David

 

Jetzt bin ich hier! Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich wollte, aber ich hegte auch keinen Widerwillen. Schließlich weiß man nie, was aus dem wird, was man anfängt. Man kann nur hoffen, dass alles seine richtigen Wege geht. Das meinten meine neuen Pflegeeltern auch. Ich wohne nun bei ihnen, und da der Weg zu meiner alten Schule zu weit sei und sich das nahegelegene Gymnasium hervorragend eignen würde, sollte ich mich ab dem Frühjahr in einer neuen Klasse einfinden. Andere Wege also, andere Lehrer und viele, viele unbekannte Gesichter.

Ich musste mich zunächst noch entscheiden, welche Kurse ich für die nächsten anderthalb Jahre, die in der Oberstufe noch verblieben, belegen möchte. Die Auswahl war nicht sehr groß und eigentlich hätte ich alles machen können, es gab keine Fächer, die ich sonderlich zu meiden versuchte. Solange es interessant war, ich Neues lernte und ich mich nicht langweilte.

An meinem ersten Schultag habe ich, was auch sonst, verschlafen. Außer mir war niemand mehr im Haus, und auf meinen Wecker war wohl auch kein Verlass mehr. Darüber hinaus waren bereits alle möglichen Busse abgefahren und ich musste zur Schule laufen, was mich zu der halben Stunde, die ich verschlafen hatte, weitere fünfzehn Minuten kostete. So kam ich erst zur zweiten Stunde an. Den richtigen Saal zu finden, war noch das geringste Problem. Erst mal musste ich schauen, wie ich diese peinliche Sache überstehen konnte. Ich mache sicher einen fantastischen Eindruck, dachte ich mir. Aber darüber noch lange zu grübeln, würde ja auch nichts bringen.

Ich klopfte an die Tür, trat ein und …

„Für gewöhnlich wartet man hier vor der Tür, bis man hereingebeten wird, junger Mann!“ Der alte Lehrer mit grauem Haaransatz saß am Pult und musterte mich argwöhnisch.

„Verzeihen Sie, bitte.“, sagte ich leicht eingeschüchtert.

„Sie sind wohl der Neue, sehe ich das richtig?“

„Ja, der bin ich“, sagte ich immer noch irritiert.

„Darf ich auch Ihren Namen erfahren?“

„David Wallen!“

„Nun, Herr Wallen, Sie sind zu spät, aber da das heute Ihr erster Tag ist, will ich gnädig sein. Setzen Sie sich und versuchen Sie möglichst geistreich zu sein!“

Ich sah zur Klasse. Man schaute mich neugierig, teils gelangweilt oder gar genervt an.

„Na, worauf warten Sie, setzen Sie sich endlich!“

Ich ging langsam durch die Reihen und suchte einen freien Platz, als …

„Hey, willst du dich neben mich setzen, hier ist noch frei?“, sprach mich ein Mädchen aus der Bank links von mir an.

„Ja, danke.“ Sie sah mich lächelnd an, und ich setzte mich neben sie.

„Gut, da Herr Wallen nun endlich an Ort und Stelle ist, können wir fortfahren. Wir waren beim Begriff des Determinismus. Er meint, dass alles Zukünftige oder bereits alles Geschehene durch vorhergegangene Ereignisse bestimmt war, ist oder wird. Wer weiß, Herr Wallen, vielleicht war Ihr Zuspätkommen auch determiniert, Schicksal, wenn Sie wollen.

Ich spürte, wie mir eine peinliche Hitze langsam zu Kopf stieg, als mich das Mädchen neben mir mit dem Ellenbogen anstieß.

„Mach dir nichts draus, anfangs ist der Alte immer etwas schnippisch, man gewöhnt sich dran. Ich heiße übrigens Elli. Wenn du was wissen willst, kannst du mich gerne fragen. Ich kann dich auch nachher ein bisschen rumführen, wenn du Lust hast!“

„Ja, na klar hätte ich Lust. Ah, und ich heiße David.“

„Ich weiß!“

„Ja? Woher?“

„Na von eben halt, vor der Klasse, weißt du noch, na?“

„Ach ja, entschuldige, ich bin noch ein wenig verwirrt.“

„Herr Wallen, hier vorne spielt die Musik, ich bin zwar kein so schöner Anblick, aber vielleicht können Sie Ihre Augen dennoch von Ihrer Nachbarin lösen!“

Auf dem Weg nach Hause habe ich noch viel über das nachgedacht, was der Alte über den Determinismus erzählt hatte. Dabei fiel mir auf, dass ich gar nicht nach seinem Namen gefragt hatte. Aber das war auch nicht so wichtig, viel wichtiger war, ob er denn nun recht hatte oder nicht. Wenn das stimmte, was er sagte, hieße das ja, dass es gar keinen Zufall gebe. Es war schwer vorstellbar, andererseits schien seine Argumentation logisch. Bei mir führte eine Kette vorhergegangener Ereignisse auch dazu, dass ich zu spät kam. Erst keiner im Haus, dann der versagende Wecker, dann kein Bus, alles Zufall? Oder doch Schicksal?

 

Am Abend saßen wir gemeinsam am Esstisch, meine Ersatzeltern Diane und Matthias, ein Arbeitskollege von Matthias, genannt Dan, eigentlich Daniel, aber Dan fanden sie fetziger, und ich. Es gab scharfes Gulasch mit Kartoffeln und Tomatensalat. Nach dem Essen blieben wir noch gemeinsam am Tisch sitzen, nur Diane ging noch in die Küche, um den Abwasch zu machen. Matthias und Dan tranken ein Bier zusammen, und obwohl ich schon alt genug war, wollte man mir keines anbieten.

„Und, wie gefällt dir die neue Schule?“, fragte Dan.

„Sie ist ganz okay“, meinte ich.

„Er kam heute Morgen zu spät und das an seinem ersten Tag“, mischte sich Matthias ein.

„Ich hatte es auch nie eilig zur Schule, man muss ja auch noch lange genug hingehen, oder!“, hielt mir Dan bei. „Wie sind denn so die Mädchen in der Schule, sind ein paar dabei, die dir gefallen?“

„Ich hab eigentlich nicht so darauf geachtet, wenn ich ehrlich bin.“

„Was hast du denn den ganzen Tag gemacht, also für uns gab´s damals nicht viel, was wichtiger war, auch für Matthias, selbst wenn man es ihm jetzt nicht mehr so ansieht.“ Matthias nickte und schaute ins Leere, als blicke er in seine Jugend zurück.

„Eigentlich habe ich den Tag mit Elli verbracht“, fügte ich schnell hinzu, um etwas sagen zu können, so war´s ja auch, viele Bekanntschaften hatte ich nicht gerade gemacht, aber das würde vielleicht noch kommen.

„So, Elli, und wie noch?“, hakte Dan nach.

„Das weiß ich gar nicht.“

„Mmh, kannst du sie beschreiben?“

„Na ja, sie ist nur ein wenig kleiner als ich, sie ist schlank, hat blondes Haar und leuchtende blaue Augen, sie lächelt auch gerne und ...“

„Sie lächelt gerne?“

„Jedenfalls hat sie heute sehr viel gelächelt.“ Damit verabschiedete ich mich und ging in mein Zimmer, ich wollte zeitig zu Bett, um Morgen nicht noch einmal zu verschlafen, also legte ich mich gleich darauf schon schlafen.

 

„Verdammt, ich bin zu spät“, dachte er. Er rannte los und stand vor dem Klassenraum. Er klopfte, keiner bat ihn herein, er klopfte noch einmal, wieder nichts. Dann öffnete er die Tür, es war niemand da. Er schaute auf die Uhr an der Wand, die Zeiger drehten sich unaufhörlich. „Hey, ich heiße Elli.“ Er drehte sich um und sah Elli vor sich stehen. „Ich bin David.“ Und sie sagte nur: „Ich weiß, komm.“ Sie gingen durch die Schule, hinaus auf den Schulhof. „Warum bist du hier?“, fragte er. „Schicksal, komm!“, antwortete sie. Sie gingen weiter. „Wo gehen wir hin?“, fragte er. Keine Antwort. Sie standen an einem See, er schimmerte. „Was machen wir hier? Elli, warte auf mich …“

 

Der Wecker riss mich aus dem Schlaf. Ich fühlte mich ein wenig schwindelig und kam zunächst gar nicht recht zu mir, fast so, als wollte mich der Schlaf mit aller Kraft festhalten, als hätte ich noch nicht gehen dürfen. Ich stand auf und ging mit halbverschlossenen Augen ins Badezimmer. Ich ließ mir eiskaltes Wasser über den Kopf laufen, wie lange ich das tat, weiß ich nicht. Ich schaute dann meinem Spiegelbild in die Augen, aber ich wusste nicht, wen genau ich dort sah.

Zum Frühstück aß ich ein paar Scheiben Weißbrot, die ich mit Bananenstückchen belegte, und trank dazu etwas Orangensaft, der ein wenig sauer schmeckte, aber so wurde ich wenigstens wach. Matthias war bereits zur Arbeit gefahren, und Diane frühstückte gemeinsam mit mir. Die beiden waren eigentlich wirklich in Ordnung, bis auf ein paar Kleinigkeiten, die aber allen Erwachsenen anhaften. Trotzdem sprachen wir nicht viel miteinander, und wenn, dann meist über banale und notwendige Dinge. Solche kleinen Wortwechsel konnten zwar das Eis brechen, die Kälte jedoch verschwand nie ganz.

„Gefällt es dir an der neuen Schule, fühlst du dich wohl?“, fragte sie, während sie noch ihr Brot mit Marmelade bestrich.

„Dazu kann ich nicht viel sagen, heute ist schließlich erst mein zweiter Tag, aber bisher ging es ganz gut“, sagte ich und trank einen Schluck Orangensaft.

„Du weißt doch, wenn du Probleme hast, kannst du immer zu Matthias oder mir kommen. Wir sind für dich da, egal, was auch sein sollte, du kannst uns alles erzählen.“

„Ja, natürlich, ich weiß.“ Diesen Satz hatte ich schon so oft gehört, dass ich fast geneigt war, ihn nur für eine Plattitüde zu halten, aber sicher meinte sie das alles nicht so oberflächlich.

„Trinkst du gerne Saft am Morgen? Dann kaufe ich noch welchen für die Woche ein.“

„Am liebsten mag ich naturtrüben Apfelsaft, aber Orangensaft geht auch, und Speisequark als Brotaufstrich könnten wir brauchen.“

„Apfelsaft und Speisequark? Das ist eine komische Zusammenstellung, verträgst du das überhaupt?“, fragte sie skeptisch.

„Ja sicher, aber ich muss jetzt auch los, sonst verpass ich den Bus.“

Die Bushaltestelle war nur zwei Straßen weiter, ein kurzer Weg, ideal, um frische Luft zu schnappen.

 

An diesem Morgen war die Luft sehr feucht und der Geruch von Regen lag in der Luft. Ich dachte mir, dass schon bald Wasser aus den Wolken brechen würde, und griff deshalb noch schnell bevor ich das Haus verließ einen kleinen Taschenschirm.

Für die ersten beiden Stunden stand heute Deutsch auf dem Plan, ein abwechslungsreiches Fach, jedenfalls hatte es mich noch nie gelangweilt. Der Kurs war schön überschaubar, wir waren, mich mitgezählt, fünfzehn - und der Lehrer schien nett und verständnisvoll zu sein.

„Gut, meine Lieben, wie Sie sich vielleicht noch erinnern, wird unser nächstes Thema die Epoche der Romantik sein. Und da hab ich mir überlegt, und das wird sicher lustig, dass wir Gruppen bilden und Sie jeweils ein romantisches Thema kurz vorstellen!“ Er teilte uns in Gruppen ein und vergab Themen. „David, da Sie hier noch recht neu sind, was halten Sie davon, zu Yannick und Elli in die Gruppe zu stoßen, ja, ich finde, das ist eine gute Idee!“

Ohne dass ich viel dazu hätte sagen können, war es dann beschlossene Sache. Ich war schließlich auch ziemlich froh zu Elli in die Gruppe zu stoßen, immerhin kannte ich sie schon ein wenig, wenn man das so sagen darf, denn wann kennt man schon jemanden richtig.

„Hey, wollen wir gleich heute Nachmittag schon anfangen, dann sind wir gut in der Zeit, brauchen uns kein Stress zu machen und können uns besser kennenlernen?“ Elli kam schnell auf den Punkt.

„Ja klar, aber ich kann erst ab fünf, ich muss noch zum Training“, antwortete Yannick.

„Okay, und wo sollen wir uns treffen?“, fragte ich.

„Also, bei mir ist das heute schlecht, meine kleine Schwester hat heute all ihre Freundinnen zu Besuch, die machen immer unheimlich viel Lärm, ich wäre froh, dann für ein paar Stunden fliehen zu können“, sagte Elli und schaute mich an.

