts-punkten, die wir bereits hatten, um einiges leichter finden lassen.

»Nehmt die Ley-Linien«, sagte ich und kam mir vor wie ein General, der seine Truppen befehligt. »Sagt es euren Freunden, damit auch sie sich auf die Suche machen können. Seht euch in allen größeren Beerdigungsinstituten um, die an Friedhöfe grenzen. Findet den kleinen Ghul mit den schwarzen Strähnen über der Glatze, der sich Apollyon nennt und kommt dann gleich zurück, um mir zu sagen, wo er ist.«

»Nicht dir, Süße«, mischte Bones sich ein. »Fabian. Sie sollen sich an Fabian wenden, der dann mit uns Kontakt aufnimmt.«

Guter Einfall. Mein Vertrauen in Maries Macht war so groß, dass ich jedem Geist, mit dem ich persönlich gesprochen hatte, blind vertraute. Aber da waren ja noch andere, die mir nie begegnet waren. Ich durfte nicht alles aufs Spiel setzen, indem ich Apollyon zu mir führte statt umgekehrt.

Ich deutete auf das Gespenst an meiner Seite. »Wartet.

Wendet euch an Fabian, meine rechte Hand. Er bleibt hier, dann könnt ihr ihn leicht finden.«

Fabian strahlte mit stolzgeschwellter Brust, als er meine Worte hörte. Ich führte meine Hand an die Stelle, wo seine Schulter hätte sein sollen, und begegnete dem Blick eines jeden Gespensts, das zu mir heraufsah.

»Jetzt geht«, drängte ich sie. »Beeilt euch.«

Ein verwischter Silberstreif huschte über die anderen Autos auf dem Parkplatz hinweg, bevor er in unseren schwarzen Van tauchte. Bis zum »Lasting Peace« in Garland, Texas, einem Friedhof und Bestattungsinstitut, waren es nur noch ein paar Kilometer. Marie Laveau hatte zwölf Jahre lang Geisterspitzel aussenden müssen, um Gregor aufzuspüren, aber Fabian hatte Apollyons Aufenthaltsort in nur sechs Tagen ausfindig gemacht.

Fairerweise musste man natürlich sagen, dass die Welt ein verdammt großer Ort war und Mencheres Gregor in einen verlassenen, nachgerüsteten Bergwerksschacht in Madagas-kar gesperrt hatte - was von Maries Hauptquartier in New Orleans ganz schön weit weg war. Ich jedoch hatte Apollyons Aufenthaltsort bereits auf ein Land und einen Geschäftszweig eingegrenzt. Dennoch war es eine bemerkens-werte Leistung. In meiner Gegenwart würde niemand mehr abfällig über Geister reden, so viel stand fest.

Aus dunstigen Wirbeln formten sich Fabians Züge, aber seine Mundwinkel waren traurig nach unten gezogen.

»Ich glaube, ihr braucht Verstärkung.«

»Wie viele sind es?«, wollte Bones wissen.

»Mindestens achtzig«, antwortete Fabian, »und in etwa einer Stunde haben sie eine Kundgebung.«

»Ist Apollyon noch da?«, mischte ich mich ein.

Fabian nickte. »Ihr könnt ihn euch nachher schnappen, wenn die anderen weg sind.«

Bones warf mir einen Blick zu. Oder Apollyon haut zusammen mit den anderen Ghulen ab. Dann müssen wir noch mal die Gespenster auf ihn ansetzen.

»Diese Ghule ... wirken die meisten eher wie Besucher oder wie Aufpasser?«, fragte Bones und tippte sich ans Kinn.

Fabian machte ein irritiertes Gesicht. »Woher soll ich das wissen?«

»Du siehst doch, wie viele bewaffnet sind«, meinte Vlad, das Wort »bewaffnet« besonders betonend.

»Ah.« Fabians Stirn glättete sich. »Ein paar haben große Waffen mit Munitionsgurten dabei, die sie über Kreuz am Oberkörper tragen.«

Ich nahm mir vor, Fabian demnächst einen Grundkurs in Sachen moderne Waffengattungen angedeihen zu lassen, damit er uns bessere Beschreibungen liefern konnte.

»Maschinengewehre?«, hakte ich nach, während ich so tat, als hätte ich eins in der Hand und dabei das Geräusch der Salven imitierte.

Bones' Lippen zuckten, aber er senkte den Kopf, damit ich nicht sehen konnte, wie lustig er meine GI-Jane- Impro-visation fand.

»Ja, genau«, antwortete Fabian. »Vielleicht hatten andere noch Messer bei sich, aber das waren die einzigen Waffen, die ich sehen konnte.«

Vlad stieß ein Schnauben aus. »Ich bin nicht hierhergekommen, um jetzt den Schwanz einzuziehen.«

Mir ging es genauso. Aber es stand anzunehmen, dass die Maschinengewehre mit Silbermunition ausgestattet waren und einige Ghule bestimmt noch Silbermesser bei sich trugen. Auch wenn die Mehrzahl unbewaffnet war, kamen immer noch acht von ihnen auf einen von uns.

»Mencheres, setze deine Macht ein, um zu verhindern, dass Sterbliche zu Schaden kommen. An einer Seite grenzt ein Geschäftsviertel an den Friedhof, und ich kann Tate keine Truppen hinschicken lassen, die es abriegeln, weil dann Apollyon den Braten riechen würde. Sterbliche fernzuhalten, ist also deine Hauptaufgabe.«

»Nicht Apollyon auszuschalten?«, erkundigte er sich mit höflichem Missfallen in der Stimme.

Ich sah ihm in die kohledunklen Augen. »Wenn du ihm den Kopf abreißt, macht das bestimmt eine Menge Eindruck, aber mir nutzt es nicht viel. Ihr sagt doch immer, ich müsste meinen Feinden mal eine richtige Lektion erteilen, damit sie mir nicht ewig nachstellen. Na ja, ich bin es, die Apollyon die ganze Zeit über als Sündenbock missbraucht hat, also muss ich ihn auch unschädlich machen.«

Meine Worte stießen auf Schweigen. Ich machte mich auf eine Diskussion gefasst, insbesondere mit Bones, und war dann überrascht, als er lediglich mit einem kühlen Kopf-nicken reagierte.

»Du darfst deine Macht auch nicht einsetzen, um die anderen Ghule zu fixieren«, sagte Bones. »Wir stellen uns ihnen persönlich.«

Ich musterte die Van-Besatzung. Außer Mencheres, Kira, Vlad, Spade, Denise, Ed und Scratch waren noch ein paar Neuzugänge dabei, die in den letzten Tagen zu uns gesto-

ßen waren. Bones' Erschaffer Ian grinste tatendurstig. Mencheres' alter Freund Gorgon zuckte nur mit den Achseln, und die kleine blonde Gesetzeshüterin Veritas, die ebenso alt war wie Mencheres, obwohl sie wie Barbies kleine Schwes-ter aussah, schien das Thema sogar zu langweilen. Niemand erhob Einwände.

