Schlamm

Wieder in der Schule. Die Kleinen aus den unteren Klassen lärmen und rennen auf den Fluren herum; man muss sich nach oben boxen. Mein Blick fällt auf Christian. Weißes T-Shirt, blaue Jeans. Ich bleibe stehen, schaue ihn an. Sein Blick ist tot, als er mich von oben bis unten ansieht – oder bilde ich mir das nur ein? Ich bin nicht sicher. Eigentlich würde ich ihm gern nachgehen, bleibe aber stehen.

Es gibt keine Zigaretten bei Mboyas. Mit ein paar Schweden fahre ich nach dem Unterricht in die Stadt, behaupte, ich müsste einen kranken Klassenkameraden besuchen. Ich finde keine Zigaretten. Gehe zum Kibo Coffee House und frage einen Burschen, der dort sitzt und raucht.

»Du kannst einen Zug kaufen«, sagt er. Ich suche mir ein Taxi. Als ich zurück zur Schule komme, schaufelt Christian Erde aus dem tiefen Betongraben an der Schuleinfahrt; der Graben muss sauber sein, bevor die lange Regenzeit im Februar beginnt. Jarno hilft ihm. Ich bezahle, steige aus und stemme die Arme in die Seiten. Beide tragen weiße T-Shirts und blaue Jeans.

»Wie geht’s euch, Jungs?«

»Wie sieht’s denn aus?«, fragt Jarno zurück. Christian schaut mich mit einem ausdruckslosen Blick an.

»Tsk.« Er spuckt aus und gräbt weiter.

»Was habt ihr verbrochen?«

Jarno sieht Christian an, aber der starrt in die Luft, sagt nichts. Jarno grinst: »Christian hat jedes Mal, wenn Miss Harrison ihn etwas fragte, gesagt: ›Keine Ahnung, ist mir egal‹. Das mochte sie gar nicht.«

»Und du?«

»Hausaufgaben vergessen.«

»Und was ist mit euren Klamotten?«

»Das ist unser Stil«, erklärt Jarno. »The Carlsberg Twins.« Ich habe gehört, dass die Leimschnüffler sie so nennen, weil Christian zu Hause Carlsberg klaut. Die weißen Helfer lassen sich sämtliche Waren, die in Tansania nicht zu beschaffen sind, per Fracht kommen und bringen sie mit Bestechung durch den Zoll.

»Jarno, Christian, bis bald!«

»Okay«, sagt Jarno und belädt die Schubkarre. Christian bleibt stumm.

»Bis bald, Christian!«, rufe ich noch einmal. Er reagiert nicht. Sieht mich an. »Okay?«, frage ich.

»Okay«, antwortet er und verzieht den Mund zu einem kleinen Lächeln, dann stößt er die Schaufel in den getrockneten Schlamm am Boden des Grabens.

Verbindung

Der Unterricht ist vorbei. Ich müsste … irgendetwas tun. Was soll ich mit mir anstellen? Ich rufe in Tanga an. Bekomme eine Verbindung! Das Hausmädchen holt Alison.

»Ich will hier nicht bleiben.«

»Was ist denn los?«

»Ich halt’s nicht mehr aus.«

»Hör schon auf, Samantha, so schlimm ist es auch wieder nicht.«

»Doch, ich hasse es.«

»Ich kann zu eurem verlängerten Wochenende kommen, wir könnten die Durants zusammen besuchen«, schlägt sie vor.

»Das dauert noch ein paar Wochen.«

»Komm schon, Samantha.«

»Ja, okay. Und wie geht’s dir?«

»Du weißt schon … Mutter und Vater, es läuft nicht besonders gut.«

»Ist er zu Hause?«

»Ja. Ich glaube, er …« Die Verbindung wird unterbrochen. Ich versuche es noch einmal, aber ohne Erfolg.

Schwarzmarkt

Heute sind so gut wie keine Inder in der Schule. Sie haben Angst. Die Häuser der Inder, ihre Läden und Fabriken werden durchsucht, die Menschen verhaftet und ohne Gerichtsbeschluss eingesperrt.

Ich sehe Masuma in ihrer weißen Badmintonkleidung, als sie auf dem Parkplatz aus einem Auto mit Chauffeur aussteigt.

»Masuma!«, rufe ich. »Bist du okay?«

»Ich will Badminton spielen.«

»Ist bei euch irgendwas passiert?« Masuma schaut sich nervös um. »Komm«, fordere ich sie auf und fasse sie bei den Schultern. Wir gehen zur Karibu Hall. Masuma beginnt zu schniefen, reißt sich aber zusammen, keine Tränen.

»Sie waren in der Fabrik meines Vaters in Himo, allerdings haben sie nichts gefunden. Aber wir haben Nachrichten aus Kerbala, unserer heiligen Stadt. Dort hatte jemand eine Vision mit Blut und Gewalt in Afrika. Und meine Mutter hatte auch eine Vision, es war eine Kriegswarnung. Es ist sehr gefährlich im Augenblick.«

»Was ist eigentlich los?«

»Tansania hat alle Grenzen für uns geschlossen und alle internationalen Flüge gecancelt. Alle schiitischen Muslime auf der Welt haben von der Vision gehört, unsere Verwandten haben angerufen, um sich zu erkundigen, ob es uns gut geht, aber was sollen wir machen? Wir leben von der Gnade der Afrikaner, bis zu dem Tag, an dem es keine Gnade mehr gibt – und dann sterben wir.« Wieder beginnt sie zu schniefen.

»So was passiert doch nicht. Nicht in Tansania.«

»Das kannst du nicht wissen«, widerspricht Masuma. Christian ist nicht in der Karibu Hall.

»Er hat wahrscheinlich gedacht, du kommst nicht«, sage ich. Masuma schüttelt den Kopf, geht zurück zum Auto und wird nach Hause gefahren.

Im Laufe des Tages hören die Schüler von ihren Eltern in Dar, dass der Strand der Oysterbay voll ist mit Stereoanlagen, Videogeräten, Fernsehern und allen möglichen anderen Dingen, die normalerweise nur auf dem Schwarzmarkt zu bekommen sind. Die Leute schmeißen ihre Sachen ins Meer, denn allein der Besitz beweist, dass sie gegen das Gesetz verstoßen haben. Die Behörden gehen gegen illegale wirtschaftliche Aktivitäten vor, deshalb sind sie auch so hinter den Indern her – sie betreiben einen Großteil des Schwarzmarkts.

Am Freitag wird der Unterricht eingestellt. Der Staat hat die Bevölkerung aufgefordert, für die Bekämpfung des Schwarzmarkts zu demonstrieren. Der Staat schießt sich selbst ins Knie: Verschwindet der Schwarzmarkt, wird jedem bewusst, wie hoffnungslos die sozialistische Wirtschaft ist. Wir sind natürlich nicht aufgefordert zu demonstrieren, wir sind ja Ausländer und fleißige Nutzer des Schwarzmarkts.

Waran

Alison schreibt, dass sie an dem langen Wochenende doch nicht kommen kann; im Hotel ist zu viel Betrieb, außerdem muss sie nach Daressalaam. Aber sie freut sich, dass ich in den Ferien nach Hause komme. Fuck.

»Kommst du heute Abend zur Fete, Samantha?«, fragt mich Baltazar am Freitag vor dem Speisesaal. Er ist zwei Klassen über mir. Guter Sportler. Er greift nach meiner Hand. »Ich würde gern mit dir tanzen.« Blauschwarz, sehnig. Ich sehe, dass Stefano bei Truddi steht und versucht, sich interessant zu machen. Dennoch behält er mich ständig im Auge. Ich schenke Baltazar ein Lächeln.

»Ja, klar.«

Baltazar muss zum Fußballtraining. Stefano geht an mir und Tazim vorbei.

»Na, spielst du jetzt die Matratze für die Eingeborenen«, lässt er nebenbei fallen.

»Sie hat keinen Arsch, Stefano«, gebe ich zurück.

»Wen meinst du?«, fragt Tazim.

»Truddi.« Tazim schüttelt den Kopf über mich. Wir verabreden, dass ich mir heute Abend Tazims gelbes T-Shirt leihe, dann fährt sie in die Stadt, um mit ihrem Priester zu reden und zu beichten. Ich sollte Katholik werden; Tazim muss nur erzählen, was sie angestellt hat, dann das Ave Maria beten, und alles ist wieder in Ordnung. Aber in Wahrheit stellt sie nie irgendetwas an. »Was hast du denn gemacht?«, frage ich sie.

»Es sind meine Gedanken. Ich habe hässliche Gedanken.«

»Ist das alles?«

»Und Pläne. Ich habe auch hässliche Pläne.«

»Mit Salomon?«

Sie verzieht den Mund zu einem kleinen Lächeln und geht. Ich kann Panos nicht finden, also hole ich meine Zigaretten, die ich mit Klebeband unter Truddis Bett befestigt habe – manchmal finden Zimmerkontrollen statt. Dann schlendere ich über den Fußballplatz vom Schulgelände, biege zum Fluss ab und gehe an der steilen Böschung die Treppe hinunter. Es hat einige Zeit nicht geregnet, deshalb kann ich von Stein zu Stein bis zum anderen Ufer springen, an dem ich ein Stück das Flussbett entlanggehe, bevor ich mich hinsetze und mir eine Zigarette anzünde. Ich schaue einem Waran zu, der am gegenüberliegenden Ufer einen Gecko jagt. Gefühlskalte Augen. Trockne eine Träne im Augenwinkel. Ziehe fest an der Zigarette, bis der Filter in meinen Fingern heiß und weich wird. Höre ein Stück entfernt ein Geräusch. Trete die Zigarette hastig unter meinem Schuh aus und schubse die Kippe die Böschung hinunter. Warte und beobachte die Treppe. Wahrscheinlich nur eine Frau auf dem Heimweg vom Markt … nein, Jarno, er läuft. Das T-Shirt in der Hand, die Bauchmuskeln angespannt unter der dünnen, schweißschimmernden Haut.

Mama Mbege

»Sam the man«, sagt er, bleibt stehen, lächelt und verschnauft, sein langes Haar hängt über den pissgelben Augen.

»Wohin rennst du?«

»Zum pombe-Haus, Mama mbege

»Du läufst dahin, um Bier zu trinken?«

»Ein paar Mal die Woche«, sagt Jarno. Mbege ist das einheimische, aus Hirse gebraute dickflüssige Bier, das lauwarm serviert wird. Man wird davon betrunken und satt.

»Okay.« Ich gehe mit ihm. Wir erreichen den Rand eines kleinen Dorfes und das pombe-Haus; pombe ist eine allgemeine Bezeichnung für alkoholische Getränke. Ein paar Eingeborene sitzen auf dem gefegten Hofplatz in der Hocke. Wir setzen uns auf eine der Bänke, Jarno begrüßt die Männer und die Mama, wir bekommen eine Kalabasse an einem Stock. Jarno trinkt und zündet sich eine Zigarette an. Ich probiere einen Schluck. Man kann es kaum schlucken, wenn man es nicht gewohnt ist. Ich höre ein Lachen: Ebenezer, die Nachtwache, tritt durch die Öffnung in der Hecke.

»Samantha und Jarno«, stellt er fest und nickt. »Ihr seid richtige waswahili

»Vollkommen«, erwidert Jarno und fragt die Mama nach gongo, einem kräftigen Selbstgebrannten. Die einheimischen Viehbauern kaufen bei der TPC Melasse, ein Restprodukt der Zuckerproduktion, um sie ins Tierfutter zu mischen. Aber in Wahrheit verwenden sie das meiste zum Brennen von Alkohol. Gongo – als bekäme man einen Knüppel auf den Kopf.

Bei der Fete am Abend soll es ein Barbecue am Kishari geben, dem Haus für die ältesten Jungen. Jarno ist als Jüngster gerade dort eingezogen.

»Geht’s dir gut?«, erkundigt er sich mit einem Seitenblick.

»Alles okay. Legst du heute Abend auf?«

Er nickt und schaut mit einem leeren Blick durch seine Haarsträhnen. Reicht mir eine Zigarette. Um dann wieder stumm zu bleiben. Wie Finnisch kann man eigentlich sein?

»Bis nachher«, sage ich und wackele in meinen Shorts davon. Es wird schnell dunkel. Ich hole die letzten Zigaretten aus meiner Schachtel und halte die Streichhölzer bereit, um die Schachtel anzuzünden, sollte ein streunender Hund auftauchen. Hunde haben Angst vor Feuer, und die herumstreunenden Köter können Tollwut übertragen.

Jarno holt mich nicht ein, als ich am Fluss zurückgehe. Vielleicht hat er einen anderen Weg genommen. Die anderen Schüler sind schon auf dem Weg zur Fete. Ich dusche. Ziehe Jeans und Tazims gelbes T-Shirt an, streife die Flip-Flops über. Gehe zum Kishari-Haus. Aziz kümmert sich mit zwei anderen von den Ältesten um den Grill; ihnen fehlt nur das Examen, dann sind sie fertig. Ich finde Tazim. Gespielt wird irgendwelcher schlechter englischer Rock. Ich schaue durchs Fenster in den Aufenthaltsraum, aus dem die Möbel geräumt sind, damit man tanzen kann. Jarno steht nicht an der Stereoanlage.

»Und, wurden dir deine Sünden erlassen?«, frage ich Tazim.

»Ja. Jetzt kann ich von vorn anfangen.« Aber wirklich glücklich sieht sie nicht aus.

»Wurden dir auch die Sünden für deine hässlichen Pläne erlassen?«

»Nein, Gott mochte sie nicht.«

»Hast du dir gedacht, sie aufzugeben?«

»Gott bestimmt nicht alles.«

»Hat jemand Jarno gesehen?«, erkundigt sich Aziz.

»Nein, aber deswegen könnt ihr trotzdem vernünftigere Musik auflegen«, antwortet ein älteres Mädchen.

»Die ist in seinem Schrank eingeschlossen«, erwidert Aziz. In diesem Moment läuft Jarno durch die Pforte, feiner Staub auf der schweißigen Haut, breites Lächeln. Er läuft mitten zwischen die Leute. Sie lachen, klatschen, rufen: »Hier kommt Mr. Dee-jay, der Mann mit der Musik!« Kurz darauf sind die ersten Töne zu hören. Baltazar hat mich entdeckt, er kommt mit einem Fruchtpunch zu mir. Wir hätten eine Flasche Konyagi besorgen sollen, um ihn etwas anzureichern.

Ich bedanke mich und nehme das Glas. Ich spüre noch immer, dass ich mbege getrunken habe.

»Soll ich dir etwas zu essen besorgen?«, fragt mich Baltazar.

»Ja, danke«, sage ich und bin ihm wirklich dankbar. Schaue ihm nach, wie er zum Grill geht. Frisch gebügeltes, eng sitzendes Hemd. Ich probiere den Punch, es ist Konyagi drin.

Tanz

Später gehen wir in den Aufenthaltsraum, in dem Jarno die Musik langsam tanzbar werden lässt. Er hat sich seine Uniform angezogen. Weißes T-Shirt, blaue Jeans, das Haar über den Ohren. Die Tanzfläche füllt sich. Panos steht mit Christian an der Wand, er trägt das Gleiche wie Jarno.

Stefano tanzt mit Truddi, Diana mit einem der Leimschnüffler. Shakila steht neben Jarno und sieht sich seine Kassetten an. Viele der Ältesten tanzen jetzt, unter anderem Sharif. Er stammt aus dem Jemen, sieht aber genauso aus wie Michael Jackson; und er bewegt sich auch so. Sharif tanzt mit Katja, einer finnischen Blondine aus Jarnos Klasse. Hinterher tanzt er mit Shakila; ich sehe, wie Christians Augen ihr folgen. Stefano beobachtet mich aus den Augenwinkeln, schaut aber sofort weg, wenn ich zu ihm hinüberblicke. Baltazar zieht mich auf die Tanzfläche. Eddy Grant singt »Electric Avenue«, danach kommt eine langsamere Nummer: Hot Chocolate »It Started With a Kiss«.

Ich lehne mich an Baltazar, spüre seine sich scharf abzeichnenden Rückenmuskeln unter dem Hemd.

»Wollen wir rauchen gehen?«, fragt er, als die Nummer zu Ende ist.

»Ja.« Wir verlassen die Tanzfläche. Ich spüre, wie Stefano mich beobachtet. Wir gehen in den Garten, verschwinden durch das Tor. Baltazar zündet eine Zigarette an. Aber es ist keine Zigarette.

»Na?«, sage ich.

»Wir brauchen etwas Jah-power«, meint er. Ich ziehe daran.

»Ich will nicht zurück zur Fete«, sage ich.

»Wieso nicht?«

»Weil … Stefano Lügen über mich verbreitet.«

»Ich werd ihn mir mal vorknöpfen«, erklärt Baltazar.

»Wie?«

»Ihm klarmachen, dass er Prügel bezieht, wenn er nicht damit aufhört.«

»Hier«, ich reiche ihm den Joint zurück, lehne mich an ihn.

»Du bist sehr hübsch, Samantha«, sagt er, umarmt mich, gibt mir einen Kuss und fasst mir ein wenig zu hart an den Hintern. Ich spüre sein Glied. Warum streichelt er nicht meine Brüste? Ich lasse die Hand hinuntergleiten und fasse die Hose an. Er stöhnt, zieht den Gürtel auf, den Knopf, den Reißverschluss.

»Langsam«, sage ich.

»Willst du denn nicht?«, flüstert er und greift nach meiner Hand. Ich will ihn gern spüren, aber … er führt meine Hand, und als ich ihn anfasse, fühle ich weiche Haut; eine dünne Schicht, die sich glatt über die Außenseite des harten Glieds bewegt, wenn ich es berühre. Ich umfasse seinen Schwanz und drücke. Er macht Geräusche – wie ein Hundewelpe. Es ist grotesk. Ich ziehe an seinem Schwanz.

»Magst du es?«, frage ich ihn.

»Oh, ja.« Er zuckt, ich spüre etwas Feuchtes auf meiner Hand. Samen. »Danke«, stöhnt er und tritt einen Schritt zurück, knöpft sich die Hose zu. Danke? Hier stehe ich, vollkommen unbefriedigt. Was hat er sich gedacht, was will er dagegen tun? Ich trockne mir die Hand an einem Grasbüschel.

»Lass uns wieder reingehen«, sagt Baltazar.

»Warum?«

»Ich habe Durst«, erklärt er und geht.

Montag werden Christian und Jarno für eine Woche der Schule verwiesen. Sonntagnachmittag hat ein Lehrer sie erwischt, als sie im Moshi Hotel Bier tranken. Wird man wegen Alkoholtrinken relegiert, schauen die Leute zu einem auf. Aber man muss schon sehr blöd sein, um erwischt zu werden. Ist man nicht blöd, will man sich mit Absicht erwischen lassen. Vielleicht, um jemanden zu beeindrucken. Christian ist nicht blöd. Christian will mich beeindrucken. Aber was ist das für ein Eindruck?

Am Abend verschwinde ich mit Baltazar in der Dunkelheit. Ich bin nicht in ihn verliebt. Er ist auch nicht in mich verliebt. Aber wir küssen uns. Er legt meine Hand auf sein Glied, und ich berühre ihn. Er stöhnt und zerrt an meinen Brüsten, bis ich ihn bitte, aufzuhören. Es ist, wie es ist – belanglos. Ich gehe zurück zum Kiongozi-Haus. Truddi lehnt in der Tür.

»Mit wem warst du denn zusammen, Samantha?«, fragt sie zuckersüß. Ich bleibe stehen.

»Sam. Sam the man; du kannst mich Sam nennen.«

»Wieso? Das ist hässlich. Ein Name für einen Jungen.«

»Genau. Ein Mann unter Schafen.«

»Wo bist du gewesen?«, fragt Truddi noch einmal. Ich schiebe mich an ihr vorbei. Antworte nicht.

Der Finger

Montag werden alle Internatsschüler darüber informiert, dass in der Umgebung die Tollwut ausgebrochen ist. Ein paar Kilele-Mädchen wurden am Freitag auf dem Heimweg von der Fete angegriffen; eine von ihnen ist gebissen worden und in Behandlung. Bis auf weiteres werden die Internatsschüler außerhalb des Schulgeländes von einem Wachmann begleitet und haben sich in Gruppen zu bewegen, wenn sie abends zurück zu ihren Häusern gehen. Auch wenn wir uns tagsüber außerhalb des Schulgeländes aufhalten, soll das nur innerhalb einer Gruppe geschehen.

Baltazar knöpft meine Jeans auf und will einen Finger in mich stecken. Wir liegen am Abend unter den Eukalyptusbäumen am Ende des Sportplatzes. Ich schiebe seine Hand weg.

»Stopp. Nein, daraus wird nichts«, sage ich, als er mir die Hose ausziehen will.

Stefano redet nicht mehr über mich. Baltazar hat ihm gedroht. Ich rede mit überhaupt niemandem mehr richtig. Tazim flirtet mit Salomon. Salomon soll die Kirsche sprengen. So sieht Tazims hässlicher Plan aus.

Eines Nachmittags bin ich unterwegs, um Panos zu finden. Ich will ihn fragen, ob wir eine Zigarette rauchen gehen. Er ist auf dem Fußballplatz. Ich sehe seinen tonnenförmigen Körper schon von weitem. Panos ist stark. Bei den großen Jungs aus dem Kishari-Haus gibt es eine Tradition, die Jüngeren zu fangen, ihren Kopf ins Klo zu stecken und abzuziehen. Aziz hat sich den Arm gebrochen, als er es bei Panos versuchte.

Wir verschwinden in den Feldern hinter den Pferdeställen und stoßen auf Sharif, der seine Hand unter dem Rock der Finnin Katja hat. Und die Zunge tief in ihrem Hals.

»Entschuldigung«, murmele ich.

»Ich muss dir was zeigen.« Panos zieht mich zwischen den Maispflanzen bis zum Rand des Felds. Er zeigt darauf. Bhangi – sechs große Pflanzen.

»Wie hast du sie entdeckt?«

»Es sind meine. Ich habe sie gepflanzt.«

»Wie?«

»Man muss mit einem Stock nur ein bisschen die Erde auflockern und kurz vor der Regenzeit eine Handvoll Samen hineinwerfen, für den Rest sorgt die Natur. Es kommt von ganz allein aus dem Boden. Das einzige Problem ist die Trocknung.«

»Und wie machst du das?«

»Ich lege es auf den Dachboden über dem Zimmer meines Nachbarn, Sandeep, der mit der Katze.«

»Im Kijana?«

»Ja, eine Deckenplatte lässt sich anheben, man kann zwischen den Dachsparren herumkriechen. Es liegt über Sandeeps Bett.«

»Hast du keine Angst, erwischt zu werden?«

»Ich bin es leid, bei Emerson oder Alwyn Wucherpreise zu bezahlen. Außerdem wird im Zweifelsfall Sandeep geschnappt.« Emerson und Alwyn sind harte Konkurrenten auf dem bhangi-Markt der Schule.

Negerhaut

Stefano hat sich eine Lederjacke aus den fünfziger Jahren besorgt, mit einer Menge Reißverschlüsse. Abends trägt er sie ständig. Ich bin mit Baltazar zusammen. Wir stehen an den Eukalyptusbäumen am Ende des Volleyballfeldes. Stefano ist im Licht der Lampen, die am Giebel der Umkleideräume hängen, zu erkennen. Die Jungen müssen rechtzeitig wieder im Kijito-Haus sein.

»Der Idiot läuft in den Tropen mit ’ner Lederjacke rum.«

»Er ist ein Arschloch«, sagt Baltazar. Das ist richtig, aber …

Baltazar spricht ihn an, als Stefano vor uns auftaucht: »Du siehst in der Jacke aus wie ’ne Schwuchtel!« Stefano bleibt stehen. Sein Gesichtsausdruck ist in der Dunkelheit unmöglich zu erkennen.

»Weißt du, woraus diese Jacke hergestellt ist?«, fragt er.

»Schweinehaut, damit sie zu dir passt«, sage ich.

»Aus kleinen Negerkindern aus Angola!«

Baltazar zuckt zusammen, er hat mich losgelassen, entgleitet meinen Händen, rennt auf Stefano zu.

»Baltazar, nein!«, schreie ich. Stefano läuft zur Ecke des Platzes, auf den Weg zum Kishari und Kijito. Baltazar ist hinter ihm her. Baltazar ist schnell, langbeinig. Keiner der beiden sagt einen Ton, sie laufen. Ich folge ihnen. Nähere mich der Ecke des Spielfeldes. Im Licht der Gebäudelampen sehe ich sie, Baltazar ist ihm dicht auf den Fersen. Geräusche von Füßen, die wegrutschen. Stefano schreit. Ich laufe noch immer. Das Geräusch von Schlägen.

»Du dummes Schwein!«, schreit Baltazar. Die Dunkelheit bewegt sich.

»Baltazar, stopp!«, brülle ich. Er sitzt auf Stefano, der auf dem Bauch liegt. Baltazar hat Stefanos dickes schwarzes Haar gepackt und schlägt dessen Gesicht auf den von der Sonne ausgedörrten Boden. Dreht sich zu mir um.