„Und ich hab keine Lust aufzuräumen. Wie wär’s, wenn wir zu dir kommen!“, meinte Yannick.

„Ja, okay, das geht schon, bei mir ist auch einigermaßen aufgeräumt.“

„Ach, wenn nicht, würde es auch keinen stören, ich komm so gegen vier vorbei, ist das okay?“, fragte Elli. „Und Yannick kommt dann halt ein bisschen später!“

„Gut, abgemacht, wir sehen uns dann!“

 

Matthias und Diane waren beide noch auf der Arbeit und würden vor sechs Uhr abends auch nicht Feierabend machen. Er arbeitete auf Vollzeitbasis und sie hatte eine halbe Stelle und arbeitete meist erst ab Mittag. Ich war nach der Schule noch schnell Limo und etwas zum Knabbern kaufen. Dann schnell duschen und frische Klamotten überziehen. Die Fenster hab ich auch noch geöffnet, um kühle Luft hereinzulassen, sonst ist ja keiner da, um mal durchzulüften. Elli klingelte fast schon überpünktlich an der Tür und ich öffnete ihr.

„Hey!“

„Hey!“

„Mmh, darf ich reinkommen?“, fragte sie.

„Eh, ja, na klar, entschuldige, komm rein.“

Sie umarmte mich ganz kurz zur Begrüßung. „Schönes Haus habt ihr, gemütlich. Sind deine Eltern nicht da?“

„Diane und Matthias sind beide noch auf der Arbeit, sie werden wahrscheinlich erst in zwei, drei Stunden kommen.“

„Warum nennst du deine Eltern beim Vornamen, das ist etwas komisch, oder?“

„Ja, wäre es schon, aber sie sind nicht meine richtigen Eltern, nur meine Pflegeeltern, ich lebe erst kurze Zeit bei ihnen“, wir gingen hinauf in mein Zimmer.

„Entschuldige, wenn ich etwas neugierig bin, aber darf ich fragen, was mit deinen leiblichen Eltern ist?“

„Ist schon okay, aber das kann ich dir nicht sagen, ich wurde als Säugling bereits abgegeben, das Ganze verlief anonym. Ich wuchs in Waisenhäusern und bei verschiedenen Pflegeeltern auf, ich komme damit aber ganz gut klar, denk ich jedenfalls.“ Kurz schaute ich ins Leere und überlegte, ob es wirklich so ist.

„Sag mal, liest du viel?“ Sie stand vor dem Bücherregal und hielt Dostojewskis Weiße Nächte in der Hand.

„Ich lese gern“, sagte ich.

„Du interessierst dich für viele unterschiedliche Dinge, kann das sein?! Zum Beispiel gestern. Du hast dem Alten ganz gespannt zugehört, was er über den Determinismus erzählt hat, ich habe dich beobachtet.“ Sie schaute mich fragend und ganz direkt mit ihren leuchtenden blauen Augen an.

„Ich fand es sehr spannend, auch wenn das nicht jeder versteht, und ja, es stimmt, ich bin wohl recht wissbegierig, glaube ich.“

„Ja, das denke ich auch, ein bisschen komisch bist du übrigens auch!“

„Komisch? Wieso?“

„Ich weiß nicht genau, ist eben so!“

„Vielleicht bin ich nicht der Einzige, der hier etwas komisch ist!“, meinte ich.

„Glaubst du an sowas, an Schicksal, meine ich?“

„Vielleicht, warum nicht?“

„Also glaubst du tatsächlich, dass alles, was wir tun, allen Menschen, denen wir begegnen, alles, was wir sehen, dass unser ganzes Leben vorherbestimmt ist, gleichgültig, ob wir es wollen oder nicht? Welchen Sinn würde das denn machen?“ Sie wurde aufbrausend.

„Woran glaubst du denn?“, erwiderte ich.

„Ich? Ich glaube an nichts!“

„Und welchen Sinn macht das?“ Wir standen uns jetzt ganz nahe gegenüber und ich spürte ihren aufgeregten Atem, der langsam wieder abflachte.

Es klingelte an der Tür. Yannick kam etwas früher als erwartet. Ich bat ihn herein und führte ihn hinauf zum Zimmer. Er begrüßte Elli mit jeweils einem Kuss auf jede Wange.

Die nächsten zwei Stunden arbeiteten wir gemeinsam an unserem Projekt. Diane kam inzwischen von der Arbeit zurück, sagte kurz Hallo und störte sonst nicht weiter.

„Treibst du eigentlich Sport, bist du in einem Verein?“, fragte mich Yannick.

„Nein, eigentlich nicht, abgesehen vom Schulsport.“

„Hast du’s mal mit Fußball probiert? Wenn du willst, nehme ich dich mal zum Training mit, vielleicht gefällt dir’s ja? Die Leute dort sind jedenfalls alle super in Ordnung, du solltest es echt mal versuchen!“

„Ich überleg`s mir, okay?“

„Ja, okay, ich muss jetzt auch los, hab Zuhause noch was zu tun. Kommst du mit, Elli, ich könnte dich gerade nach Hause bringen?“ Mir wurde komisch zumute, als Yannick das sagte.

„Nein danke, geh du ruhig, ich bleibe noch ein bisschen.“

Yannick verabschiedete sich. Elli und ich waren nun wieder allein im Zimmer. Eine Weile arbeiteten wir noch an unserem Projekt, aber wirklich konzentrieren konnte ich mich nicht, und ich glaube, Elli auch nicht.

„Worum geht es eigentlich in dem Buch?“, fragte sie plötzlich.

„Du meinst Weiße Nächte?“

„Ja genau, das interessiert mich.“

„Nun ja, es geht um einen einsamen Mann, eine junge Frau, eine zufällige Begegnung und eine zarte Liebe. Ich wollte zunächst etwas Dünnes von Dostojewski lesen, ich traute mich noch nicht an die umfangreicheren Werke.“

„Gibt es ein glückliches Ende mit den beiden?“

„Ich glaube, das kann jeder für sich selbst entscheiden, oder muss es sogar.“

„Was meinst du damit?“, fragte sie.

„Lies das Buch, dann weißt du es!“, sagte ich, um sie ein wenig zu necken.

„Du bist gemein, weißt du das!“

„Es ist doch langweilig, alles im Vorhinein zu wissen“, meinte ich.

Draußen war es jetzt dunkel. Und wir hörten das Trommeln des Regens gegen die Fenster. Den ganzen Tag hatte ich ihn bereits erwartet und erst jetzt war er da. Elli und ich wurden so langsam müde, sodass wir beschlossen, es für’s Erste gut sein zu lassen.

„Ich breche dann mal auf, zuhause müssten jetzt wieder menschliche Verhältnisse herrschen. Es hat Spaß gemacht, David. Wir sehen uns dann morgen.“

„Hey, warte mal. Ich begleite dich nach Hause.“

„Das ist lieb gemeint, aber ich hab es nicht weit, höchstens eine Viertelstunde.“

„Ja, aber es ist dunkel und es regnet, und ich glaube nicht, dass du einen Schirm hast. Also, keine Widerrede, ich begleite dich!“

Ich zog mir schnell meine Jacke über und schnappte den kleinen Taschenschirm, den ich morgens in meiner Schultasche verstaut hatte. Es regnete in Strömen. Den einen Arm brauchte ich, um den Schirm festzuhalten, den anderen legte ich um Ellis Hüfte. Wir gingen Seite an Seite, nah beieinander, und fast geduckt, der Schirm war nämlich für zwei Personen recht klein. Ich hielt den Schirm mehr auf Ellis Seite, damit wenigstens sie nicht nass wurde.

„Einen größeren Schirm hattest du wahrscheinlich nicht?“, fragte sie.

Da wir den unzähligen Wasserlachen ausweichen mussten und weil das, so zusammengekettet, gar nicht so einfach war, dauerte es ein wenig länger, bis wir ihr Haus erreichten.

„Danke, dass du mich doch begleitet hast. Du bist ganz der Gentleman, was?“, sagte sie.

„Vielleicht bin ich das, oder vielleicht bist du auch nur die Ausnahme.“

Sie lachte und gab mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange.

„Wir sehen uns dann.“

„Ja, wir sehen uns morgen.“

Auf dem Rückweg dachte ich darüber nach, was ich alles so von mir gab. Unter anderem der Satz: „Vielleicht bin ich das …“ Er kam mir vor wie das Zitat eines schlechten Kinofilms. Aber es funktionierte. Es? Was funktionierte? Was hatte ich mir dabei gedacht? Ich wusste selbst nicht, was ich tat, eigentlich passte das gar nicht zu mir, oder doch? Das Einzige, das feststand, war meine Verwirrung. Nichts Neues. Aber diesmal war es irgendwie anders, ich fühlte anders, warum?

 

Zuhause angekommen wechselte ich erst mal meine durchnässten Kleider und zog trockene bequeme Sachen an. Diane und Matthias warteten mit dem Essen auf mich. Diane hatte Lasagne vorbereitet, da sie dachte, dass ich nach einem so anstrengenden Tag eine gute Portion Kohlenhydrate gut gebrauchen könne. Damit hatte sie auch recht, nach dem Essen war ich durchaus wieder kräftiger.

„Du scheinst neue Freunde gefunden zu haben, das ist schön“, meinte Matthias.

„Ja, sieht wohl so aus. Elli ist wirklich ein nettes Mädchen und Yannick hat mir schon angeboten, beim Fußballtraining mitzumachen.“

„Na, das ist doch super, magst du Fußball überhaupt?“

„Ich weiß nicht genau, aber probieren kann ich’s ja.“

„Und dieses Mädchen, Elli, sie scheint dir zu gefallen, oder?“

„Also Matthias, jetzt frag den Jungen nicht so aus, das ist ja fürchterlich!“, wies ihn Diane zurecht.

„Was denn? Du bist doch genauso neugierig.“

„Ich gehe jetzt schlafen“, fiel ich ihnen ins Wort. „Ich bin müde, schlaft gut!“

 

Er stand auf einem Steg. Unter ihm das kalte, dunkle, vom Wind in Bewegung versetzte Wasser. Er blickte hinein und versuchte, etwas in der Tiefe auszumachen. Alles um ihn herum verschwamm, er blickte nur wie gebannt in die Tiefe. Er sah nichts, warum sah er nichts?

Er wurde gestoßen, ein Schrei, nicht seiner. Er fiel ins Wasser und sank. Er wollte sich bewegen und zur Oberfläche schwimmen, doch er konnte nicht, er konnte sich nicht bewegen. Er blickte zur hellen Oberfläche und sah die Silhouette einer Gestalt, die ihm nachtauchte und versuchte, ihn zu erreichen, doch er sank unaufhörlich weiter, niemand konnte ihn mehr erreichen. Er sank tiefer, und je tiefer er sank, desto schwerer wurden seine Augenlider, und je tiefer er sank, umso stärker umhüllte ihn die Dunkelheit der Tiefe und verdrängte mehr und mehr das Licht der Oberfläche. Seine Augen wurden schwerer und schwerer und Ohnmacht überkam ihn, und er sank.

Ein starker Strom reißt ihn plötzlich hinfort. Er wird an ein verlassenes Ufer gespült. Liegt dort, ohnmächtig.

Eine Berührung weckt ihn …

 

Ich wachte mit schweißgebadeter Stirn und einem Gefühl auf, als liege mir eine Tonne Blei auf der Brust. Das Erste, was ich tat, ... ich nahm eine Dusche, danach fühlte ich mich immer befreit. Zum Frühstück gab es den versprochenen Apfelsaft und Speisequark als Brotaufstrich.

Ich machte mich auf den Weg zur Schule. Die Wolken des Vortags schienen sich verzogen zu haben. Mit einem Lächeln auf den Lippen dachte ich an den verregneten Abend und an Elli. Auch dachte ich darüber nach, ob ich Matthias’ Frage direkt hätte beantworten können.

Ich war an diesem Morgen recht früh dran. Als ich ankam, sah ich Yannick bei seinen Freunden stehen. Sie schienen sich über etwas angeregt zu unterhalten, trotzdem beschloss ich, ihm wenigstens einen guten Morgen zu wünschen, ohne ihn weiter zu stören.

„Morgen, Yannick, na, alles klar bei dir?“ Er drehte sich zu mir um und ging auf mich zu.

„Ob bei mir alles klar ist? Das könnt ich wohl eher dich fragen, du Möchtegern-Casanova. Du kommst hier her, auf unsere Schule, keine drei Tage bist du hier, und schon denkst du, du könntest dir alles erlauben!“

„Ich versteh nicht ganz, wo ist das Problem?“

„Du bist das Problem, mein Freund. Du hast gestern Elli nach Hause begleitet, war doch so, oder?“

„Ja, es hatte geregnet und sie hatte keinen Schirm bei sich, was ist daran so schlimm?“

„Elli ist meine Freundin, hast du kapiert!“ Er stieß mich derart heftig, dass ich das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel. „Lass in Zukunft deine dreckigen Pfoten von ihr.“

„Hey, was soll das denn?“, rief es von Weitem. Elli kam auf mich zugelaufen, und Yannick machte sich mit seinen Freunden aus dem Staub.