Zwölf Vampire und eine Gestaltwandlerin gegen alles, was Apollyon aufzubieten hatte. Das klang zwar nicht gerade vielversprechend, aber ich wusste, wie schlagkräftig unsere Truppe war. Und hätten wir zu viele Vampire zusammengezogen, hätte das Apollyon womöglich gewarnt.

»Also schön.« Ich bedachte jeden im Van mit einem steten, unerschrockenen Blick. »Apollyon will Krieg? Den soll er haben, aber nicht zwischen unseren beiden Spezies. Es wird ein Krieg zwischen seinen und unseren Besten sein.«

Bones sah mich an, in seinen dunkelbraunen Augen blitzte es grün.

»In einer Stunde machen wir uns auf den Weg«, verkündete er mit bedrohlich sanfter Stimme. »Dann sind alle Ghule eingetrudelt.«

Und wenn alle da waren, mussten wir nicht befürchten, dass irgendwelche Nachzügler das Gemetzel sahen und Verstärkung holten. Ich lächelte Bones an und spürte in mir diese Mischung aus Nervosität und Entschlossenheit, die mich stets vor einer Schlacht erfüllte.

»Ich kann es nicht erwarten, sie aufzumischen.«

Er lächelte mich genauso mordlüstern an.

»Ich auch nicht, Kätzchen.«

Der beißende Wind ließ mich die Augen zukneifen, während ich auf den Friedhof hinabsah, auf den Bones mit mir zuflog.

Wenige Lichter erhellten die Zugänge, aber es gab auch zwei besser ausgeleuchtete Bereiche. Einer war das Bestattungsinstitut. Das Schild mit der Aufschrift »Lasting Peace« war erleuchtet und unterstrich die düster elegante Konstruktion des zweistöckigen Gebäudes. Auch am Südende des Gräber-feldes war ein Bereich ausgeleuchtet, wo sich noch natur-belassenes, für eine spätere Nutzung vorgesehenes Gelände befand. Ich sah auf das kleine Podium und den darauf stehenden Ghul hinab, der von zwei tragbaren Flutlichtschein-werfern angestrahlt wurde, und konnte mir ein spöttisches Schnauben nicht verkneifen.

Apollyon hatte diese Scheinwerfer nicht aufstellen lassen, damit seine Anhänger ihn gut sehen konnten, während er wild gestikulierend darüber schwadronierte, dass Kain eigentlich ein Ghul war und Vampire von den Körperfressern abstammten, nicht umgekehrt. Ghule konnten im Dunkeln sehen. Wie arrogant musste Apollyon eigentlich sein, wenn er sich während einer als geheim geplanten Untoten-Kundgebung ausleuchten ließ wie ein Rockstar auf der Bühne?

Und war das ein Armani-Anzug, den er da trug? Mit meinem langweilig funktionalen, komplett schwarzen Stretch-trikot und den vielen Waffenholstern war ich für den glanz-vollen Anlass eindeutig zu schlicht gekleidet.

Bones ging abrupt in den Sturzflug über, sodass ich alle Stilfragen vergaß. Fabian hatte recht gehabt: etwa sechzig Ghule standen in ungefähr rautenförmiger Aufstellung bei-sammen und hingen gebannt an Apollyons Lippen, während ungefähr zwei Dutzend mit Maschinengewehren bewaff-nete Aufpasser die Umgebung abschritten. Auch am Haupteingang des Friedhofs hatten wir vier oder fünf Wachleute gesehen, aber über die machte ich mir keine Gedanken.

Mencheres würde sich um sie kümmern, und Denise und Kira stellten sicher, dass keine Nachzügler mehr eintrafen.

Ich griff mir meine beiden Katanas, während Bones mit mir im Arm zu der Stelle hinabstieß, an der die meisten Wachleute versammelt waren. Vorrangiges Ziel war es, die Schützen auszuschalten, bevor sie uns ausschalteten. Einen Sekundenbruchteil lang hatte ich Zeit, den geschockten Ausdruck in den Gesichtern der Aufpasser zu genießen, als entweder Bones' Energiefeld sie erreichte oder ihnen die große dunkle Gestalt auffiel, die sich auf sie herabstürzte. Dann krachten wir mit lautem Getöse in die Gruppe hinein.

Es war ein Gefühl, als wären wir in eine Baumgruppe ge-donnert, nur dass die Bäume laut schreiend zurückschlugen.

Bevor ich richtig zum Stehen kam, hieb ich auch schon mit meinen Schwertern um mich. Bones, das wusste ich, hatte sich längst aus dem Bereich, in dem meine Klingen ihn hätten gefährden können, weggerollt. Mit blindwütigen Hieben trennte ich Gliedmaßen und Köpfe ab, während ich kürzere Schwerter wie verlängerte Arme benutzte und damit auf jeden einhackte, der mir in die Quere kam, bewaffnet oder nicht. Wenn sie es waren, standen sie auf Apollyons Seite und würden mich töten, wenn ich das zuließ.

Geschützfeuer und Geschrei verrieten mir, dass auch der Rest unseres Trupps eingetroffen war. Ich hätte mich zwar gerne nach Bones umgesehen, tat es aber nicht, sondern hackte mich weiter konzentriert durch die Ghule, die inzwischen das Feuer eröffnet hatten, um die Störenfriede auszuschalten. Sengender Schmerz breitete sich in meiner Bauchseite aus, und ich rollte mich weg, während ich weiter auf jeden einhieb, der das Pech hatte, mir in die Quere zu kommen. Verdammt. Ich war getroffen worden.

In dem ganzen Durcheinander hatte sich mein Haarknoten gelöst. Dunkle Strähnen raubten mir die Sicht, als ich einer weiteren Gewehrsalve auswich und sah, wie hinter mir Gras-brocken durch die Luft flogen, wo die Projektile einschlugen.

Instinktiv schleuderte ich mein Schwert und hörte einen Aufschrei, bevor ich mit nach wie vor brennenden Schmerzen in der Seite aufsprang und einen Ghul nach hinten kippen sah.

Er umklammerte sein Gesicht mit den Händen; wo einst seine Nase gewesen war, steckte jetzt mein Schwertgriff.

Den Schmerz ignorierend stürzte ich mich auf ihn, bevor er noch einmal zum Gewehr greifen konnte. Ein kräftiger Hieb gegen seinen Hals, und er regte sich nicht mehr. Ein weiterer Hieb demolierte den Abzug seiner Waffe. Hätte ich sie einfach herumliegen lassen, hätte irgendwer sie womöglich aufgelesen und damit herumgeballert.

Als Nächstes spürte ich explosionsartige Schmerzen im Halsbereich. Blut füllte meinen Mund. Ich schnappte mir den toten Ghul und benutzte seine Leiche als Schild. Ich hustete, konnte aber nicht atmen. Der Schmerz in meinem Hals war genauso brennend wie der in meiner Flanke, aber er ließ schneller nach, sodass ich mir denken konnte, was passiert war. Ich war in den Hals geschossen worden.