»Willst du ihn immer noch haben? Bitte sehr.« Baltazar geht.

»Nein«, sage ich. Stefano stöhnt, stützt sich auf die Hände, kommt auf die Knie; Blut und Rotz tropfen von seinem Gesicht. Ich höre eine Gruppe Jungen vom Fußballplatz kommen. Ich laufe zurück.

»Was ist los?«, fragen sie, als ich im Licht des Gebäudes an ihnen vorbeirenne. Sie hören Stefanos Stöhnen, gehen zu ihm. Ich laufe zum Kiongozi, gehe auf die Toilette und zittere in einer der Kabinen am ganzen Leib. Stefano hat allen erzählt, ich hätte es mit ihm getrieben, als wir zusammen waren. Und Baltazar glaubt, dass ich ihn zurückweise, weil ich Stefano vermisse. Wie grotesk.

Eine halbe Stunde später werde ich von Seppo ins Büro geholt, Owen will mich ausfragen.

»Ich weiß nicht, was passiert ist«, behaupte ich. »Es war dunkel.« Stefano ist im KCMC-Krankenhaus, er hat sich die Nase gebrochen, weigert sich aber zu sagen, wer es getan hat. Baltazar steht unter Beobachtung, alle wissen, dass er es gewesen ist.

»Verschwinde«, sage ich, wenn er mit mir reden will.

Regenwurm

In der Zehn-Uhr-Pause am Vormittag werden vor dem Speisesaal für die Internatsschüler Snacks, Saft und Tee serviert. Ich nehme mir einen Doughnut und Tee. Baltazar steht mit Aziz zusammen. Ich gehe mit Tazim zu ihnen.

»Da kommt meine Frau«, sagt Baltazar, und ich lächele, wie es sich gehört.

»Hat sie dir deine Jungfräulichkeit geraubt?«, fragt Aziz. Idiot.

»Ich habe meine Unschuld schon lange verloren«, behauptet Baltazar. Ich glaube ihm kein Wort.

»Aber ist sie auch gut?« Wieder Aziz.

»Halt die Klappe«, sage ich und lasse Baltazar einen Arm um mich legen.

»Aber ihr habt’s doch getan?«, erkundigt sich Aziz neugierig und tut so, als sei er entrüstet über die Möglichkeit, dass wir keinen Sex hatten.

»Natürlich«, erklärt Baltazar.

»Haben wir nicht!«, widerspreche ich und lasse ihn los – trete zwei Schritte zurück.

»Dafür muss man sich doch nicht schämen«, meint er.

»Dafür muss man auch nicht lügen.«

»Wieso willst du es denn nicht zugeben?«

»Ich habe nicht mit dir geschlafen. Und das wird auch nicht passieren.« Ich drehe mich um.

»Du bist ein beschissenes Flittchen, Sam. Und eine Lügnerin!«, ruft Baltazar mir nach. Ich drehe mich um und schaue ihn an.

»Du träumst. Dein Schwanz ist nicht größer als ein Regenwurm und dein Gehirn noch kleiner.« Ich gehe und fresse es den ganzen Tag über in mich hinein. Erst als ich unter der Dusche stehe, lasse ich die Tränen fließen.

Christian ist sauer, weil ich mit Baltazar zusammen bin. Panos wird von Truddi oder von sich selbst an der Nase herumgeführt. Die meisten Jungs haben Angst vor mir. Tazim sagt, ich sei zu zudringlich, aber genau das wollen sie doch. Sie hat angefangen, mit Salomon Händchen zu halten.

»Heute Abend passiert’s«, flüstert sie mir zu, als wir unsere Hausaufgaben gemacht haben. Jetzt haben wir ein paar Stunden frei bis zur Bettruhe.

»Was?«

Tazim hebt die Augenbrauen.

»Hast du auch an Verhütung gedacht?«, erkundige ich mich.

»Ja, ja«, flüstert sie. »Wünsch mir Glück.«

»Hals und Beinbruch«, sage ich, als Tazim in die Dunkelheit geht, wo Salomon auf sie wartet. Der Papst wird sich grämen. Nicht nur, dass Tazim huren will, sie tut es auch noch mit einem Ketzer der äthiopisch-orthodoxen Kirche, die keine ordentlichen Katholiken sind. Und sie will eines dieser satanischen Kondome benutzen. Huren, Ketzer und Kondom – eine dreifache Sünde. Anderthalb Stunden später kommt Tazim zurück und stellt sich unter die Dusche. Ich gehe mit meiner Zahnbürste zu ihr. Schaue sie an.

»Das war nichts Besonderes.«

»Bist du zufrieden?«

Sie zuckt die Achseln.

»Jetzt ist es passiert«, sagt sie. »Ja.«

Ich trete nah an sie heran.

»Hat er dir die Bohne geleckt?«

»Samantha!« Tazim bespritzt mich mit Wasser.

»Das musst du ihm beibringen. Es hilft.«

Die Flur-Liste

An die Informationstafel am Speisesaal haben wir die Flur-Liste gehängt. Die Schüler der zwölften Klasse schreiben sie: Wer sieht am besten aus, wer ist der romantischste, der redseligste, der beliebteste, der athletischste, der gelehrteste Schüler? Mit wem wird man sicher Erfolg haben? Und schließlich: Mit wem landet man vermutlich im Gefängnis?

Sam the man.

Okay, ich bin die Verliererin, die ins Gefängnis kommen wird. Aber ich steh auf der Liste, ich wurde benotet. Was ist mit dem Rest? Sie bedeuten nichts, sind bloß Füllsel.

Die meisten Mädchen reden nicht mehr mit mir. Die Jungs sind sauer, weil die Mädchen nicht mit ihnen schlafen wollen und ich es doch offenbar mache – mit Stefano und Baltazar, wie sie glauben. Und die beiden sind wütend, dass ich nichts mehr mit ihnen zu tun haben will. Mädchen sind nichts für mich. Sie bauen sich eine Burg aus ausgesuchten Leuten und schotten sich gegen andere ab: wie mich. Sie kriechen so hoch wie möglich und schubsen die anderen von der Leiter, damit sie selbst oben bleiben können. Das kommt mir sehr gelegen.

Sam the man kann damit rechnen, im Gefängnis zu landen. Okay, damit komme ich zurecht. Aber das Leben könnte besser sein. Ich gebe mich mit den Leimschnüfflern und Panos ab.

Stefano kriegt Shakila herum; es liegt an der gebrochenen Nase, er tut ihr leid. Ich halte es kaum noch aus. Christian redet nicht mit mir. Und Baltazar schnappt sich ausgerechnet Angela. Panos kann nicht von Truddi lassen, obwohl er keinen Schritt weiterkommt. Und so endet es damit, dass Diana sich hinstellt und mitten auf dem Spielplatz mit Panos Speichel austauscht, weil sie sauer darüber ist, dass Truddi sie im Stich gelassen hat, um mit diesem neuen Flittchen aus Frankreich herumzuhängen, die alle irre interessant finden, weil sie in smarten Klamotten herumläuft und eine Menge Schminke benutzt.

Jarno und Christian kommen nach einer Woche Verweis in die Schule zurück. Sie waren in Morogoro und in Daressalaam saufen.

»Es war genial«, erklärt Christian, und Jarno lächelt und nickt langsam, dass sein langes Haar ihm in die Augen fällt. Und dann gehen sie, ohne mir etwas zu erzählen. Christian hat aufgehört, sich für mich zu interessieren. Warum?

Heimtransport

In einer Woche haben wir endlich die Hälfte des zweiten Semesters hinter uns. Ich liege im Bett, mit dem Gesicht zur Wand. Ich wünschte, Alison würde nicht nach Dar fahren, sondern hierher kommen. Wir haben von Freitag bis Montag ein verlängertes Wochenende, und Mutter hat mir am Telefon erklärt, sie sei krank. Jedenfalls ist es zu weit, um bis Tanga mit dem Bus zu fahren, es geht ja nur um ein paar Tage. Vater ist auf Geschäftsreise, kein Mensch weiß, wohin. Und in Arusha gibt es niemanden, bei dem ich ohne weiteres wohnen könnte. Wen soll ich fragen? Es ist peinlich. Ich kann mich nicht durchringen, in der Mountain Lodge anzurufen, denn Mick ist in Deutschland; warum sollten sie mich bei ihnen wohnen lassen? Es endet noch damit, dass ich zu mama Hussein gehe, um ihr mitzuteilen, dass ich nirgendwo unterkomme. Könnte ich bei ihr wohnen? Doch dann bringe ich es nicht fertig, sie zu fragen. Ich gehe den ganzen Weg wieder zurück.

Donnerstag fährt Minna mich zur Busstation.

»Mach’s gut!«, rufe ich und springe aus dem Auto in den Geruch von faulendem Abfall, der in der Sonne trocknet. Das übliche Gewimmel der Schwarzmarkthändler, Taxifahrer und Straßenverkäufer; schäbige Bauernfänger. Ja, ich bin weiß, aber alle sehen, dass ich mich auskenne und daher Zeitverschwendung bin; nur die Blödesten versuchen, mich übers Ohr zu hauen.

»Haut ab!«, sage ich zu ein paar Burschen, die mich zu einem bestimmten Bus bringen wollen, um eine mikroskopisch kleine Provision zu kassieren. Ich überprüfe alle Busse nach Tanga und finde einen fast vollen Bus, in dem es nur noch ein paar freie Plätze gibt – ich muss mich rasch entscheiden. Die Busse fahren, sobald der letzte Platz besetzt ist. Ich erwische den Gangplatz eines Doppelsitzes, auf dem bereits zwei Passagiere sitzen. Aber sie sind schlank, und es müssen drei Fahrgäste auf jeder Bank Platz finden, drei Schlanke sind also ideal. Es kann passieren, dass eine stattliche Mama mit einem Kleinkind auf dem Rücken sich als dritte Person auf die Bank quetscht, dann sitzen die beiden anderen wie in einem schweißigen Schraubstock: zwischen einem fleischigen Hintern und der Karosserie. Im Bus nach Arusha habe ich mit einem großen Kind auf dem Schoß und einem Zicklein zwischen den Füßen gesessen, das das Salz von meinen verschwitzten Füßen leckte. Ich habe Durst; ich habe so gut wie nichts getrunken, weil unterwegs nur einmal gehalten wird. Wir warten. Ein Straßenhändler schubst einen anderen beiseite, versucht, ihn zu unterbieten. Pappkartons mit Waren fliegen durch die Luft, Kekse, Saft und Nüsse landen auf dem Boden. Beide sind gerade mal Jungen. Sie prügeln sich auf afrikanische Art: totale Aggression, aber unkoordiniert. Die Arme schwingen herum, treffen aber eher zufällig und ohne Kraft. Der Bus steht in der Sonne, die Temperatur steigt, die Luft ist stickig-feucht. Fahr endlich, damit ein bisschen Wind hereinkommt. Es gibt sechsundsiebzig Sitzplätze. Ich zähle, um die Zeit totzuschlagen. Einhundertfünfundzwanzig Erwachsene plus Kinder und all das Gepäck, das nicht mehr aufs Dach passt. Ich habe nur eine Tasche dabei, die ich auf den Schoß nehmen kann.

Endlich fahren wir los, eine kleine Brise erreicht mich. Auf dem Weg aus der Stadt steigen weitere Passagiere zu, die sich in den Mittelgang drücken; gleichzeitig versucht der Schaffner durchzukommen, um das Geld einzusammeln. Ein junger Mann auf dem Mittelgang wird auf mich gedrückt, ich rieche den leicht süßlichen Gestank nach Scheiße. Ich schiebe ihn zurück. »Es reicht«, sage ich auf Swahili. Er entschuldigt sich.

»Macht nichts«, erwidere ich. Es ist schließlich nicht seine Schuld, dass er sich den Hintern nicht vernünftig waschen kann, Papier und Seife sind auf tansanischen Toiletten eine Seltenheit.

Zunächst fahren wir auf einem kleinen Stück ordentlichem Asphalt bis zur Road Junction bei Himo, dann beginnt die Hölle; die Schotterpiste ist durch Regengüsse und Schwerlastverkehr vollkommen hinüber.

Ich versuche, mich im Bus zu entspannen, an nichts zu denken. Vater ist auf Reisen und Mutter krank. Es wird nicht lustig.

Fliegende Pisse

Ein Mann kämpft sich durch den Mittelgang des Busses und quetscht sich zwei Reihen vor mir auf eine Bank, auf der bereits drei Männer sitzen. Dann ist er verschwunden. Hat er sich auf den Boden gesetzt? Ich richte mich auf. Kurz darauf taucht er mit einer Cola-Flasche in der Hand wieder auf und öffnet das Fenster. Oh, fuck. Ich strecke den Arm über meine beiden dösenden Banknachbarn und rempele einen von ihnen mit dem Ellenbogen an, weil das Fenster klemmt. Ich will es zuschieben und teile auch den Leuten hinter mir mit, dass sie ihre Fenster schließen sollen.

Ich entschuldige mich bei dem Mann, den ich angerempelt habe. Er schaut mich verblüfft an. Und dann klatscht der Urin aus der Cola-Flasche gegen die Fensterscheibe, die ich gerade geschlossen habe.

»Kannst du die Leute nicht vorwarnen, bevor du anfängst, deine Pisse aus dem Fenster zu kippen?«, rufe ich laut auf Swahili. Der Mann hat sich aufgerichtet und ordnet seine Klamotten. Wirft mir einen ausdruckslosen Blick zu, bevor er sich wieder nach hinten durchkämpft. Mehrere Frauen zischen ihm laut »tsk« hinterher. Wir haben Durst, während er seinen Urin auskippt.

Mein Nachbar bedankt sich, und wir fallen wieder in einen Halbschlaf, bis wir an einer Tankstelle in Mkomazi halten, ungefähr auf der Hälfte des Weges. Pinkelpause. Straßenverkäufer scharen sich um den Bus, um Snacks und Getränke zu verkaufen. Leute steigen mit lebenden Hühnern in den Bus; der Geruch wird intensiver, einige Passagiere haben getrockneten Fisch gekauft. Der Fischgeruch vermischt sich mit dem Grundgestank nach saurem Schweiß, Dreck, Apfelsinen, Scheiße und Babybrei. Wir fahren weiter, an den Usambara Mountains entlang. Am Straßenrand werden Säcke mit Holzkohle verkauft. Rauchsäulen steigen hoch oben am Berg auf; obwohl es illegal ist, wird dort Holzkohle aus frischgefällten Bäumen gebrannt. Ohne den Schatten der Bäume verdampft das Regenwasser zu schnell, und da dem Boden auch das Wurzelwerk fehlt, wird er bei kräftigen Regenschauern einfach weggespült.

Weiter auf der holprigen Straße; der Fahrer fährt ziemlich schnell und lenkt den Bus dabei um die tiefsten Schlaglöcher, um die Stoßdämpfer zu schonen. Durch Mazinde, Mombo, Maurui, Korogwe, Segera, Hale, Muheza und schließlich Ngomeni, der letzten richtigen Stadt vor Tanga. Als wir endlich die Busstation erreichen, wird es bereits dunkel. Ich nehme ein Taxi zum Baobab Hotel. Mutter schwitzt im Bett. In der Nacht träume ich, ich sei ertrunken. Ich wache im Dunklen auf, das Bett ist pitschnass. Es regnet, das Wasser ist durchs Dach gedrungen. Ich schiebe das Bett in die andere Ecke des Zimmers und lege mich aufs Sofa im Wohnzimmer, aber hier gibt es kein Moskitonetz. Ich werde bei lebendigem Leib aufgefressen. Den Tag verbringe ich mit Segeln, Schwimmen, Gin trinken und Zigaretten rauchen. Ich langweile mich Freitag, Samstag, Sonntag und nehme am Montagmorgen den Bus zurück nach Moshi. Wenn mich jemand fragt, erkläre ich, es wäre ein Superwochenende gewesen.

Erotik

Ich kann mich ohnmächtig werden lassen. Sitze in der Hocke und hyperventiliere. Svein und Rune stehen bereit, um mich aufzufangen. Ich richte mich auf, und mir wird schwarz vor Augen. Ich mag das. Ich spüre, wie ich falle, bevor ich ganz weg bin.

Liege waagerecht. Licht auf der anderen Seite der Augenlider. Spüre etwas. Eine Berührung. Schlage die Augen auf.

»Hört auf damit! Wer zum Teufel hat mir an die Titten gegrapscht?« Ich schaue auf zu Christian, der mit einem mürrischen Gesichtsausdruck neben mir steht.

»Hey, das war ich nicht.«

Svein und Rune blicken ihn böse an.

»Ich weiß, dass du es nicht warst, Christian. Du würdest so etwas nicht tun. Es war einer dieser beschissenen Leimschnüffler.«

»Wir haben nichts gemacht«, behauptet Svein. »Wir haben dich nur aufgefangen.« Rune kichert.

»Rune«, sage ich. »Du bist ein Säugling. Nur ein einziges Mal in deinem Leben hast du’s mit ’ner feuchten Muschi zu tun – wann wohl?« Ich stehe auf.

»Nächstes Wochenende in Arusha«, gibt Rune zur Antwort. »Schwarze Muschi.«

»Ich glaub nicht, dass es passieren wird. Du musst dich damit abfinden, dass es damals war, als deine Mutter dich herausgepresst hat.«

Svein grinst.

»Halts Maul!«, sagt Rune. Wieder beginne ich zu hyperventilieren. Christian verzieht das Gesicht, als er sich umdreht und geht. Ich bin ihm zuwider. Vielleicht hätte er gern meine Möpse angefasst.

Winzer

Ich sitze auf der Treppe vom Kiongozi und werde hineingehen, sollte Baltazar auftauchen. Stattdessen erscheinen Panos und Gideon, Emerson Strands zwölfjähriger Bruder. Er hat gerade auf der Schule angefangen und ist so braungebrannt, dass er einem weißhaarigen Araber ähnelt.

»Frag sie«, fordert Panos ihn auf, als sie mir gegenüberstehen. Gideons Blick wandert von Panos zu mir.

»Willst du ein bisschen Wein kaufen?«

»Ernsthaft?« Woher könnte er Wein haben, es sei denn, er hat ihn bei seinen Eltern geklaut.

»Wenn ich sage, ich habe Wein, dann habe ich Wein«, antwortet Gideon mit einem durchtriebenen Schimmer in den Augen.

»Dodoma?« Das ist der einheimische Wein, der nach einer Stadt im Land benannt ist. Der Staat behauptet, dort sei der eigentliche Regierungssitz, nicht in Daressalaam. Dodoma besteht aus Staub, hässlichen Betonbauten und absterbenden Weinstöcken, deren Saft ein Loch in die Zunge brennt.

»Selbst gemacht«, erklärt Gideon.

»Du hast …?« Er ist der Bruder des bhangi-Pushers Emerson. »Woraus?«

»Zuckerrohr.« Ich lache ihn aus: »Dafür ist mir mein Sehvermögen zu schade.«

Er sieht mich hochnäsig an.

»Ich sehe dich ganz deutlich.«

»Und?«

»Ich bin nicht blind geworden«, erklärt er und schaut Panos an. »Kannst du mich sehen?« Panos lächelt. »Klar und deutlich. Aber mein Kater ist auch ziemlich real.«

Okay. Ich bestelle eine Flasche. Wir verabreden, uns am alten Swimmingpool zu treffen, ich werde mit meiner Schultasche kommen.

»Wie hast du’s gemacht?«, will ich von Gideon wissen, als wir uns treffen.

»Ich soll Geschäftsgeheimnisse verraten?«

»Komm schon.«

»Okay«, erwidert der Junge und erzählt mir, wie er vor drei Wochen in der Stadt auf dem Markt Zuckerrohr gekauft hat. Er hat die Stangen aufgeschnitten und das Fruchtfleisch mit Wasser, Rohrzucker und Trockenhefe in einem großen Plastikeimer vermischt, den er aus der Schulküche gestohlen hat. Den Eimer hat er auf der Bananenplantage hinter dem Speisesaal vergraben, mit einem Plastikrohr im Deckel, damit der Wein gären konnte. »Das nächste Mal braue ich Apfelwein«, sagt er.

»Alle Achtung.«

»Wie wär’s mit einer Pfeife?«, erkundigt er sich.

»Du rauchst auch? Was hält denn dein Bruder davon?« Ich lache.

»Nein, Mann. Willst du eine Pfeife kaufen?«

»Eine Pfeife?«

»Ja, aus Bambusrohr, mit einem Mundstück aus rostfreiem Stahl.«

»Und was soll ich damit?«

»Getrocknete Elefantenscheiße rauchen. Was glaubst du denn?«

»Ich habe eine ausgezeichnete Meerschaumpfeife«, sage ich.

»Hast du bhangi

»Verkaufst du das auch?«

»Mein Bruder«, erwidert Gideon. Ich schenke ihm ein Lächeln.

»Mach’s gut!« Ich gehe zurück zum Kiongozi-Haus. Wohin mit der Flasche? Vielleicht teilt Tazim sie sich mit mir am Wochenende, entweder hinter dem Haus oder nachts im Bad. Die Toiletten! Natürlich. Ich hebe den Deckel von einem der Spülkästen und lege die Flasche hinein; so bleibt sie schön kalt, bis wir sie trinken.

Stubengang

Ich habe Tazim nichts von dem Wein erzählt. Ich werde sie wecken, wenn alle schlafen. Als würde ich rauchen wollen. Ich liege still. Truddi steht auf, geht auf die Toilette. Leise höre ich das Spülgeräusch und ein Poltern. Kurz darauf kommt sie zurück. Ich muss noch warten, bis sie wieder schläft, aber Truddi wälzt sich unruhig hin und her. Was ist los mit ihr? Masturbiert sie? Auf dem Flur knallt eine Tür.

»Minna, Minna!«, höre ich Diana rufen. Es wird an einer Tür geklopft. Truddi springt aus dem Bett. Tazim ist ebenfalls aufgewacht. Wir gehen auf den Flur. Der Boden ist überschwemmt. Minna kommt im Nachthemd aus ihrer Wohnung, das Haar in Unordnung.

»Was ist passiert?«

»Eine der Toiletten ist kaputt«, sagt Diana. Scheiße. Minna geht in den Toilettenraum. Fast alle sind jetzt auf den Beinen. Wir folgen ihr. Der Spülmechanismus meiner Toilette ist kaputt, das Wasser läuft aus. Minna holt Seppo, der den Wasserhahn abdreht. Er fischt die zerbrochene Weinflasche aus dem Spülkasten, riecht daran.

»Wein«, sagt er. Minna dreht sich um. Guckt uns scharf an, ihr Blick bleibt prüfend an mir hängen.

»Wer hat die Flasche in den Spülkasten gelegt?« Wir schauen uns an, aber die meisten blicken auf mich.

»Es war Sam, sie hatte den Wein«, behauptet Truddi.

»Wovon redest du? Das ist nicht mein Wein.«

»Samantha«, sagt Minna. »Wenn es dein Wein war, musst du es sagen.«

»Das ist nicht meiner. Truddi ist doch nur sauer auf mich, weil es mit Stefano nicht klappt. Weil sie frigid ist.«

»Samantha!«, ermahnt mich Minna.

»Geht in eure Zimmer und bleibt dort«, greift Seppo ein. Kurz darauf kommt er mit Minna herein. Stubengang mitten in der Nacht. Minna findet meine Zigaretten, die unter Truddis Bett kleben, aber Truddi kommt davon, denn Minna ist überzeugt, dass es sich um meine handelt.

»Tja, dann musst du mich wohl bestrafen, obwohl du keine Beweise hast«, sage ich. »Alles, was hier nicht korrekt läuft, ist offenbar meine Schuld.«

»Hör jetzt auf damit, Samantha«, erwidert Minna.

»Hör du erst einmal auf, ständig deine Hand über diese Tussi zu halten.«

»So reden wir hier nicht übereinander.«

»Ich schon.«

Danach gehen Minna und Seppo in die Jungenabteilung, um dort die Zimmer zu kontrollieren.

Katzenminze

Sonntagmorgen beim Frühstück herrscht Unruhe. In der Jungenabteilung des Kiongozi wurden Zigaretten, Konyagi, Kondome, etwas bhangi, Pfeifen, Pornohefte, Mädchenunterwäsche und Kontaktleim gefunden; der Leim gehörte natürlich einem Norweger, sie schnüffeln ständig. Alle wollen wissen, wer die Unterwäsche hatte und wem sie gehört, denn in unsere ganze Wäsche sind Namensschildchen genäht. Gideon behauptet, es hätte sich um Truddis Höschen gehandelt, aber der Slip wurde auf der Toilette gefunden und es gibt keinen Hinweis, wer ihn gestohlen haben könnte. Ich gehe mit Panos zum Kijana-Haus. Vor den versammelten Bewohnern steht Seppo in der Tür des vierflügeligen Gebäudes.