„David, alles okay bei dir, hast du dir wehgetan?“ Sie machte Anstalten, mir aufzuhelfen.

„Nein, lass mich, ich kann allein aufstehen.“

„Was ist los, was hast du auf einmal?“

„Nichts ist los, es ist alles in bester Ordnung. Ich muss jetzt zum Unterricht.“ Ich ging weiter, ohne sie einmal wirklich angesehen zu haben, als wollte ich, dass alles hinter einem Schleier verschwimmt und ich niemanden mehr sehen müsste.

 

Am Nachmittag saß ich allein in meinem Zimmer. Ich hatte nichts zu tun, also las ich ein Buch. Meine Augen glitten über die Zeilen, aber ich verstand nichts, sodass ich manchen Satz zehnmal lesen musste, doch beim letzten Wort vergaß ich immer wieder, was darin stand. Mein Blick ging von Wort zu Wort, von Zeile zu Zeile, als suche ich etwas Verlorenes oder etwas Neues, aber vielleicht war das alles nur Einbildung.

Gegen fünf Uhr klingelte es an der Tür. Da sonst niemand im Haus war, öffnete ich. Es war Elli. Sie stand vor mir und sagte zunächst kein Wort. Auch ich stand da und wusste nicht recht, was ich tun sollte. Ich hatte schließlich nicht mit ihr gerechnet, und so brachte ich auch nichts über die Lippen. Es war mir sichtlich unangenehm und ich glaube, sie merkte das nur zu sehr. Dennoch schien sie nicht wütend zu sein, obwohl sie allen Grund dazu gehabt hätte.

„Gehen wir ein kurzes Stück spazieren, David?“ Ihre Stimme war leise, es lag ein wenig Wehmut darin, sie war aber dennoch bestimmt. Warum, konnte ich mir nicht erklären, denn noch nie hatte ich einen solchen Tonfall vernommen, ich konnte also nur rätseln, was er zu bedeuten hatte.

„Ja, ich … ich komme.“ Vielleicht war es nur die Neugierde, die mich bewog, das zu sagen.

Ich schnappte mir noch meine Jacke, hing sie mir aber nur über die Schulter, denn es war noch recht warm und die Sonne warf noch ihr Licht auf die pechschwarzen, neu asphaltierten Straßen. Elli und ich gingen nebeneinander die Straße zum Ortsausgang entlang, das alles ohne ein Wort zueinander zu sprechen. Wir kamen dann an ein Waldstück am Rande der Stadt.

„Hier war ich noch nicht, wo gehen wir hin?“, fragte ich.

„Es ist nicht mehr allzu weit, wir sind gleich da.“

„Was ist das mit dir und Yannick?“

„Was ist das mit dir?“

„Wie meinst du das?“, fragte ich.

„Ich meine, warum hast du heute Morgen so abweisend reagiert, was sollte das, ich wollte dir nur helfen, sonst nichts, und du stößt mich von dir, als sei ich diejenige gewesen, die dich zu Boden warf.“

„Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist.“

„Das ist keine Antwort, David.“

„Ich glaub, ich war einfach nur erschrocken und vielleicht war ich auch wütend.“

„Wütend auf mich?“

„Kann schon sein.“

„Warum, habe ich dir etwas getan oder ist es wegen Yannick, was hat er gesagt?“ Sie blieb stehen, hielt mich an und sah mich unausweichlich mit ihren blauen Augen an.

„Er sagte, du wärst seine Freundin, deswegen, was ist das mit dir und ihm?“

„Gar nichts ist mit ihm und mir!“ Sie wandte ihren Blick ab und ging weiter.

„Du weißt, dass das nicht stimmt. Ich will es jetzt wissen, also sagst du‘s mir oder nicht?“

„Yannick und ich“, sie zögerte kurz, „wir waren mal ein Paar gewesen, nur kurz, ein paar Wochen, wenn überhaupt. Ich hab mit ihm schlussgemacht, wahrscheinlich ist er noch nicht darüber hinweg oder auch nur in seinem krankhaften Stolz verletzt.“

„Warum hast du schlussgemacht?“

„Er ließ mich nicht sein, wie ich bin. Yannick ist ein Macho. Er braucht nur ein hübsches, dummes Mädchen, mit dem er vor seinen idiotischen Freunden angeben kann. Ich hatte für ihn keinen wirklichen Wert. Und als ich das merkte, machte ich Schluss. Er ist ganz schön ausgetickt, und seitdem lässt er mich nicht mehr in Ruhe. In der Schule ist er der reinste Schauspieler und ist bei den meisten beliebt, aber mit ihm allein ist es unheimlich.“

Wir gingen immer noch durch den dichten Wald. Es dämmerte, und die letzten Sonnenstrahlen schlängelten sich an den Baumstämmen vorbei und warfen noch schwaches Licht auf den Weg vor uns.

„Wir sollten umkehren, es wird dunkel“, sagte ich zu Elli.

„Nein, noch nicht, sieh, da vorne, wir sind gleich da.“ Sie nahm mich bei der Hand, lief los und zog mich mit ihr. Sie wich vom Weg ab, und wir kämpften uns durch Dornen und Gestrüpp, bis wir an einer freien Stelle angelangt waren. Hier blieb sie stehen und schaute nach rechts, meine Hand immer noch haltend. Vor uns lag ein See. Ein mit Moos befallener, aber ein anscheinend noch stabiler Steg strebte zur Mitte des Sees, welcher von hohen Gräsern umwuchert war. Mir war dieser Ort vertraut, als kenne ich ihn bereits, ich wusste aber genau, dass ich zuvor noch nie dort gewesen war. Wir gingen näher heran und mir wurde plötzlich bewusst, ich kannte ihn.

„Was hast du, David?“

„Nichts, nichts, es ist nur …“

„Ich weiß, komm!“ Wir gingen weiter auf den See zu und wagten uns auf den Steg. Wir hatten wohl beide ein mulmiges Gefühl dabei, aber dieser Hauch von Gefahr und der Ungewissheit unter uns schien uns anregend zu sein. Elli hielt meine Hand nun fester, und wir standen ganz vorne am Ende des Stegs.

„Was denkst du machen wir hier, David?“

„Ich bin mir nicht sicher.“ Wir standen uns jetzt gegenüber, sie hielt meine Hand und wir blickten uns an.

Die Dämmerung zog herauf und die Nacht nahm sich Stück für Stück mehr vom übrig gebliebenen Tag. Ich sah Elli wie noch nie zuvor, so reizend wie noch nie. Sie trat näher, und ich spürte ihren aufgeregten Atem. Es war jetzt bestimmt und so konnten wir nicht anders. Ich küsste sie.

 

Es war bereits Nacht geworden und die Straßenbeleuchtung brannte, als ich nach Hause kam. Diane und Matthias saßen noch am Esstisch und unterhielten sich. Die Teller mit den wenigen Essensresten ließen erraten, dass sie bereits zu Abend gegessen hatten.

„Wo bist du gewesen? Verdammt, wir haben uns Sorgen gemacht!“, sagte Diane, als ich den Raum betrat.

„Ich war mit ein paar Leuten aus der Schule unterwegs, ich dachte, das wäre in Ordnung“, ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Natürlich war es gelogen, aber sie mussten auch nicht alles wissen.

„Selbstverständlich ist es in Ordnung, wenn du nach der Schule noch deine Klassenkameraden triffst, aber es wäre schön, wenn du das nächste Mal kurz vorher Bescheid gibst“, schlug Matthias vor.

Ich versprach ihnen alles, hatte meine Ruhe und sie ihre Gewissheit, die sie ja so schätzten, na ja, die wohl alle Eltern schätzen, und dann ging ich hinauf in mein Zimmer und legte mich ohne geduscht zu haben direkt schlafen. Ich versuchte, zur Ruhe zu kommen, um endlich schlafen zu können, musste aber dennoch über all das Geschehene nachdenken, ich wusste, dass ich ansonsten kein Auge zu bekäme.

 

Er spürte einen Herzschlag, und er spürte einen zweiten Herzschlag und alles schien dunkel. Es schlug eins um das andere, eins um das andere, bis aus zweien mehr und mehr ein einziger wurde. Er fühlte eine innige Wärme, eine, die er so noch nie fühlte.

Er stand inmitten riesiger Bäume, die in den Himmel ragten und sich halb bedrohlich, halb behütend über ihn wölbten. Dann lief er und suchte den Weg. Er lief immer schneller, nicht als sei er auf der Flucht, sondern als käme er zu spät. Er suchte den Weg, die Straße in die Stadt, er müsse sich beeilen, sonst sei er zu spät.

Er fand den Weg, jetzt suchte er Elli, er musste sie finden …

 

Am Morgen erwachte ich mit gemischten Gefühlen. Einerseits war ich unruhig, aber andererseits war ich auch glücklich und freute mich auf die Schule. Ich war an diesem Morgen sehr früh wach und nahm mir vor, lieber zu Fuß zur Schule zu gehen, stickige Schulbusse konnte ich ohnehin nie ausstehen, und ich mochte die Ruhe, die auf dem ganzen Weg lag. Man musste sie genießen, bevor einen der lärmende Alltag einholte.

Ich traf sogar viel zu pünktlich in der Schule ein. Im Gebäude brannten noch keine Lichter. Ich setzte mich auf eine der massiven Holzbänke, die verteilt auf dem Schulhof standen, und wartete.

Ein paar Minuten später hielt der erste Schulbus an der Feuerwehrzufahrt zum Schulhof. Die jüngeren Schüler stürmten sofort aus dem Bus und rannten wie wild auf dem Hof herum. Nach ihnen stiegen die älteren Jahrgänge um einiges gemächlicher aus dem Bus. Als würde es etwas bringen, die Sache so hinauszuzögern. Ein paar Mädchen, unter ihnen auch Elli, stiegen guter Laune aus dem Bus. Sie amüsierten sich dem Anschein nach über irgendetwas, jedenfalls lachten sie, steckten ihre Köpfe immer wieder zusammen und tuschelten. Kurz nach ihnen stieg auch Yannick aus dem Bus, im Schlepptau zwei seiner geistlosen Kameraden, denen es offensichtlich an dem einen mangelte und an dem anderen überschüssig war.

Die Gruppe von Mädchen kam immer näher und ich schaute direkt zu Elli. Dass die anderen Mädchen das nur zu sehr merkten und mich genau beobachteten, bemerkte ich nicht.

„Hi, David, na, alles klar?“, rief eines der Mädchen zu mir herüber, während sie alle kichernd weitergingen, nur Elli löste sich von der Gruppe und ging auf mich zu.

Ich ging ihr entgegen. Ich blickte in ihre strahlend blauen Augen, sie selbst schien sehr glücklich zu sein. Wir näherten uns behutsam einander, und sie küsste mich.

 

In der Klasse während des Deutschunterrichtes saß Elli zwei Reihen vor mir. Und obwohl ich mich immer gut konzentrieren konnte, besonders gut in Deutsch, wollte es mir diesmal nicht gelingen. Ich gab Elli dafür keine Schuld, vielmehr fragte ich mich, was denn eigentlich los sei, es passte einfach nicht zu mir, oder doch? Jedenfalls war es völlig ungewohnt. Dass meine Gedanken um alles Mögliche kreisten, das war schon immer so, und dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte, das war auch nichts Neues, aber dass mir diese Tatsachen, diese Verwirrung, absolut nichts ausmachten und es mir verdammt gutging, das war anders.

 

Nach der Schule begleitete ich Elli nach Hause. Die ganze Zeit über hielt ich ihre Hand und mir war, als kenne ich Elli schon ganz genau, und ich glaube, so dachte sie auch von mir.

„Hey, David, was hältst du davon, wenn du heute zum Abendessen zu mir kommst?“

„Ja natürlich. Gerne. Aber nur, wenn du gut kochen kannst!“

„Hey, natürlich kann ich gut kochen, woher willst du das überhaupt wissen, du hast noch nichts von dem, was ich gekocht habe, probiert.“

„Eben das macht mir Sorgen!“, neckte ich sie.

„Du bist gemein, weißt du das! Also kommst du jetzt oder nicht?“

„Ja, na klar komm ich, aber warum so plötzlich?“

„Ich möchte dir meinen Vater vorstellen.“

„Deinen Vater?“

„Ja, meinen Vater, du brauchst keine Angst zu haben, er wird dir nicht den Kopf abreißen, wenn du einen guten Eindruck hinterlässt!“

„Einen guten Eindruck?“

„War bloß ein Scherz“, sie lachte. „Komm einfach vorbei, okay?“

„Weiß dein Vater schon von dir und mir, ich meine, hast du es ihm schon erzählt?“, fragte ich.