Irgendwie machte mich das wütender als die Kugeln, die noch dabei waren, sich tiefer in meinen Rumpf zu bohren.

Mich weiter mit dem toten Körper in meinen Händen schützend, stürzte ich mich auf den Ghul, der nach wie vor auf mich feuerte. Die Geschosse trafen allerdings nur seinen toten Kameraden, sodass mir Zeit blieb, ein wildes Gebrüll auszustoßen, bevor ich ihm die Leiche entgegenwarf und ihn damit zu Boden riss. Kurz darauf stürzte ich mich mit dem Schwert hinterher und durchtrennte ihm mit einem Schlag, in den ich meinen geballten Schmerz und Zorn legte, den zur Abwehr erhobenen Arm und den Hals. Der Kopf des Ghuls blieb dreißig Zentimeter entfernt von seinem Körper liegen.

Statt mich zu beglückwünschen, wirbelte ich gleich wieder herum. Und zwar gerade noch rechtzeitig. Zwei Ghule kamen auf mich zu, der eine mit einem Gewehr, der andere mit einem Messer bewaffnet. In letzter Sekunde katapultierte ich mich in die Luft, sodass die für mich bestimmten Kugeln ins Leere gingen, bevor ich hinter meinen beiden Angreifern landete. Mit dem Schwung der Landung durchtrennte ich beiden die Hälse und wurde von Blut bespritzt, als beide Ghule geköpft zu Boden gingen.

»Kätzchen!«

Ich hob den Blick gerade rechtzeitig, um über mir ein silbernes Aufblitzen wahrzunehmen. Ich warf mich zu Boden, und das Schwert, das mir den Hals hätte durchtrennen sollen, traf mich stattdessen seitlich am Schädel. Die Welt vor meinen Augen färbte sich rot, und Schmerz breitete sich explosionsartig in meinem Kopf aus. Instinktiv wollte ich mich zusammenkrümmen und mit den Händen die Wunde bedecken, aber ein Teil von mir konnte sich noch an das brutale Training erinnern, das Bones mir hatte angedeihen lassen, sodass ich sofort zum Gegenangriff überging. Ich zielte mit dem Schwert dorthin, wo ich zuletzt die Beine des Ghuls gesehen hatte, und schlug mit aller Kraft zu. Es folgten ein Schrei und ein plumpsendes Geräusch, als etwas Hartes auf mir landete. Durch das Blut, das mir in die Augen lief, konnte ich nicht gut sehen, aber ich schwang weiter mein Schwert und wusste mit jedem neuen Aufschrei, den ich hörte, dass ich das Ziel traf, auch wenn ich es gerade nicht sehen konnte. Als ich sengenden Schmerz im Rücken spürte, krümmte ich mich reflexartig und verdoppelte meine Anstrengungen.

Der Ghul war noch nicht erledigt.

Ich blinzelte mehrmals kurz hintereinander und konnte meinen Angreifer dann zumindest sehen. Sein Arm war abgetrennt. Seine Unterschenkel ebenfalls, aber er hatte ein Silbermesser, mit dem er auf meinen Rücken einstach, um mein Herz zu durchstoßen. Statt mich wegzurollen, rammte ich ihn wütend mit dem Kopf. Er fuhr betäubt zurück, aber das plötzliche Flimmern vor meinen Augen und der einsetzende Brechreiz sagten mir, dass meine Kopfwunde noch nicht verheilt war. Während der Schmerz weiter in meinem Schädel wütete und es in meiner Bauchseite pochte, als würden wärmesuchende Geschosse Tango in meinen Eingeweiden tanzen, ließ ich das Schwert auf den Hals des Ghuls niedersausen.

Der trat jedoch mit seinen Beinstümpfen nach mir, sodass ich mein Ziel verfehlte. Statt seinen Hals zu durchtrennen, grub sich mein Schwert in seine Schulter. Ich zog daran, bekam es aber nicht frei. Der Ghul stieß eine Mischung aus Knurren und Lachen aus.

»Daneben«, stellte er hämisch fest und zielte mit dem Maschinengewehr.

Mein anderer Arm schnellte vor, und dem Ghul blieb das Lachen im Halse stecken. Er feuerte, aber die Salven gingen ins Leere, was vermutlich daran lag, dass er inzwischen zwei Silbermesser in den Augenhöhlen stecken hatte. Er hätte sich eben nicht über mich lustig machen dürfen, bevor er gefeuert hatte. Außer meinem Schwert hatte ich noch jede Menge anderer Waffen dabei.

Er griff nach den Messern - wieder ein Fehler. Ich riss ihm das Gewehr aus der Hand und ballerte ihm den Hals weg, wobei ich ein wildes Triumphgeheul ausstieß. Dann zog ich das Schwert aus seiner Schulter und fuhr herum, um mich gegen die nächsten Angreifer zu wehren.

Aber es kamen keine. Ich hörte zwar noch Schüsse, aber längst nicht mehr so häufig. Der Friedhof war von Leichen übersät, und wer noch auf den Beinen war, schien eher flie-hen als kämpfen zu wollen. Einen Sekundenbruchteil lang war ich überrascht. Ich wusste ja, dass unsere Gruppe krass drauf war, aber ...

Ein gelb-schwarzer Streif, der sich mit der Geschwindigkeit des tasmanischen Teufels aus dem Cartoon fortbewegte, fiel mir ins Auge. Er pflügte durch die Ghule, die gerade dabei gewesen waren, auf Ian zu feuern. Ein Wimpernschlag, dann bedeckte ein Haufen blutiger Körperteile die Stelle, und eine winzige Blondine wurde sichtbar.

Veritas? Mir blieb keine Zeit, sie anzugaffen, denn sie war schon wieder davongestoben, auf den Geschützlärm zu, der hinter einem Hügel erklang. Die Schüsse verstummten binnen Augenblicken.

»Bin ich der Einzige, der wegen dem heißen Feger einen Steifen hat?«, fragte Ian fröhlich in die Runde, während er mit dem Schwert einen Ghul in der Mitte durchhieb. Das rüttelte mich wieder wach, und ich rannte in die Richtung, aus der ich die nächste Gewehrsalve hören konnte. Meine Bauchseite fühlte sich noch immer an, als stünde sie in Flammen, aber ich unterdrückte den Schmerz. Ich hatte keine Zeit, die Kugeln herauszuholen, und nur damit konnte ich dem Brennen Einhalt gebieten.

Ich lief weiter auf den Geschützlärm zu und erreichte schließlich eine kleine Anhöhe. An deren Fuß befand sich ein riesiger Gedenkbrunnen, aber das war es nicht, was einen frischen Adrenalinstoß durch meinen Körper jagen ließ.

Es war der Anblick des kleinen, teuer gekleideten Ghuls, der mit dem Rücken zu der Fontäne stand und von drei Wach-leuten mit Maschinengewehren geschützt wurde, die auf die Vampire feuerten, die ihnen den Fluchtweg verstellten.