»Ihr müsst hier draußen warten, bis Sally einen nach dem anderen holt, wir führen einen Stubengang durch.« Panos zuckt die Achseln und lehnt sich gegen die offene Metallpforte, die nachts geschlossen wird, so dass man an einer Ecke des Hofs über die Mauer klettern muss, wenn man einen nächtlichen Ausflug unternehmen will. Salomon murmelt etwas von Polizeistaatmethoden. Dann hören wir Sallys Stimme, und es wird still.

»Sandeep, du kannst deine Katze nicht hierbehalten, wenn sie ins Zimmer pinkelt«, sagt sie und tritt auf den Flur. Sandeep folgt ihr.

»Sie pinkelt nicht«, widerspricht er. »Sie ist reinlich.«

»Hier riecht es nach Katzenpisse«, sagt Sally zu ihm und schaut zu uns hinüber.

»Vielleicht liegt ja ein totes Eichhörnchen auf dem Dachboden und vergammelt, das stinkt fürchterlich«, ruft Panos ihr zu. »Ich habe gehört, wie die nachts da oben rumlaufen.«

Sally ruft Philippo, der die Deckenplatten lösen muss. Er findet drei bhangi-Pflanzen über Sandeeps Bett.

»Panos«, seufzt Sally.

»Was denn? Ich rauche so etwas nicht. Das ist mir zu hinduistisch. Es untergräbt die gesellschaftliche Moral, habe ich in den Daily News gelesen.« Die Zeitung enthält häufig Appelle an die Jugend, keine Katzenminze zu rauchen. Wir benutzen die Seiten manchmal als Toilettenpapier, wenn es keins zu kaufen gibt.

»Salomon?«, sagt Sally.

»Meins ist es nicht.«

»Ich dachte, du seist Rasta?«, grinst Panos.

»Ich bin Rasta«, erwidert Salomon. Sandeep wird hinausgeschickt, Panos ins Zimmer gerufen. Aber natürlich findet sich nichts in seinem Zimmer, es lag ja über Sandeeps Bett.

»Daran sind die Amerikaner schuld«, behauptet Salomon.

»Woran?«, frage ich.

»Das Kraut ist in den USA verboten, weil es das bevorzugte Rauschmittel der schwarzen Sklaven war, gesund und sauber. Und es segnet seine Benutzer mit göttlicher Einsicht. Der weiße Mann hat das heilige Kraut immer gefürchtet, weil er die spirituelle Welt und das natürliche Zusammensein der Menschen mit den Geistern nicht versteht. Daher zwingen die Imperialisten die afrikanischen Staaten, das Kraut zu verbieten. Eine Forderung, bevor sie uns helfen wollen, die Schäden zu überwinden, die ihre eigene Jagd auf Sklaven und der Kolonialismus auf unserem Kontinent angerichtet haben. Gleichzeitig setzt sich die Ausbeutung fort. Mit hohen Löhnen locken sie unsere besten Köpfe fort und stehlen unsere Rohstoffe, bezahlen uns aber nur ein Trinkgeld. Und statt des heiligen Krauts sollen wir unseren Geist und unsere Glieder mit babylonischen Flüssigkeiten abstumpfen.« Er redet von Alkohol. Es ist ein ewiger Strom von pseudoreligiösem Rasta-Scheiß, der aus ihm herauskommt. Ich begreife nicht, was Tazim an ihm findet.

Aufregung

Wir müssen früh auf den Zimmern sein. Mama Hussein – die Krankenschwester der Schule, die das Kijito-Haus leitet – kommt, um mit uns zu reden. Wir sind neugierig. Mama Hussein ist einer der beiden einheimischen Angestellten der Schule, natürlich abgesehen von den Gärtnern, den Köchen, dem Wachpersonal und den Putzfrauen. Mama Hussein ist eine Mischung aus Afrikanerin und Araberin aus Sansibar; eine stattliche Frau, alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen und ziemlich direkt in ihrer Art.

»Ich soll euch nicht über die Fortpflanzung aufklären, über Sex, denn Sex ist hier an der Schule nicht gestattet«, beginnt sie. »Aber es könnte ja sein, dass ihr in den Ferien Sex habt, daher ist es wichtig, die Zusammenhänge zu kennen, denn den Jungs ist es egal, was passiert. Sie denken nicht, wenn sie erregt sind.« Ein paar Mädchen kichern. »Und ihr wollt doch nicht euer Leben zerstören.«

Sie erklärt es auf eine Weise, die alle verstehen. Minna kommt aus der Tür ihrer Wohnung, die den Mädchen- und den Jungentrakt im Kiongozi trennt. »Wie kannst du ihnen so etwas erzählen«, sagt sie mit hochrotem Kopf.

»Misch dich da nicht ein, Minna. Hör auf, mich zu stören«, erwidert mama Hussein und fährt fort. Minna zieht sich hastig zurück und wirft die Tür zu.

»Truddi«, flüstere ich, als wir in unseren Betten liegen und das Licht gelöscht ist.

»Ja?«

»Du musst aufpassen, dass du nicht schwanger wirst, wenn du deinen Slip anziehst.«

»Wieso denn?«

»Weil alle Jungen ihn als Wichsvorlage benutzt haben.«

»Du bist so blöd!«

Tazim kichert in ihr Kopfkissen.

Am nächsten Tag läuft mama Hussein mit einem wütenden Gesichtsausdruck herum. Seppo hat Mr. Owen von gestern erzählt, und mama Hussein musste zu einem Gespräch bei ihm erscheinen. Seppo – noch so ein religiöser Narr.

Besuch

Die Sekretärin des Direktors kommt in der letzten Stunde und ruft mich ins Büro.

»Was ist denn?«, erkundige ich mich, als ich mit ihr den Flur hinuntergehe.

»Ich weiß es nicht«, antwortet sie. Was habe ich getan? Zigaretten geraucht? Ja, ständig. Getrunken? Nicht seit neulich. Gestohlen? Nein. Meine Abschlussaufgabe geschrieben? Auch nicht. Vielleicht steht lediglich meine Persönlichkeit unter Anklage. Wir betreten das Büro, und dort sitzt er.

»Victor!«

»Hey, Samantha.« Er steht auf und umarmt mich kurz. »Ich bin dein Onkel«, flüstert er mir ins Ohr, bevor er laut sagt: »Ich habe ein paar Sachen von deiner Mutter für dich.«

»Okay«, sage ich und schaue Owen an. »Tja, das ist mein Onkel Victor.« Ich wende mich wieder Victor zu. »Wie lange bleibst du?«

»Ich muss nachher schon wieder fahren. Aber ich wollte dich zum Mittagessen einladen.«

»Okay.«

»Hauptsache, du bist zur Hausaufgabenstunde wieder zurück«, sagt Owen lächelnd.

»Klar.« Wir fahren in Victors Land Rover zu einem Lokal, das Golden Shower Restaurant heißt, etwas östlich der Stadt.

»Was hast du von Mutter dabei?«

»Ich kenne deine Mutter überhaupt nicht. Das war bloß eine Ausrede, um dich zu sehen. Kein Mensch weiß, dass ich hier bin.«

Was soll ich sagen? Ich frage ihn, wo er gewesen ist. In einem Trainingslager in Uganda für Tutsis aus Burundi. Wir bestellen.

»Und zwei Bier, oder?« Er sieht mich fragend an.

»Klar.«

»Na, wie läuft’s in der Schule? Was machen die Jungen?«

»Das kann ich dir doch nicht erzählen«, kichere ich.

»Mich schockiert nichts.«

»Es sind Kinder.«

»Sie haben sicher alle Hände voll zu tun«, meint er. Ich werde regelrecht rot. »Nicht wahr?«

»Ja, eine Menge. So sind alle Jungen.«

»Tja«, sagt Victor und lächelt mich an.

»Bist du auch so?«

»So war ich. Aber jetzt bin ich nicht mehr so beschäftigt.« Wir essen und trinken ein Bier, rauchen Zigaretten, gehen im Garten spazieren, in dem überall kleine orangefarbene Trompetenblumen hängen. »Schmecken die gut?«, will Victor wissen.

»Aber sicher.«

Er pflückt eine, steckt sie sich in den Mund, während er mir zublinzelt, saugt und mit den Lippen schnalzt.

»Ja, der Saft ist süß.« Victor lächelt auf eine Art, dass ich den Blick abwenden muss. Als es dunkel zu werden beginnt, fährt er mich zurück zur Schule. Auf dem Parkplatz steigen wir aus seinem Land Rover. Ich gehe auf seine Seite. »Es war schön, dich wiederzusehen, Samantha. Ich hoffe, wir treffen uns bald mal in Tanga, dann kannst du mir das Tauchen beibringen.«

»Ich werd’s dir bestimmt zeigen.« Ich umarme ihn, drücke ihn an mich.

»Pass auf. Du bist nur ein kleines Schulmädchen«, sagt er und lässt seine Hände auf meinem Rücken liegen, ohne sie zu bewegen. Ich pflanze meine Lippen auf seinen Mund und schiebe die Zunge heraus. Er zuckt zusammen, seine Lippen öffnen sich, doch dann lasse ich ihn los und gehe.

Ich kann ihn durchaus schockieren.

Gefängnisferien

Zwischen dem zweiten und dritten Semester haben wir nur eine halbe Woche Ferien. Ich hoffe, dass Alison zu Hause ist. Wir könnten nach Dar fahren. Aber es klappt nicht. Mutter hinterlässt eine Nachricht, dass Vater mich holen kommt. Einen Tag vor Ferienbeginn werde ich ins Büro gerufen. Vater unterhält sich mit Owen. Ich fange an zu schwitzen. Vielleicht hat Victor Vater erzählt, dass ich versucht habe, ihn zu küssen.

»Hallo, Vater.«

»Samantha, setz dich doch.«

Ich setze mich und sehe meinen Vater an, schaue auf Owen, dann wieder auf meinen Vater. Owen räuspert sich, und Vater fängt an zu reden: »Ich habe einen Brief von der Schule bekommen, in dem man sich über dein schlechtes Benehmen beklagt, über deine schlechten Noten und all die Aufgaben, bei denen du hinterherhinkst. Also, wir fahren jetzt nach Tanga, und dann hast du vierzehn Tage Zeit, deine Hausaufgaben zu erledigen.«

»Aber …«, setze ich an und breche den Satz ab.

»Ich habe die ganze Liste hier«, sagt Vater und zeigt auf einige Papiere vor sich. »Du packst jetzt, und dann fahren wir so schnell wie möglich.« Owen sitzt dabei und nickt.

»Jawohl.«

Ich schmeiße meine Klamotten in eine Tasche und meine Schulsachen in eine andere. Es klingelt, als ich zum Parkplatz gehe. Tazim kommt angelaufen. Ich erzähle ihr, was passiert ist. Tazim nimmt mich in die Arme.

»Pass auf dich auf«, verabschiedet sie sich. Im Auto sagt Vater kein Wort. Bis zur Road Junction herrscht Schweigen, dort hält er, und wir steigen aus. Er fängt an, mich anzubrüllen.

»Du undankbare Mistgöre!« Mir kommen die Tränen. Er brüllt, bis er nicht mehr weiterweiß. Dann zündet er sich eine Zigarette an und reicht mir die Packung. »Das läuft ab sofort folgendermaßen«, sagt er. »Du hast die Schule bis zur zehnten Klasse zu Ende zu bringen. Dann werden wir sehen, wie es weitergeht. In diesen Ferien wirst du alles nachholen, was du vernachlässigt hast. Alison und deine Mutter sind in Dar. Sie werden während der Ferien nicht nach Hause kommen. Du fängst um acht an und arbeitest bis zum Mittagessen. Wir essen zusammen. Dann geht es weiter von eins bis vier. Den Rest des Tages hast du frei. Wenn du all das, was auf meiner Liste steht, abgeliefert hast, kannst du Ferien machen. Verstanden?«

»Jawohl.« Wir fahren weiter. Und so kommt es. Ich stehe um sieben auf, gehe schwimmen, frühstücke und fange an. Vater renoviert das Hauptgebäude des Hotels und die vierzehn Bungalows für die Gäste. Er repariert die Dächer, mauert und kalkt, wechselt Türgriffe aus, schraubt neue Scharniere an die Fenster oder erneuert ganze Fensterpartien. Wir reden nicht viel miteinander, und ich verstehe nicht, wieso er mich beaufsichtigt. Die Tage schleppen sich dahin. Der Stapel mit den Aufsätzen und erledigten Hausaufgaben wird höher.

Juma taucht auf. Er ist Vaters rechte Hand, ein älterer Chagga mit braunen Zähnen vom vielen Fluor im Wasser des Kilimandscharo.

»Shikamoo Mzee«, grüße ich höflich.

»Samantha!« Er umarmt mich. »Du bist eine hübsche Frau geworden.«

»Was machst du hier? Wollt ihr arbeiten?«

»Ich soll deinem Vater bei ein paar Sachen helfen«, antwortet Juma. Ich habe bemerkt, dass Vater jeden Tag im Hafenbüro von Tanga anruft, seinen Namen nennt und fragt, ob sie schon Näheres wüssten. Ich frage besser nicht. Wir essen mit Juma auf der Veranda zu Mittag, und ich erkundige mich nach seiner Familie, der großen Tochter.

»Samantha muss jetzt arbeiten«, erklärt Vater, und ich arbeite wieder bis vier Uhr nachmittags. Ich habe das Gefühl, dass mir bald der Kopf platzt. Tatsächlich gibt es Tage, an denen ich einschlafe, sobald ich frei habe. Meist gehe ich allerdings fischen. Ich ziehe mein Bikinihöschen und ein altes T-Shirt an, damit ich mir keinen Sonnenbrand hole, und nehme mir die Harpune. Juma ruht sich im Schatten aus.

»Willst du mit, fischen?«

»Ich kann nicht sonderlich gut schwimmen.«

»Aber du kannst das Boot steuern.«

Lächelnd steht er auf. »Das mach ich gern.«

Wir fahren ein Stück hinaus, und ich springe über Bord, jage und werfe den Fang ins Boot.

»Du bist sehr tüchtig«, meint Juma.

»Wir wollen doch etwas Ordentliches zu Abend essen, wenn du zu Besuch kommst«, erwidere ich. Als ich genug habe, klettere ich zurück ins Boot. Juma dreht mir eine Zigarette, wir rauchen. Jetzt kommt’s.

»Dein Vater macht sich Sorgen.«

»Muss er nicht.«

»Es ist wichtig für ihn, dass du gut in der Schule bist, damit du im Leben zurechtkommst.«

»Ich werd schon klarkommen.« Vater hat sich bei Juma über mich beschwert, das sieht ihm gar nicht ähnlich. Wir fahren zurück und liefern den Fang beim Hausmädchen ab, damit sie die Fische zum Abendessen brät. Vater und Juma fahren in die Stadt. In irgendeine Bar. Ich langweile mich zu Tode, trinke Gin und rauche. Denke an Victor und traue mich nicht zu fragen, wo er gerade ist.

Ich erledige meine Hausaufgaben. Jedes Mal, wenn ich mit etwas fertig bin, liefere ich es bei Vater ab. Er blättert darin.

»Du brauchst es nicht zu lesen.«

»Ich will bloß sehen, ob es auch das ist, wofür du es ausgibst«, erwidert er und blättert weiter. »Okay. Die nächste Aufgabe ist Gemeinschaftskunde. Du sollst beschreiben, wie das Öl die politische Entwicklung im Iran seit den dreißiger Jahren beeinflusst hat.«

»Und wie soll ich das ohne Bibliothek machen?«

»Du machst es einfach, so gut du kannst«, entgegnet er und ruft in Tanga an. Er redet mit einem alten Briten, George, der Konsul in Mombasa war und nun pensioniert ist. Am nächsten Morgen sorgt Vater dafür, dass einer der Kellner mich mit dem Land Rover in die Stadt fährt. George erweist sich als ausgesprochen hilfreich. Er setzt sich an seinen Schreibtisch, auf dem ein Lexikon und einige Ausgaben von The Economist liegen. Langsam diktiert er mir den gesamten Aufsatz.

»Hast du es?«, fragt er.

»Ja.«

»So, und jetzt schreibst du das einfach noch mal mit deinen eigenen Worten ab«, sagt er. »Noch etwas?«

»Nein, danke. Und, vielen Dank!«

»Freut mich immer, wenn ich behilflich sein kann.«

Holzkisten

Am Nachmittag fange ich ein paar Tintenfische und bitte Vater, sie George als Dank für seine Hilfe zu bringen. Am nächsten Tag ist Vater unterwegs, am späten Nachmittag kommt er mit einem Lastwagen voller Holzkisten zurück, die in der Garage gestapelt werden. Ich frage nicht nach.

Am frühen Morgen des nächsten Tages ist es kühl. Ich stehe auf und ziehe meine Badesachen an. Ein Lastwagen fährt hinter das Hauptgebäude des Hotels, drei Schwarze steigen aus, darunter Juma. Vater geht ihnen von der Küchentür aus entgegen. Gibt dem Anführer die Hand. Ich beobachte sie durch die Gitter und das Moskitonetz meines Zimmers. Soweit ich sehen kann, handelt es sich bei den Männern nicht um Tansanier. Normalerweise kann ich zwischen den großen Stämmen unterscheiden, wenn es keine Mischlinge sind. Die Männer tragen Militäruniformen ohne Abzeichen, und der Anführer strahlt Selbstvertrauen aus, beinahe Hochmut. Vielleicht sind es Zulus aus Südafrika. Der Afrikanische Nationalkongress, ANC, der gegen die Apartheidregierung kämpft, unterhält Trainingslager in Tansania.

»Helft mir bei den Kisten«, bittet der Anführer Vater und Juma auf Englisch. Vater und Juma tragen die Kisten aus der Garage und laden sie auf den Lastwagen. Ich verstehe nicht, was sie sagen. Der Anführer der fremden Schwarzen zeigt auf eine der Kisten, stellt eine Frage, holt einen Kuhfuß und einen Hammer aus dem Laster und bricht die Kiste auf. Vater sieht besorgt aus. Der Schwarze fängt an zu sprechen.

»Das haben wir nicht abgemacht«, sagt er laut. Vaters Antwort höre ich nicht. »Versuch nicht, uns übers Ohr zu hauen! Wenn du verschwindest, wird niemand eine Frage stellen«, erklärt der Mann. Ich warte auf eine Reaktion, aber Vater bleibt mit hängenden Schultern stehen und antwortet leise. Der Schwarze steht direkt vor ihm, und Vater lässt einfach die Arme hängen. »Das will ich dir auch geraten haben!«, sagt der Schwarze und dreht sich um. Er droht Vater, und der reagiert nicht. Er hat Angst vor dem Schwarzen. Vater wirkt alt. Der Lastwagen wird angelassen und fährt. Ich laufe aus der Verandatür zum Strand. Werfe mich in die Wellen. Vater ist nicht zu Hause geblieben, damit ich meine Aufgaben erledige. Er hat darauf gewartet, dass diese Sendung im Hafen von Tanga landet.

Als ich zurück ins Hotel komme, frühstücken wir. Kein Wort über den Lastwagen, aber Vater raucht Kette und rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er geht an den Schreibtisch und holt die Liste, legt sie auf den Tisch. Er zeigt drauf.

»Dir fehlen noch zwei Aufgaben. Du erledigst sie ordentlich, auch wenn ich jetzt fahren muss.«

»Du musst fort?«

»Es geht gleich los.«

»Und was wird mit mir?«

»Du hast frei bis zum Schulanfang«, erklärt Vater. »Ich rufe deine Mutter an, bevor wir fahren.« Er steckt die Hand in die hintere Hosentasche und zieht einen Umschlag heraus. Ich schaue ihn fragend an. »Die Raucherlaubnis«, sagt er. »Für die Schule. Mach’s gut.«

Eine Stunde später sind sie fort. Ich schreibe die letzten Aufgaben, haue sie hin. Am nächsten Tag kommt Mutter aus Dar zurück, allerdings ohne Alison. Da die Ferien in ein paar Tagen vorbei sind, fährt mich Mutter zur Schule. Ich liefere die Aufgaben ab. Ein absurdes Gefühl, nicht damit hinterherzuhängen.

Exodus

Die wichtigsten Mädchen der Schule werden am Samstag zu einer Art Polterabend bei Parminder eingeladen, denn sie wird sich bald verloben – alle wichtigen Mädchen außer mir; ich bin schließlich kein anständiger Mensch. Shakila und Tazim sind eingeladen.

»Mach dir nichts draus«, sagt Tazim am Freitag. »Ich bleibe einfach hier.«

»Nein, das ist wirklich nicht nötig.«

»Okay«, sagt sie sofort, weil sie gern dabei wäre. »Aber dann machen wir heute Abend irgendetwas.«

»Was?«

»Es ist eine Überraschung«, erklärt Tazim. Ich hätte auch gern an dem Fest teilgenommen. Indische Mädchen, die in paillettenbesetzten Gewändern tanzen. Blumenkränze und Hennamuster in den Handflächen, lackierte Nägel und Metallarmbänder. Tee trinken und parfümierte indische Kekse essen, wobei man in ausladenden geblümten Sofas sitzt, die mit dickem durchsichtigem Plastik bezogen sind, damit der Staub sie in der Trockenzeit nicht grau werden lässt. Die Schenkel kleben daran fest, man verursacht Geräusche, wenn man aufsteht, und auf den Armlehnen, dem Rückenteil und allen Anrichtetischchen liegen kleine gehäkelte Nylondeckchen. Ich kenne das von Kindergeburtstagen in der Schule von Arusha. Indische Mädchen haben etwas Faszinierendes, während du die Jungen in der Pfeife rauchen kannst.

»Jetzt ist es so weit«, sagt Tazim Freitagabend. Sie hat Tee gekocht und irgendein Pulver in einer Tüte dabei, Henna.

»Willst du mich bemalen?«, frage ich sie.

»Ja.« Sie mischt die pulverisierte Rinde mit Tee zu einem dicken Brei. Mit einem dicken Rosenstängel will sie ihn auftragen.

»Mit einer Sahnespritze wär’s einfacher.«

»Nein, das ist gut so.«

»Aber Tazim … ich will diese indischen Muster nicht.«

»Wieso nicht?«

»Das ist, als wär ich traurig, dass ich nicht eingeladen bin. Als würde ich …«

»Was willst du dann?«

Ich hole ein Stück Pergamentpapier, auf das ich den Titel der Bob Marley-LP Exodus gepaust habe, eigentlich wollte ich den Schriftzug auf ein T-Shirt malen. Tazim sticht mit einer Nadel Löcher ins Papier, dann legt sie es mir auf den Arm, drückt die Spitze eines orangefarbenen Filzstifts durch die Löcher und markiert den Umriss der Buchstaben.

Sie schmiert den Hennabrei auf meinen Oberarm, und ich warte, bis er eingezogen ist. Es dauert lange. Aber ich werde die ganze nächste Woche in ärmellosen T-Shirts herumlaufen: Exodus – movement of Jah people. Oh yeah.

Dreadlock

»Klasse!«, sagt Jarno, als er meinen Oberarm sieht.

»Danke.« Ich setze mich auf die Bank vor dem Kijana. Hier darf man rauchen, wenn man die Erlaubnis hat.

»Wieso hast du das auf dem Arm?«, will Salomon wissen.

»Weil ich es hübsch finde.«

»Exodus ist kein Schmuck, wir Rastafari nehmen das sehr ernst.«

»Mann, halt die Klappe von dieser Scheiße«, mischt Jarno sich ein. Salomon dreht sich zu ihm um und sieht ihn an.

»Glaubst du, deine bleichen dreads machen dich zu einem Rastafari?«

»Willst du mir die dreadlocks verbieten?«, fragt Jarno zurück, schüttelt seine kleine Löwenmähne und durchbohrt Salomon mit seinem pissgelben Blick.

»Nein. Aber es sieht total krank aus.«

»Ich bin farbenblind«, erklärt Jarno. »Und du?«

»Ich bin Rasta.«

»Und ich also nicht?«

»Auf die falsche Art. Richtige Rasta essen kein Fleisch und trinken keinen Alkohol.«

»Du isst doch Huhn?«

»Fisch und Huhn, ja. Aber keine Säugetiere. Jah hat sie wie die Menschen geschaffen.«

»War Haile Selassie göttlich, der Löwe von Judäa?«, fragt Jarno.

»Afrika wurde von den weißen Fremden übernommen«, erwidert Salomon. »Nur Haile Selassie konnte seinen Thron bewahren, als die bleichen Heuschrecken des Kolonialismus über Afrika herfielen.«

»Und auf dem Land ließ er sein Volk wie die Fliegen sterben«, widerspricht Jarno. »Das hat mit Rasta nichts zu tun.«

»Bist du Äthiopier?«

»Nein.«

»Dann hör auf, mir zu erzählen, wer wir sind.«

»Alle basteln sich ihren Gott, wie sie ihn brauchen«, sagt Jarno, spuckt auf den Boden, steht auf und geht.