„Was erzählt?“

„Komm, du weißt genau, was ich meine.“

„Nein, hab ich noch nicht, aber keine Sorge, heute Abend wird er es ja sehen.“

„Oh, das beruhigt mich ungemein.“

„Du bist ein Angsthase, weißt du das!“, stichelte sie. „Aber ich weiß, dass du auch mutig sein kannst.“

 

Am Abend stand ich pünktlich vor Ellis Haustür. Ich wollte doch einen guten Eindruck machen, man kann ja nicht wissen, deshalb zog ich meine schwarze Hose an, die einzige, die ich hatte und sonst nur zu besonderen Anlässen trug, wie zum Beispiel zu Beerdigungen und Familienbesuchen, auch wenn es nie meine eigene Familie war, und natürlich das passende weiße Hemd dazu. Elli öffnete mir die Tür, umarmte mich und bat mich herein.

„Du hast dich herausgeputzt, wie ich sehe, was?“

„Na, ich wollte doch einen guten Eindruck machen.“ Sie lachte.

„Komm, wir gehen ins Wohnzimmer, mein Vater ist schon ganz gespannt, ich habe ihm noch nicht gesagt, wer kommt.“

Das Wohnzimmer war ein großer, hell erleuchteter Raum. Das Esszimmer schloss sich ohne Trennwand direkt an. Ellis Vater saß auf dem blauen Sofa und schaute die Nachrichten. Er war ein Mann mittleren Alters, jedenfalls schätzte ich ihn so ein, auch hatte er noch die meisten seiner Haare und sah relativ sportlich aus.

„Ah, da ist ja unser geheimnisumwitterter Besuch“, er stand auf und kam uns entgegen.

„Freut mich, sie kennenzulernen, Herr Zimmer“, wir schüttelten uns die Hände.

„Ach, nenn mich Markus - und du?“

„Einfach David.“

„Okay, David, ich hoffe du hast Appetit mitgebracht, es gibt Lammpfanne. Elli, ruf bitte deine Schwester“, sagte er.

Markus, Elli, ihre kleine Schwester und ich saßen gemeinsam am Esstisch und schlemmten. Ellis Vater verstand sich nämlich vorzüglich aufs Kochen, wie er mir versicherte. Auch Ellis kleiner Schwester schien es zu schmecken, obwohl das Gericht sehr deftig und mit viel Gemüse zubereitet war und die Kleinen doch eher auf so was wie Pommes mit Ketchup fliegen.

„Und, David, darf ich fragen, wie alt du bist?“, fragte Markus.

„Sicher, ich bin siebzehn, werde aber in ein paar Wochen schon achtzehn.“

„Dann machst du sicher bald den Führerschein, oder?“

„Daran hab ich eigentlich noch nicht gedacht, ich bin ja gerade erst hierher gezogen, aber dafür ist ja noch Zeit, allzu lange wird das nicht mehr dauern“, sagte ich.

„Papa?“, rief die Kleine.

„Ja, mein Engel?“

„Sind David und Elli jetzt zusammen wie bei dir und Mama?“ Ich spürte eine Hitze, die mir zu Kopf stieg.

„Nein, mein Engelchen, du weißt doch, die Mama ist jetzt in Berlin bei ihrem neuen Freund, erinnerst du dich, Mama und ich haben doch mit dir darüber gesprochen.“

„Warum?“, rief die Kleine.

„Hey, geh doch hoch etwas spielen, was meinst du, und ich komm nachher zu dir und bring dich ins Bett.“ Trotzig, aber dennoch beruhigt, konnte sie Elli das Angebot nicht abschlagen und ging hoch in ihr Zimmer.

„Sie kann noch nicht ganz verstehen, warum meine Frau und ich uns getrennt haben, aber sie ist doch sehr neugierig, und pfiffig ist sie auch. Sie geht in die erste Klasse, hat aber ein Gespür wie eine Große“, sagte Markus. „Mmh, und da wir gerade dabei sind, ihr zwei, ich meine seid ihr nun, oder …, ihr also miteinander …“

„Papa!“

„Ist ja schon gut, ich bin ruhig, ich sage nichts mehr.“

„Ja, ich schätze wir sind“, sie nahm meine Hand und schaute mir in die Augen.

„Ja … ja, ich denke, wenn sie das sagt, dann ist das so.“ Elli lachte und stieß mich mit dem Ellenbogen an.

„Na ja, Humor hat er wenigstens“, sagte Markus.

Das Essen jedenfalls war ein voller Erfolg. Markus und ich verstanden uns prima. Und zwischen Elli und mir war es jetzt wohl bestimmter geworden, ich wusste zwar nicht recht, wie das alles passiert ist, aber das war mir auch egal. Als ich nach Hause kam, schlief bereits alles. Diane und Matthias wussten, wo ich war, und konnten so beruhigt schlafen gehen. Ich war nach dem Abend auch ziemlich erledigt und ging gleich zu Bett. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass ich wieder zufrieden einschlafen konnte.

 

Er war in der Schule und ging den langen dunklen Hauptflur entlang, als er am Ende des Flurs die Silhouetten zweier Gestalten erkennt. Er hörte nichts, außer den Geräuschen seiner eigenen Schritte, als er auf die Gestalten zuging. Je näher er ihnen kam, umso deutlicher wurden ihre Züge, bis er sie letztendlich erkannte, es waren Elli und Yannick. Mit aufsteigender Angst wurden seine Schritte schneller und größer. Er rief nach Elli, doch sie hörte nicht. Er rief ein zweites und ein drittes Mal, immer lauter mit schneller werdenden Schritten.

Sie hörte nicht und rannte davon. Und so schnell er auch jetzt lief, er konnte sie nicht erreichen …

 

Schweißgebadet erwachte ich am nächsten Morgen. Elli traf ich erst in der Schule, und obwohl mir der nächtliche Traum zusetzte, vergaß ich in ihrer Gegenwart das schreckliche Gefühl, das mich seit der Nacht nicht loslassen wollte. Wir sahen uns nur kurz und verabredeten uns für den Nachmittag.

 

Am Nachmittag erhielt ich eine SMS von Elli, gerade als ich mich auf den Weg machen wollte, um sie abzuholen und mit ihr ins Wochenende zu starten.

 

Lieber David, ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte. Ich kann dir dabei nicht in die Augen sehen. Und es tut mir leid, aber wir können uns nicht mehr sehen, David, ich kann dich nicht mehr sehen, ich will nicht, es war ein Fehler, ich hoffe du kannst mir verzeihen.

 

Ich las die Nachricht, aber konnte nicht glauben, was sie schrieb. Warum auf einmal? Völlig ohne Grund. Das konnte nicht sein, nein, es durfte nicht sein.

Ich versuchte, sie auf ihrem Handy zu erreichen, doch ich scheiterte immer wieder an der Mail-Box. Unwillkürlich fiel mir dieser Traum ein und das gleiche Gefühl erfasste mich wieder. Ich suchte nach einer Idee und rannte einfach los, zu ihr, ich brauchte eine Erklärung dafür. Doch selbst bei ihr zu Hause war niemand.

Eine Nachbarin, die in ihrem Vorgarten gerade Unkraut jätete, bemerkte meine Aufregung. Sie bot mir ihre Hilfe an und ich erklärte ihr die Situation. Schließlich erfuhr ich, dass Elli mit ihrer Familie auf dem Weg zum nahegelegenen Flughafen war, um nach Berlin zu ihrer Mutter zu fliegen.

 

Eine Stunde später kam ich am Frankfurter Flughafen an. Ich hatte mir gleich, nachdem ich von der Nachbarin alles erfahren hatte, ein Taxi genommen. Mein letztes Geld hatte ich dafür zusammengekratzt.

Jetzt rannte ich planlos durch die Flughafenhalle, vorbei an den Gates. Ich musste mich beeilen, ich musste sie finden, es ging nicht anders.

 

„Der Flug FW306 nach Berlin-Tempelhof fällt aufgrund des Vulkanausbruchs in Island aus. Sie können an den Informationsschaltern umbuchen oder bekommen je nach Reiseanbieter Ihre Kosten erstattet. Wir bitten um Ihr Verständnis und wünschen Ihnen noch einen angenehmen Tag.“

 

Überall standen entnervte Reisende mit ihrem Gepäck. Viele von ihnen schimpften.

„Hey, David, warte mal, was machst du hier?“ Ellis Vater hielt mich an, neben ihm stand Ellis kleine Schwester und hielt seine Hand. Ich hatte beide gar nicht gesehen in dem Tumult aus hektischen Fluggästen.

„Gott sei Dank, gut, dass ich Sie treffe, ich dachte schon, ich sei zu spät. Ich muss ganz schnell zu Elli, wo ist sie?“

„Sie ist drüben am Infostand und fragt nach, was … hey, warte, lauf doch nicht so schnell weg!“

 

Ich rannte zum Infostand, aber da war sie nicht. Ich hielt nach Elli Ausschau. Dann, endlich, sah ich sie. Mitten in der Schlange stand sie, mit einem kleinen, aber auffälligen knallroten Koffer.

„Elli!“, rief ich.

Sie drehte sich um, sah mich, und wandte ihren Blick erschrocken ab. Ich dachte schon, es habe keinen Sinn mehr, aber dann drehte sie sich um und verließ die Schlange.

Sie stand nun vor mir, mit gesenktem Blick, dann ließ sie den Koffer los und fiel mir stürmisch um den Hals. Sie drückte sich fest an mich und ich hörte ihr Schluchzen.

„Ich wollte das nicht, David, das musst du mir glauben, ich wollte das nicht“, sie lockerte ihren Griff und lehnte sich an meine Brust „Halt mich fest, David.“ Sie zitterte.

Wir verharrten einige Sekunden, vielleicht auch Minuten, ohne ein Wort zu sagen.

„Ich wollte das nicht, David, Yannick hat mich dazu gezwungen, er hat gedroht, dir etwas anzutun, ich musste einfach weg, verzeih mir.“ Sie erzählte mir alles und es war wie ein böser Traum.

 

Er hielt Elli auf dem Schulhof an. „Ich muss mit dir reden.“

„Ich aber nicht mit dir. Lass mich los, ich muss zum Unterricht“, sagte Elli.

„Jetzt pass mal auf. Du bist immer noch meine Freundin, hast du verstanden. Du hast bei diesem Typen nichts verloren!“

„Wir sind nicht mehr zusammen, falls du das nicht gemerkt hast, ich habe mit dir schlussgemacht!“

„Niemand macht mit mir Schluss. Du wirst deinen Liebhaber in den Wind schießen und allen, die fragen, wirst du sagen, dass du wieder mit mir zusammen bist. Denn es wäre doch schade, wenn deinem Liebsten etwas zustoßen würde.“ Er zog ein Messer aus seiner Hosentasche „Du weißt, dass ich das kann, also?“

„Das wagst du nicht“, erwiderte sie.

„Du weißt wohl nicht, wer vor dir steht“, er drückte sie gegen die Wand des Gebäudes. „Überleg dir deine Antwort gut, nun, was ist?“

„Wenn ich das tue - und du hast, was du willst, lässt du ihn dann zufrieden?“

„Wenn ich das bekomme, was ich will, natürlich!“

„Also gut“

 

„Elli, ich ...“, sie sah mich wieder mit ihren strahlenden blauen Augen an.

„Du hast mal gesagt, du glaubst an Schicksal, David, ich glaube das hier ist Schicksal.“

„Ich ...“

Sie lächelte. „Ich weiß“, sagte sie und mehr musste sie auch nicht sagen.

 

 

7.

„S.“

 

Geplante Abfahrt Richtung Frankfurt wäre morgen, um 14:00 Uhr. Ich fand das ja viel zu früh. Meine Mutter hingegen wollte gegen alles gewappnet sein und rechnete sogar Autopannen mit ein. Ich fragte mich, warum sie so nervös war. Als würden wir das erste Mal in Urlaub fahren. Dabei machten wir das doch zwei Mal im Jahr und auch nicht erst seit gestern. Aber sei's drum. Immerhin übernachteten wir in der Nähe von Frankfurt, um pünktlich am Flughafen zu sein, planmäßig sollte unser Flug um 9:00 Uhr in der Früh starten. Auch sowas hatten wir zuvor nicht, immer sind wir von Freunden gefahren worden oder fuhren selbst. Der Preis jedenfalls war unschlagbar, 89 Euro kostete die Übernachtung mit Stellplatz auf dem Hotelhof für 15 Tage, inklusive Frühstück. Selbst das Parkhaus am Flughafen wäre teurer gewesen, hier bekamen wir sogar noch etwas zu essen. Trotzdem fand ich die Uhrzeit zu früh angesetzt. Ich würde lieber noch ein wenig mehr Zeit zu Hause haben, die Zeit mit meinem Freund und meinen Katern verbringen. Zwei Wochen können ganz schön lange werden, wenn man zu Hause etwas hat, was man vermisst.