»Apollyon!«, rief ich und rannte den Hang hinunter auf ihn zu. »Du weißt, wer ich bin, oder?«

Selbst aus der Entfernung konnte ich sehen, wie er bei meinem Anblick die Augen aufriss. »Gevatterin«, formten seine Lippen. Dann brüllte er seine Bodyguards an: »Das ist sie, das ist die Gevatterin!«

Die Schützen zielten jetzt in eine andere Richtung, aber das hatte ich erwartet. Ich warf mich nach rechts, sodass ich nur eine Kugel abbekam. Sie traf meinen Rumpf mit der Wucht eines Torpedos, aber ich hielt nicht inne, weil mir klar war, dass der Beschuss andauern würde. Anders als im Film sahen die Bösen nicht nach, ob man vielleicht schon tot war. Ich rappelte mich auf und floh zwischen zersplitternden Grabsteinen hindurch, die von den Projektilen getroffen wurden.

Ein Schrei ertönte, dann verstummte eins der Maschinengewehre. Dann noch eins. Lächelnd rannte ich weiter.

Ich wusste, dass Vlad, Spade und Gorgon mein kurzes Ab-lenkungsmanöver gereicht hatte, um anzugreifen. Apollyon und seine Aufpasser hätten das auch wissen müssen und nicht alle auf mich feuern sollen.

Ich wirbelte herum und lief zurück zum Fuß der Anhöhe.

Vlad hielt einen der Schützen erbarmungslos umklammert, während der Ghul in Flammen aufging. Spade rang mit dem zweiten Wachmann, aber ich machte mir keine Sorgen um ihn, weil es ihm gelungen war, ihm das Maschinengewehr aus der Hand zu schlagen. Blieben noch Ed und Gorgon, die sich gegen zwei weitere, neu hinzugekommene Ghule zur Wehr setzten, aber auch denen galt meine Aufmerksamkeit nicht. Sie war einzig und allein auf den untersetzten Ghul gerichtet, der gerade dabei war, schnurstracks auf das Friedhofstor zuzurennen. Dahinter begann das kleine Geschäftsviertel, das zu dieser Nachtzeit zwar größtenteils menschen-leer war, aber gute Versteckmöglichkeiten bot.

»Das lässt du schön bleiben«, knurrte ich und lief schneller. Die entsetzlichen Schmerzen in meiner Bauchseite wurden wieder schlimmer, das Brennen so stark, dass ich das Ge-fühl hatte, von Säure verätzt zu werden, aber das durfte mich jetzt nicht stören. Ich musste mich auf die mich umgebende Luft konzentrieren, sie mir als etwas Körperliches vorstellen, das ich formen und mit meinem Willen beeinflussen konnte. Bones' Worte hallten mir in den Ohren. Du hast die Fähigkeit. Du brauchst nur noch ein bisschen Übung.

Der Boden unter meinen Füßen brach weg, aber ich fiel nicht. Ich flog, lehnte mich in die Luft hinein, um mich von ihr schneller als von meinen Beinen tragen zu lassen. Wind fuhr mir durchs Haar, strömte an meinem Körper entlang und hob mich hinweg, als wollte er mich in meinem dringen-den Anliegen unterstützen. Die Distanz zwischen Apollyon und mir wurde kürzer, seine Schritte kamen mir langsam und ungelenk vor im Vergleich zu der Art, wie ich durch die Luft sauste. Ich verringerte den Luftwiderstand, indem ich die Arme vor mir ausstreckte, und schoss auf sein schwarzes Armani-Jackett zu, als wäre es das Schwarze in einer Zielscheibe und ich ein Pfeil. Noch zehn Meter. Sechs. Drei...

Als ich ihn mit solcher Wucht rammte, dass er eine Narbe im Erdboden hinterließ, lächelte ich, obwohl bereits eine neue Schmerzwelle meine Bauchseite erfasst hatte. Und während ich mich aufrappelte und zu Apollyon umdrehte, machte mich die Erleichterung beinahe unempfindlich gegen die Fausthiebe, die er mir verpasste, bevor es mir gelang, seinen Hals mit eisernem Würgegriff zu umklammern.

»Eine Bewegung, und ich reiß dir deinen verfluchten Kopf ab«, verkündete ich und meinte jedes Wort todernst.

Apollyon war entweder schlauer, als ich gedacht hatte, oder fürchtete sich wirklich vor mir, denn er hörte sofort auf, sich zu wehren.

»Was hast du mit mir vor?«, zischte er mit gepresster Stimme, weil ich ihm so fest die Kehle zudrückte.

Ich stieß ein gequältes Lachen aus.

»Wie schön, dass du das fragst.«

Als wir wieder am Springbrunnen ankamen, hatte Spade den Ghul umgebracht, mit dem er gekämpft hatte. Von dem, den ich mit Vlad gesehen hatte, waren nur noch verkohlte Überreste geblieben, und in der Nähe von Gorgon und Ed lagen zwei geköpfte Leichen am Boden. Bones konnte ich nirgends ausmachen, aber ich wusste, dass es ihm gut ging.

Meine Gefühlsverbindung zu ihm war stark wie immer, und seine Emotionen schwappten mit Intensität und Entschlossenheit über mich hinweg. Nun, da eine ausreichend große Zahl von Vampiren in der Nähe war, ließ ich von Apollyon ab, indem ich ihm einen so heftigen Stoß versetzte, dass er sich am Brunnenrand abstützen musste, um nicht zu stürzen.

»Dann wollen wir uns mal darüber unterhalten, was ich mit dir vorhabe«, sagte ich und griff mir ein Schwert, das jemand auf dem Boden hatte liegen lassen. Eine Bewegung auf der Anhöhe lenkte mich kurz ab, aber dann fuhr ich fort.

»Ich denke, ich greife deine Idee auf, den Sieg mit einer Exe-kution zu feiern. Eine kleine Abweichung gibt's allerdings in der Frage, wessen Kopf abgehackt wird.«

Apollyon schaute hoch und zeigte mir die Zähne. »Selbst wenn du mich umbringst, werden meine Leute die deinen bis zum Tode bekämpfen«, knurrte er. »Dein Sieg ist Schall und ...«

Als ich anfing zu lachen, unterbrach er sich mit beinahe hektischen Flecken im Gesicht. Ich sagte nichts, sondern deutete nur auf die Anhöhe hinter ihm.

Als er sich in die Richtung wandte, wirkte er dann gleich ein bisschen unglücklicher. Irgendjemand - wer, wusste ich nicht genau - hatte die restlichen Ghule zusammengetrie-ben und hergebracht. Grob geschätzt waren es etwas über zwanzig, die die Hände in einer universellen Geste der Ka-pitulation über den Köpfen verschränkt hielten.

»Sieht aus, als wüssten deine Leute, wann sie verloren haben«, sagte ich und genoss den verdutzten Ausdruck auf dem Gesicht des Ghul-Führers. Der allerdings gleich wieder verschwand, als er seine Untergebenen böse anfunkelte, wobei der Zorn, den er empfand, nicht nur seinem Gesichtsausdruck, sondern auch dem herben Geruch zu entnehmen war, der von ihm ausging.