Mick

Das Telefon im Aufenthaltsraum klingelt. Mutter ist am Apparat: »Mick holt dich zu Beginn der Sommerferien ab und fährt dich nach Tanga.«

»Mick?« Er geht doch auf eine Technische Hochschule in Deutschland. »Wieso ist er zurück?«

»Es ist wie bei Alison«, seufzt Mutter. »Er sagt, die hätten ihm nichts beibringen können.«

»Und was macht er jetzt?«

»Er fährt für die Lodge amerikanische Touristen auf die Luxussafaris im Ngorongoro und in die Serengeti.«

Mick ist der einzige Junge mit dem … ich es getan habe. Ja, denn Christian zählt nicht, das hat ja nicht richtig geklappt.

»Alison hat mit ihm die Reparatur der Außenbordmotoren vereinbart«, erzählt Mutter. Alle Motoren unserer Boote sind kaputt. Wir brauchen sie, damit die Gäste fischen, tauchen oder Wasserski fahren können. Wenn überhaupt Gäste kommen; Tanga liegt ein Stück abseits der nördlichen Touristenroute.

»Ist Alison zu Hause?«

»Nein, sie ist noch in Dar, aber sie kommt sicher bald heim.«

»Okay«, sage ich, erleichtert. Ich werde nicht von den Alten abgeholt, ich muss nicht den Bus nehmen. Ich werde wie ein richtiger Mensch mit Mick fahren. Und er wird in den Ferien da sein.

Ich suche Christian, aber vergeblich. Stattdessen stoße ich auf Panos.

»Wo ist Christian?«

»Ist dir das nicht egal?«

»Was meinst du? Ist er sauer auf mich?

»Nein, wahrscheinlich gefällst du ihm viel zu sehr.«

»Aber wo ist er?«

»Nach Dänemark geflogen«, sagt Panos.

»Kommt er zurück?«

»Davon gehe ich aus.«

Am nächsten Tag versammeln sich alle Internatsschüler direkt nach dem Mittagessen mit ihrem Gepäck auf dem Parkplatz.

»Schöne Ferien, Samantha!«, ruft Truddi, als sie in den Land Rover ihrer Eltern hüpft.

»Fahr zur Hölle«, zische ich zwischen den Zähnen, lächele und nicke ihr zu. Ferien, endlich. Einige steigen in den Schulbus, der sie zum Kilimandscharo Flughafen in der Ebene zwischen Arusha und Moshi bringt. Sie werden mit ATC nach Daressalaam fliegen: Air Tanzania Cooperation oder besser Air Total Confusion. Ich hoffe, der Flieger hat Totalschaden – hoch oben in der Luft. Komm schon, Mick.

Beach Buggy

Noch bevor ich ihn sehe, höre ich, dass er den Beach Buggy fährt. Genial. Der Bus hat den Motor angelassen, und dann kommt der kleine gelbe Wagen auf den Parkplatz geschossen: ganz offen, große Auspuffrohre, vorn ein Satz zusätzlicher Nebelleuchten. Der Motor vibriert und rumpelt, er sitzt deutlich sichtbar zwischen den Hinterreifen.

»Samantha!«, ruft Mick. »Spring auf!« Er hat zugenommen, ist aber immer noch schlank. Seppo kommt und will etwas über den Wagen wissen. Mick stellt den Motor nicht ab, sondern bietet mir eine Zigarette an. Ich habe bereits meine Sonnenbrille aufgesetzt. Ich liebe es. Mick gibt mir Feuer mit seinem Benzinfeuerzeug.

»Wankelmotor, tausendfünfhundert Kubik, Fiberglas-Karosserie«, erklärt er und lässt direkt vor der Front des Busses die Hinterräder durchdrehen. Wir fahren so schnell auf die Lena Road, dass der Staub aufwirbelt.

»Der fährt ja klasse!«, rufe ich und versuche, den Wind und den Motorenlärm zu übertönen, als wir zum YMCA-Kreisel kommen, an dem wir Moshi verlassen. Sämtliche Kinder schreien und winken beim Anblick des Wagens.

»Ich habe ihn gerade überholt. Neu lackiert, den Motor komplett durchgesehen, alles.« Die Zigarette raucht sich im Wind beinahe von allein, mein Haar peitscht meinen Nacken. Ob Mick für seine Arbeit in Tanga bezahlt wird? Ich frage ihn.

»Der Aufenthalt ist gratis«, erwidert er. »Essen, Schnaps, alles.« Alles? Was ist alles? Alison und ich auch? »Außerdem bekomme ich das beste Gewehr deines Vaters, und er schuldet mir einen Hotelaufenthalt, wenn ich ein paar Touristen besorge, die gern tauchen.«

»Hast du mit Alison gesprochen?«

»Nein, meine Mutter hat mit ihr geredet. Was macht sie in Dar?«

»Sie hat gesagt, sie will dort einen Mann aufgabeln, den sie heiraten kann«, antworte ich, ohne ihn anzusehen. Ich merke, wie Mick mir den Kopf zudreht.

»Ah ja.« Vielleicht ist er enttäuscht, aber sie ist ein Jahr älter als er.

»Kann sein, dass du zu spät kommst.«

»Ach, es gibt viele Fische im Wasser«, entgegnet er. Ich kommentiere es nicht.

Der Asphalt hört auf, als wir an der Road Junction rechts abbiegen. Der feine rote Staub der Fahrbahn explodiert an den Rädern in Wölkchen.

»Willst du auf der Lodge bleiben?«

»Nein«, schreit Mick über den Motorlärm. »Ich komme mit meinem Bruder nicht klar. Aber erst muss ich mir etwas Geld beschaffen. Dann ziehe ich eine eigene Autowerkstatt für Safariveranstalter in Arusha auf. Vielleicht kann ich aus Dubai Gebrauchtwagen importieren. Ich bin dort zwischengelandet. Jede Menge guter Gebrauchtwagen, billig. Sobald die Importrestriktionen ein bisschen aufweichen, ist der Weg frei.«

Fisch am Haken

Wir kommen vollkommen verstaubt in Tanga an, biegen auf die Lehmpiste an der Küste und halten vor dem Baobab Hotel. Mutter kommt heraus. Umarmt mich und Mick.

»Douglas kommt in ein paar Tagen zurück«, berichtet sie. »Und Alison ist schon hier. Sie ist gerade schwimmen. Im Augenblick sind nicht sehr viele Gäste da, ihr bekommt jeder euren eigenen Bungalow.«

Mutter geht zur Rezeption, holt die Schlüssel und teilt mit, dass es um sechs Uhr wie immer den Sundowner auf der Terrasse gäbe. Ich werfe meine Tasche in den Bungalow und springe die kaputte Treppe zum Strand hinunter. Alison schwimmt weit draußen. Ich ziehe mich bis auf den Slip und das Unterhemd aus, werfe mich in die Wellen und arbeite mich langsam zu ihr vor.

»Hey!«, rufe ich und winke; sie schwimmt auf mich zu und umarmt mich, dass wir mit den Köpfen unter Wasser geraten. Wir plantschen. »Ist Mick auch hier?«, fragt sie.

»Er wollte sich die Motoren ansehen. Wie lief’s in Dar?« Alison lächelt und zwinkert mir mit einem Auge zu, während wir strampeln, um uns über Wasser zu halten.

»Es gibt einen Fang.«

»Du lügst!«

»Ein großer Fisch ist am Haken.«

»Scheiße, das ist doch nicht wahr, oder?« Alison hebt eine Augenbraue, weil ich fluche. Vater will nicht, dass wir fluchen, und Alison ist schon genauso.

»Frans«, sagt sie. »Ein Holländer. Der neue Chef des KLM-Büros in Dar.«

»Und? Ist er nett?«

»Er ist hübsch.«

»Wann wirst du ihn wiedersehen? Wann darf ich ihn sehen?«

»Bald, Samantha. Aber ich will den Haken noch ein bisschen tiefer in ihn versenken, bevor er unsere lieben Eltern kennenlernt.«

»Klar. Vernünftig.« Wir schwimmen an Land, duschen und treffen uns auf der Veranda. Mick zeigt mit dem Finger auf sich, als er von Frans hört. »Und was ist mit mir?«

Alison lächelt: »Und was ist mit Samantha?«

»Ich will doch nicht Mick – ist doch bloß ein großer Junge!«

»Und du bist nur ein kleines Mädchen«, entgegnet Mick.

»Nein, ich bin jetzt ein großes Mädchen.« Ich fasse mir an die Brüste und ziehe einen Schmollmund.

Mick nickt.

»Hör auf, dich so zu benehmen«, sagt Mutter.

Hygiene

Ich helfe Mick bei den Motoren. Wir nehmen sie auseinander, reinigen, schmieren und justieren sie. Mick opfert den schlechtesten, um Ersatzteile für die anderen zu haben. Wir setzen den ersten Motor wieder zusammen. Probieren ihn aus. Ich stehe auf Wasserskiern. Wir tauchen mit Harpunen nach Tintenfischen und klopfen sie auf den Felsen weich.

»Fahr jetzt los, Mutter«, sagt Alison beim Mittagessen. »Du hast schöne Ferien verdient.«

»Ich muss dir doch helfen, Schatz«, sagt sie. Ihr Kater vom Vorabend ist beinahe verschwunden, aber sie sieht grässlich aus, verbraucht.

»Meine Mutter würde sich jedenfalls über Besuch sehr freuen«, erklärt Mick. Schließlich gelingt es uns, sie zu überzeugen. Sie fährt nach Arusha, um Micks Mutter auf der Lodge zu besuchen.

Wir haben das Hotel für uns. Ich arbeite mit Mick von morgens bis zum späten Nachmittag. Alison ist damit beschäftigt, Pläne zu schmieden, wie sie das Hotel zum Laufen bringt. Ständig telefoniert sie, um Absprachen mit Touristenorganisationen in Arusha zu treffen – unter anderem mit Jerome, Micks Stiefvater. Sie schafft neue Matratzen und Moskitonetze an und bringt die Maler auf Trab.

Alison ist die Geschäftsführerin und will abends die Küche leiten, um den Hotelgästen einen Restaurantbetrieb anzubieten. Sie braucht eine verlässliche Oberkellnerin, die die Kellnerinnen unter Kontrolle hat, damit die Gäste anständig bedient werden.

Die Bewerberinnen müssen den Tisch decken und Alison bedienen. Ich stehe daneben und sehe zu, als eine Frau aus dem Dorf in ihrem Kirchenkleid das Besteck an die völlig falschen Stellen legt und aus reiner Nervosität die Gläser umwirft. Sie wird fortgeschickt. Die Nächste ist eine große hübsche Frau, Ende zwanzig, Halima heißt sie. Alles wird korrekt auf dem Tisch platziert, sie weiß, was sie tut. Alison nimmt sie mit auf die Toilette des Restaurants, auf der die Brille fehlt.

»Sag mir, was hier nicht in Ordnung ist?«, will sie von Halima wissen. Eine gewöhnliche Frau würde nur sehen, dass Wasser aus dem Hahn des Waschbeckens kommt und eine Dose unter dem Wasserhahn neben der Toilettenschüssel steht, damit man sich hinterher den Hintern waschen kann. Alles in Ordnung, was will man mehr? Klopapier, Seife und ein Handtuch erwartet man auf einer tansanischen Toilette nicht. Wenn ein europäischer Tourist aber eine Toilette ohne Seife am Waschbecken sieht, fragt er sich unbewusst sofort, wie wohl die hygienischen Verhältnisse in der Küche sein mögen. Aber die Angestellten hier sind in Dorfhütten mit gestampftem Lehmboden aufgewachsen, ihnen fällt es nicht auf.

Halima schaut sich um.

»Die Brille fehlt, es steht Wasser auf dem Boden, es fehlt an Klopapier, Seife und Handtüchern. Außerdem muss hier mal ordentlich sauber gemacht werden, auch die Wände und die Decke. Vielleicht sollten Sie es streichen lassen.«

»Du bist eingestellt«, erklärt Alison.

Ich verstehe nicht, warum es so wichtig ist, das Hotel zum Laufen zu bringen, bevor Vater es verkauft. Es ging ihm bei dem Hotel doch nie um Geld. Es ist bloß ein Vorwand, damit er in Tansania wohnen kann. Ich frage Alison.

»Seine übrigen Geschäfte laufen schlecht«, sagt sie. »Er muss einen guten Preis für das Hotel erzielen. Deshalb soll es funktionieren.«

»Könntest du es nicht übernehmen und führen?«

»Nein. Ich will zu Frans nach Dar.«

»Frans, Frans, Frans«, äffe ich sie nach.

»Ich vermisse ihn.«

»Du hast ihn doch gerade erst kennengelernt.«

Sie lächelt bloß.

Mangofliegen

In der Freizeit gehen wir schwimmen; wir segeln, essen, trinken oder fahren im Beach Buggy herum. Nachts schlafe ich wie ein Stein, und morgens wache ich früh auf und gehe schwimmen. Als ich zur Böschung komme, höre ich Alison im Haus schreien. Ich laufe zurück.

»Raus, mach, dass du weg kommst, verschwinde.« Das Hausmädchen steht verschreckt an der Küchentür. Alison greift nach einem Messer auf dem Küchentisch und geht auf sie zu. Das Hausmädchen reißt die Tür auf und rennt fort.

»Und?«, frage ich. Alison dreht sich um. Gewitterwolken. Sie hebt ihren Kanga, damit ich ihren nackten Hintern sehen kann, die Beulen auf der Haut – Larven.

»Tsk«, schnalze ich. Die Mangofliegen legen ihre Eier in die nasse Wäsche, wenn sie draußen zum Trocknen aufgehängt wird. Wenn die Wäsche nicht ordentlich gebügelt wird, überleben die Eier und werden ausgebrütet. Die Larven bohren sich unter die Haut und wachsen. Man muss sie aus den Hautbeulen quetschen. Sie haben die Farbe von Milben.

»Du musst es machen«, sagt Alison.

»Igitt, nein.«

»Aber ich komm da nicht dran.«

»Kannst du nicht einfach warten, bis die Haut von allein aufplatzt und sie herauskrabbeln?«

»Samantha …« Sie schlägt beide Hände vors Gesicht und schluchzt.

»Ganz ruhig«, sage ich und gehe zu ihr.

»Aber …«, sie hat die Hände noch immer vor ihrem Gesicht, »wenn Frans jetzt kommt und ich … habe eine Beule am Hintern. Das ist so eklig.« Ich nehme sie in die Arme.

»Ist ja gut. Ich mach es.« Ich klatsche ihr auf den Hintern.

»Aua!«

»Glaubst du, er kommt her?«

»Das hoffe ich. Ich vermisse ihn.«

»Um Gottes willen«, erwidere ich und ziehe sie ins Schlafzimmer der Alten. Setze mich breitbeinig auf ihren Rücken und fange an, die Larven aus dem Arsch zu drücken; sie stöhnt.

»Soll ich nicht eine drin lassen? Dann kann sie sich herausbohren, während ihr vögelt, zum Herrgott emporfliegen und um schönes Wetter bitten.«

»Du bist doch krank, Samantha!«, stöhnt sie ins Kissen.

»Okay. War nur ’ne Idee.«

Erziehung

Frans vermisst Alison offenbar auch. Eines Nachmittags taucht er in einem großen neuen Range Rover vor dem Hotel auf. Er ist die dreihundertfünfzig Kilometer von Daressalaam gefahren – den größten Teil über staubige Lehmpisten –, nur um sie zu sehen. Hübscher Kerl, redet nicht viel. Aber ich kann mich ohnehin nicht lange mit ihm unterhalten, denn Alison schleppt ihn sofort in ihren Bungalow.

»Was machen die jetzt?«, frage ich Mick.

»Rammeln wie die Karnickel.« Er montiert eine neue Nylonschnur an den Starter eines Motors.

Nach einer Weile kommen Alison und Frans zurück. Er bleibt bei Mick, während ich Alison helfen soll, uns etwas zu essen zu machen. In der Küche reiße ich Witze über sie, bis Mick und Frans erscheinen. Sie setzen sich mit einem kalten Bier und Cashewnüssen an den Esstisch und sehen uns bei der Arbeit zu.

»Flotte Schwestern, was?«, sagt Mick.

»Ja«, grinst Frans verlegen. Ich drehe mich zu ihm um.

»Hast du wirklich vor, mit ihr zusammenzuleben?«, frage ich mit einem Nicken in Richtung Alison.

»Ja, klar«, antwortet er. »Sie ist die Liebe meines Lebens.«

»Das bildest du dir doch nur ein. Du kennst sie doch gar nicht.«

»Und du bist nur neidisch«, sagt Mick zu mir.

»Nicht auf Alison«, erwidere ich und blinzele Frans zu. Alison steht direkt neben mir und schneidet Gemüse; ich will, dass sie sich zu mir umdreht. »Aber vielleicht bin ich neidisch auf Frans, denn meine Schwester ist ein ziemlich guter Fick.«

Alison wendet sich mir zu, um etwas zu sagen. Doch mein Arm ist schneller. PATSCH! Die Ohrfeige landet genau auf ihrer Wange; ich brülle: »Mit wem fickst du?«

»Was soll denn das?«, schreit Frans und springt von seinem Stuhl auf, der hintenüber fällt. Der Knall der Ohrfeige wird trocken von den Wänden zurückgeworfen. Er kommt auf mich zu, bleibt aber stehen, weil er sieht, dass Alison weder ihren Kopf noch die Arme, die Hand mit dem Küchenmesser oder die Füße bewegt. Sie zwinkert zweimal rasch, dann blickt sie mir in die Augen und setzt ein gleichgültiges Gesicht auf, während meine Fingerabdrücke auf ihrer sonnengebräunten Haut weiß aufleuchten. Frans steht starr und ein wenig linkisch im Raum, fassungslos.

»Du kannst es noch immer«, sagt Mick lächelnd – er hat es schon mal erlebt. Der Moment ist vorbei. Alison lächelt mich an.

»Warte nur«, sagt sie mit erhobenem Zeigefinger und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

»Was … was ist denn hier los?«, stottert Frans.

»Ihr habt sie doch nicht mehr alle«, meint Mick.

Alison geht lächelnd auf Frans zu.

»Bleib ruhig, Schatz, ist eine Familientradition.« Sie fasst ihn um den Nacken und küsst ihn fest auf den Mund. Er sieht beunruhigt aus.

»Sich gegenseitig zu schlagen?«

»Zu trainieren, einen Schlag entgegenzunehmen, ohne zu reagieren«, sage ich.

»Aber warum?« Frans könnte es sicher nicht. Alison erklärt ihm, dass unser Vater immer dann zugeschlagen hat, wenn man es keinesfalls erwartete. Gleichzeitig hat er seine Fragen gestellt oder seine Befehle gegeben. Seine Art der Erziehung.

»Es ist wichtig, den Schlag zu empfangen, ohne daran zu zerbrechen. Er verachtet Schwäche. Wir haben uns gegenseitig trainiert«, fügt Alison hinzu.

»Aber das ist doch … Wahnsinn.«

»Unser Vater macht es ja auch nicht mehr.«

»Bei dir nicht«, sage ich. »Aber ich bin noch immer ständig in Gefahr, eine ordentliche Ohrfeige zu bekommen.«

»Und eure Mutter? Hat sie nichts dagegen unternommen?«

»Sie saß nicht auf dem Fahrersitz«, sagt Alison.

»Sie überließ die Erziehung dem Biest«, ergänze ich.

Laborratten

Nach dem Essen sitzen wir auf der Veranda, trinken Gin Tonic und rauchen uns stoned mit Micks Arusha-bhangi – beste Qualität von den Hängen des Mount Merus.

»Habt ihr mal überlegt, ob das Ganze nicht vielleicht nur eine Kulisse ist?«, fängt Alison an.

»Was soll eine Kulisse sein?«, will Mick wissen.

»Na, das alles um uns herum«, sagt Alison mit einer Armbewegung, die Himmel und Erde, das Meer, das Hotel und uns umfasst. »Die Welt und die Menschen und alles, was passiert, ist so absurd, dass es gar nicht wirklich sein kann. Ich weiß, dass ich wirklich bin. Ich bin hier, und ich versuche … mich durchs Leben zu manövrieren. Aber ständig wollen Leute mich beeinflussen und mir erzählen, was ich machen soll. Sie urteilen über mich. Und über die Dinge, die ich gerne will: Sie erzählen mir, dass es falsch ist. Und über die Dinge, die ich nicht will: das soll ich machen oder jenes. In die Schule gehen, hart arbeiten, anständig sein … alles Mögliche.«

Alison setzt einen fragenden Gesichtsausdruck auf. Ich blicke hinüber zu Frans. Er lächelt sie glücklich an, aber unter der Oberfläche spüre ich Nervosität; so hat sie sich bei den Cocktailpartys in Daressalaam natürlich nie aufgeführt. Mick räuspert sich.

»Die Leute versuchen ständig, sich gegenseitig zu manipulieren, klar. Aber davon wird die Welt nicht zu einer Kulisse.«

Alison versucht, mich zu fixieren: »Nein, aber …« Sie zeigt mit beiden Händen auf sich. »Ich bin ein biologisches Experiment, eine Laborratte. Ich bin der einzige Mensch, der existiert. Wesen haben mich gefunden und ausgedacht …« Alison wechselt in eine belehrende Stimmlage: »Dies ist eine seltene Spezies. Die Einzige ihrer Art, die wir wieder zum Leben erwecken konnten. Und nun werden wir beobachten, wie sie so ist, daher bauen wir ihr diese Umgebung und setzen sie hinein. Und um zu sehen, wie diese Rasse funktioniert, erfinden wir die merkwürdigsten Dinge und knallen sie ihr direkt vor die Fresse. Dieses Gefühl hab ich einfach.«

»Wir sind hinter dir her?«, sagt Mick.

»Ihr seid doch nur Roboter. Aber die Wesen sollten das Experiment ein bisschen lockerer angehen. Es ist zu heftig. Eltern, Schule, ein unsägliches Hotel, eine verrückte kleine Schwester und … Männer. Alles ist merkwürdig.«

»Ist es denn so schwer mit den Männern?«, will Frans wissen. Alison sieht ihn überrascht an, beugt sich vor und legte eine Hand auf seinen Schenkel.

»Nein, nicht mit dir, Schatz. Ich glaube, sie haben sich entschlossen – also, diese Wesen –, dass es mir jetzt gut gehen soll.« Sie schenkt ihm ein Lächeln. Aber genau das meint sie bei Männern. Säuglinge, eine Sekunde lang Angeber, und in der nächsten unsicher und schwach.

»Das ist ganz einfach«, mischt Mick sich ein. »Du machst einfach, was du willst, und dann können die Wesen sich überlegen, was sie davon halten.«

»Daran habe ich auch schon gedacht«, meint Alison. »Ich werd’s mal ausprobieren. Moral ist ja nur ein Teil ihrer Testanordnung. Was ist mir dir, Samantha?«

»Für mich ist die Wirklichkeit wirklich real«, gebe ich zur Antwort. »Aber ich bin nicht sicher, ob das etwas zu bedeuten hat.«

»Aber es bedeutet doch etwas für dich, ob du glücklich bist, oder … in der Schule zum Beispiel.«

»Ja, das lässt sich nicht steuern.«

»Was?«, fragt Mick dazwischen.

»Na ja … Gefühle, oder?«

»Nein, aber ich hab’s gern, wenn richtig was läuft«, erklärt Mick. »Und dann Sex. Am meisten beunruhigt mich, dass es dazwischen so lange Pausen gibt, in denen ich alles Mögliche andere tun muss, bevor ich wieder zum Wesentlichen zurückkommen kann: dass es richtig abgeht. Und dann Sex.«

»Mick«, seufzt Alison.

»Du weißt, was ich meine.«

»Ja, aber das ist doch nicht alles.«

»Aber fast.«

»Tja, okay«, Alison greift nach Frans’ Hand. »Wir gehen.«

»Gute Nacht«, wünscht Frans und lässt uns allein, nach einem Gespräch über heftigen Sex. Ich schaue Mick an, der sich eine Zigarette anzündet.

»Wilder Sex«, sage ich.

»Du weißt, wo ich wohne«, erwidert er und leert seinen Drink mit einem Zug. Steht auf. »Und ich bin zu Hause.« Er geht auch. Ich bleibe noch einen Moment sitzen. Lösche die Sturmlaternen, trage sie hinein und schließe das Haus von außen ab. Dann gehe ich hinüber und klopfe an Micks Tür.

»Darf ich reinkommen?«

»Ja.«

Ich öffne die Tür.

»Es ist, weil … ich bin’s einfach leid, allein zu schlafen.«

»Komm schon rein«, sagt Mick.

Vaters Niveau

Zwei Tage später kommt Vater. Frans ist ausgesprochen nervös, die Vorstellung einer Begegnung mit Vater behagt ihm nicht. Wir stehen vor der Veranda.

»Hm, du willst mir also meine große Tochter nehmen?«, sagt Vater.

»Ja«, antwortet Frans. »Ich hab es bereits getan.«

»Ach ja? Na dann, okay«, erwidert Vater, wendet sich Mick zu und gibt ihm einen Klaps auf den Rücken.

»Frans ist okay«, flüstere ich Alison zu.

»Sicher.«

»Mick«, sagt Vater. »Dann kann ich dir ja meine jüngste Tochter anbieten.«

»Oh Mann, hör auf damit«, protestiere ich.

»Wie laufen die Geschäfte?«, erkundigt sich Alison.