 

„Warum müssen wir denn unbedingt so früh los, Ma? Wir fahren zwei Stunden bis Frankfurt, wir haben dort nichts Besonderes vor, außer zu Abend essen und zu schlafen. 18:00 Uhr reicht doch vollkommen!“

Falsche Aussage. Niemals würde sie sich darauf einlassen, so spät loszufahren. Aber wie das bei Verhandlungen so ist, man musste eben einen Puffer schaffen. Auch wenn es mir natürlich nicht unrecht gewesen wäre, so spät aufzubrechen. Die Hoffnung zerschlug sich aber erwartungsgemäß recht schnell.

„Sechs Uhr abends?!“

Meine Mutter klang schockierter als ich annahm.

„Das kannst du vergessen. Ich will noch bei Tageslicht in Frankfurt ankommen, egal was passiert!“

„Ja, aber was bitte soll denn passieren?“ So langsam war ich echt genervt. Dabei war ich doch eigentlich nur hier, um meinen Koffer abzugeben, damit er von Mutter kontrolliert werden konnte. Das tat sie immer. Und immer packte sie noch mehr dazu, nie hätte ich genug T-Shirts dabei. Nur zu viele Socken. Um wenigstens dieser Diskussion Einhalt zu gebieten, hatte ich schon zu Beginn gesagt, sie solle dazu packen, was sie für richtig hielt, über die Sockenanzahl diskutiere ich dieses Jahr nicht. Erstaunlicherweise nahm sie das sogar hin. Dass die Abfahrtszeit dann so ein Problem werden würde, hatte ich nicht für möglich gehalten.

„Wir könnten in einen Stau kommen!“

„Sicher könnten wir das. Und dann? Dann bleiben uns trotzdem noch knapp 12 Stunden Zeit, bis unser Flug geht.“

„Das Auto könnte liegenbleiben. Bis der ADAC da ist, vergehen auch wieder Stunden. Du weißt, dass ich mit dem Auto in letzter Zeit immer mal wieder Probleme hatte.“

„Ja, Mama. Ich habe dir schon vorgeschlagen, mit meinem Auto zu fahren. Das funktioniert nämlich.“

„Nein, auf keinen Fall! Ich hole dich dann um 15:00 Uhr ab, mehr Spielraum ist nicht!“

Na immerhin hatte ich eine Stunde rausgeschlagen. Besser als nichts. Jetzt konnte ich in Ruhe meinen Kaffee austrinken und den neu renovierten Flur bewundern. Auch wenn mir anfangs die Farbe der Platten nicht zusagte, sah es hier doch ganz gut aus. Hätte ich so nicht erwartet. Das helle Grau der Granitplatten erinnerte mich anfangs irgendwie an Einkaufszentren oder Arztpraxen. So zumindest, als ich die Musterplatte sah. Machte aber einiges her, im Vergleich zu vorher wirkte nun alles viel größer. Meine Mutter sah das mit dem „in Ruhe Kaffee trinken“ aber offensichtlich anders. Auch dass ich durch ihr Haus schlenderte, um alle verrichteten Arbeiten anzuschauen, schien sie eher zu stressen. Sie wuselte wild um mich herum, trug immer wieder Kleider hin und her. Als ich einen Blick in ihr Ankleide-/Bügel-/Gästezimmer warf, sie konnte sich noch nie entscheiden, welche Bezeichnung es haben sollte, sah ich auch warum. Sie hatte noch nicht mal ihren Koffer gepackt! Wobei Einzahl diesmal auch falsch war. Zwei große Koffer standen parat.

„Was willst du denn alles mitnehmen?“, fragte ich, nun doch etwas irritiert, denn nie hatte meine Mutter soviel Kram eingepackt. Wozu auch, schließlich fuhren wir ja auch zum Tauchen in Urlaub, und nicht, um eine Modenschau zu veranstalten. Somit brauchten wir hauptsächlich T-Shirts, Jogginghosen und dicke Wollstrümpfe, denn auf dem Boot wird es immer kalt, spätestens nach dem ersten Tauchgang. Aber was sie nun im Zimmer zum Einpacken gestapelt hatte, war überwiegend Abendgarderobe.

„Ach, ich weiß ja auch nicht, was dieses Jahr los ist ...“

„Das sehe ich. Du weißt schon, dass du das alles gar nicht brauchst? Gar keine Zeit hast, das alles anzuziehen? Oder hast du mir verschwiegen, dass du nur One-Way-Tickets gebucht hast?“

„Nein, aber das Prospekt des Hotels sah so schick aus. Da brauch' ich zum Abendessen bestimmt schickere Sachen als sonst, das andere waren ja eigentlich Taucherhotels.“

Was sollte ich da noch entgegnen? Um weiteren Gesprächen zu entgehen, zog ich es vor, den Heimweg anzutreten.

 

Draußen war es allmählich dunkel geworden. Ich mochte die Strecke zu meiner Mutter nicht sonderlich gerne. Das Waldstück war mir immer suspekt, hier passierten viele Unfälle aufgrund von übereifrigen Fahrern, die es tatsächlich für nötig hielten, auf der mehr als ein Kilometer langen kurvenreichen Landstraße zu überholen. Dabei war der Weg an sich schön anzusehen. Wie eine Allee, welche nun durch Leitplanken meiner Meinung nach geschändet aussah. Immer redete ich mir ein, dass die Wildtiere ein wenig mehr Respekt vor der Straße hatten, seit diese Leitplanken dort aufgebaut waren. Natürlich war das nicht so, aber die Straße erschien mir seither etwas weniger gefährlich. Ich drehte das Radio lauter und fuhr gemütlich nach Hause in die Stadt.

Langsam wurde auch ich nervös, wie immer am Tag vor der Abreise. War genug Futter für die Katzen da? Genug Einstreu? Wohnung betretbar, Wäsche gewaschen, grundlegende Dinge genügend eingekauft, damit auch der Freund grob versorgt war? Mit meiner imaginären Checkliste lief ich in der Wohnung hin und her, stellte fest, was ich alles vergessen hatte, tat es als „nicht so tragisch“ ab, wurde gleich wieder nervös, weil es eben doch essentiell sein könnte. Also widmete ich mich dem Packen des Handgepäcks, diesmal allerdings mit einer richtigen Liste, von Mama geschrieben. Sonnenbrille, Reisepass, Bespaßungsmaterial in Form von Rätselheftchen und Büchern. Eigentlich las ich nie viel im Urlaub, aber es muss auf jeden Fall genug im Gepäck sein. Bis auf die Sonnenbrille war nun alles eingepackt, diese war unauffindbar. Egal, dann wird eben dort eine gekauft, schließlich gibt’s die überall.

 

„Na, freust du dich schon?“, fragte mein Freund.

„Hm. Sind halt zwei Wochen ohne dich, ist jedes Jahr aufs Neue doof. Du könntest schließlich auch mal mitkommen.“

„Du weißt, dass an der Uni zu viel zu tun ist. Wir fahren schon noch weg. Halt nicht dieses Jahr.“

„Ja, das sagst du jedes Jahr.“

Mehr als zu seufzen blieb mir nicht. Wie jedes Jahr. Liebend gerne würde ich mal wieder einen Urlaub gemeinsam mit meinem Freund verbringen, aber immer war irgendwas. Zu viel Arbeit, zu viel zu lernen. Erst einen Urlaub verbrachten wir gemeinsam, das war aber auch schon drei Jahre her. Schön war's damals. Wohl deswegen wollte ich ihn unbedingt dabei haben, auch wenn ein Tauchurlaub eher nicht dem entsprach, was man als gemeinsamen Urlaub betrachten konnte. Schließlich taucht er nicht. Trotz allem war ich überzeugt, dass auch er mal andere Luft gebrauchen konnte. Aber zwingen ging auch nicht, so blieb nichts, als wieder mit Mama allein zu reisen und zu hoffen, dass es beim nächsten Urlaub anders laufen würde, als die letzten Male, nämlich dass er mitkäme.

„Wann geht’s morgen los?“

„Um drei. Mama ist dieses Jahr irgendwie komisch, so nervös war sie bisher noch nie.“

„Na, dann habt ihr auch genug Zeit, egal was passiert.“

„Ja, so was sagte sie auch.“

Ich stellte meinen mittlerweile fertig gepackten Rucksack neben die Tür und legte die Kleider für den morgigen Tag bereit. Den Rest des Abends herrschte eine gedrückte Stimmung vor. In mir keimten immer wieder Zweifel auf, ob es richtig war, „allein“ zu verreisen. Allerdings müsste dann auch Mama allein in Urlaub, wenn ich mich nicht anschließen würde – was sie niemals täte.

 

Der Morgen verlief entsprechend dem Abend, mit dem Unterschied, dass ich immer weniger Lust hatte, zu fahren. Ich vermisste hier alles jetzt schon, wusste aber, dass auch diese zwei Wochen Urlaub vorübergingen und es mir im Endeffekt gefallen würde. Also auf zur altbekannten, neuen Panik ob auch alles eingepackt und bereitgelegt war, die Katzen versorgt sind, der Freund einverstanden und, und, und ...

Das Telefon klingelte. Mutti war dran und sagte Bescheid, dass sie nun losfahren würde, in einer halben Stunde wäre sie da. Abschiedsstimmung. Ich hasste das, immer musste ich weinen. Die letzten Handgriffe taten ihr Übriges, um die noch zu überbrückende Zeit verstreichen zu lassen. Ich verabschiedete mich schnell, damit kam ich besser klar. Danach klemmte ich mir mein Handgepäck unter den Arm und ging schnurstracks die Haustüre raus, so war's am besten. Vor der Haustüre angekommen war erstaunlich wenig Verkehr. Ich suchte nach den Zigaretten in meiner Handtasche, zündete mir eine an und wartete, dass meine Mutter endlich kommen würde. Kurz bevor ich aufgeraucht hatte, bog sie um die Ecke. Ich stieg wortlos in das Auto ein, warf meine Sachen auf die Rückbank und schnallte mich an.

„Hast du alles dabei, was ich dir aufgeschrieben habe?“

Ich nickte. Weitere Gespräche sollten in den nächsten Minuten vermieden werden, das wusste Mama. Sie fuhr auch kommentarlos an und schon nach wenigen Minuten erreichten wir die Autobahn.

„Hast du auch was zu Essen dabei?“, fragte ich, um ein Gespräch anzufangen und zu signalisieren, jetzt können wir uns unterhalten, ohne dass ich gleich wieder anfange zu weinen.

„Klar doch. Schließlich verlassen wir das Saarland, da hab ich immer was zu Essen dabei.“

Ich musste unweigerlich lachen. Das war wirklich eine komische Eigenart meiner Mutter, sobald sie das Bundesland verließ, musste Proviant an Bord sein. Schon seit ich denken konnte.

„Und nicht nur das!“, fügte sie hinzu.

„Ich hab' auch Getränke dabei, zwei Decken und ein Starthilfekabel hab ich extra gekauft!“

Jetzt wurde es doch seltsam.

„Wieso das denn alles?“

„Na, du weißt doch, dass die Autobatterie in letzter Zeit so viele Probleme machte. Und bevor ich wieder abgeschleppt werden muss, weil der ADAC nicht glaubt, dass es nur an der Batterie liegt, habe ich jetzt eben eines besorgt.“

„Klar, das sehe ich ja auch ein. Aber Decken?!“

„Na, wenn wir in einen großen Stau kommen und uns dort das Auto liegen bleibt, der Abschleppdienst dann nicht zu uns durchkommt und wir die Nacht auf der Autobahn verbringen müssen, wirst du noch dankbar sein, dass ich welche dabei habe.“

„Dazu fällt mir nun wirklich nichts mehr ein.“

Ich betrachtete den Straßenverlauf. Autobahnen waren noch nie von mir gern gefahrene Strecken gewesen. Lieber nahm ich einen Umweg in Kauf, um über eine Landstraße zu fahren. Dort gab es wenigstens etwas zu sehen, nicht die ganze Zeit nur triste, grau gepflasterte Straßen, Autos, deren Fahrer entweder viel zu schnell überholten oder so langsam fuhren, dass man sich unweigerlich fragte, wieso die Insassen nicht gleich das Fahrrad genommen hatten. Überhaupt empfand ich die Fahrt diesmal als sehr lästig. Dabei war alles so schön geplant. Urlaub mit Mama und Freunden, Abflughafen Saarbrücken. Dann machte nämlich auch das Reiseziel einen Sinn, denn diesmal ging es direkt in die Touristen-Metropole Ägyptens, nach Hurghada. Es war auch alles schon gebucht, bis dann plötzlich die Fluggesellschaft Konkurs anmeldete. Dass so etwas passiert, klar. Kennt man. Nur dass diese dann auch konsequent den Griffel fallen lassen, alle Flüge streichen und nach Hause gehen, das war mir nicht bewusst. So standen wir da, bezahlte Reise, bezahltes und gebuchtes Hotel, aber kein Flugzeug. Also blieb nur, die Reise zu stornieren oder aber einem Ausweichflughafen zuzustimmen. Uns fiel die Wahl nicht schwer, allerdings ließen sich die Freunde mit ihrer Entscheidung zu lange Zeit. Die Konsequenz war, dass der Flughafen in Frankfurt ob des größeren Touristenaufkommens die Flugpreise einfach mal ins Unermessliche angehoben hatte. So teuer, dass sich nun auch die alte Fluggesellschaft weigerte, diese Umbuchung ohne Zuzahlung seitens unserer Freunde zu übernehmen. Damit aber war die Reise unverhältnismäßig teuer, weswegen diese sich dann entschieden, doch gleich ganz zu Hause zu bleiben. Irgendwie hätte es ja nicht schlimmer laufen können. Aber ich harrte der Dinge, denn immerhin ging es ja überhaupt in Urlaub.