»Wie könnt ihr es wagen, mich so schmählich im Stich zu lassen!«, brüllte er sie an.

Ich tippte ihm mit der Spitze meines geborgten Schwerts auf die Schulter. »Ich will dich nicht unterbrechen«, bemerkte ich voll eisiger Genugtuung, »aber wir beide haben noch ein Hühnchen zu rupfen.«

Apollyon musterte erst das Schwert und dann mich, bevor er wieder seine Untergebenen ansah. Ich ließ ihn weder aus den Augen, noch lockerte ich meinen Griff um das Schwert-heft. Ich würde erst zuschlagen, wenn er darauf gefasst war, aber ich würde ihm auch nicht den Gefallen tun, mich ablenken zu lassen. Wenn Apollyon mit fairen Mitteln kämpfen würde, wären wir jetzt schließlich nicht hier gestanden.

Daher überraschte es mich ein wenig, als er mit geöffneten Händen die Arme ausbreitete. »Na los, Gevatterin, verbrenne mich! Oder lasse mich mit der Kraft deines Geistes erstarren. Zeige meinen Leuten die Macht, die zu be-kämpfen sie sich so sorglos weigern.«

Selbst seine letzten Augenblicke muss er noch nutzen, um Hass zu säen, dachte ich angewidert.

»Gib ihm ein Schwert«, sagte ich zu Bones, der zusammen mit Veritas hinter der Gruppe von Ghulen hervorgetreten war. Er war voller Blut, seine Kleidung zerfetzt, aber er bewegte sich mit einer todbringenden Präzision, die mir sagte, dass er die ganze Nacht hindurch hätte kämpfen können.

Sah ihm ähnlich, die Ghule hierher zu treiben, damit sie dem Ende ihres Anführers beiwohnen konnten.

»Ich brauche keine Wunderkräfte, um dich niederzustre-cken«, wandte ich mich an Apollyon, nachdem Bones zu seinen Füßen ein Schwert in den Boden gerammt hatte. »Ich habe einen Haufen Silberkugeln in mir stecken und Schmerzen wie ein Gaul, aber wenn du zum Schwert greifst, mache ich dich fertig, das schwöre ich dir.«

Apollyon sah von dem Schwert zu mir. »Nein.«

»Nein?«, wiederholte ich ungläubig. »Ich biete dir einen fairen Kampf an, du Vollidiot! Hättest du es lieber, wenn ich dir einfach den Kopf abschlage und Feierabend?«

Apollyon wandte sich Veritas zu und machte einen Knie-fall vor ihr. »Ich stelle mich dem vampirischen Rat.«

»Du mieser kleiner Jammerlappen, nimm das Schwert, bevor ich dir mit bloßen Händen den Kopf abreiße«, brüll-te Bones ihn an.

Apollyons Züge verzerrten sich zu einem Ausdruck irren Triumphes. »Du kannst mich nicht umbringen, wenn ich mich einer Gesetzeshüterin ausliefere. Niemand kann das!«

Ich sah ihn erstaunt an. Das war der Typ, der im vierzehnten Jahrhundert fast einen Krieg zwischen Vampiren und Ghulen heraufbeschworen hätte? Und jetzt kurz davor gewesen war, es wieder zu tun?

Ich hatte schon viele widerliche Bösewichte in ihren letzten Augenblicken erlebt, von denen die wenigsten ihrem eigenen Ableben mit Freude entgegengesehen hatten, aber so jämmerlich wie Apollyon hatte sich noch keiner aufgeführt.

Er schreckte nicht einmal davor zurück, sich Veritas in einer Art hüpfendem Kriechgang zu nähern, bis er sich an der blutverschmierten Hose der Gesetzeshüterin festklam-mern konnte. Ich fand es unglaublich, dass ein Kerl, der den Großteil seines Lebens der Planung eines Völkermordes ge-widmet hatte, angesichts der eigenen Niederlage ein derart rückgratloses Verhalten an den Tag legte. Unwillkürlich musste ich daran denken, wie die letzten Stunden im Leben Hitlers angeblich verlaufen waren. Wie es aussah, waren beide entsetzliche Feiglinge gewesen.

»Diesem Mann seid ihr gefolgt?«, wandte Vlad sich an die übrigen Ghule und drückte damit meine eigene Geringschätzung aus. »Ich an eurer Stelle würde vor Scham Selbst-mord begehen.«

Als Veritas Apollyon ansah, verhärteten sich ihre geradezu lächerlich kindlichen Züge zu einem Ausdruck reinster Verachtung.

»Du glaubst, du würdest Gnade vor mir finden?«

Sie griff sich Apollyons dürftige Haarsträhne, zerrte sie von seiner Glatze und benutzte sie, um ihm den Kopf zu-rückzureißen. Ich hätte fast selbst die Fassung verloren, denn das war nun wirklich grausam von ihr.

»Du hast wiederholt versucht, mein Volk zu vernichten, und bist jetzt der Ansicht, ich würde dich schützen?«, stieß sie fast knurrend hervor.

»Das musst du«, antwortete Apollyon, dessen Stimme beim letzten Wort brach.

Veritas richtete sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter siebenundfünfzig auf, aber ihre Macht war so sengend und ihre Körperhaltung so gebieterisch, dass sie ebenso gut drei Meter groß hätte sein können.

»Malcolm Untare, der du dich selbst Apollyon nennst, für deinen Versuch, andere deiner Art zu Mord und Revolte an-zustacheln, verurteile ich dich hiermit zum Tod.«

Er stieß ein Kreischen aus, das Veritas ignorierte. Sie beugte sich vor, bis ihre Lippen das Ohr des Ghuls streiften, und flüsterte ihm etwas zu, das ich nur hören konnte, weil ich so dicht bei den beiden stand.

»Du elender Wurm. Jeanne d'Arc war meine Freundin.«

Dann versetzte sie ihm einen Fußtritt und wich seinen grabschenden Händen aus, indem sie ein Stück zurücktrat und ihm über die Schulter zurief: »Stirb auf den Knien oder stell dich dem Kampf, den sie dir angeboten hat. Mir soll's egal sein.«

Bei der Erwähnung meiner berühmten Halbblut-Vor-fahrin war mir der Mund offen stehen geblieben, aber ich schloss ihn gleich wieder. Merke: Verdirb es dir nicht mit Veritas. Ihr Hass währt Jahrhunderte.

Als ich jedoch auf den Ghul hinabsah, spürte ich, wie mein Zorn verebbte. So viele Morde gingen auf sein Konto, so viele Jahrhunderte lang hatte er sich von blindem Machtstre-ben leiten lassen, und doch war er zu erbärmlich, als dass ich ihn hätte hassen können. Er war es nicht einmal wert, umgebracht zu werden, aber wenn ich ihn am Leben ließ, würden meine jetzigen und künftigen Feinde es mir nicht als Barm-herzigkeit auslegen. Sie würden es als Schwäche interpretieren, die sie ausnutzen konnten. Mit einer Klarheit, wie sie mir zuvor völlig abgegangen war, begriff ich, warum Bones so mit meinem Vater hatte verfahren müssen und Vlad seine Grausamkeit eher zeigte als seine edleren Charakterzüge.