»Nicht so gut, aber es entwickelt sich was«, erwidert Vater.

»Ich hole uns etwas zu trinken.« Alison geht ins Haus, Frans folgt ihr.

»Ich habe Victor getroffen. Vielleicht kommt er in einer Woche vorbei«, sagt Vater zu mir.

»Victor!«, rufe ich aus. »Wie lange will er bleiben?«

»Nur ein paar Tage, dann müssen wir los.«

»Wohin denn?«

Vater sieht mich an. »Wieso?«

»Na ja, ich bin … einfach neugierig.« Im Hotel Tanzanite hat Victor meinen Schenkel berührt, als ich aus dem Swimmingpool stieg. Und ich habe ihn geküsst, als er mich in Moshi besuchte. Vielleicht wird … mehr passieren. »Ach, nur weil ich versprochen habe, ihm das Tauchen beizubringen.«

»Ich glaube kaum, dass dafür Zeit bleibt«, erklärt Vater. Alison bringt Bier und Limonade. Wir essen zusammen zu Mittag, dann wollen Mick und Frans fahren. Mick will nach Dar, um ein paar Ersatzteile zu beschaffen, damit sämtliche Motoren laufen. Außerdem hat er vor, sich nach einem Job zu erkundigen. Frans muss nach Hause, um zu arbeiten. Sie brechen im Konvoi auf; Mick vorn in seinem Buggy und Frans hinter ihm im Range Rover. Als sie gefahren sind, kommt mir das Hotel leer vor. Vater und Alison sitzen über der Buchführung oder diskutieren, was erledigt werden muss. Mutter kommt nach Hause; sie sieht ausgeruht aus und hat mit der Leitung des Hotels nichts mehr zu tun. Alison stellt Vater Halima vor, die sich um den Service kümmert.

»Diese Halima scheint eine tüchtige Frau zu sein«, meint er.

»Ja. Um diesen Teil muss ich mir keine Gedanken mehr machen«, sagt Alison. Obwohl Frans abgereist ist, wohnt sie weiterhin in einem der Bungalows. Ich bin zurück ins Wohnhaus gezogen, weil einige Gäste gekommen sind; eine Gruppe alter Schweizer. Ich liege allein in meinem Zimmer und kann die Alten hören, wenn sie spät aus dem Yachtklub von Tanga nach Hause kommen.

»Wenn du dich nicht benimmst, fahre ich nach Hause«, lamentiert Mutter im Wohnzimmer, sie klingt betrunken.

»Dann fahr doch!«, erwidert Vater.

»Du bist schwachsinnig.«

»Nein, du.« Das ist das Niveau.

»Du kannst mich nicht so behandeln. Ich habe deine beiden Kinder geboren.«

»Das ist lange her.«

»Du bist ein dummes Schwein!«

»Und du eine blöde alte Kuh.«

Ich ziehe mir das Kopfkissen über den Kopf. Trotzdem höre ich, wie Mutter in ihr Schlafzimmer geht, um sich in den Schlaf zu heulen. Ich sehe es vor mir, wie Vater betrunken im Wohnzimmer sitzt und mit den Augen zwinkert. Wieso hat er uns eigentlich bekommen? Alison und mich? Was will er mit uns? Schließlich höre ich ihn zu Bett gehen. Ich stehe auf. Nehme meine Decke, mein Kopfkissen und meine Zigaretten, gehe zu Alison und klopfe.

»Ich bin’s.«

»Was ist?«, fragt sie schlaftrunken und öffnet die Tür.

»Die Alten sind wahnsinnig«, sage ich, als sie mich ins Zimmer zieht und die Tür schließt.

»Streiten sie sich?«

»Ja, aber sie hat sich jetzt in den Schlaf geheult und er ist besoffen umgefallen.«

»Worum ging’s?«

»Um nichts, sie sitzen einfach nur da und beleidigen sich.« Ich habe mir eine Zigarette angezündet und mich auf das leere Bett gelegt. Alison raucht auch; sie bläst Rauchringe, die durch ihr Moskitonetz fliegen und auf der anderen Seite weiterschweben – leicht verwackelt. Es ist hübsch.

»Mach das noch mal«, bitte ich sie. Sie schaut mich an, prüfend, glaube ich, bevor sie noch einen dicken Rauchring ausstößt.

»Er nagelt alles, was nicht rechtzeitig auf den Bäumen ist«, sagt sie.

»Was?«

»Alle. Die ganzen jungen Kellnerinnen. Wenn sie nicht wollen, werden sie gefeuert. Und wenn er unterwegs ist, wer weiß …«

»Das ist nicht wahr.«

»Doch, es ist die Wahrheit.«

»Aber …«

»Aber was?«

Ja, was? Ich zünde mir noch eine Zigarette an. Blicke ins Moskitonetz.

»Na ja, im Augenblick hält er sich zurück«, fährt Alison fort. »Ich habe ihm gesagt, wenn ich das Hotel führen soll, dann hat er sich auf keinen Fall einzumischen. Und schon gar nicht beim Personal.«

»Hast du ihm gesagt, dass er sie nicht zu vögeln hat?«

»Nein, aber er hat die Botschaft begriffen.«

Afro

Am nächsten Tag gibt es kein Wasser. Mutter ruft mich; ich soll ihr den Rücken waschen, sie sitzt in einer Wasserpfütze in der Badewanne. Sie sieht verbraucht aus: die Brüste hängen, ihre Haut an Armen und Beinen ist von der Sonne ledrig gegerbt. Ihr Hintern ist schrumpelig, der Bauch aufgetrieben vom Suff, die Schenkelmuskulatur schlaff. Traurig.

Am Nachmittag macht sie den jämmerlichen Versuch, ein paar Jane-Fonda-Workout-Übungen durchzuführen, nach einem Buch, das Alison aus England mitgebracht hat. Aber sie bringt nicht einmal die Disziplin für die Aufwärmübungen auf. Am nächsten Tag hat sie einen noch größeren Kater, sie steht nicht vor dem Nachmittag auf. Ich soll ihr das Haar mit irgendwelchen Chemikalien kräuseln, die meine Tante ihr geschickt hat. Ich gieße ihr irgendeine Flüssigkeit über den Kopf, wickele das Haar auf Lockenwickler und gieße noch etwas anderes darüber, das die Locken fixieren soll. Sie sieht aus wie ein Pudel.

Vater kommt herein. »Versuchst du’s jetzt mit ’ner Afro-Frisur?«

Sie geht ins Schlafzimmer und heult. Es ist … peinlich.

Mick ruft an und teilt mit, dass es noch ein wenig dauern wird, bis er zurückkommt. Alison fährt mit dem Auto nach Arusha, um mit Safariveranstaltern zu verhandeln. Ich könnte mitfahren, aber Mutter wäre unglücklich; als würde ich vor ihr fliehen.

Sie liegt im Bett, es geht ihr miserabel. Ich nehme eine Blutprobe und fahre ins Krankenhaus, um ihr Blut überprüfen zu lassen: Malariaparasiten. Doktor Jodha fährt mit mir zurück und verpestet den Wagen mit seinem Gestank nach Betelnüssen und Mottenkugeln. Er spuckt roten Speichel aus dem Fenster und wischt sich den Mund ab. Im Hotel verabreicht er Mutter eine Malariaspritze und eine Menge Tabletten, wobei er mit seinen rostroten Zähnen lächelt: »Ich komme morgen wieder vorbei und sehe nach Ihnen, Miss Richards.«

Doktor Jodha kommt am nächsten Tag wieder und gibt Mutter noch eine Spritze; nun müsste es helfen, aber es passiert nichts. Sie hat keinen sonderlich großen Appetit. Sondern Fieberanfälle. Die Spritzen wirken nicht. Vater trägt sie in den Wagen, ich fahre sie ins Krankenhaus. Sie wird aufgenommen und bekommt Fansidar, das wie eine Chemotherapie wirkt. Am späteren Nachmittag bringe ich ihr etwas zu essen – im Krankenhaus stirbt man den Hungertod, wenn man keine Hilfe bekommt. Sie hat den Appetit total verloren, ihr Mund ist wund, sie ist krank wie ein Hund. Hier an der Küste sind alle Mücken resistent, Chinin wirkt nicht mehr. Mutters täglicher Einsatz an der Gin Tonic-Front war umsonst.

Blutunterlaufen

Alison kommt zurück. Sie ist Feuer und Flamme und hat unzählige Pläne für die Zukunft des Hotels.

Mutter wird aus dem Krankenhaus entlassen, es geht ihr besser. Sie versucht, sich zu beschäftigen, wirkt normal.

Sie lädt die Whitesides zum Mittagessen ein. Es fängt bereits gut an, als ich morgens aufstehe und ins Bad will. Mutter reißt die Badezimmertür auf.

»Kannst du nicht abwaschen oder das Gemüse putzen? Die Whitesides kommen in drei Stunden!«

»Hol doch jemand aus dem Hotel.«

»Die kommen mir nicht in meine Küche«, erklärt sie – besessen von der Idee, dass sie eine Funktion in ihrem Dasein hat.

»Es sind nicht meine Gäste«, erwidere ich. Sie bleibt stehen und starrt mich an: »Du isst auch von dem Essen, also musst du auch helfen.«

Die halbe Nacht hat sie getrunken und nun verschlafen. Ihr Gesicht sieht aus wie ein Arschloch, das zu müde ist zum Scheißen. Es ist bitter, aber es ist nicht mein Problem.

»Ich habe meine Tage. Ich brauch ein Bad.«

Als sie geht, schreit sie: »Wo ist Alison?« Aber Alison ist früh aufgestanden und nach Tanga gefahren, um ein paar Handwerker zu finden, die eine neue Treppe für die Küstenböschung bauen können. Sie kommt zum Mittagessen zurück, das ohne Probleme verläuft.

»Du solltest dich mit diesem Mick zusammentun«, sagt Vater während des Essens.

»Verflucht, wovon redest du?«

Whitesides starren mich an.

»Sprich anständig«, ermahnt mich Mutter.

»Er ist ein guter Typ«, fügt Vater hinzu, »tüchtig.«

»Du hast dich nicht in meine Angelegenheiten einzumischen.«

»Ach ja, habe ich nicht?«

»Hört schon auf«, geht Alison dazwischen.

»Wieso sollte ich mit ihm zusammen sein?«

»Du brauchst jemanden, der dich versorgt, wenn ich keine Lust mehr dazu habe«, erklärt Vater. Ich stehe einfach auf und gehe.

»Du reagierst überempfindlich«, ruft Vater mir nach. Als ich wieder nach Hause komme, sind die Whitesides gegangen. Durch die Fenster sehe ich, dass die Alten im Wohnzimmer sitzen und trinken. Alison ist auch dabei. Sie hat ihr perfekt geplantes Leben. Erst ein bisschen Hotel, die Tochter, die das Geschäft der Eltern rettet. Dann zu einem Mann mit einem guten Job nach Dar. Tja. Ich gehe in mein Zimmer, höre Musik über Kopfhörer und blättere in Magazinen, die deutsche Touristen liegengelassen haben. Gehe ins Bett. Schlafe ein.

»Kommst du nicht zu deinen Eltern, Töchterchen?« Es ist Vater. Er steckt den Kopf durch die Tür, schaltet das Licht ein. Ich halte eine Hand vor die Augen. Seine sind blutunterlaufen.

»Ich schlafe.«

»Schlafen kannst du, wenn du alt bist. Wir reden über die Zukunft. Wir schmieden Pläne.«

»Ich gehe in die Schule, was willst du denn noch?«

»Du bist so langweilig, Samantha. Wir haben ein großes Familientreffen, komm schon.«

»Ich schlafe.«

»Ach«, knurrt er und schließt die Tür, ohne das Licht zu löschen.

Am nächsten Tag kommt Mick zurück, von einer Staubschicht überzogen.

»Ein neuer Job in Dar, in zwei Wochen«, berichtet er. Mick soll Vorarbeiter einer Baufirma werden. »Ich kann dich gerade noch zur Schule bringen, Samantha.«

»Die Schule«, entgegne ich. »Scheiße.«

»Lass uns ein bisschen herumfahren«, schlägt er vor. Wir donnern über die staubigen Straßen.

»Kommst du mit, duschen?«, fragt er, als wir wieder am Hotel halten.

»Nein, ich hab keine Lust.« Ich gehe ins Haus.

Glücksritter

Später Nachmittag. Ich laufe zum Strand, um eine Zigarette zu rauchen, weil Mutter nicht will, dass ich rauche, obwohl sie selbst qualmt wie ein Schlot. Als ich zurückkomme, hält ein kleiner Land Rover vor dem Hotel, den ich schon einmal gesehen habe. Victor! Er sitzt mit Vater auf der Veranda.

»Hey, Victor.«

»Samantha. Wie geht’s?«

»Gut«, antworte ich lächelnd.

»Wir haben hier noch etwas zu besprechen«, erklärt Vater.

»Okay.« Ich gehe hinüber zur Werkstatt, wo Alison sich mit Mick darüber unterhält, wie man das Baobab Hotel zu einem festen Ort für Gruppenreisen machen kann.

»Vater hat Besuch«, sagt Alison.

»Ja, hab ich gesehen. Ich hab ihm guten Tag gesagt.«

»Was meinst du, was haben Vater und Victor vor?«

»Keine Ahnung.«

»Glücksritter«, wirft Mick ein. Alison lacht.

»Was meinst du?«

»Noch ein weißer Mann, der in Afrika nach einer Abkürzung zu Glück, Abenteuer und Reichtum sucht. Aber leicht muss es sein, arbeiten will er dafür nicht.«

»Dann ist er genauso wie wir«, erwidert Alison.

»Ja«, sagt Mick. »Aber wir wissen, dass es nicht möglich ist. Wir arbeiten.«

»Aber wir überanstrengen uns nicht«, entgegnet Alison.

»Das wird noch kommen«, meint Mick und sieht mich an.

»Was?« Ich überlege, ob Victor hier übernachten wird. Bekommt er einen Bungalow? Ich könnte mich nachts zu ihm schleichen. Aber das wage ich ja doch nicht, das weiß ich genau.

»Bald Zeit für einen Sundowner«, sagt Alison. Mick wischt sich die Hände an einem Lappen ab. Ich gehe hinaus. Victor packt irgendwelche Sachen hinten in seinen Land Rover. Vater ist nirgendwo zu sehen. Ich gehe zu Victor.

»Musst du schon wieder los?«

»Ja, leider. Aber es könnte ja sein, dass ich dich mal wieder in Moshi besuche.«

»Könnte schon sein.«

»Ich schick dir ein Telegramm, bevor ich komme. Und schreibe dir, wo ich wohne.«

»Und dann musst du abwarten, ob ich auftauche.«

»Ich glaube, das wirst du«, sagt er, als Alison und Mick aus der Werkstatt kommen.

»Hey«, verabschiede ich mich und gehe auf die beiden zu – aber langsam, denn meine Wangen brennen. Sie bleiben stehen und warten auf mich. Ich schlucke.

»Was hat er gesagt?«, erkundigt sich Alison.

»Er hat mich gefragt, ob ich wüsste, wo man hier Zigaretten kaufen kann.«

»Tsk«, schnalzt Mick. »Kann der Mann nicht mal Zigaretten finden?«

Alison grinst und versetzt Mick einen Stoß, der mit »was ist?« reagiert.

»Ein bisschen muffig?«, fragt sie.

»Ich bin nur diese ganzen Freibeuter, blinden Passagiere und Scheißtouristen leid«, erklärt Mick und wendet sich der Veranda und dem Sundowner zu – der täglichen Gin-Tonic-Infusion.

Internal Revenue Service

Ich komme zum Mittagessen. Ein dicker Schwarzer im Anzug sitzt mit Alison auf der Veranda und trinkt Bier. Meine Shorts und das T-Shirt sind voller Ölflecken. Alison wirft mir einen warnenden Blick zu.

»Shikamoo Mzee«, grüße ich höflich. Alison stellt mich vor, erklärt, der Mann sei vom IRS, Internal Revenue Service, dem Finanzamt. Ich zeige meine Hände und sage, dass ich ihm besser nicht die Hand gebe.

»Ahh, Ihre kleine Schwester ist Mechanikerin«, grinst der Mann. Auf dem Tisch liegen die Rechnungsbücher des Hotels, ungeöffnet.

»Bring uns noch etwas Bier«, bittet Alison. Ich laufe in die Küche und wasche mir die Hände, trage das Bier hinaus, öffne es, schenke ein und gehe wieder.

»Leider gibt es momentan ein paar Probleme mit dem Hotel«, erklärt Alison dem Mann.

»Wir haben alle unsere Probleme«, entgegnet der. In Tansania wird die Steuer bei einem halbjährlichen Besuch des IRS-Manns festgelegt; einer der besten Jobs, die es gibt. Kurz darauf sehe ich, wie der Mann sich in sein Auto setzt und fährt. Alison sitzt noch immer auf der Veranda.

»Alison?«, rufe ich. Keine Reaktion. Ich gehe zu ihr. Sie sitzt wie versteinert auf dem Stuhl.

»Vater schuldet eine wahnsinnige Summe«, sagt sie.

»Wie viel?«

»Sie können das Hotel konfiszieren.«

»Werden sie es tun?« Alison seufzt.

»Vielleicht. Ich habe den Kerl jetzt geschmiert, damit er vier Monate Ruhe gibt, dann wollen wir uns wieder unterhalten. Aber … ich weiß nicht, wie Vater sich das eigentlich vorstellt.« Sie schüttelt den Kopf.

Wir reparieren die letzten Außenbordmotoren. Mick isst eine Unmenge, und er trinkt viel Bier, allmählich wird er wieder runder. Ich klopfe abends nicht an seine Tür, und er klopft auch nicht bei mir. Ich weiß nicht, warum. Er spricht nicht darüber.

»Was ist mit Mick?«, erkundigt sich Alison.

»Was soll sein?«

»Er zieht nach Dar«, sagt sie und hebt die Augenbrauen.

»Ja, aber ich will ihn nicht.«

»Wieso nicht?«

»Na ja, er arbeitet für seine Mutter. Und jetzt arbeitet er für eine Baufirma. Außerdem ist er … schwabbelig.«

»Na und?«, erwidert Alison. »Ich arbeite für meinen Vater und habe kleine Titten.«

»Na ja … er hat kein richtiges Interesse an mir.«

»Da bin ich aber anderer Ansicht. Allerdings zeigst du ihm nicht, dass es dir gefällt – also lässt er dich in Ruhe. Er ist ein prima Kerl.«

»Hör schon auf, Alison. Was ist bloß mit euch los? Bin ich eine Kuh, die verkauft werden muss, oder was?«

Lichtmaschine

Ich winke Alison, als Mick den Beach Buggy auf die Straße lenkt, Richtung Moshi und Schule. Alison hat uns Sandwichs geschmiert, wir haben Wasserflaschen dabei. Wir reden nicht miteinander, rumpeln nur über die Lehmpiste; Mick konzentriert sich darauf, den schlimmsten Schlaglöchern auszuweichen. Am späten Nachmittag halten wir im Schatten eines Baums, essen die Sandwichs, rauchen.

»Ich will nicht in die Schule.«

»Ist doch nur noch ein Jahr, Samantha.«

»Es ist Folter.«

Mick wirft seine Zigarette auf den Boden, tritt die Glut aus.

»Lass uns fahren«, sagt er, und wir steigen ein. Mick dreht den Zündschlüssel. Keine Reaktion.

»Was zum Henker?« Er versucht es noch einmal. Nichts. Steigt aus, geht zum Motor.

»Sag jetzt nicht, dass der Scheiß kaputt ist«, sage ich.

»Bleib ruhig, Samantha.« Er fummelt mit einem Schraubenzieher am Motor herum. Ich rauche, ohne ein Wort zu sagen, wedele Insekten weg.

»Fuck!«

»Was ist?«

»Die Lichtmaschine ist im Eimer.«

»Die Lichtmaschine?«

»Ja, das Lichtmaschinen-System. Die Batterie lädt sich nicht mehr auf, wenn wir fahren.«

»Und was bedeutet das?«

»Dass wir nicht fahren können.«

»Scheiße, Mick.«

»Was ist?«

»Wieso funktioniert dein Auto nicht einfach so, wie es sich gehört?«

Er sieht mich an. »Weil das hier Afrika ist!«

»Jesus!«

»Wir müssen per Anhalter nach Moshi fahren«, erklärt Mick und schaut über die Straße, auf der wir gekommen sind. Es ist Sonntag, hier gibt es keinen Verkehr.

»Wenn ein Bus kommt, kannst du ihn nehmen«, sagt er.

Aber es kommt kein Bus. Ein paar Jungen tauchen auf und starren uns an. Mick erklärt ihnen, dass das Auto kaputt gegangen ist. Sie fragen nach Süßigkeiten. Wir haben keine Süßigkeiten. Sie fragen nach Geld. Mick fordert sie auf zu verschwinden. Nach einer Weile taucht ein schwer beladener Pick-up aus dem Hitzedunst auf und schlängelt sich langsam auf uns zu. Wir winken, der Mann hält.

»Leider«, sagt er. »Ich kann euch nicht abschleppen. Ich hab schon viel zu viel geladen.«

»Tja, das sehe ich«, antwortet Mick.

»Wo fahren Sie hin?«, erkundige ich mich.

»Nach Himo.«

»Könnte ich mitfahren?«

»Ja«, sagt der Mann.

»Nein«, sagt Mick.

»Warum nicht?«

»So ist das einfach.«

»Wieso?«, frage ich ihn noch einmal. Mick wendet sich an den Mann im Pick-up. »Danke, dass Sie gehalten haben. Gute Fahrt.« Der Mann fährt weiter.

»Wieso konnte ich nicht mit ihm fahren?«

»Weil ich gesagt habe, ich liefere dich in der Schule ab.«

»Aber ich hätte von Himo ein matatu nehmen können.«

»In einer Stunde wird es dunkel, und du bist das einzige weiße Mädchen in der Umgebung, nein.«

»Ich komm schon zurecht.«

»Und wenn nicht, dann trage ich die Verantwortung.«

»Du bist nicht für mich verantwortlich.«

»Im Augenblick schon«, erwidert er. Ich setze mich auf den Beifahrersitz des Buggys. Die Dämmerung zieht auf. Mick beobachtet die Straße. »Wo sind die Zigaretten?«, fragt er.

»Ich rede nicht mit dir.«

»Hör auf, dich wie eine Rotzgöre zu benehmen.« Ein Zug nähert sich langsam auf den Schienen, die parallel zur Straße verlaufen, der Schornstein der Lokomotive stößt Dampfwolken aus. Hirten treiben ihre Herden durch die Buschlandschaft, sie wollen vor Einbruch der Nacht in ihren Dörfern sein. Allmählich wird es dunkler.

»Ich habe Durst«, sage ich. Die Wasserflaschen sind leer, wir haben nichts mehr zu essen, und bald ist es dunkel und kalt. Mick lacht.

»Was ist?«, frage ich.

»Du lässt dich vom Kopf bis zum Arsch bedienen, aber sobald dir auch nur ein kleiner Stein im Weg liegt, fängst du an, dich zu beschweren – das ist schon fantastisch, Samantha.«

»Tsk.« Eine halbe Stunde vergeht, es ist beinahe dunkel.

»Ein Lastwagen«, sagt Mick. Ich blicke auf. Er nähert sich. »Der ist leer«, sagt Mick.

»Woher weißt du das?«

»Das Motorengeräusch.« Er wedelt mit den Armen. Der Lastwagen hält. Mick stellt sich vor. Der Fahrer heißt Yasir. Er fährt nach Moshi. Sein junger Helfer Quasim springt heraus und legt ein paar lange Planken von der Ladefläche auf die Erde. Gemeinsam schieben wir den Buggy hinauf. Wir sitzen mit ihnen im Fahrerhäuschen und fahren durch die Dunkelheit.

»Was ein Glück, dass ihr gekommen seid«, sagt Mick.

»Ja«, antwortet Yasir. »Morgen wärt ihr nur noch Knochen.«

Alle drei lachen. Ich zünde mir eine Zigarette an. Was gibt’s da zu lachen?

Der Buggy wird im Zentrum bei Chuni Motors abgeladen. Ich greife nach meiner Tasche.

»Mick. Danke für die Fahrt.«

»Schon gut.«

Ich nehme ein Taxi zur Schule.

Halima

Zurück in der Hölle. Zehnte Klasse. Die Tage schleppen sich dahin, die Wochen kriechen auf dem Boden. Die Monate sind unendlich.

Alison ruft an.

»Mutter ist fort.«

»Wohin?«

»Nach Hause«, sagt Alison.

»Was heißt nach Hause? Ins Haus nach Dar?«

»Nein, nach England. Sie ist nach England geflogen.«

»Und warum?«

»Tja, Vater hat …«, fängt Alison an. Ich unterbreche sie: »Sie hat nicht mal angerufen.«

»Die Telefone haben nicht funktioniert.«

»Hätte doch sein können, dass ich mit wollte«, sage ich.