„Wie lange noch, Mama?“

„Ungefähr anderthalb Stunden.“

„Mir ist langweilig. Und ich will nicht in das blöde Hurghada. Ich hoffe, Pierrot ist klar, dass ich ihm niemals verzeihen werde, dass ich jetzt dorthin muss, ohne dass es auch nur irgendeinen Sinn macht?!“

Mutti lachte.

„Ja, ich weiß, er wird es noch lange vorgehalten bekommen.“

„Hast du dir jetzt eigentlich die Sache mit dem Vorabend-Check-In überlegt?“

„Nein.“

„Ich mein ja nur. Dann müssten wir morgen nicht ganz so früh aufstehen.“

„Wir werden sehen, wie der Verkehr ist. Ich habe keine Lust, spät heute Abend noch rumzufahren, nur dass du morgen 'ne halbe Stunde länger trödeln kannst.“

„Tu' ich eh nicht. Ich trink eben gerne in Ruhe meinen Kaffee. Wobei die Betonung auf „in Ruhe“ liegt, was ich bei dir dieses Jahr wohl eh vergessen kann, egal was ich anstelle.“

„Wenn wir in Frankfurt im Hotel sind, wird’s besser, versprochen. Mich stresst nur die Fahrt.“

„Na, ich bin gespannt.“

Ich nahm die von Mama gepackte Proviantbox nach vorne.

„Auch was?“

„Gerne, wir sind ja gerade in Rheinland-Pfalz angekommen.“

„Prima, die nächste Tankstelle dann bitte anfahren, auf 'nen Kaffee hätte ich nämlich auch Lust.“

Mama stimmte zu. Kurze Zeit später sahen wir auch schon in Höhe Kaiserslautern einen Rastplatz, welchen wir anfuhren. Wir stiegen aus, und ich ging in Richtung der Raststätte um Kaffee zu kaufen, während Mama sich zu den Toiletten aufmachte. Ich vermied es, unterwegs zur Toilette zu gehen, diese waren mir zuwider und ich wollte abwarten, bis wir im Hotel angekommen sind. Mit zwei Kaffeebechern wartete ich an einem Stehtisch innerhalb der Raststätte und beobachtete derweil die Leute. Es waren viele, wie ich meinte, LKW-Fahrer anwesend. Sie sahen aus wie ein Klischee, das mussten einfach LKW-Fahrer sein. Herren mittleren Alters, rundlich, Halbglatze. Bei denjenigen, welche an Tischen saßen, fragte ich mich, wieso diese Männer keine Gürtel trugen. Von dem Anblick mal abgesehen musste das doch fürchterlich unbequem sein, wenn die Hose halb unter'm Hintern hängt. Zudem sah ich eine junge Familie, Eltern mit ihrem kleinen Sohn, an einem anderen Tisch sitzen. Der Vater erklärte seinem Sohn gerade irgendwas in einem Buch, was für eines konnte ich auf die Entfernung nicht erkennen. Jedenfalls erwischte ich mich bei dem Gedanken, dass ich es gut fand, dass der Kleine tatsächlich mit einem Buch beschäftigt wurde. Sieht man heutzutage ja eher selten.

„Furchtbar!“

„Ja, das dachte ich mir. Deswegen warte ich auch, bis wir angekommen sind. Hier, dein Kaffee.“

„Danke.“

Mama und ich unterhielten uns noch ein wenig in der Raststätte, dann machten wir uns auf den Weg zum Auto.

 

„Wie geht’s dir jetzt?“, fragte sie mich.

„Besser. Mittlerweile freue ich mich auf den Urlaub. Es ist nur am Anfang immer etwas blöde. Aber mittlerweile bin ich ja erprobt.“

Ich musste grinsen. Noch vor ein paar Jahren war es undenkbar gewesen, dass meine Mutter und ich gemeinsam in Urlaub fuhren. In Zeiten der Pubertät war mit den Eltern oder auch nur einem Elternteil in Urlaub zu fahren schlichtweg unmöglich. Somit blickte ich auf mehrere Jahre ohne irgendeine Reise zurück, einzig ein Karibikurlaub mit dem Freund war finanziell machbar. Ich erinnere mich noch, dass meine Mutter damals ähnlich nervös war wie vor diesem Urlaub. Ihre größte Sorge bestand damals darin, dass ich weder in Frankfurt, noch am Zielflughafen auf der Isla Margarita das richtige Gate finden würde und somit irgendwo im Terminal versauere. In Frankfurt hätte das eventuell noch zum Problem werden können, aber wenn ich daran zurückdenke, dass es in der Karibik in diesem Mini-Flughafen sowieso nur einen Ausgang gab, fühlte ich mich unwillkürlich etwas unterschätzt. So schwer kann das doch wohl auch nicht sein, schließlich gibt es Schilder. Weltweit. Viel schlimmer fand ich es damals, bei der Gepäckkontrolle auf dem Hinflug doch tatsächlich aufgefordert zu werden, den Koffer zu öffnen. Der Beamte hatte drei Feuerzeuge in meinem Koffer entdeckt. Skandalös! In Anbetracht der Tatsache, dass ich für zwei Personen nur eine Tasche gepackt hatte, in der Kleidung für 15 Tage enthalten war, sah ich es als unlösbar an, diese drei Feuerzeuge dort jemals wieder rauszuholen, ohne die komplette Reisetasche noch auf dem Flughafen komplett auszuräumen und neu zu packen. Doch auch das hielt den Zöllner damals nicht davon ab, mich dazu zu bringen. Abgesehen davon jedoch verlief der Urlaub damals reibungslos.

„Ich hoffe nur, dass wir dieses Mal auch öfter zum Tauchen gehen als letztes Jahr“, nahm ich das Gespräch wieder auf.

„Ganz bestimmt. Auch wenn wir kein Hausriff haben, fahren diesmal die Boote vom hoteleigenen Steg aus.“

„Das ist prima. Dann sind wir eh quasi gezwungen gleich zwei Tauchgänge am Tag zu machen, bezahlt ist bezahlt und wird entsprechend auch genutzt.“

Dieses Mal musste Mama grinsen.

„Ja, das sehe ich auch so.“

Wir fuhren den zweiten Rastplatz an. Eigentlich unglaublich, dass man auf einer Strecke die knapp zwei Stunden dauert, zwei Mal anhalten muss. Andererseits gab es dort Kaffee. Wie schon zuvor ging ich als Erste in die Raststätte hinein, um schon mal den Kaffee zu kaufen. Ich setzte mich wieder an den Tisch und beobachtete wieder das Treiben um mich herum. Der Anblick war ähnlich wie beim letzten Mal. Irgendwie war es völlig egal, an welchem Rastplatz man hielt, es spielte sich immer das Gleiche ab, sowohl das Ambiente als auch das Klientel waren gleich. Der einzige feststellbare Unterschied lag darin, dass es weniger LKW-Fahrer, dafür mehr „normale“ Leute wurden. Ich schob das auf die Nähe zum Flughafen, je näher ich diesem kam, desto mehr Touristen begegneten mir wohl auch schon hier zu Lande. Das Café des Rastplatzes war entsprechend besucht, was dazu führte, dass nicht einmal mehr ein Stehtisch frei war. Ich entschied mich daher, mich am Kaffeeautomaten zu bedienen und draußen auf meine Mutter zu warten.

„Wieso stehst du denn hier vorne rum?“, hörte ich sie sagen.

„Hast du mal da rein geschaut? Alles voll. Da dachte ich, wir können unseren Kaffee auch genauso gut im Auto trinken.“

„Gute Idee, prinzipiell können wir das ja eh während der Fahrt machen. Das spart uns etwas Zeit.“

„Ich verstehe zwar immer noch nicht, warum du es so eilig hast, aber gut.“

So machten wir uns auf den Weg zum Auto.

Nach ungefähr einer weiteren Dreiviertelstunde Fahrt, kurz vorm Zielort, riss meine Mutter mich aus meinen, auf mein Sudoku-Heftchen gerichteten Gedanken.

„Siehst du, ich hab's gewusst!“

„Was ist denn los? Wir stehen?“

„Ja. Ein Stau.“

„Ach.“

Ich blickte auf das Navigationsgerät.

„Es sind doch ohnehin nur noch 20 Minuten Weg bis zum Hotel angezeigt.“

„Wetten, dass es ewig dauert? Hoffentlich hält das Auto das aus.“

„Ich weiß, ich wiederhole mich, aber wir hätten ja auch mit meinem fahren können.“

„Nun ist es eh zu spät.“

„Genau. Und weißt du was? Sollte das Auto wirklich den Geist aufgeben, nehmen wir uns einfach ein Taxi. Ist ja nun nicht mehr weit. Und du hast versprochen, dass du nicht mehr so genervt bist, wenn wir am Hotel angekommen sind.“

„Da sind wir aber noch nicht!“

Meine Mutter machte es mir heute wirklich nicht einfach.

„Nein, aber fast. Also reg dich bitte nicht auf.“

Es schien gewirkt zu haben, meine Mutter grummelte noch leise etwas vor sich hin und schien sich dann doch endlich zu entspannen. Je weiter wir im Stau vorwärts kamen, desto näher kamen wir auch dem Grund für eben diesen. Ein Unfall. Aufgrund der Tatsache, dass auf dem Standstreifen ein regelrechter Tumult aus den wohl vorherigen Fahrzeuginsassen und der Polizei herrschte, sowie dass kein Krankenwagen zu sehen war, schlossen wir daraus, dass es sich um nichts wirklich Schlimmes handeln konnte. Die Autos sahen entsprechend eines Unfalls aus, der auf der Autobahn geschehen war – schrottreif.

„Aber immerhin, wenn dir jetzt die Kiste abschmiert, stehen wir nicht alleine da, und der Abschleppdienst wird mit Sicherheit auch schon gerufen worden sein.“

Eine Antwort bekam ich nicht, lediglich warf meine Mutter ein Zigarettenpäckchen nach mir. Ich nahm das zweifelhafte Angebot an und zündete mir eine Zigarette an, während ich weiter dem Treiben auf dem Standstreifen zusah.

Tatsächlich dauerte es insgesamt eine gute Stunde, bis wir endlich die Einfahrt des Hotels sahen. Auf den Parkplatz zu kommen stellte sich als recht schwierig heraus. Zwar lag es daran, dass meine Mutter an der ursprünglichen Einfahrt vorbeigefahren ist und nun versuchte, über eine Seitenstraße zum Parkplatz zu gelangen, aber nennen wir es einfach eine „unübersichtliche Verkehrssituation“. Trotz der Widrigkeiten gelangten wir nach einigen spöttischen Kommentaren meinerseits zum Hotelparkplatz. Wir luden die Koffer aus und waren froh, endlich angekommen zu sein.

„Somit hat sich das mit dem Vorabend-Check-in erledigt, oder?“, fragte ich.

„Ich weiß noch nicht.“

„Wir haben erst halb sechs, ich wäre nach wie vor dafür. Zudem könnten wir dann die Koffer auch gerade hier im Auto lassen.“

„Das auf keinen Fall. Die kommen jetzt zuerst mit aufs Zimmer.“

Wir hoben die Koffer aus dem Auto und zogen sie durch das Kiesbett des Parkplatzes. Ich fand das recht ungünstig gebaut. Sicher, der Kies erleichterte wohl das Fahren bei jeder Wetterlage. Allerdings sollte es in einem Hotel doch üblich sein, dass die Gäste entsprechend Gepäck dabei hatten. Der betonierte Weg allerdings wollte erst einmal erreicht werden.