Es geschah nicht aus sadistischer Genugtuung oder der Lust, Konflikte anzuzetteln. Es sollte sie verhindern.

»Nimm das Schwert«, sagte ich zu Apollyon, jedes Wort betonend. »Oder ich töte dich auf der Stelle.« Veritas hatte ihn bereits im Namen des vampirischen Rats zum Tode ver-urteilt. Wenn ich ihn jetzt verschonte, würde das sein Leben nicht retten. Sie oder ein anderer würde ihn töten.

»Nein«, rief Apollyon beinahe wimmernd. Dann stürzte er los, um davonzulaufen.

Nach wenigen Schritten vertrat ich ihm den Weg, sodass er mit der ganzen Wucht seines stämmigen Körpers in mich hineinrannte. Er hatte nur seine Hände, und ich war nach wie vor mit einem ziemlich langen Schwert bewaffnet.

»Apollyon hat euch zur Revolte angestachelt mit der Behauptung, ich wollte mich in eine Mischung aus Vampir und Ghul verwandeln«, rief ich den Ghulen zu. »Denn jeden, der anders ist, muss man fürchten, nicht wahr?«

Apollyon wollte mich zu Boden reißen, aber die vielen Jahre, die er mir an Alter voraus war, hatte er offensichtlich nicht genutzt, um kämpfen zu lernen - und ich hatte einen verdammt guten Lehrer gehabt. Trotz der Schmerzen in meiner Bauchseite fuhr ich im letzten Augenblick herum und heftete mich an seinen Rücken, während er noch in der Vorwärtsbewegung war. Dann führte ich die Schwertklinge an seinen Hals.

»Wollt ihr wissen, warum ich Fähigkeiten besitze, die andere junge Vampire nicht haben?«, rief ich, als sich die Klinge in seinen Hals grub. »Weil ich mich nicht von menschlichem Blut ernähre; ich trinke Vampirblut.«

Und damit riss ich das Schwert in Richtung meines Körpers, wobei ich mir die Hand aufschnitt, weil ich zum besseren Halt die nackte Klinge gepackt hatte. Mein öffentliches Geständnis verschaffte mir dabei noch mehr Befriedigung als der Anblick des geköpften Apollyon. Mein Leben lang hatte ich mein wahres Wesen verbergen müssen. Erst als Kind, als ich noch nicht einmal gewusst hatte, was mich so außergewöhnlich machte, dann als Vampirjägerin zu Ende meiner Teenagerzeit und auch dieses Jahr wieder, obwohl ich bereits eine vollwertige Vampirin war. Nun, ich hatte das Versteckspiel und den Hass satt und wollte mich auch nicht länger für Eigenschaften entschuldigen, die ich weder selbst gewählt hatte noch beeinflussen konnte. Wenn jemand mit meiner Andersartigkeit ein Problem hatte, war das einfach Pech für ihn.

»Ja, genau, ich ernähre mich von Vampirblut«, sagte ich noch einmal, diesmal lauter. Ich stieß Apollyons Körper von mir, stand auf und schüttelte das Blut von meiner Schwertklinge, während ich den Ghulen gegenübertrat.

»Der sonderbarste Blutsauger der Welt, er steht direkt vor euch«, fuhr ich fort. »Und wisst ihr was? Wenn euch das nicht passt, wirklich schade für euch. Falls einigen unter euch das dermaßen gegen den Strich geht, dass sie sich mit mir anlegen wollen, können sie gern jederzeit vortreten und testen, ob ich vielleicht auch mal an ihnen nuckele!«

Letzteres hatte ich als Drohung gemeint, aber während ich so leidenschaftlich kundgetan hatte, dass ich nicht länger gewillt war, mich zu verstecken, hatte ich wohl irgendwie nicht so ganz auf die Formulierung meiner Worte ge-achtet. Ich sah, wie Bones die Augenbrauen hochzog. Dann begann Ian vor sich hinzukichern, und Vlad brach in lautes und herzhaftes Gelächter aus.

»Wenn das so ist, Gevatterin, solltest du den Freiwilligen vielleicht vorschlagen, sich zu deiner Rechten anzustellen.«

»Das soll nicht ... Ich hatte das als Drohung gemeint«, stammelte ich.

»Das haben auch alle verstanden, Süße«, antwortete Bones mit bemüht ausdruckslosem Gesicht, auch wenn ich sehen konnte, dass seine Lippen leicht zuckten. Als er Veritas ansah, die sich umgedreht und der Enthauptung Apollyons zugesehen hatte, verhärteten sich jedoch seine Züge.

»Und ich bin ganz deiner Meinung«, sagte er, wieder vollkommen ernst.

Die Gesetzeshüterin starrte mich an. Ich bereute mein öffentliches Bekenntnis nicht im Mindesten - von der Wortwahl vielleicht einmal abgesehen -, aber mir war klar, dass ihre Meinung mehr zählte als die meiner vampirischen und ghulischen Zuhörerschaft. Sie sprach schließlich im Namen des einflussreichsten Gremiums der Vampir-Nation.

Irgendwann zuckte Veritas mit den Achseln. »Damit bist du in der Tat der sonderbarste Blutsauger der Welt, aber es existiert kein Gesetz, das Vampiren untersagt, das Blut ihrer Artgenossen zu trinken, also geht es mich nichts an.« Und damit wandte sie sich ab.

Ich stieß ein kurzes Auflachen aus, das mir im Hals stecken blieb, als mir eine Bewegung am Friedhofstor ins Auge fiel.

Marie Laveau betrat gemessenen Schritts das Gelände.

Unverwandt starrte ich Marie an. Dem unbeteiligten Betrachter wäre nichts Bedrohliches an der Ghula aufgefallen, die da so ganz allein herangeschlendert kam. Ich aber wusste, dass Marie einen Wall aus Restwesen rufen und sie für sich kämpfen lassen konnte, bevor ich auch nur in der Lage war, »o Scheiße« zu flüstern. Würde es mir gelingen, schnell genug meine eigene Armee heraufzubeschwören, um mich gegen ihren Angriff zur Wehr zu setzen? Oder sollte ich meine Energie lieber darauf verwenden, die von ihr gerufe-nen Kreaturen in Schach zu halten, wenn es zum Äußersten kam? Ich war der Meinung gewesen, Marie hätte mir ihre Macht als Waffe gegen Apollyon übertragen, aber hatte sie womöglich die ganze Zeit über auf seiner Seite gestanden?

Hatte ich sie am Ende ganz falsch eingeschätzt?

»Warum bist du hier?«, zischte Veritas die Ghula an.