»Du hast doch gesagt, du willst nicht nach England.«

»Könnte ja sein, dass ich meine Meinung geändert habe.«

»Samantha.«

»Ja.«

»Sie hat mitgekriegt, dass Vater mit Halima zusammen war, die neue …«

»Ich weiß, wer sie ist.«

»Sie … haben’s in einem der Bungalows getrieben. Mutter hat sofort gepackt und ist aufgebrochen.«

»Und wie hat der Alte reagiert?«

»Er hat gesagt, Reisende soll man nicht aufhalten.«

»Und du?«

»Ich habe Halima gefeuert.«

»Und was willst du jetzt machen?

»Ich bleibe in jedem Fall hier, bis du in den Weihnachtsferien kommst.«

»Aber es sind noch drei Monate bis Weihnachten. Wo ist der Alte jetzt?«

»Keine Ahnung. In Dar vielleicht.«

»Was ist mit der Semesterhälfte? Wie haben eine Woche frei. Du könntest in die Mountain Lodge kommen. Hast du nicht Lust?«

»Ich habe nichts zum Fahren«, erwidert Alison.

»Du kannst den Bus nehmen.«

»Ich muss mich ums Hotel kümmern.«

Wellen

Ich will weder Tazim fragen noch in der Lodge anrufen und Sofie bitten. Es wirkt so erbärmlich, aber ich habe einfach keine Lust, bei irgendjemandem zu wohnen, ich will Alison sehen. Nur dauert es noch ein paar Wochen bis zur Semesterhälfte, und ich halte diese Schule einfach nicht mehr aus. Ich klaue eine von Truddis Levis-Jeans, verkaufe sie einem Taxifahrer in der Stadt und fahre das Wochenende allein ins Hotel Tanzanite. Mutter hat mir glücklicherweise eine schriftliche Genehmigung gegeben, dass ich die Schule an den Wochenenden verlassen darf.

Angela ist nicht im Arusha Game Sanctuary, sondern bei irgendwelchen Deutschen in Lushoto … ich bin ganz allein. Als Freitagabend die letzten Touristen verschwunden sind, verlasse ich mein Zimmer und gehe schwimmen. Danach lese ich auf dem Zimmer einen Harold-Robbins-Roman voller Gewalt, Sex, Drogen, Liebe und Verrat.

Am nächsten Tag fahre ich nach Arusha und laufe in der Stadt herum. Ich gehe zu den Strand-Brüdern, die am Wochenende zu Hause wohnen. Der ältere, Emerson, möchte, dass ich bis Sonntag bleibe, aber ich weiß, was er will, und das will ich nicht. Ich nehme einen Bus und will gerade aussteigen, um zur Mountain Lodge zu laufen, doch dann überkommt mich das Gefühl, dort wie ein Bettler zu erscheinen. Ich bleibe im Bus sitzen und steige am Hotel Tanzanite aus. Esse Hühnchen mit Fritten, nehme ein Bad, rauche Zigaretten, trinke Gin und warte auf die Dunkelheit.

Endlich haben die Touristen den Pool verlassen, ich springe hinein. Schwimme auf dem Rücken, kraule, ziehe Bahnen unter Wasser, wo es total dunkel ist – das einzige Licht kommt von den Lampen über den Eingangstüren des Umkleideraums. Ich tauche am flachen Ende wieder auf, hole Luft und sehe eine Männergestalt, die das Sprungbrett betritt, einmal aufspringt und ins Wasser klatscht. Dann ist er verschwunden. Wer war das? Wo ist er? Ich fasse an den Beckenrand hinter mir und ziehe mich hoch, als jemand nach meinen Waden greift und mich hinunterzieht. Ich schreie, als ein Körper direkt vor mir auftaucht.

»Samantha«, sagt die Stimme. Victor! Ich umarme ihn, presse mich an seinen Körper.

»Ich habe dermaßen Angst bekommen«, sage ich, schlinge meine Beine um ihn, greife nach seinem Nacken, küsse ihn fest, zittere. Seine Hände liegen unter Wasser auf mir, er fasst um meine Hinterbacken, drückt meine Schenkel.

»Du bist hübsch, Samantha. Ich habe dich vermisst.« Victor lässt seinen Daumen über meine Brustwarzen gleiten und sendet heiße Blitze in meinen Brustkasten. Ich spüre sein Geschlechtsteil unter Wasser an mir; er ist hart.

»Was spüre ich denn da, Herr Victor«, sage ich und führe meine Hand in seine Badehose, packe seinen Schwanz und drücke sanft zu. Ein Geräusch entfährt seinem Hals. »Ich habe ein Zimmer«, sage ich.

»Ja.« Wir gehen hin. Große Wellen brechen sich an der Küste, die Erde bebt, und das Wasser schäumt zwischen den Felsen, um sich dann mit neuer Kraft zu sammeln und über das Land zu stürzen.

Victor liegt auf dem Rücken. Ich habe ein Bein über ihn gelegt und fühle mich cool – so wie ich mit ihm umgegangen bin, als hätte ich wirklich gewusst, was ich tue. Wir rauchen. Er wendet mir den Kopf zu und lächelt.

»Mir ging’s noch nie so gut wie in diesem Moment«, sagt er.

Ich lächele. »So geht’s mir auch.«

»Ich muss dir etwas sagen.«

»Ja.«

»Dein Vater kommt morgen.« Ich lache. Er lacht.

»Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.«

»Ganz genau«, erwidert Victor, dreht sich um und beißt mich ins Ohrläppchen.

Tollwut

»Hey, Vater!«, rufe ich ihm vom Liegestuhl am Swimmingpool zu. Er dreht sich zu mir um.

»Samantha? Was machst du denn hier.«

»Ich verbringe das Wochenende hier, muss aber schon bald mit dem Bus wieder zurück.«

»Hast du Victor gesehen?« Vater setzt sich auf den Liegestuhl neben mir.

»Ja, er ist gestern gekommen. Er wohnt im Arusha Game Sanctuary.«

»Okay.«

»Wollen wir heute Abend zusammen essen?«

»Nicht heute«, antwortet Vater. »Wir haben eine Besprechung.«

»Aber ich muss wieder in die Schule.«

»Ich kann heute Abend nicht. Es ist ein wichtiges Treffen.«

»Na dann.«

»Tja, leider«, sagt er und steht auf. »Ich muss sofort los.«

»Tschüss«, verabschiede ich ihn.

Der Nachmittag schleppt sich dahin. Ich packe erst, als es höchste Zeit ist, sich auf den Weg zu machen, um noch einen Bus nach Moshi zu erreichen, bevor es dunkel wird. Ich schmeiße meine Sachen in die Tasche.

»Samantha?«, höre ich draußen jemanden rufen. Vater. Ich öffne. Hinter ihm steht Victor. »Hey, Samantha.«

»Vater, Victor. Was macht ihr hier?«

»Ich bin gekommen, um meine Tochter zu sehen«, erklärt Vater lächelnd; wie mir scheint, ein wenig verlegen.

»Aber ich muss nach Moshi.«

»Ja, ja, ich fahre dich. Wir können in Moshi noch zusammen essen.«

»Fährst du mit, Victor?«

»Nein«, antwortet er. »Ich muss aufs Land. Ich wollte mich nur vergewissern, dass der alte Mann daran denkt, seine Tochter zu besuchen.« Ich muss lachen.

»Ja, ja«, seufzt Vater. »Nicht leicht, für alles Zeit zu finden.«

Victor verabschiedet sich, und Vater geht an die Bar, bis ich fertig gepackt habe. Wir fahren im Land Rover. Glücklicherweise macht der Wagen einen derartigen Lärm, dass es unmöglich ist, sich auf der einstündigen Fahrt nach Moshi zu unterhalten.

»Wo wollen wir essen?«, schreit Vater, als wir den Arusha-Kreisel am Rand von Moshi erreichen.

»New Castle Hotel, die haben eine Dachterrasse!«, schreie ich zurück und zeige ihm den Weg. Wir gehen hinauf und bestellen etwas zu essen und Bier.

»Du musst erst noch lernen, wie man es trinkt«, zieht Vater mich mit einem Lächeln auf.

»Ich weiß schon, wie man trinkt«, erwidere ich. Es fällt kein weiteres Wort. Worüber sollen wir reden, bis das Essen kommt? Über Halima? Oder Mutter?

»Alison schmeißt das Hotel ziemlich gut«, beginnt Vater und erzählt mir von diversen Änderungen und Verbesserungen. Ganz offensichtlich vermeidet er jede Andeutung, dass Mutter diese Dinge längst hätte in Angriff nehmen sollen. Glücklicherweise werden endlich die Hähnchen und die Fritten mit Vinegar serviert. Wir essen und trinken hastig. Vater bietet mir eine Zigarette an, gibt mir Feuer. Wir rauchen.

»Ich muss sehen, dass ich zur Schule komme, bevor es zu spät wird«, sage ich. Vater nickt und zahlt. Abgang. Wir fahren die Lema Road hinunter. Wildes Hundegebell schallt durch die Nacht, es kommt näher. Vater sieht sich um. Ich beuge mich hinüber und schaue an seiner Seite hinaus: Vier Hunde kommen bellend den Wagen entlanggelaufen.

»Hunde!«, rufe ich. »Das Fenster!« Vaters rechter Ellenbogen ruht auf dem Türrahmen, das Seitenfenster ist ganz heruntergedreht. Ich schreie, als Vater den Ellenbogen zurückzieht, gleichzeitig ertönt ein dumpfer Schlag – der erste Hund springt hoch und prallt gegen die Tür, die Kiefer schnappen durch das offene Autofenster. Gebleckte Zähne, Schaum an den Lefzen. Vater greift in seine Kaki-Jacke, zieht die Pistole aus dem Schulterhalfter und bremst. Als der Hund wieder hochspringt, schießt er ihm ins Maul. Der Hinterkopf explodiert, Blut, Knochen, Hirnmasse. Hastig drehe ich mein Fenster hoch, während er noch zwei weitere Schüsse abfeuert, flucht, einen Gang einlegt und sein Fenster hochkurbelt. Eine Hundeschnauze knallt an das Seitenfenster neben mir, hinterlässt eine Spur von Geifer und Schaum.

»Tollwut«, sagt Vater, tritt aufs Gaspedal und versucht, einen vor dem Auto stehenden Hund zu überfahren. Der springt auf die Kühlerhaube. Ein räudiger Köter mit wahnsinnigen Augen. Wieder bremst Vater, sieht in die Seitenspiegel.

»Nein!«, schreie ich, aber er ist bereits halb aus dem Auto. Pumpt den Hund voll Blei. Steigt wieder ein, tritt aufs Gas. Er hupt, bevor wir das Schultor erreichen. Der Wachmann öffnet uns, wir halten auf dem Parkplatz, auf dem Owen steht und sich unruhig mit Ebenezer und einer anderen Nachtwache umsieht. Sie haben die Schüsse gehört.

»Was ist passiert?«, erkundigt sich Owen. Ich berichte, während Vater sich eine Zigarette anzündet und flucht.

»Und wer hat geschossen?«

»Ich«, erklärt Vater. »Drei von ihnen hat’s erwischt.«

»Nun ja, gut, dass wir uns sehen; ich würde mich gern mal mit Ihnen unterhalten«, sagt Owen zu Vater. Er schaut Owen an, dann mich und schließlich wieder Owen.

»Geht es um sie?«

»Ja, also Samantha ist … es geht, aber sie schwänzt häufig und ist recht unruhig.«

»Das sollte nicht sein«, erwidert Vater.

»Nein, und wir sehen uns letzten Endes gezwungen, die disziplinarischen Möglichkeiten anzuwenden, die wir …«

Vater unterbricht ihn.

»Aber Sie sollten verdammt noch mal auch dafür sorgen, dass in einem Gebiet, in dem die Tollwut ausgebrochen ist, keine Schüler herumlaufen. Es mag ja sein, dass Samantha sich zusammenreißen muss, das muss sie sogar ganz bestimmt. Aber Sie ebenfalls!«

Vater starrt Owen an; es ist gleichzeitig peinlich und herrlich.

»Die Behörden haben bereits …«, beginnt Owen und wird wieder unterbrochen.

»Die Behörden? Die tansanischen Behörden? Sind Sie verrückt geworden?« Vater wendet sich von Owen ab, kommt zu mir, umarmt mich und sagt: »Benimm dich, Samantha.« Dann sucht er in seinen Taschen und reicht mir ein Päckchen Zigaretten. »Rauch lieber die.« Springt in den Wagen, hupt, fährt ab. Ich bin schon auf dem Weg zum Kiongozi; ich kann geradezu spüren, wie Owen in seinem Kopf nach irgendeiner Rechtfertigung sucht, die seine Demütigung wiedergutmacht. Es kommt nichts. Ich gehe weiter.

Dann kommt’s.

»Hast du eine Raucherlaubnis, Samantha?«

»Gute Nacht«, rufe ich zurück und gehe weiter. Er hält den Mund.

Dienst an der Gesellschaft

»Wir sind privilegiert. Wir bekommen jedwede Ausbildung und alle Möglichkeiten im Leben, daher schulden wir es der Welt, und vor allem unserer unmittelbaren Umgebung, dass wir etwas davon zurückgeben. Wir haben die Stärke und Kraft dazu. Ihr verlasst diese Schule als Weltbürger und könnt euren Weg im Leben frei wählen. Unsere Nachbarn haben diese Möglichkeiten nicht.«

Owen findet einfach kein Ende. Will er sich selbst überzeugen? Er steht vor uns in der Karibu Hall und quatscht uns die Ohren voll, dass wir am Dienst an der Gesellschaft teilnehmen sollen. Wir sind kein Teil dieser Gesellschaft – außer Jarno vielleicht, den mit der übrigen Kundschaft von Mama Mbege ein gemeinsames Interesse verbindet.

»Es ist unsere Pflicht. Wir schulden den Einheimischen, die uns so gut aufgenommen haben, einen Beitrag, obwohl sie keinen Zugang zu den Möglichkeiten haben, die uns offenstehen.«

Man muss eine bestimmte Anzahl von Stunden als Dienst an der Gesellschaft ableisten, um das endgültige Examen in der zwölften Klasse bestehen zu können. Aber man kann bereits in der neunten Klasse anfangen, Stunden zu sammeln, damit es in den letzten beiden Jahren, in denen man unglaublich viel lernen muss, nicht zu Problemen kommt. Aber der Dienst an der Gesellschaft hat nur einen Sinn, wenn man bis zum bitteren Ende an der Schule bleibt. Halte ich es noch zwei Jahre nach der zehnten Klasse aus? Die anderen in meiner Klasse wollen den Dienst antreten, denn natürlich ist das auch eine Möglichkeit, mit den älteren Schülern herumzuhängen.

Wir können mit Kindern im Kinderheim spielen. Wir können helfen, eine Schule in Mama Mbeges Dorf zu bauen, oder eine neue Brücke über den Karanga River gleich neben der Schule, damit die Frauen westlich des Flusses nicht bis zur alten Karanga Bridge gehen müssen, wenn sie mit ihren Waren zum Markt von Moshi wollen. Es hatte mal eine Brücke gegeben, aber die war zu tief angelegt und wurde allmählich von den Wassermassen weggespült, als der Fluss in der Regenzeit anschwoll.

Nur solcher Mist. Wir sollen die Welt retten und fahren dabei erster Klasse. Sind wir gute Menschen, wenn wir diese Brücke bauen? Blödsinn.

Ich suche Christian, aber er ist nicht da. Krank. Die ganze Woche. Jedenfalls ist er nicht in der Schule. Ich finde Panos.

»Meine Mutter ist nach England geflogen, weil mein Vater die Kellnerinnen des Hotels fickt.«

»Tsk.«

Speak-easy

Sonntagnachmittag gehe ich zu Mboyas duka.

»Ich würd gern ein Bier im Garten trinken.«

»Manchmal kontrollieren die Lehrer den Garten«, erwidert Mboya.

»Lässt du sie denn in den Garten?«

»Nein, ich sage, das ist Privatgelände. Aber manchmal stellen sie sich an die Straße, dann sehe ich sie nicht und kann dich nicht warnen.«

»Ich nehme einfach einen Schleichweg, wenn ich gehe«, sage ich und lege Geld auf den Tresen. »Gib mir ein Bier.« Ich gehe durch den Laden in seinen Garten und setze mich an einen Tisch im Schatten. Von der Straße aus kann man nicht in den Garten sehen, denn Mboya hat einen hohen Zaun hinter die Hecke gezogen. Und es gibt einen heimlichen Hinterausgang durch ein Loch in der Hecke. Er führt in den Garten eines Hauses an der Parallelstraße. Mboya warnt uns, wenn ein Lehrer kommt – dann muss man leise sein.

Einer seiner Töchter kommt mit meinem Bier und einem Glas. Ich zünde eine Zigarette an, putze meine Sonnenbrille, höre dem schnarrenden High-Life aus Mboyas Transistorradio zu und fühle mich fast wie ein Mensch.

Als ich zum Kiongozi zurückkomme, packt Minna mich am Arm und schnüffelt an meinem Mund.

Durchhaltebier

Montagnachmittag besuche ich Christian, um die Wartezeit totzuschlagen.

»Ich bin beim Trinken erwischt worden.«

»Wann?«

»Gestern«, sage ich.

»Haben sie dich rausgeschmissen?«

»Heute Nachmittag ist eine Sitzung. Ich bekomme morgen Bescheid.«

»Und, was glaubst du?«

Ich lächle.

»Erst haben sie mich hinter dem Kiosk erwischt. Dann habe ich Minna ein despotisches Luder aus der Hölle genannt und Truddi eine schallende Ohrfeige verpasst. Ich glaube, ich werde fliegen.«

»Ganz raus?«, fragt Christian nach.

Ich zucke die Achseln. »Gibst du ein Durchhaltebier aus?«

»Aber nur mit Cola verlängert. Mein Vater kommt gleich nach Hause.«

»Ist schon okay.«

»Aber er muss zu der Sitzung in die Schule.«

»Sitzt er noch immer im Verwaltungsrat?«

»Ja.«

»Du hast ihm sicher einen etwas zwielichtigen Ruf verschafft.« Wir trinken unser Colabier, rauchen. Ein Auto hält vor dem Haus. Christians Vater kommt herein.

»Hey, Samantha.«

»Hey, Mzee«, erwidere ich. Er lächelt und sagt irgendetwas auf Dänisch zu Christian. Dann hebt er die Augenbrauen und sieht von Christian zu mir. »Bis bald.«

»Ja, tschüss.« Ich schaue Christian an.

»Er wusste nicht, um wen es bei der Sitzung geht«, erklärt er.

»Solange ich sein Bier trinken kann, ist es okay«, sage ich und nehme mir noch eine von Christians Zigaretten. Als Ergebnis der Sitzung bekomme ich einen vierzehntägigen Schulverweis; diese Woche sowie die Woche nach den kurzen Ferien zur Semesterhälfte – insgesamt drei Wochen ohne Schule. Der Verweis macht es allerdings nicht einfacher, dem Stoff bis zum Examen im nächsten Jahr zu folgen.

Inschallah

»Ist deine Mutter auch verreist?«, will Owen wissen, als er mir das Geld für den Bus gibt, wie er es telefonisch mit Alison besprochen hat.

»Nein.« Streng genommen ist das sogar die Wahrheit. Sie ist in England, nicht verreist. Aber das geht ihn nichts an. Owen hat natürlich Angst, dass ich in Tanga allein bin und meine Zeit nur mit saufen, rauchen, Sex und dem ganzen Wahnsinn verbringe.

»Ist die ganze Familie in Tanga?«

»Alison ist da. Und möglicherweise mein Vater. Wir wollen uns bloß entspannen, ein bisschen tauchen, Wasserski fahren und fischen.«

»Du solltest deine Nase auch in die Schulbücher stecken. Sonst verpasst du zu viel.«

»Ich werd sehen, was sich machen lässt.«

»Gib auf dich acht«, sagt er.

»Hey.« Ich gehe zum Pick-up der Schule, der mich zur Busstation fährt. Die lange Tour bis Tanga. Unerträglich.

Ich kämpfe mich rechtzeitig durch den Mittelgang und steige an einem kleinen Marktplatz am Rand von Tanga aus. Die Taxifahrer sprechen mich an, ich ignoriere sie. Bleibe einfach stehen und spüre die Luft. Ich bin wieder ich selbst, allerdings stinke ich. Ich schaue auf die Uhr. Dreihundertfünfzig Kilometer in sieben Stunden – nicht schlecht in einem Bus. Ich gehe zu einem Kiosk und kaufe mir eine Fanta.

»Baridi«, fragt das Mädchen, soll sie kalt sein?

»Ja.« Jedes Mal wird diese Frage gestellt, auch beim Bier. Viele Einheimische trinken Bier und Limonade lauwarm, weil sie das mbege gewohnt sind, das immer lauwarm serviert wird. Es ist auch eine Frage der Gesundheit. Zehn kalte halbe Liter Bier schlagen dir bei der Hitze auf den Magen, du fängst an zu schwitzen und dehydrierst. Dasselbe passiert bei Limonade. Brühend heißer Tee ist das Beste in der Hitze.

Gierig trinke ich die Fanta. Rauche eine Zigarette. Die jungen Taxifahrer hupen und winken mich zu sich. Ich schüttele den Kopf, ich bin nicht versessen auf ihre todesmutigen Fahrkünste auf der Lehmpiste zum Hotel. Ich gehe zu dem ältesten Fahrer am Halteplatz, einem alten Muslim, beinahe ein Vollblutaraber. Ich habe ihn schon oft gesehen, er ist eine Art Taxifahrerlegende. Er fährt gut und sicher und kümmert sich um sein Auto. Er kennt jede Ecke und kann wahrscheinlich von seinem Fahrzeug leben; den meisten Fahrern gehören die Wagen nicht, in denen sie fahren. Sie leihen die Autos zu einem festen Tagessatz und müssen sie den Besitzern mit gefülltem Tank zurückbringen. Die Fahrer behalten den Überschuss, wenn sie denn Überschuss erwirtschaften.

Ich grüße freundlich.

»Wollen Sie im Hotel Urlaub machen?«, erkundigt er sich.

»Es ist mein Zuhause. Ich komme von der internationalen Schule in Moshi, wir haben Ferien.«

»Ah, ja, jetzt erinnere ich mich an Sie. Sie sind die Tochter von bwana Douglas. Sie sind beinahe eine erwachsene Dame.« Der Mann lächelt. Ich steige ein.

»Tja«, beginne ich ein Gespräch. »Wie geht’s Ihren Kindern? Wohnen sie in der Nähe?« Er ist so alt, dass er seine Kinder bald brauchen wird.

»Ja, zwei Töchter. Sie wohnen in der Nähe von Doda, wo ich mit meiner Frau lebe.« Doda liegt an der Küste, nördlich von Tanga.

»Und geht’s ihnen gut?«

»Es geht«, erwidert er. »Aber es ist sehr schwer, wenn der Mann nur Fischer ist. Nicht viel Geld.«

»Haben Sie Söhne?«

»Ja. Shirazi, mein Ältester. Er ist nach Zaire gefahren, um sein Glück zu finden.«

»Zaire? Das ist weit weg. Was macht er da?«

Der Mann lacht.

»Nein, nicht das Zaire von Mobuto Sese Seko. Mein Sohn ist im Minengebiet beim Merani Township, wo nach Tansanit gegraben wird. Das ist in der Nähe von Moshi, oder? Am großen Flughafen.«

»Ja, das ist nicht so weit. Ist er Minenarbeiter?«

»Ja, eine sehr harte Arbeit. Eine schwere Arbeit unter der Erde. Wir alle hoffen, dass Allahs Lächeln auf ihm ruht.«

»Vielleicht kommt er als reicher Mann nach Hause.«

»Inschallah«, sagt der Fahrer. Wenn das Taxi sein eigener Wagen wäre, würde der Sohn nicht unter der Erde schuften. Der Fahrer verkauft mir drei Päckchen geschmuggelter Zigaretten aus Kenia – besser als die einheimischen.

Eine große Familie

Ich steige vor dem Haupteingang aus, und Alison läuft mir von der Rezeption aus entgegen und umarmt mich.

»Schön, dich zu sehen, schlimme Schwester«, begrüßt sie mich. »Ich muss mich gerade noch um die Gäste aus Deutschland kümmern, sie wollen nach Dar, aber heute Abend essen wir zusammen.«

Ich gehe durch die Hotelküche und begrüße die Angestellten. Trinke eine Limonade an der Bar, die deutschen Männer schauen auf meine Beine. Gehe ins Haus und ziehe mir den Bikini an. Schwimme eine Runde am Strand. Dusche. Esse Hühnchen mit Pommes Frites und liege wie ohnmächtig ein paar Stunden auf meinem Bett. Am Abend kann ich gerade noch zusammen mit Alison essen, bevor der Strom ausfällt. Wir setzen uns mit einer Sturmlaterne auf die Veranda, rauchen und trinken Gin Tonic.

»Willst du noch einen?«, fragt Alison.