 

„Na endlich!“, seufzte ich und stellte den Koffer kurz vor der Eingangstür des Hotels ab.

Schick sah es hier aus, das hatte ich so gar nicht erwartet. Die Eingangshalle war mit dunklem Parkettboden verlegt worden. Gegenüber der Tür standen helle Sofas. Wir traten ein. Auf den zu den Sofas dazugehörigen dunklen Holztischen lagen viele nationale und internationale Zeitschriften. Am Eingangsbereich waren zur Parkplatzseite ausschließlich riesige Glasfenster. Hatte was von 'nem Zoo, sah aber wirklich gut aus. Vor den Fenstern standen weitere hohe Tische und dazu passende Stühle, was das Gefühl, sich auf dem Präsentierteller zu befinden, noch weiter verstärkte. Aber schließlich sollte ich hier ja nicht für immer wohnen, und im Eingangsbereich schlafen sollte ich ebenso nicht. Wir gingen auf die unbesetzte Rezeption zu und stellten unser Gepäck ab.

„Ich hab' Hunger“, sagte ich.

„Ja, lass uns nur gerade einchecken, dann bringen wir die Koffer nach oben und dann werden wir sehen, ob wir auswärts essen gehen oder hier ins Hotelrestaurant.“

„Aber hier ist niemand, der uns in Empfang nimmt!“

Meine Mutter betätigte die Rezeptionsklingel. Bald darauf erschien auch schon ein junger Mann. Er schien Anfang 30 zu sein und trug einen dunkelblauen Dreireiher.

„Guten Abend, herzlich willkommen in unserem Haus. Was kann ich für Sie tun?“

„Ich habe reserviert“, sagte meine Mutter und fing nun an, in ihrem Rucksack nach der Buchungsbestätigung zu suchen.

„Hier, die Unterlagen“, sagte sie und legte dem Rezeptionist die Papiere auf den Tisch.

„Danke“, erwiderte er.

Der Mann nahm die Papiere und fing an, die Angaben in den Computer zu übertragen. Als er fertig war, gab er sowohl diese als auch einen Schlüssel an uns zurück.

„Können wir das Gepäck auch bis morgen früh hier hinterlegen?“, fragte meine Mutter.

„Leider können wir dafür keinen gesonderten Raum zur Verfügung stellen, daher muss ich Sie darauf hinweisen, dass wir keine Haftung für eventuell abhanden gekommenes Gepäck übernehmen können.“

„Gut, dann werden wir es mit auf unser Zimmer nehmen.“

Meine Mutter und ich nahmen die Koffer und den Schlüssel und begaben uns Richtung Hotelaufzug. Unser Zimmer sollte im zweiten Stock liegen. Als wir in der zweiten Etage angekommen waren und den Aufzug verließen, staunte ich noch über den schicken, dunkelblauen Teppich. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie schwierig es sein musste, diesen sauber zu halten, gerade bei einem solchen Durchgangsverkehr wie in Hotels üblich. Wir gingen den Flur entlang bis zu unserem Zimmer. Schon an der Eingangstür prangte ein Nichtraucherzeichen. Ich schluckte.

„Hast du das gesehen, Mama?“

„Ja. Dabei habe ich extra ein Raucherzimmer gebucht!“

„So was gibt’s noch?“

Ich war erstaunt. Dachte ich doch, dass im Zuge des Nichtraucherschutzgesetzes zumindest in Europa solche Raucherzimmer selten bis nicht mehr vorzufinden wären.

„Natürlich gibt es so was noch. Wieso auch nicht?“

„Ich hab mich nur gewundert. Man darf ja eh schon nirgends mehr Rauchen. Warum also in Hotels.“

„Jedenfalls habe ich das so gebucht, nun möchte ich das auch so haben. Lass uns eben wieder runter zur Rezeption gehen.“

Ich musste unweigerlich an eine King of Queens-Folge denken, in der Doug meint, auf dem Spooner'schen Familienwappen stünde geschrieben: „Ich möchte den Geschäftsführer sprechen!“, da sein cholerischer Schwiegervater bei jeder nur denkbaren Möglichkeit den Vorgesetzten sprechen muss, um völlig unbegründete Beschwerden loszuwerden. Gut, in unserem Falle war es begründet, schließlich behauptete meine Mutter, eben solch ein Zimmer reserviert zu haben. Nichtsdestotrotz neigte auch meine Mutter dazu, in jeder Suppe ein Haar zu finden. Mich persönlich störte das recht wenig, ich fand das immer äußerst unterhaltsam. Auch war es nicht zu leugnen, dass ich diese Eigenart, wenn auch zum Glück in abgeschwächter Form, ebenso von ihr geerbt hatte. Das führte schon zu manchen – für meinen Freund – peinlichen Situationen. Das Gute jedoch an der Sache war, dass wir meist Erfolg hatten mit dieser Methode. Sei es, weil wir recht hatten, oder das Gegenüber einfach resignierte.

Wir nahmen die Koffer also wieder auf und gingen zurück zum Fahrstuhl. Der Mitarbeiter stand dieses Mal schon bei unserer Ankunft an der Rezeption bereit.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.

„Ja, bitte. Ich hatte ein Raucherzimmer gebucht.“

„Sie bekamen ein Nichtraucherzimmer? Bitte entschuldigen Sie. Ich werde mich sofort darum kümmern, warten Sie bitte einen Moment hier.“

Ich setzte mich auf den Koffer. Da fiel mir ein, dass die Sache mit dem Vorabend-Check-in noch immer ungeklärt war.

„Da wir die Koffer nun eh wieder hier unten haben, meinst du nicht, wir könnten sie auch schnell noch zum Flughafen bringen?“

Ich verstand einfach nicht, wieso das überhaupt zur Debatte stand. Die Fahrt dauerte maximal 10 Minuten. Es ersparte uns einfach nur eine Menge Stress morgen früh.

„Ich möchte das Auto jetzt nicht mehr bewegen. Es hat vorhin schon so komische Geräusche gemacht.“

„Dann lass uns doch das Shuttle nehmen. Dafür ist das doch da.“

„Meinst du nicht, dass das Angebot lediglich am Abflug- beziehungsweise Ankunftstag zählt?“

„Das könntest du ja den netten Herrn an der Rezeption fragen.“

Ich gab es auf. Auch wenn ich immer noch nicht verstand, wo genau ihr Problem lag, ich hatte keine Lust mehr, sie darauf anzusprechen. Zu meinem Erstaunen aber fragte sie den Rezeptionisten.

„Wäre es möglich, dass uns das Shuttle auch heute Abend schon mal kurz zum Flughafen bringt und entsprechend wieder mit zurück?“

„Natürlich, das ist gar kein Problem. Unser Shuttle fährt immer zur halben und zur ganzen Stunde zum Flughafen, jeweils um viertel vor und um viertel nach zurück.“

Meine Mutter wandte sich mir zu.

„Meinst du, wir sollen das dann so machen?“

Ich schätze, ich wurde etwas rot, weil ich mittlerweile so aufgebracht war.

„Natürlich. Eine sehr gute Idee, Mama!“

„Gut. Dann lass uns zuerst ein paar Sachen aufs Zimmer bringen, dann nehmen wir das Shuttle um halb sieben. Das schaffen wir doch, oder?“

„Klar, an mir soll es nicht liegen.“

Der Rezeptionist trug uns in eine Liste ein, damit man Bescheid wusste, wann wir abfuhren, und reichte uns einen neuen Schlüssel. Wieder gingen wir zum Fahrstuhl, diesmal zu meiner Freude aber ohne Koffer. Das neue Zimmer lag nun im vierten Stock. Als sich die Fahrstuhltür öffnete, sah man auch sofort einen Unterschied. Statt dem doch wesentlich höherwertig aussehenden, dunkelblauen Teppich, war dieser nun in einer Art Mintgrün. Zumindest schien er dies einmal gewesen zu sein, als er verlegt wurde. Zudem zierten lavendelfarbene Karos den Teppich. Alles in allem merkte man den Unterschied deutlich, ebenso wie man ihn roch. Machte aber nichts, man hatte es schließlich so gebucht. Wir gingen den Gang entlang auf der Suche nach unserem Zimmer, Nummer 43. Dort angekommen klebte schon an der Zimmertür ein Raucherzeichen. Sah etwas seltsam aus, jedenfalls hatte es nichts Wohnliches. Nachdem wir die Tür geöffnet hatten, sah ich das aber anders. Gut, der hässliche Teppich war auch hier vorhanden. Dafür aber zwei wirklich große Betten und zwei dunkel bezogene Sessel. Der Schreibtisch war aus dem selben dunklen Holz, wie es auch die Tische in der Eingangshalle waren. Darüber befand sich ein Flachbildfernseher. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass das Zimmer spottbillig war.

 

„Ach wie toll, schau mal!“, hörte ich plötzlich meine Mutter sagen.

„Was denn?“

„Da steht ja sogar mein Name!“

Sie zeigte auf den nun eingeschalteten Fernseher, welcher über einen Startbildschirm verfügte, wo die Mitarbeiter hinter das „Herzlich Willkommen“ den jeweiligen Nachnamen des Gastes einfügten.

„Hast du so was noch nicht gesehen?“, fragte ich.

„Nein, noch nie. Mach mal bitte ein Bild davon!“

Ich musste lachen. Dann kramte ich mein Handy aus der Manteltasche, um den Bildschirm zu fotografieren.

„Sollen wir jetzt runter gehen? Dann können wir uns auch gerade das Hotelrestaurant anschauen und wissen, ob wir hier essen oder uns auswärts etwas suchen.“

Ich hoffte, dass wir hier blieben, ehrlich gesagt hatte ich wenig Lust, nun noch ein anderes Restaurant zu suchen.

„Ja, lass uns runter gehen.“

Das Hotelrestaurant sah nett aus. Und vor allem leer. Wir beschlossen, dass wir hier essen würden. Während wir uns noch umsahen, kam auch schon ein Kellner auf uns zu und wollte uns zu einem Tisch geleiten. Aber erst mussten noch die Koffer zum Flughafen. So verneinten wir und gingen zur Rezeption, um auf unser Shuttle zu warten.

Auch hier war wieder keine Menschenseele, abgesehen von dem Rezeptionisten. Wir setzten uns auf ein Sofa, mit Blick zur Tür, um mitzubekommen, wenn das Shuttle vorfährt. Ich nahm mir eine Zeitung, die vor mir auf dem Tisch lag. Auf der Titelseite stand eine für mich erschreckende Schlagzeile: Aschewolke behindert den Luftverkehr!

„Wusstest du das?“, fragte ich erschrocken meine Mutter und zeigte auf die Überschrift.

„Klar. Würdest du ab und an mal Nachrichten ansehen, wäre das auch dir bekannt.“

„Du weißt, dass ich keinen Fernseher habe. Also wie bitte sollte ich davon wissen?“

„Radio?“

„Nein. Hör ich nicht.“

„Na ja, egal. Jedenfalls braucht dich das nicht zu erschrecken, das gilt nur für innerdeutsche Flüge sowie Flüge in den Norden.“

„Ach so, dann ist ja gut. Nicht dass wir noch am Flughafen feststecken bleiben.“

„Keine Sorge.“

 

Ich nahm mir die Zeitung wieder vor und begann, den Artikel zu lesen.

 

Europaweit wurden am Wochenende etwa 700 Flüge gestrichen. Transatlantik-Flüge waren davon kaum betroffen, allerdings mussten viele Maschinen umgeleitet werden. Vielerorts kam es zu Verspätungen. Tausende Menschen hingen auf Flughäfen in Norditalien, Portugal und Spanien fest. In Deutschland fielen knapp 50 Flüge von Lufthansa und Air Berlin aus.

 

Na prima, dachte ich mir. Ob sich das am Flughafen bemerkbar machte? Aber das würde ich bestimmt gleich sehen.

„Da, unser Shuttle, komm!“, hörte ich meine Mutter sagen.