Ich hob die Hand, den ungläubigen Blick ignorierend, den die Gesetzeshüterin mir zuwarf, als ich ihr einfach so den Mund verbot.

»Majestic, wie schön, dass du gekommen bist«, sagte ich und klang dabei sehr viel ruhiger, als ich mich fühlte. »Ich hoffe doch, du bist hier, weil deine Geisterfreunde dir zu-getragen haben, was hier vor sich geht, nicht, weil du an der Hasskundgebung teilnehmen wolltest.«

Maries braune Augen sahen in meine, ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Während sie weiter vortrat, huschte ihr Blick über das Friedhofsgelände und die Ghul-Leichen, die es bedeckten. Die noch lebenden Ghule, die eben noch ängstlich zurückgewichen waren, suchten inzwischen ihre Nähe.

»Apollyon ist tot?«, erkundigte sich Marie, deren butter-weiche Stimme keinen Hinweis darauf gab, was in ihrem Kopf vorging.

»Und wie«, antwortete ich, bevor sich Veritas einmischen konnte. »Die meisten seiner Hauptleute ebenfalls.«

Marie stand inzwischen vor den anderen Ghulen; nur ein paar Reihen Grabsteine trennten sie von den Meistervam-piren, die sich Seite an Seite aufgestellt hatten.

»Und was geschieht mit den übrigen?«

Ich sah an ihr vorbei, darauf gefasst, dass sich jeden Augenblick ein brodelnder Wall aus Restwesen in ihrem Rü-

cken bilden würde. Wir waren noch nicht dazugekommen, uns darüber zu einigen, was wir mit den Ghulen machen würden, die sich uns ergeben hatten, aber ich fragte die anderen erst gar nicht, bevor ich antwortete.

»Wir lassen sie frei«, sagte ich.

»Du hast kein Recht, eine solche Entscheidung zu treffen«, zischte Veritas.

»Wie schade.« Maries Stimme schnitt durch die Luft, ihr angenehmer Südstaatenakzent war verschwunden und dem hallenden Tenor der Toten gewichen. »Ginge es nach Cat, hätte ich keinen Grund, euch anzugreifen, um meine Leute zu schützen. Ich will Frieden. Zwingt mich nicht zum Krieg.«

Veritas starrte Marie an. Ihr hübsches, trügerisch jung wirkendes Gesicht war hart. Ich hoffte, dass sie Marie in der Vergangenheit schon einmal begegnet war, und wusste, dass die gruselige Stimme der Voodoo-Königin ein An-zeichen dafür war, dass sie kurz davor stand, uns mit allen möglichen Qualen zu überziehen. Falls nicht, würde ich keine Zeit mehr haben, der Gesetzeshüterin klarzumachen, welch mörderische Biester diese Restwesen waren. Ich konnte höchstens noch selbst welche herbeirufen, denn bei dem dann stattfindenden Blutbad würden wohl eher unsere eigenen Leute dranglauben müssen. Marie hielt in trügerisch lässiger Haltung die Hände vor dem Körper verschränkt, aber mir war klar, dass sie sich dabei die scharfe Spitze ihres Ringes ins Fleisch presste.

Allein Mencheres hätte schnell genug seine eigene Macht einsetzen können, um sie daran zu hindern, mit ihrem Blut die Restwesen anzulocken. Ich sah ihn zwar aus dem Augenwinkel herankommen und stellte erleichtert fest, dass Denise und Kira bei ihm waren, wagte es aber nicht, ihm einen Blick zuzuwerfen, aus Furcht, die Geste könnte Marie zum Äußersten treiben. Und wenn Mencheres Marie erstarren ließ, musste er sie im Grunde gleich umbringen. So etwas würde sie uns niemals einfach durchgehen lassen, erst recht nicht vor Zeugen. Und wenn wir Apollyon, seine Hauptleute und Marie Laveau in einer einzigen Nacht ausschalteten, hatten wir den Krieg selbst provoziert.

»Cat hat kein Recht, derartige Entscheidungen zu treffen«, wiederholte Veritas. Neben mir erstarrte Bones, während ich selbst mich bereits mental darauf vorbereitete, einer Horde durchscheinender Killer entgegenzutreten. »Aber ich schließe mich ihrer Entscheidung an.«

Ich musste mich schwer zusammenreißen, um nicht laut loszujubeln. Bones' Anspannung, die durch unsere Gefühlsverbindung zu mir durchgesickert war, ließ ebenfalls etwas nach, auch wenn seine Körperhaltung weiter Wachsamkeit ausdrückte.

»Sie werden uns versklaven«, rief einer der Ghule erbit-tert, woraufhin die anderen in grimmig zustimmendes Gemurmel ausbrachen.

»Nein, das werden sie nicht«, antwortete Marie, die es schaffte, dabei gleichzeitig streng und beruhigend zu klingen. »Friede bedeutet nicht, dass die Vampire unsere Herrscher sein werden. Dazu sind sie nicht stark genug. So lange ich lebe, wird die Ghul-Nation den Vampiren an Macht immer ebenbürtig sein.«

Ich sah nicht, wie Maries Finger sich bewegten, spürte aber den Peitschenschlag der Macht in der Atmosphäre, bevor die Restwesen hinter ihr erschienen wie eine transparente Armee der Finsternis. Ihre Anzahl war überwältigend, ihre Energie glitt mir in eisigen Wellen über die Haut. Meine Schusswunden waren längst verheilt, sodass eine Stimme in meinem Innern mich bestürmte, mir schnell selbst eine Verletzung beizubringen, wenn ich eine Chance haben wollte, sie abzuwehren. Aber Marie hetzte die Restwesen nicht auf uns. Sie ließ nur immer neue erscheinen, bis der Wall ihrer Leiber so hoch war, dass er die Bäume überragte und sich bis zum anderen Ende des Friedhofs hin ausbreitete. Damals mit Vlad hatte ich nicht einmal ein Fünftel dieser Masse herbeirufen können.

Wenn das ein Schwanzvergleich sein soll, dachte ich wie betäubt, bin ich Klein-Fritzchen und sie Rocco Siffredi.

»Ein Vivat unserer Königin«, rief einer der Ghule, fast sofort gefolgt von einem zweiten »Vivat!« Immer mehr Ghule fielen in die Hochrufe mit ein, bis die Menge beinahe kol-lektiv zu brodeln schien.

Marie neigte den Kopf vor ihren Artgenossen, dann brach der Wall aus Restwesen in sich zusammen und verschwand im Erdboden. Diesmal konnte ich die knappe Fingerbewe-gung sehen, mit der sie sich die Wunde zufügte, deren Blut die todbringenden Kreaturen in ihre Gräber zurücksandte.

Ich wandte den Blick von Marie ab, um Bones anzusehen.