»Ja, klar. Sonst stechen mir die Mücken noch in die Birne.«

»Natürlich.«

Es ist Chinin im Tonic, es hält die Mücken fern. Aber man muss sechs Gläser trinken: vier für die Gliedmaßen, eins für den Körper und eins für den Kopf. Wenn man mehr als sechs Gläser trinkt, gilt man als versoffen, hat Mutter immer gesagt. Wir rauchen die kenianischen Schmuggelzigaretten, die von Fischern über die Grenze gebracht werden.

»Ich muss dir was erzählen«, sagt Alison.

»Was denn?«

»Na ja … ich habe dir von Halima erzählt, oder?«

»Der Kellnerin, die Vater gevögelt und du gefeuert hast.«

»Ja. Er hat sie geschwängert.«

»Was?«

»Ja.«

»Woher weiß man, dass es der Alte gewesen ist?«

»Sie hat keinen Grund zu lügen. Man wird es sehen, wenn das Kind da ist. Außerdem hat er sie ständig gebumst, als er das letzte Mal hier war.« Alison sieht mich an. Ich hole tief Luft.

»Um Himmels willen!«

»Tja.«

»Weiß es Mutter?«

»Ja.«

»Ist er … hier mit ihr zusammen gewesen?«

»In einem der leeren Bungalows. Ich habe ihn gefragt. Er sagt, er will sie heiraten.«

»Das ist doch nicht wahr!«

»Ich fürchte schon«, erwidert Alison.

»Ich dachte, ihr hättet vereinbart, dass er sich nicht darum zu kümmern hat, wie das Hotel geführt wird. Ist es nicht ein Bruch der Vereinbarung, wenn er seinen Schwanz in deine Oberkellnerin steckt?«

»Was soll ich denn deiner Meinung nach machen?«

»Keine Ahnung. Zu Frans ziehen, vielleicht?«

»Also, ich will Frans. Aber ich will nicht angekrochen kommen und sagen, ich könnte nirgendwo sonst hin – das ist kein guter Stil. Er bekäme zu viel Macht über die Situation. Und Männer mit Macht … stinken.«

»Also bleibst du?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und wenn er will, dass sie hier wohnt?«

»Sie hat ein kleines Haus in Tanga.«

»Aha. Und ich dachte schon, wir sollten alle eine große Familie werden. Ich habe schon immer von einer Stiefmutter geträumt, die meine große Schwester sein könnte.«

»Hör schon auf, Samantha. Aber was ist mit dir? Gibt’s ein paar nette Jungs auf der Schule?«

»Nein.« Ich erzähle ihr nichts von Victor. Alison würde vollkommen ausflippen. Aber sie hat ja Frans, das ist so einfach. Ich habe niemanden.

Ein Tag der Freude

»Aufstehen.« Alison rüttelt mich wach. »Du musst mir helfen.«

»Ich hab Ferien. Hör auf!«

»Du hast keine Ferien, du bist zeitweilig suspendiert. Komm in die Küche.« Ich spritze mir Wasser ins Gesicht und schlurfe hinaus. Alison ist bereits auf dem Markt gewesen und hat Erdnüsse gekauft, die sie aus der Schale pult. Ich helfe ihr beim Rest. Sie bespritzt die Erdnüsse mit einer Salzwasserlösung und stellt sie in einer Bratpfanne in den Ofen. Dort bleiben sie fünf bis zehn Minuten, dann ist das Salzwasser verdampft und die Erdnüsse sind mit einer feinen Salzschicht überzogen. Ich muss Kokosnüsse in dünne Streifen schneiden, die in der gleichen Weise in den Ofen gestellt werden.

»Lass uns einen Gin Tonic trinken«, schlage ich vor.

»Der ist für die Gäste an der Bar.«

»Deshalb können wir uns doch einen kleinen Drink genehmigen.«

»Jetzt?«, sagt Alison. »Ich will nicht, dass du wie deine Mutter endest.«

»Sie ist auch deine Mutter.«

»Ja. Und ich lege Wert darauf, dass ich das Gegenteil von ihr mache – dann werde ich ein gutes Leben haben.« Sie backt Pfannkuchen und lässt mich den Obstsalat zubereiten. Ich habe keine ruhige Minute.

Vater kommt am späten Nachmittag. Lächelnd steigt er aus dem Land Rover. Wir gehen ihm entgegen.

»Hallo, Mädels!«, ruft er. Keine Gefahr im Verzug, er weiß von nichts, bevor er nicht den Brief der Schule gelesen hat, aber den habe ich verbrannt. Außerdem denke ich, dass der Mann überhaupt keine Ahnung hat, wann ich Ferien habe und wann ich zur Schule gehen müsste.

»Hattest du eine gute Fahrt?«, erkundigt sich Alison.

»Ja, ausgezeichnet«, antwortet er entspannt. Ich kann gerade noch denken, dass …

»Und ihr, geht’s euch gut?«, will er wissen. Alison antwortet: »Ja, alles gut …«

KLATSCH! Blutgeschmack im Mund, Schmerzen, Lichtblitze vor den Augen.

»Du bist eine Idiotin«, zischt Vater leise, als er seine Hand zurückzieht. Ich blinzele rasch mit den Augen, um die Tränen zurückzuhalten.

»Was soll denn das?«, ruft Alison.

»Wegen Trinkens hinausgeschmissen. Das ist wirklich zu blöd.«

»Wo hat sie das wohl gelernt?« Alison hebt die Augenbrauen.

»Es sind nur vierzehn Tage«, sage ich verbissen und schlucke das Blut in meinem Mund.

»Wie kannst du so blöd sein und dich erwischen lassen?«

»Ich bin deine Tochter«, entgegne ich. »Und da du so klug bist, kann ich doch eigentlich gar nicht so blöd sein.«

»Meine guten Gene sind offenbar alle ausgespült worden. Verdünnt von deiner versoffenen Mutter.«

»Ihr hört jetzt auf der Stelle auf, sonst packe ich«, erklärt Alison.

»Ich fahre an der Schule vorbei, um meine jüngste Tochter zu besuchen, und was muss ich hören? Tsk!« Vater spuckt auf die Erde, geht zum Wagen und lädt ab.

Alison sagt nichts; wir zeigen keine Gefühle, wenn er in der Nähe ist. Ich schaue auf den Rücken des Mannes: »Kapierst du nicht, dass ich mich erwischen lassen wollte? Geht das nicht in deinen Schädel?«

Ich gehe, als er antwortet.

»Das wird ein Tag der Freude, wenn ich dich in ein Flugzeug nach England setze.«

Guerilla-Taktik

Am nächsten Morgen ist Vater verschwunden, und Alison geht mit zwei älteren englischen Ehepaaren auf Safari. Eigentlich wollten sie sich Dar und Bagamoyo ansehen, um dann nach Ruaha weiterzureisen, wo Panos’ älterer Bruder mit ihnen auf Safari fahren wird. Im Laufe des Tages kehrt Vater mit seiner Hure zurück, Halima. Sie steigen aus. Vater schaut sich um, und ich stelle fest, dass Halimas Bauch gewölbt ist, aber noch nicht vorsteht; noch kann man nicht sehen, dass ein Same gepflanzt ist. Ich sehe nur Vater an, würdige sie keines Blicks.

»Ich will nicht, dass sie zusammen mit mir hier wohnt.«

Er kommt auf mich zu, schaut mir direkt in die Augen.

»Kein Wort mehr von dir«, sagt er. Ich spüre keine Furcht, denn ich weiß, dass er niemals zuschlägt, wenn man es erwartet. Der Schlag soll wie ein Schock sein – seine Kindererziehung ist von der Guerilla-Taktik inspiriert. Er trägt ihre Taschen und Koffer ins Wohnhaus. Jetzt kann er sie vögeln, wenn es ihm passt.

Ich packe meine Sachen und schleppe sie in einen der Bungalows. Bleibe dem Haus fern. Hole mir in der Hotelküche etwas zu essen.

Als es dunkel wird, kommt ein weiteres Auto. Ich gehe hinaus und gucke um die Ecke. Vater tritt auf die Veranda.

»Victor!«, ruft er. »Willkommen!«

»Du musst Mary begrüßen«, erwidert Victor. Neben ihm sitzt eine rundliche weiße Frau. Ich bekomme einen Kloß im Hals. Wer ist sie? Das kann er doch nicht machen. Aber wir sind ja auch nicht … jedenfalls nicht richtig. Aber wir teilen ein Geheimnis. Das darf nicht verraten werden. Ich fange an zu weinen. Ich liege auf dem Bett und überlege, ob Victor sich nachts aus dem Haus schleichen und an meine Tür klopfen wird. Es dauert lange, bis ich einschlafe.

Am nächsten Morgen klopft es früh an der Tür.

»Ja?«

»Mach die Tür auf«, ruft Vater. Ich krieche aus dem Bett, öffne. Er packt meinen Kiefer mit seiner großen Hand, die so vernarbt ist, dass sie aussieht, als wäre sie in einen Fleischwolf geraten. Früher war ich mal stolz auf seine Hände, aber da wusste ich noch nicht, wozu er sie benutzte.

»Was ist?«, frage ich, als er meinen Kopf dreht, um mir ins Gesicht zu sehen.

»Mein Kompagnon Victor und sein Mädchen Mary wohnen ein paar Tage in dem großen Bungalow. Wenn sie irgendwelche Hilfe brauchen, dann wirst du ihnen helfen.«

»Wobei?«

»Wobei auch immer. Wenn sie fischen oder tauchen wollen, egal. Du benimmst dich, während ich weg bin. Wenn ich nicht wiederkomme, bis du zurück in die Schule musst, dann nimmst du den Bus oder Alison fährt dich, sollte sie zu Hause sein. Ich will von keinerlei Ärger hören, hast du verstanden?«

»Ja.«

»Was?«

»Okay.«

»Was sagst du?«

»Okay, Vater. Ich werde mich anständig benehmen.«

»Gut.« Er lässt mein Kinn los, wühlt in seiner Tasche und gibt mir ein Bündel Geldscheine, das von einem Gummiband zusammengehalten wird.

»Mach’s gut, Schatz«, sagt er und umarmt mich hastig.

»Gute Fahrt!«, rufe ich ihm nach, als er zu seinem Land Rover geht und fährt.

Pub-Hure

Ich gehe in die Hotelküche und mache mir Frühstück. Ich esse im Stehen. Zünde eine Zigarette an. Laufe zum Bootshaus, öffne das Vorhängeschloss, entferne die Kette und löse die Vertäuung des besten Speedboots. Es ist fast Ebbe, so dass ich das Boot schnell aus dem Schuppen staken kann.

»Darf ich mitkommen?«, fragt eine Stimme. Ich drehe mich um. Victor. Ich schlucke, was soll ich sagen?

»Glaubst du nicht, dass … dass du bei deiner Freundin bleiben solltest?«

Ein breites Lächeln zeigt sich auf seinem Gesicht.

»Sie ist nicht meine Freundin, Samantha. Sie ist nur ein Mädchen, das ich aus England kenne. Sie ist zu Besuch. Das hat nichts mit uns zu tun. Willst du tauchen?« Soll ich das Thema vertiefen? Wie denn?

»Nur mit Schnorchel und Flossen. Und der Harpune.«

»Darf ich mitkommen?«

»Okay. Vielleicht will deine Bekannte auch mit?«

»Ich glaube nicht«, erwidert Victor.

»Ich frag sie«, sage ich und gehe zum Hotel, denn ich will nicht, dass er die Situation dominiert.

»Okay«, lacht Victor – ein bisschen angestrengt, finde ich. Hoffe ich. Aber er bleibt beim Boot. Ich laufe die Treppe hinauf, die Alison hat reparieren lassen. Die Frau, die Mary heißt, sitzt vor dem Restaurant unter einem Sonnenschirm und trinkt Eistee. Bleich, untersetzt, rundlich, blondiertes Haar, lange pinkfarbene Fingernägel. Ein Flittchen aus einem Pub. Ich erinnere mich plötzlich, wie Mutter aussah, als ich noch ein Kind war. Ich stelle mich vor und frage, ob sie auch tauchen möchte.

»Nein, das ist nichts für eine Dame«, erwidert sie, ein wenig geziert für meinen Geschmack. Dame, um Himmels willen – ein hilfloser blinder Passagier. Ich laufe zurück. Das Wasser ist beinahe völlig abgelaufen.

Unter der Oberfläche

»Na, dann los!«, rufe ich.

»Ich schieb uns an«, sagt Victor. Er trägt Gummistiefel, damit die Korallen ihm nicht die Füße aufreißen. Zehn Meter weiter ist genügend Wasser unter dem Kiel, und ich kann den Außenbordmotor herunterklappen. Wir fahren weiter hinaus, und er fragt nach der Schule. Ich antworte so wenig wie möglich, schaue ihn mir an, wenn er wegsieht. Ein hübscher Mann, gut gebaut, schlank, braun, das goldblonde Haar auf seiner Brust ist gekräuselt und von der Sonne gebleicht. Er erzählt nicht, was er so treibt, und ich frage auch nicht danach. Ich werfe den kleinen Anker, gebe ihm eine Harpune, wir ziehen die Flossen an.

»Es gibt hier Tintenfische«, sage ich. Er lächelt.

»Ich werde tun, was ich kann, Samantha.« Wir springen über Bord, spucken in die Masken und verteilen den Speichel auf dem Glas, damit es nicht beschlägt, atmen an der Oberfläche noch einmal tief ein und tauchen. Ich bewege mich langsamer als er auf den Grund zu, verbrauche aber weniger Energie – Sauerstoff. Seine Bewegungen im Wasser sind zu hektisch, zu eckig, ohne Ruhe und Rhythmus. Man muss den Körper einsetzen wie ein Fisch. Hier gibt es eine Unmenge von Muränen, die in ihren Höhlen die Zähne zeigen – ihnen sollte man nicht zu nahe kommen. Zwischen ein paar Steinen entdecke ich einen Tintenfisch. Als ich mich langsam nähere, spüre ich eine Berührung an meinem Arm. Victor weist nach oben, er hat keine Luft mehr und steigt auf. Ich bleibe, erwische das Tier, und folge Victor mit dem an der Pfeilspitze aufgespießten Tintenfisch. Er wartet an der Wasseroberfläche.

»Meine Güte, wie du das machst«, sagt er und schwimmt dicht an mich heran. Ein merkwürdiges Gefühl mit dieser Mary an Land. Vielleicht beobachtet sie uns.

»Kannst du es mir beibringen?«

»Na klar.« Ich zeige ihm, wie man sich im Wasser gleiten lässt, mit ruhigen Flossenschlägen und geschlossenen Beinen, wie man sich die Luft einteilt. Bringe ihm bei, direkt unter der Wasseroberfläche auf dem Rücken zu schwimmen, so dass man die glitzernden Wellen von unten sehen kann – lebendiges blaues Silber im Sonnenschein.

»Das mit Mary hat nichts zu bedeuten«, sagt er, als wir mit unserem Fang zurückfahren.

»Mir ist sie egal.«

»Wieso?«

»Weil ich schärfer bin.«

»Da hast du Recht«, erwidert Victor. »Was hältst du eigentlich von der Frau, mit der dein Vater zusammen ist?«

»Ich finde das nicht in Ordnung.«

»Tja, verstehe ich. Aber du bist fast erwachsen, du kannst bald machen, was du willst. Vielleicht suchst du dir ja auch einen Mann, wie Alison.« Er zwinkert mir zu.

»Ich suche mit allem, was mir zur Verfügung steht. Aber die Ausbeute ist mager.«

Wir ziehen das Boot auf den Strand, bis ich es an einer Eisenschwelle vertäuen kann, die tief in den Sand getrieben wurde. Victor berührt mich mit seiner Hand auf dem Rücken, ganz unten. Ich drehe mich zu ihm um, lege die Arme um seinen Hals, öffne die Lippen. Wir küssen uns. Seine Hände beginnen, auf mir zu wandern.

»Stopp«, sage ich und lasse ihn los, drehe mich um und wackle davon.

»Ich freue mich, dich wiederzusehen!«, ruft er mir nach. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also zeige ich ihm den Finger, ohne mich umzudrehen. Den Rest des Tages sorge ich dafür, außer Sichtweite zu sein.

Der Taschenrechner

Victor und Mary fahren bereits am nächsten Morgen. Alison ist nicht da, und im Hotel geht es drunter und drüber. Ich will nicht den Einpeitscher spielen. Halima macht sich wichtig. Sie weist das Personal an, das Haus in Ordnung zu bringen – keine Ahnung, was genau sie anordnet. Vielleicht will sie die Spuren meiner Mutter tilgen. Eine läufige Hündin, die jetzt Gott spielen darf. Sie benimmt sich bereits, als würde ihr das Ganze gehören, obwohl sie nur zwölf Jahre älter ist als ich und kaum lesen kann. Aber rechnen kann sie – sie hat es sich ausgerechnet. Ihr Taschenrechner sitzt zwischen den Beinen.

Ich bleibe in meinem Bungalow, hole mir etwas aus der Hotelküche, schwimme, schlafe, lese, rauche Zigaretten und ein bisschen bhangi. Antworte nicht, wenn die Hure mit mir spricht.

Es gibt nur wenige Gäste, und es tut weh, mit anzusehen, wie dem Personal alles vollkommen egal ist, wenn niemand sie zur Ordnung ruft. Und ich will nicht. Wenn seine Nutte Königin spielen will, muss sie sich auch um die Dinge kümmern. Als sie einen Job wollte, konnte sie durchaus arbeiten. Aber jetzt ist sie die Geliebte des Chefs und zu fein, um noch einen Finger zu rühren. Typisch afrikanische Attitüde.

Der Mann vom Empfang holt mich, Alison ist am Telefon. Sie ruft aus Dar an. Ich erkläre ihr die Situation. Noch immer dauert es mehr als zwei Wochen, bis ich wieder in die Schule muss, denn in dieser Woche sind Semesterhälfte-Ferien, und ich bin noch eine weitere Woche suspendiert. Zurzeit sind Mitschüler in den Ferien in Dar.

»Komm her«, sagt Alison. Ich packe. Rufe ein Taxi, fahre zur Busstation und nehme den ersten Bus, der in Richtung Süden fährt. Dreihundertfünfzig Kilometer Bummelei. Der Bus hat zwei Reifenpannen, und es dauert eine Ewigkeit, die Reifen zu wechseln. Nach vierzehn Stunden komme ich vollkommen gerädert in Dar an.

Weißer Klub

Wir wohnen bei Alisons Freundin Melinda, die einen Amerikaner geheiratet hat, der bei Philip Morris angestellt ist. Er arbeitet als Tabak-Aufkäufer in der Umgebung von Iringa, seine Firma will versuchen, Tansanias Tabakfabriken zu übernehmen, wenn das politische Klima von der Nationalisierung wieder in Richtung Privatisierung umschlägt. So wird es kommen, denn dem Land geht es wirtschaftlich immer schlechter. Afrikanischer Sozialismus – die Korruption läuft Amok.

Wir gehen in den Jacht-Klub. Ich langweile mich. Alles voller Weißer, die hier wie die Grafen und Barone leben. Überall laufen ihre Rotzgören herum. Die Mütter benehmen sich, als wären sie Göttinnen, nur weil sie so ein Kind ausgeschissen haben; und die Männer kriechen und bedienen sie hinten und vorn, während sie verstohlene Blicke auf meine Brüste und Beine werfen.

»Wollen wir segeln gehen?«, frage ich Melinda – sie müssen doch so ein Scheißboot haben, wenn sie Mitglied im Klub sind, das ist doch sicher notwendig.

»Nein, ich segele nicht. Mein Mann benutzt das Boot hin und wieder«, sagt sie und wendet sich wieder Alison zu. Melinda hat ein Junges ausgeschissen, und Alison plant, den Haken ganz tief in Frans zu versenken, damit auch sie nach Daressalaam kommen und ein Junges ausscheißen kann – sie haben viel zu bereden. Ich laufe ein bisschen auf dem Platz herum, wo die Boote stehen, an den Strand und zurück zum Bar- und Restaurantbereich.

»Sam?« Ich drehe mich um. Ein sonnenverbrannter Junge in Shorts und Spiegelglassonnenbrille.

»Jarno!«

»Ja, beinahe.«

»Was machst du hier?« Er zuckt die Achseln und zeigt auf die Bierflasche, die er in den Sand gebohrt hat. Ich lächele und setze mich zu ihm. »Tja, es bleibt einem wohl nichts anderes übrig, als sich daran zu gewöhnen. Hast du eine Zigarette?«

»Ja«, sagt er und breitet die Arme aus. Er war zu Hause in Msumbe, hat sich ein paar Tage gelangweilt, nun wohnt er die letzten Tage der Semesterferien in Norads Gästehaus in Dar. Norad arbeitet für seinen Vater. Das Haus liegt in unmittelbarer Nähe vom Drive-in-Kino. »Du musst mal vorbeikommen und mit mir essen.«

»Gibt’s einen Koch?«, erkundige ich mich.

»Ja, klar. Fest angestellt. Er kauft ein und kocht. Als wäre man zu Hause, nur ohne Vater und Mutter, ist also ziemlich optimal.« Jarno ist ziemlich angetrunken, sonst könnte er so viele Worte hintereinander überhaupt nicht herausbringen.

»Gibt’s auch einen Barschrank?«

»Leider nicht.« Jarno schüttelt den Kopf.

»Ist heute Abend irgendwo eine Fete?«

»Ich habe nur vom Marine’s Club gehört.«

»Das ist so langweilig.«

»Weiß«, erwidert Jarno und sieht sich um. Die einzigen Schwarzen hier sind die Kellner, der Barkeeper, der Koch und der Mann mit dem Besen. »Wir kommen ins schwärzeste Afrika und landen im weißesten Klub.«

Endless Love

Am Abend fahre ich mit Jarno auf einem Motorrad, das er sich geliehen hat, ins Autokino. Zum Glück regnet es nicht, und ich muss mit diesem geilen Burschen nicht in einem geschlossenen Auto sitzen.

»Hey, Sam, Jarno!«, grüßt eine Stimme. Es ist Aziz, der meint, den Playboy spielen zu müssen, getönte Sonnenbrille trotz der Dunkelheit. »Kommt her und stellt euch hierhin, wir haben Schnaps dabei«, sagt er und erklärt uns, wo er parkt. Dann geht er zum Kiosk, um Chips zu kaufen. Jarno lässt das Motorrad an, wir fahren dorthin. In einigen Wagen wird gehupt, als wir vorbeifahren, denn der Film hat schon angefangen. Wir zeigen ihnen den Finger. In Aziz’ Auto sitzen ein paar junge einheimische Mädchen; sie stammen nicht aus Msasani, dazu sind ihre Klamotten nicht teuer genug. Im Wagen daneben sitzt Diana mit ein paar italienischen Mädchen, die auf die internationale Schule in Dar gehen.

Wir plaudern ein bisschen, sehen uns den Film an. Endless Love, der so lächerlich ist, dass die Afrikaner in ihren Autos laut lachen. Ich lache mit. Die Romantik der Weißen mit sanfter Musik und verschwommenen Bildern. Als würde in den Menschen nicht das Tier wohnen. Das Paar im Film sieht nicht einmal aus, als hätten sie Spaß dabei. Uhhh – ist das alles ernst.

»Da gibt’s gar nichts zu lachen«, erklärt Diana barsch.

»Nein, das ist wirklich ein guter Film«, unterstützt sie Jarno, den ich schon mehrmals dabei erwischt habe, wie er Dianas Busen angestarrt hat. Er geht vollkommen in dem Film auf – sanft und romantisch. Begreift er denn nicht, dass Diana genommen werden will, damit sie sich selbst einreden kann, sich in den Armen des Eroberers geborgen zu fühlen?

Africana

Ich trinke ein bisschen von dem Konyagi, den Aziz mitgebracht hat. Salomon mit seinen Dreadlocks taucht auf und fragt, ob wir mit ins Africana kommen, das große Touristenhotel an der Nordküste. Dort ist heute Abend Disko – ziemlich finster, die achten überhaupt nicht darauf, wen sie hineinlassen. Die einzige andere Möglichkeit ist das Kilimanjaro Hotel am Hafen, in dem The Bar Keys spielen, aber das ist teuer. Hotel Africana, okay. Jarno versucht, Diana zum Mitkommen zu bewegen, aber sie will nicht.

Als der Film vorbei ist, fahren wir hin; eine lange Fahrt in der Dunkelheit entlang der Küste. Der Duft des Meeres.

Das Africana ist voller fetter weißer Männer mit feisten schwarzen Frauen. Die Musik ist okay, aber Jarno tanzt nicht, bevor er nicht besoffen ist; er steht nur da und wiegt sich mit geschlossenen Augen zur Musik. Aziz will, dass ich ihn in eine Ecke begleite.

»Ich hab was Gutes«, sagt er und holt eine kleine Tüte mit weißem Pulver heraus. »Kokain. Total sauber. Das bringt dich in Schwung.«

Ich würde es gern ausprobieren.

»Was soll es kosten?«

»Hey, das ist nur … wenn du probieren willst, unter Freunden. Es kostet nichts.«

»Okay.« Ich schnupfe die Bahn, die er für mich auf dem Tisch auslegt. Guter Stoff. Ich tanze. Aziz tanzt mit mir, bewegt seinen Schritt in Kreisen auf meine Hüfte zu, glaubt, er sei gut. Versucht, mich zu küssen.

»Nein, Aziz. Du hast gesagt, es kostet nichts. Auch keinen Kuss.«

»Kriege ich einen Kuss, wenn ich dir ein bisschen mehr gebe?«

»Fick dich!«

»Gern«, erwidert er.

»Du träumst.« Die Wirkung des Kokains verdampft. Eigentlich will ich schon mehr, aber nicht auf diese Weise. Ich laufe ein bisschen herum. Victor! Mein Mund verzieht sich zu einem Lächeln. Victor sitzt an einem Tisch vor der Tür. Ich nehme meinen Drink, fahre mir durchs Haar und gehe hinaus, bin fast da und will Hallo sagen, als ich aus den Augenwinkeln Mary bemerke. Kurzes hellrotes Kleid, stramm über den Titten. Ich bleibe stehen. Sie haben mich nicht gesehen. Sie setzt sich mit einem mürrischen Gesichtsausdruck, ohne ihn anzusehen. Er sagt irgendetwas, sieht müde aus, gestikuliert. Sie antwortet kurz, schüttelt den Kopf. Es sieht aus, als würde er fluchen, als er aufsteht und direkt auf die Bar zugeht. Ich mische mich unter die Gäste, kann aber nicht verschwinden. Er hat mich gesehen.

»Samantha!«

»Hey. Alles okay?«

Victor lacht und schüttelt den Kopf.

»Ich hätte mir eine anständige Frau suchen sollen«, sagt er und sieht mich unverfroren an. »So eine wie dich.«

»Du kennst mich nicht.«

»Noch nicht«, erwidert er. Ich spüre, dass ich erröte; hoffe, dass er es bei der dunklen Beleuchtung des Raums nicht bemerkt.

»Ist mit … Mary alles in Ordnung?«

»Ja, ja. Sie ist nur sauer, dass ich sie nicht nach England begleiten will.«

»Will sie nach England?«

»Ja, es gefällt ihr hier nicht. Hör zu, Samantha: Ich weiß nicht, warum sie mir nachgereist ist. Ich habe sie nicht eingeladen. Sie ist einfach nur eine Frau, die ich vor einem Jahr kennengelernt habe. Du kannst dich gern zu uns setzen, allerdings hättest du vermutlich nur wenig Spaß.«

»Ist schon okay.«

»Gut. Wir sehen uns ein andermal?«

»Ich warte noch immer auf das Telegramm«, erwidere ich.

»Okay.« Er greift zu den Drinks, die er bestellt hat, und geht zu Mary. Ich suche Jarno und Salomon.

»Jarno, wir fahren jetzt«, erkläre ich ihm. »Das heißt, ich fahre.« Es gelingt mir, ihm den Schlüssel abzunehmen. Obwohl er ziemlich fertig ist, spüre ich seinen steifen Schwanz an meinem Hintern, als ich uns zurück in die Stadt fahre. Ich steige vor dem Tor von Melindas Haus ab und rufe den Wachmann.

»Willst du nich’ mitkommen?«

»Nein, danke. Gute Nacht.«

Lion of Zion

Zurück nach Tanga. Eine Woche tödliche Langeweile. Die Hure Halima hält Hof im Haus meiner Kindheit. Meine Schulbücher verstauben, obwohl ich in ihnen lesen sollte, um nicht allzu viel zu versäumen. Ich wohne mit Alison in dem größten Bungalow; sie ist wütend auf Vater, aber da er nicht da ist, lässt sie es an mir aus. Außerdem vermisst sie Frans. Glücklicherweise bekommt der einen Platz in einem Flugzeug zum Kilimanjaro Flughafen, Alison und er treffen sich in Arusha, und ich fahre mit einer glücklichen Alison nach Moshi.

Zurück in der Schule. Alle anderen sind bereits seit einer Woche da. Ich sehe Christians Rücken auf dem Flur. Gehe hinter ihm her und hake ihn unter.

»Hey!«, ruft er überrascht aus – die anderen glotzen wie immer.

»Wie waren deine Semesterferien?«, frage ich ihn.

»Die ganze Woche bestand mein Vater darauf, dass ich zu Hause bleibe und büffele. Der Tod.«

»Und hast du’s gemacht?«

Christian grinst und zuckt die Achseln. »Ich hatte keine Chance. Er hat mein Motorrad an einem Baum im Garten angeschlossen. Manchmal hat er es freigelassen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam.«

»Du hättest den Baum fällen können.«

»Ich hab keine Axt. Und bei dir? Suspendiert wegen Saufens. In Tanga?«

»Totlangweilig. Aber ich bin nach Dar gefahren. Das war okay. Doch die letzte Woche in Tanga, stinklangweilig.« Es klingelt. »Bis nachher!« Ich lasse seinen Arm los.

Er bleibt stehen, als ich mit dem Arsch den Gang hinunterwackele.

In der Snackpause sehe ich Salomon – er ist vollkommen kahl.

»Na, bist wohl kein Rasta mehr?«

Die Dreadlocks sind ein Symbol für die Mähne des Löwen, Lion of Zion, ohne sie ist man schwach.

»Rasta sitzt nicht in den Haaren, es ist ein inneres Gefühl«, behauptet er und fügt hinzu: »Meine Kopfhaut hat gejuckt, sie mussten ab.« Er geht.

Aziz grinst boshaft.

»Was ist?«, will ich von ihm wissen.

»Salomon hat geschlafen, als sein Vater ihm die dreads abgeschnitten hat. Als er aufwachte, war er nur noch auf einer Seite Rasta.«

»Der äthiopische Botschafter steht nicht so auf Rasta, was?«

»Nein«, bestätigt Aziz.

Auf dem Flur treffe ich Jarno, der ein trauriges Gesicht zieht, obwohl er seine Dreadlocks noch hat. Diana hat sich in den Ferien in einen amerikanischen Marine verliebt. Ich erzähle Panos nichts davon, denn inzwischen küsst sie wieder ihn.

Telegramm

Eine Sekretärin holt mich mitten in Geschichte aus dem Unterricht. Was habe ich nun wieder verbrochen? Im Büro sitzt Owen mit einem ernsten Gesichtsausdruck.

»Für dich ist ein Telegramm gekommen.« Ich lächele. Er sieht überrascht aus. »Hast du ein Telegramm erwartet?« Mir wird klar, dass er schlechte Neuigkeiten vermutet: ein Unglück, einen Todesfall, einen Unfall.

»Ja.« Ich reiße das Telegramm auf. ›Bin im YMCA. V.‹ »Meine Kusine hat eine Tochter zur Welt gebracht, sie wird Samantha heißen.« Ich schenke Owen ein Lächeln.

»Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke.« Ich wedele mit dem Telegramm durch die Luft, als ich das Büro verlasse. Nach der letzten Stunde lasse ich das Mittagessen ausfallen. Ich laufe sofort auf den Parkplatz, höre aber, wie Christian sein Motorrad anlässt. Ich warte, bis er gefahren ist, und lasse mich von ein paar Deutschen mitnehmen, die in der Nähe der Polizeischule wohnen. Das letzte Stück bis zum YMCA laufe ich. Victor ist nirgendwo zu sehen.

»Mein Onkel wohnt hier«, behaupte ich an der Rezeption. »Victor Ray, welche Zimmernummer hat er?« Der Hotelangestellte gibt mir die Nummer, ich fahre in den dritten Stock und finde das Zimmer. Ich spüre ein eigenartig träges Gefühl in meinen Beinen, alles ist bereit. Ich klopfe. Victor öffnet, nackter Oberkörper und Boxershorts, er tritt aus der Tür.

»Samantha!«, ruft er und hebt mich hoch. Ich liege in seinen Armen, er beugt seinen Kopf hinunter und küsst mich. »Jetzt werde ich dich dorthin tragen, wo du hingehörst!«

»Ja«, sage ich, als er mich aufs Bett legt.

»Ich habe dich vermisst«, sagt er und beginnt, mich auszuziehen. Küsst jedes Stück nackte Haut, das er entblößt; kleine Wasserzungen, die sich den Strand hinauflecken, bis sie allmählich wachsen, die Wellen sich endlich brechen und den ganzen Körper ins Meer saugen.

Zurück zur Schule fahre ich mit einem Taxi und benehme mich, als wäre nichts geschehen. Alles so wie immer. Niemand kann mir Victor ansehen. Es ist mein Geheimnis. Es ist schön.

Privatperson

Christians Vater ist verreist, und Christian schwänzt ständig. Geht auf die Toiletten und raucht. Wird erwischt und bekommt eine Verwarnung.

Freitag ist Fete im Kilele-Haus. Ich gehe mit Tazim hin. Es ist ein bisschen langweilig, bis ich ein Motorrad höre. Christian. Er hält auf der Straße vor dem Zaun, steigt ab und zündet sich eine Zigarette an. Ich trete an den Zaun. Es ist keine gewöhnliche Zigarette.

»Hey, Samantha. Willst du ’n bisschen bhangi?« Er kommt zum Zaun und steckt das Ende des Joints durch den Maschendraht.

Seppo hat ihn entdeckt, kommt aus dem Tor und erklärt: »Christian. Du hast augenblicklich vom Schulgelände zu verschwinden. Montag um acht Uhr erscheinst du im Büro bei Owen.«

»He, du bestimmst nicht, was ich mache. Ich bin ein Mann auf der Straße, der sein Kraut raucht. Ich bin eine Privatperson. Du hast keinerlei Rechte mir gegenüber.«

Christian nimmt noch einen Zug, zieht ihn tief in die Lungen und sieht Seppo dabei direkt an, dann bläst er den Rauch in seine Richtung. Seppo geht auf ihn zu. Christian hebt seine Faust, der Joint sitzt zwischen Zeige- und Mittelfinger.

»Wenn du mich anfasst, fasse ich dich auch an«, sagt er. Seppo bleibt stehen. Christian lacht, steckt den Joint in den Mund, setzt sich aufs Motorrad und fährt, bis die Dunkelheit ihn verschluckt.

Ich frage ihn am Montag. Er soll eine Woche suspendiert werden, aber sie können seinen Vater nicht erreichen, darum kann er bis auf weiteres am Unterricht teilnehmen. Der Schulleitung ist erst jetzt klar geworden, dass er allein zu Hause wohnt, wenn sein Vater unterwegs ist. Und was macht Christian ohne Aufsicht? Irgendwann erreichen sie seinen Vater, der Christian bei irgendwelchen Schweden unterbringt. Außerdem hat sein Vater zu einem Treffen in der Schule zu erscheinen, sobald er wieder in Moshi ist. Eigentlich müsste Christian hinausgeschmissen werden, aber sein Schulgeld wird in ausländischer Valuta bezahlt. Die Schule kann es sich nicht leisten, weitere Einnahmen zu verlieren.

Eine Woche später kommt Christian als Internatsschüler ins Kijana.

»Das war die Scheißforderung, weil der Alte so oft unterwegs ist«, sagt er. »Entweder er meldet mich als Internatsschüler an, oder sie nehmen mich gar nicht mehr.«

»Das nächste Mal, wenn irgendetwas los ist, fliegst du.«

Christian grinst. »Ganz genau.«

»Du musst es doch nicht auch noch provozieren.«

»Nein, aber es ist ein gutes Gefühl, wenn man Herr über die Situation ist.«

»Ja, aber es wäre langweilig, wenn du nicht mehr da wärst.«

»Hier darf man doch sowieso nichts«, sagt er. »Wie im Gefängnis.«

Ich gehe ins Kilele und lege mich in meinem neuen Zimmer aufs Bett, starre an die Decke. Ich bin aus dem Kiongozi ausgezogen und wohne jetzt bei den ältesten Mädchen, weil ich mich ständig mit Truddi gestritten habe.

Das Kilele ist das bessere Haus. Ich teile das Zimmer mit Adella, einem Mädchen aus Uganda, das so gut wie nicht spricht. Ihre Eltern und zwei ältere Brüder wurden von Idi Amin ermordet. Adella und ihr kleiner Bruder sind nach Tansania geschickt worden, sie sollten überleben. Idi Amin hat den Rest ihres Klans umgebracht. Sie und ihr jüngerer Bruder sind hier mit einem Stipendium, das die Exilgemeinde des Stammes in Europa bezahlt. Ich mag sie gern. Wenn abends das Licht gelöscht ist, setzt sie sich an den Schreibtisch und dreht einen Joint. Bevor sie ihn anzündet, drückt sie ein Handtuch unter den Türspalt, damit kein Rauch hinausdringt. Wir rauchen schweigend. Es ist sehr gemütlich.

Normalerweise achte ich jetzt auf meine Sachen und provoziere keinen Ärger.

Hosendieb

Es ist mein siebzehnter Geburtstag. Am Nachmittag muss ich zum Zwangstennis. Sally lässt mich mit einer kleinen indischen Göre spielen, die Naseen heißt. Sie stolziert auf ihren hohen Hacken herum und trifft keinen Ball. Ich ziele absichtlich auf sie, um ihr Angst zu machen.

»Mwizi, mwizi!« Der Schrei kommt von den Lehrerwohnungen am anderen Ende des Spielfelds. Ich werfe meinen Schläger beiseite und laufe zusammen mit einigen anderen Schülern hin. In einem der Gärten stehen zehn, zwölf Männer und Frauen, Köche und Hausmädchen aus den Lehrerwohnungen und einige Gärtner der Schule. Sie schreien und treten auf einen Mann ein, der auf der Erde liegt. Mein Englischlehrer, Mr. Cooper, kommt angerannt.

»Stopp! Aufhören!«, brüllt er. Widerstrebend wird von dem Mann abgelassen, die Leute treten ein wenig zur Seite. Der Mann liegt zusammengekrümmt auf der Erde, blutet aus Wunden am Kopf und im Gesicht. »Was macht ihr denn da?«, ruft Cooper. Ein Hausmädchen bückt sich und hebt ein Paar Jeans vom Boden auf.

»Er hat versucht, deine Hose von der Wäscheschnur zu stehlen«, sagt sie auf Swahili.

»Was sagt sie?«, will Cooper wissen. Ich übersetze. Der Mann am Boden blutet aus dem Mund, vielleicht hat er innere Blutungen.

»Ihr seid doch verrückt«, sagt Cooper auf Englisch und schüttelt den Kopf.

»Wir haben deine Jeans gerettet«, erwidert das Hausmädchen stolz. An der Busstation kann man sie für einen Monatslohn verkaufen. Ich erkläre es Cooper. Owen ist dazugekommen, Cooper bittet ihn, den Pick-up der Schule zu holen.

»Ja, er muss zur Polizei gebracht werden«, sagt ein Gärtner auf Englisch.

»Er muss ins Krankenhaus«, widerspricht Cooper.

»Erst zur Polizei«, beharrt der Gärtner. Cooper antwortet nicht.

Der Pick-up kommt, der malträtierte Dieb wird fortgebracht. Die Schläger im Garten jubeln vor Begeisterung über ihre gute Tat.

Fisch

Im Speisesaal sitzt Panos an einem Tisch mit dem Katzenfreund Sandeep und Adella. Ich gehe zu ihnen. Auf dem Speiseplan steht Fisch – eine Seltenheit im Landesinneren, denn es gibt kaum Kühltransporter in Tansania. Nil-Barsch aus dem Victoriasee. Es riecht gut. Ich lade meinen Teller voll und reiche die Schüssel weiter an Sandeep, probiere einen Löffel. Es schmeckt auch gut.

»Nein, danke«, lehnt Sandeep ab.

»Isst du keinen Fisch?«

»Ich bin aus Bukoba.«

»Ja«, sage ich, »am Victoriasee. Esst ihr in Bukoba keinen Fisch?«

»Nicht nach Idi Amin. Danach wollte meine Mutter uns nie wieder Fisch essen lassen.« Sandeeps Vater ist Inder, und Idi Amin hat alle Inder aus Uganda herausgeschmissen, aber Sandeeps Mutter ist eine Schwarze – er ist der einzige Mensch, dem ich bisher begegnet bin, der ein halber Schwarzer und ein halber Inder ist.

»Ja und, was hat Idi Amin mit Fisch zu tun …?«, setze ich an, dann wird es mir klar. Idi Amin: Massenmörder. Er bestückte Tiefkühltruhen mit den Köpfen seiner Opfer, um sie jederzeit herausholen und mit ihnen reden zu können. Er brachte dreihunderttausend Menschen um. Unzählige Leichen wurden in den Victoriasee geschmissen, die Krokodile feierten Partys, der Fischbestand wuchs. »Kannibalismus?«

»Fast«, sagt Sandeep. »Willst du einen Fisch essen, der einen Mann gefressen hat?« Ich schiebe meinen Teller zur Seite.

»Das ist doch lange her«, meint Panos.

»Wie schmeckt ein Ugander?«, frage ich.

»Tsk«, schnalzt er und steckt die Gabel in einen weiteren Bissen. Ich schaue hinüber zu Adella. Sie isst nur Huhn, kein anderes Fleisch. Sie sieht vollkommen panisch aus. Panos hält das Stück Fisch in die Luft und schaut es sich an: »Gut, dann hat der Fisch eben Idi Amins Feinde gefressen, Männer von Ehre, gute Leute. Diese Männer schmecken gut.« Er steckt das Stück in den Mund, kaut. Adella lacht hysterisch, dann beginnt sie zu weinen und heftig zu husten; sie steht abrupt auf und stürzt aus dem Speisesaal. »Was ist denn los?«, erkundigt sich Panos.

»Ihre Eltern wurden von Idi Amin ermordet«, sage ich und schaue auf seinen Fisch. Panos nickt.

»Gute Leute«, erklärt er und isst weiter.

Später am Abend krieche ich in Adellas Bett und nehme sie in den Arm. Sie weint noch immer, doch allmählich beruhigt sie sich und erzählt.

»Wir wurden nachts von einem Fischer aus Port Bell fortgebracht. Es war dunkel und windstill. Er ruderte vom Strand weg, dann startete er den Motor und steuerte nach den Sternen und dem Licht an der Küste. Nur mein Bruder und ich waren im Boot, und ich hatte Angst, weil ich den Fischer nicht kannte. Er hatte seine Bezahlung bekommen, er hätte uns einfach über Bord schmeißen können. Mein Bruder schlief ein, aber ich hielt mich wach. Nach einer langen Zeit wurde es am Horizont allmählich grau, es war früh am Morgen. Und dann stieß das Boot auf irgendetwas Großes, und der Fischer drosselte die Geschwindigkeit. Ich fragte, ob es ein Krokodil gewesen sein könnte, denn ich konnte nichts sehen, das Wasser war noch immer dunkel. Er sagte, ich solle meine Augen schließen, aber ich wollte meine Augen nicht zumachen, weil ich Angst vor ihm hatte. Doch das Boot stieß weiterhin an Dinge, und es roch so merkwürdig, und er fragte, ob ich meine Augen noch immer geschlossen hätte, und ich sagte, ja. Dann wurde es heller, und gleichzeitig erhöhte er das Tempo, die Hindernisse wurden vom Bug beiseite geschoben, und ich guckte – es war hell genug. An der Wasseroberfläche schwammen überall aufgequollene Leichen, einige von ihnen halb aufgefressen von den Krokodilen und Fischen. Idi Amin hat gern Fische gefüttert.«

Adella presst meine Arme fest an ihre Brust.

»Na, na«, rede ich beruhigend auf sie ein, »es ist überstanden.«

»Ich muss dann immer an meine Familie denken«, sagt Adella. »Ich hätte dort im Wasser liegen können.«

Mutters Hund

Bald sind Weihnachtsferien. Vater ist in Uganda oder in Zaire oder … er hat mir geschrieben, dass ich wie irgendein Bauer den Bus nach Tanga nehmen soll. Was soll das? Die Telefonleitung ist unterbrochen, und ich kann nicht einmal Alison erreichen, um mich zu erkundigen, was los ist. Ob sie da sein wird.

»Sam. Telefon!«, ruft Adella. Ich springe aus dem Bett, renne hin.

»Wer ist es?«

Adella gibt mir lächelnd den Hörer.

»Samantha am Apparat«, melde ich mich.

»Schätzchen, nennen sie dich Sam?«

»Mutter!«

»Hallo. Wie geht es dir?«

»Kommst du uns Weihnachten besuchen?«

»Nein. Ich kann nicht. Ich muss arbeiten.«

»Ach schade … komm doch.«

»Was macht die Schule?«

»Na ja, es ist grauenhaft. Es ist eine Schule. Wieso kannst du nicht wenigstens in den Ferien kommen? Vater muss doch zahlen.«

»Ich ertrage deinen Vater nicht mehr. Es geht mir gut hier. Wenn du die Schule beendet hast, wirst du bei mir wohnen.«

»In England?«

»England ist nicht schlecht, Samantha.«

»Es ist scheißkalt, und die Leute sind ziemlich eigenartig.«

»Dann sind wir wieder zusammen«, sagt Mutter.

»Ist das etwa beschlossen? Habe ich da gar nichts mitzureden?«

»Was willst du denn sonst machen.«

Ich beantworte die Frage nicht.

»Wovon lebst du?«, will ich stattdessen wissen.

»Ich habe eine Arbeit gefunden.«

»Was für eine Arbeit?«

»Ich arbeite … in einem Hotel.« Sie seufzt. »Als Nachtportier.«

»Schickt dir Vater kein Geld?«

»Doch, aber es gibt Probleme mit dem Hotel in Tanga. Er braucht das Geld.«

»Ja. Klar hat er Probleme. Aber er spinnt doch. Und du … bist du okay?«

»Ich trinke nicht mehr.«

»Gut. Tja … ihr werdet euch also nicht wiedersehen?« In dem Moment, in dem ich die Frage stelle, wird mir klar, wie absurd sie klingt. Vater vögelt die Kellnerin.

»Wir werden uns scheiden lassen.«

»Ja, aber …«

»Wieso nennen sie dich Sam?«, will Mutter wissen.

»Samuel 15 – ein Mann unter Schafen.«

»Aber dir geht’s gut in der Schule?«

»Ja. Es geht schon.«

»Ich weiß, dass ich dir versprochen habe, ein paar Sachen zu schicken, Samantha. Aber das muss noch ein wenig warten.«

»Mach dir darüber keine Gedanken, ich kann mir hier bei den weißen Mädchen was klauen.«

Mutter entschließt sich, meine Bemerkung zu überhören.

»Was soll ich in England?«, versuche ich es noch einmal.

»Du kannst mit einer Ausbildung beginnen.«

»Wozu?«

»Man kann hier alles Mögliche studieren.«

»Du weißt doch genau, dass ich nicht gerade ein Bücherwurm bin.«

»Oder etwas Praktisches, eine Lehre. Das wird sich zeigen, wenn du erst einmal hier bist«, meint Mutter. »Hast du einen netten Freund?«

»Nein. Hast du einen netten Freund?«

»Nach deinem Vater habe ich von Männern genug. Ich überlege, ob ich mir einen Hund anschaffe.« Wir lachen. Dann hat sie kein Geld mehr, um noch länger zu telefonieren.

Seychellen

Ich werde ins Büro gerufen. Wieso? Ich bin seit mehreren Wochen nicht mehr aufgefallen, jedenfalls bin ich nicht entdeckt worden.

Fuck. Vater steht im Büro.

»Samantha«, sagt er und umarmt mich. »Es ist so lange her, dass die Familie zusammen war«, erklärt er Owen. »Nachdem ihre Mutter zurück nach England gegangen ist … Und ich bin ziemlich beschäftigt: Uganda, Mozambique, ständig unterwegs. Aber jetzt ist es so weit.«

»Ja«, nickt Owen verständnisvoll. Weiß er überhaupt, wovon Vater lebt? Woher mein Schulgeld stammt?

»Was ist?« Ich sehe Vater an. Owen lächelt mir zu. Was geht hier vor?

»Wir fahren in den Urlaub auf die Seychellen; du, ich und Alison. Und Frans. Wir übernachten im Tanzanite und fliegen morgen früh vom Kilimanjaro Flughafen.«

»Okay.« Ich gehe und packe. Unberechenbar zu sein, ist normal bei Psychopathen. Ab morgen sind Weihnachtsferien. Solange Alison dabei ist, ist es okay für mich.

Am nächsten Tag fährt Mahmoud von der Lodge Vater und mich zum Flughafen. Wir fliegen nach Dar, und Alison und Frans steigen zu.

Wir landen auf den Seychellen. Eine kleine Inselgruppe mitten im Indischen Ozean, tausendsechshundert Kilometer östlich von Daressalaam. Wunderhübsch ist es hier. Das Guesthouse liegt an einer Bergseite der Hauptinsel. Vater mietet einen offenen Wagen für uns, damit wir in die Stadt oder zum Strand fahren können. Eigentlich ist mir Essen egal, aber das Essen hier … wow! Alles Gute aus dem Meer. Zu Weihnachten schenkt Alison Frans einen zweitägigen Tauchkurs. In der Woche vor Silvester sind wir nur am essen und trinken oder liegen am Strand. Es ist wirklich schön.