Er reagierte mit einem zynischen Kopfschütteln, das meine eigenen Gedanken widerspiegelte. Indem wir Apollyon und seine Spießgesellen aus dem Weg geräumt hatten, war der Weg für Marie frei, sich nicht nur als Königin über New Orleans, sondern gleich über die ganze Ghul-Nation einzuführen. Hätte sie sich auf eigene Faust gegen Apollyon gestellt, wäre ihre Spezies durch einen Bürgerkrieg zwischen seinen und ihren Anhängern geschwächt worden. Nun, da Apollyon fort war, stand sie als loyale Retterin und Beschützerin ihres Volkes da.

Vivat, fürwahr.

Als ich ihr in die haselnussbraunen Augen sah und die Genugtuung wahrnahm, die darin stand, tippte ich mir in stummer Warnung an den Mundwinkel. Marie mochte jetzt zwar Königin über die Körperfresser sein, aber wir teilten ein Geheimnis, das sie zu Fall bringen konnte. Ihr Volk hät-te ihr nicht so frenetisch Beifall gezollt, wenn es gewusst hätte, dass sie ihre Kraft einer Vampirin übertragen hatte, um ihr eine Waffe gegen Apollyon an die Hand zu geben.

Und falls sie je versuchen sollte, ihre neu erlangte Stellung zu missbrauchen, um einen Krieg gegen die Vampir-Nation anzuzetteln, würde sie sich mit sämtlichen Geistern anlegen müssen, die ich mit ihren eigenen Fähigkeiten und der Hilfe meines Freundes Fabian herbeirufen konnte.

Als Marie jedoch respektvoll, nicht feindselig den Kopf vor mir neigte, spürte ich leise Zuversicht in mir aufkommen. Marie war vieles, aber unbesonnen und dumm war sie nicht, sodass ihr all das bestimmt selbst klar war. Durch die ungeheuren Fähigkeiten, über die viele Meistervampire verfügten, die Kraft, die ich von Marie übernommen hatte, und das Wissen, das ich mir inzwischen über Geister und die ausschlaggebende Rolle angeeignet hatte, die sie in einer Schlacht spielen konnten, war das Kräfteverhältnis zwischen den beiden Spezies wieder relativ ausgeglichen, Maries ungeheurer Macht zum Trotz.

Die Waagschalen waren aus dem Gleichgewicht geraten, als Marie nach Gregors Tod nur noch den Ghulen verpflichtet gewesen war, aber vielleicht hatte Marie ja nichts anderes im Sinn gehabt, als die Balance wiederherzustellen, als sie mich damals gezwungen hatte, ihr Blut zu trinken, wobei sie das einzige Druckmittel eingesetzt hatte, das bei mir Wirkung zeigte: Bones' Leben. Ich konnte nur hoffen, dass sie dabei von Anfang an Frieden hatte stiften wollen ... und mich bereit halten für den Fall, dass es nicht so war.

Ich reagierte ihr gegenüber mit einem ebenso respektvollen Neigen des Kopfes, behielt aber den Finger in der Nähe meines Mundes. Ein leises Lächeln spielte auf Maries Zügen, bevor sie sich abwandte. Wir hatten einander verstanden.

»Kommt«, wandte sich Marie an die überlebenden Ghule.

»Wir gehen gemeinsam. Von mir habt ihr nichts zu befürchten. Es herrscht Frieden.«

Wie ein Mann schlössen sich die Ghule Marie an, als sie sich umdrehte und aus dem Friedhof spazierte, wie sie gekommen war. Ich fragte mich, ob ihren Artgenossen der war-nende Unterton in ihrer sanften Stimme aufgefallen war, als sie die Worte »Es herrscht Frieden« ausgesprochen hatte.

Mir war er aufgefallen, und das ließ wieder ein Fünkchen Hoffnung in mir aufflackern. Sollten irgendwelche Ghule versuchen, hinter Maries Rücken Krieg anzuzetteln, würden sie erfahren, dass der Hass der Voodoo-Königin ebenso furchtbar war wie alles, was ich oder die anderen Vampire ihnen antun konnten.

»Können wir ihr vertrauen ?«, erkundigte sich Veritas mit so leiser Stimme bei Mencheres, dass ich sie kaum verstehen konnte.

Nachdenklich sah er der sich entfernenden Marie nach, bevor er mir einen vielsagenden Blick zuwarf.

»Wir können darauf vertrauen, dass sie nicht dumm ist«, antwortete er schließlich. »Alles andere wird sich zeigen.«

Achselzuckend sah ich ebenfalls der Voodoo-Königin hinterher. Irgendwann würden sich Maries wahre Motive he-rausstellen. Bis dahin mussten wir die Scherben aufsammeln und weitermachen.

Apropos Scherben ...

Ich warf einen Blick auf das Schlachtfeld. Verdorrende Gliedmaßen und Körper bedeckten das Gelände. Die Erde war an mehreren Stellen blutdurchtränkt. Was für eine Schweinerei. Wir würden Feuer auf dem Gelände legen müssen, um sämtliche Hinweise auf die Existenz Untoter zu vernichten - und für den Fall, dass etwas von dem ver-gossenen Blut von Denise stammte. Ich würde Tate anrufen, damit er die örtliche Polizei fernhielt, wenn wir das Gelän-de in Brand steckten. Ich fand es noch immer gewöhnungs-bedürftig, dass ich diese Dinge mit Tate besprechen würde, statt Dons Stimme zu hören, wenn ich im Stützpunkt anrief, um die Details durchzugeben.

Allein der Gedanke an meinen Onkel ließ in meinem Augenwinkel sein Bild entstehen; in Anzug und Krawatte stand er da, das graue Haar ordentlich gekämmt, und zupfte an seiner Augenbraue, wie er es immer tat, wenn er verärgert oder nachdenklich war. In den vergangenen zehn Tagen hatte ich schon mehrmals geglaubt, meinen Onkel aus dem Augenwinkel zu sehen, aber er war stets wieder verschwunden, sobald ich mich nach ihm umdrehte. Trauernde zeigten manchmal die absonderlichsten Reaktionen, das wusste ich, aber ich drehte mich trotzdem noch nicht um. Ich musste mir ein paar Kugeln aus dem Fleisch holen und noch eine Menge anderer unschöner Dinge erledigen, aber ein paar kurze Augenblicke lang wollte ich mir noch einbilden, Don wäre bei mir.

»Luzifers Klöten, verflucht noch mal, ich glaub's nicht«, zischte Bones.

Da drehte ich mich um. Wie erwartet verschwand die Erscheinung, aber ich stellte überrascht fest, dass Bones in die gleiche Richtung starrte wie ich. Er riss den Mund auf, als ...

Als hätte er ein Gespenst gesehen.

»Nein«, hauchte ich.

Bones wandte sich wieder mir zu, und ein Blick in seine Augen sagte mir alles.

»Verdammte Scheiße«, flüsterte ich, während meine Emotionen hektischer durcheinanderwirbelten als der Inhalt eines Mixers auf Höchststufe, aber irgendwann wich mein Unglaube der Erkenntnis. Dann marschierte ich auf die Stelle zu, die Bones angestarrt hatte.

»Donald Bartholomew Williams«, rief ich laut. »Schaff deinen Arsch wieder her, sofort! «