Ich legte die Zeitung weg und stand auf, um mich Richtung Ausgang zu begeben. Der Fahrer des Minibusses kam uns entgegen, um uns mit dem Einladen der Koffer zu helfen. Wir stiegen in den Minibus ein, waren die einzigen Gäste, die im Shuttle saßen. Der Fahrer fuhr in rasantem Tempo an. Am Blick meiner Mutter sah ich, dass sie mit dem Fahrstil ganz und gar nicht einverstanden war. Ich griff den Anschnallgurt neben mir und deutete meiner Mutter, dass wohl auch sie sich besser anschnallen solle. Zu meinem Erstaunen tat sie dies einfach kommentarlos und so kamen wir nach 10 Minuten wirklich eigenwilliger Fahrt am Flughafen an. Ich fand diesen Flughafen immer wieder beeindruckend. So gesehen könnte man wohl eine halbe Stadt in dem Gebäude unterbringen, aber bei dem Flugverkehr mussten solche Dimensionen scheinbar einfach sein. Wir befanden uns nun am Terminal 2 vor der Ankunftshalle D. Ich nahm den vorsorglich ausgedruckten Plan der Fluggesellschaften heraus, um zu wissen, wo genau wir nun hin mussten. Terminal 1, Halle C, Condor. Gefunden. Es war natürlich klar, dass der Schalter zum Vorabend-Check-in ungefähr am anderen Ende des Flughafens lag. Aber besser jetzt den ganzen Weg mit den Koffern in Kauf nehmen, als morgen früh. Als wir in das Flughafengebäude eintraten, konnte ich kein vermehrtes Aufkommen an Passagieren feststellen. Mama schien doch recht gehabt zu haben, scheinbar betraf uns diese Vulkansache nicht wirklich. Umso besser für uns. Wir gingen den Korridor entlang, was hier einem Slalomlauf glich. Es war für mich unvorstellbar, wie viele Menschen hier tagtäglich zu jeder nur vorstellbaren Zeit unterwegs waren. Plötzlich sah ich etwas auf dem Boden vor den Telefonzellen liegen. Ich schaute zu meiner Mutter und ihr Blick verriet mir, auch sie hatte das Portemonnaie gesehen. Ich steuerte den Wagen darauf zu und als ich mich bückte, um es aufzuheben, kniete bereits eine weitere Frau neben mir. Sie sah mich nicht gerade erfreut an.

„Ist das Ihres?“, fragte sie mich.

„Nein“, musste ich wahrheitsgemäß antworten. „Ihres?“, warf ich noch die Frage hinterher. Auch sie verneinte.

„Gut, dann nehme ich es an mich und bringe es zum Fundbüro“, sagte ich und steckte den Geldbeutel schnell ein. Die Dame warf mir noch einen zornigen Blick zu und ging weiter ihres Weges. Meine Mutter fragte mich, was ich nun vorhatte.

„Ganz einfach, ich hoffe darauf, dass jemand sein Urlaubsgeld darin aufbewahrt und es vor der Telefonzelle hat liegenlassen.“

„Das kannst du doch nicht ernst meinen!“

„Natürlich. Ich werde das Geld behalten und den Geldbeutel samt Papieren abgeben, so hat derjenige den Stress mit den Ämtern nicht. Meinst du etwa, die Frau, die eben noch da war, hätte ihn komplett abgegeben?“

„Nein.“

„Na siehst du. Von mir bekommt er immerhin noch seine Ausweise zurück.“

„Ich dachte immer, ich hätte dich zur Ehrlichkeit erzogen ...“

„Ich bin doch ehrlich. Ich sage dir, dass niemand den Geldbeutel abgeben würde, also sei wenigstens beruhigt, dass ich nur das Geld nehme.“

Ich war erstaunt, dass meine Mutter von meiner Handlung überrascht war. Wir gingen weiter den Korridor entlang, bis wir zum Aufzug kamen. In Selbigem war außer uns niemand zugegen, so dass ich hier nachschaute, was sich denn in dem Portemonnaie befand. 30 Euro und ein Foto. Kein Ausweis, nichts.

„Schade, war wohl nichts mit Urlaubskasse.“

Meine Mutter schüttelte nur still den Kopf.

Als wir am Schalter ankamen, erfreuten wir uns ob der nicht vorhandenen Schlange. Wir gingen zu dem laut meinem Zettel richtigen Schreibtisch und gaben der Frau unsere Tickets. Als ich anfangen wollte, die Koffer auf das Band zu heben, hielt sie mich zurück.

„Es tut mir leid, aber wir können leider kein Gepäck annehmen.“

„Wie bitte?“

„Aufgrund der ausgefallenen Flüge ist unser Depot jetzt schon voll. Ich kann Sie jedoch gerne jetzt schon einchecken, dann ist das schon einmal erledigt.“

Meine Mutter schaltete sich nun in das Gespräch ein.

„Das heißt, Sie checken uns jetzt ein, wir nehmen unser Gepäck wieder mit und müssen morgen so oder so wieder hier her, da wir unsere Koffer aufgeben müssen?“

„Genau.“

Jetzt war es wohl an der Zeit, meiner Mutter einen schuldbewussten Blick zuzuwerfen. Ich bekam einen genervten zurück. So ließen wir die Dame ihre Arbeit verrichten und nahmen unsere Koffer wieder mit zum Gepäckauto.

„Gute Idee hattest du da, Kind!“

Ja, ich wusste es. Ja, ich war ebenso genervt.

„Immerhin gehen wir jetzt plus 30 Euro aus der Sache“, versuchte ich das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Schlechte Idee, ich vergaß, dass Mutti ja immer noch dagegen war, das Geld zu behalten. Ich steuerte auf unserem Rückweg zur Haltestelle des Shuttles die Information an. Dort standen ein paar Leute vor mir, ich jedoch wollte den Geldbeutel ohne große Warterei und damit eventuell entstehenden Fragen loswerden.

„Guten Tag, kann ich den gerade bei Ihnen abgeben?“, sagte ich und legte der Frau am Schalter den Geldbeutel auf den Tisch. Diese nahm ihn, öffnete ihn und stellte – ebenso wie ich – fest, dass keine Papiere darin waren.

„Natürlich, Sie müssen mir nur gerade Ihre Personalien geben, denn so darf ich das nicht annehmen.“

Schöner Mist.

„Tut mir leid, aber ich habe gerade gar keine Zeit, mein Zug fährt gleich.“

„Es ist leider unabdingbar, dass Sie mir Ihre Daten geben, denn wie gesagt darf ich das so nicht annehmen.“

„Und wie ich schon sagte: Ich muss jetzt weiter. Entweder Sie nehmen ihn jetzt so, oder ich nehme ihn wieder mit!“

„Dann bleibt leider nichts anderes, als dass Sie ihn wieder mitnehmen.“

Unvorstellbar. Ich griff nach dem Geldbeutel, erntete sowohl von der Frau am Schalter komische Blicke, wie auch von den Leuten aus der Schlange. Aber es blieb ja nichts, meinen Namen konnte ich nicht nennen, nachdem ich das Geld herausgenommen hatte. Ich ging unverrichteter Dinge zu meiner Mutter, welche bereits ein ausführliches Gespräch über mein Karma bereit hatte, das ich mir den Rest des Weges anhören musste.

„Und was hast du jetzt vor mit dem Ding?“

„Ganz einfach, wenn die Info es nicht haben will, werfe ich's in den nächsten Briefkasten.“

Genau das tat ich auch. Endlich weg mit dem Geldbeutel, diese Nerverei wegen nur 30 Euro. Wir stellten uns an der Haltestelle in den Raucherbereich und warteten auf unser Shuttle. Die Rückfahrt verlief genau wie die Hinfahrt, auch diesmal sagte meine Mutter nichts. Im Hotel angekommen gingen wir direkt zum Speisesaal. Wir entschieden uns für das Büffet, Hauptsache endlich was ordentliches essen. Danach gingen wir, wieder mit unserem Gepäck bewaffnet, auf unser Zimmer. Ich rief noch zu Hause an, um zu sagen, dass alles schiefgelaufen ist und meine Mutter mich für unmoralisch hält. Also alles wie immer.

 

Am nächsten Morgen klingelte der Wecker sehr früh. Viel zu früh, meiner Meinung nach, dieser war ich jedoch immer, wenn mich ein Wecker aus dem Schlaf reißt. Es war erst halb sechs, als ich mich bequemte, samt meiner Kleidung ins Bad zu tapsen. Schnell die Türe schließen, denn Mutti stand schon in voller Montur, noch nervöser als gestern, in den Startlöchern zum Frühstücken, und irrte derweil willkürlich im Zimmer umher. Ich machte mich in den ruhigen, mir zur Verfügung gestellten 10 Minuten fertig und war bereit zum Kaffeetrinken. Wir nahmen die Koffer bereits mit nach unten, um sie an der Rezeption abstellen zu können. Nachdem das erledigt war, begaben wir uns in das Hotelrestaurant. Mutti ist im Urlaub immer begeistert beim Frühstück, entgegen der sonstigen Gewohnheit. Es war bei uns nie 'Mode' gewesen, zu frühstücken. Ich hielt mich da auch während der Urlaubszeit dran. Zumindest anfänglich. Während sie sich also am Büffet den Teller volllud, saß ich, griesgrämig wie ich morgens immer bin, mit meiner Tasse Kaffee am Tisch. Ich blätterte in einer Zeitschrift, um jeglichen Gesprächen aus dem Weg zu gehen. In Ruhe wach werden gehörte für mich eben zum Urlaub.

„Wenn du auch noch etwas essen möchtest, würde ich an deiner Stelle so langsam etwas holen gehen.“

„Nein, danke. Ich hab keinen Hunger. Ich bin jetzt nervös wegen dem Flug.“

Ich hatte schon sehr lange wirklich panische Angst vorm Fliegen. Auf Nachfrage bekam ich von meinen Eltern zur Antwort, dass es wohl seit einem Flugzeugabsturz 1996, aus eigener Recherche der Birgenair-Flug 301, so war. Die Birgenair-Maschine stürzte kurz nach dem Start von Puerto Plata in der Domenikanischen Republik ins Meer. Alle Insassen des Flugzeuges starben, nur weil ein paar Anzeigen im Cockpit nicht funktionierten. Das Flugzeug wurde damals als Ersatz für die ursprüngliche Maschine eingesetzt, da die erste defekt gewesen sei. Makaber fand ich das schon damals, mit 9 Jahren. Und eben genau diese Abhängigkeit von einer Maschine, die rundum perfekt funktionieren muss, konnte ich nicht leiden. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Chance, einen solchen Absturz zu überleben, quasi nicht vorhanden ist. Über Geschichten von betrunkenen Piloten oder sonstigen Übeln darf ich gar nichts hören. Die einzige Konsequenz, die für mich seither daraus zu ziehen war: Es lebe die Pharmaindustrie sowie alle mir wohlgesonnenen Ärzte hoch! Ohne meine heiß geliebten Tranquilizer betrat ich kein Flugzeug mehr. Ich war mir sicher, würden wir abstürzen, ich wäre der wohl entspannteste Mensch im Flugzeug. Zumindest redete ich mir das gerne ein, und es funktionierte.

„Ich kann nicht verstehen, dass du trotzdem immer noch in Urlaub fliegst. Wieso lässt du so etwas dann nicht?“

„Weil ich eben zu gerne verreise. Zudem kann ich zu Hause nicht tauchen. Und mit den Tabletten funktioniert doch alles prima. Platz suchen, hinsetzen, Klapptisch runter, Kopf drauf und du weckst mich, wenn es etwas zu essen gibt.“

„Vergiss es. Wenn du so einen Mist einnehmen willst, bitte. Aber ich werde dich nicht wecken, egal wie lange du schläfst. Den Hotelnamen hast du ja, dann kommst du im schlimmsten Fall eben nach.“

„Hm. Tabletten nehmen soll ich nicht, aber allein in Ägypten rumfahren und nach unserm Hotel suchen. Tolle Sache.“

Manchmal verstand ich meine Mutter echt nicht. Ich konnte mir nicht wirklich vorstellen, dass sie ihre Tochter weinend und panisch neben sich sitzen haben mochte. Sicher wäre es ihr zu peinlich, wenn ich Marge-Simpson-like im Flugzeug auf und ab rennen würde, während ich nur „RAUS! RAUS! RAUS!“ brülle. Aber eine Diskussion um dergleichen wollte ich nun auch nicht anzetteln. Ich besann mich wieder auf mein Magazin, blätterte lustlos darin weiter und Mutti frühstückte in Ruhe fertig.

 

Um Viertel nach Sechs begaben wir uns zur Rezeption, um unsere Koffer zu holen und auf unser Shuttle zu warten. Die Rezeptionistin teilte mit, dass wir die einzigen Gäste wären, die um diese Uhrzeit zum Flughafen fuhren, das Shuttle bereitstünde und wir auch sofort losfahren konnten, wenn wir dies wollten. Natürlich wollten wir. Schnell wurde unser Gepäck eingeladen und, dank eines Fahrerwechsels, machten wir uns diesmal etwas gemütlicher auf den Weg zum Flughafen. Dort angekommen war so gut wie nichts mehr von der Ruhe des gestrigen Besuches zu merken. Überall Menschen. Wie viele konnten denn um solch unchristliche Uhrzeit hier versammelt sein? Ich erinnerte mich an den Zeitungsbericht bezüglich diverser, gestrichener Flüge. Aber so viele konnten doch nun auch nicht in den Norden wollen, nicht bei diesem Wetter. In Deutschland war es noch nicht sommerlich warm, da fliegt man doch nicht wo hin, wo es noch kälter ist. Ich vermied es, meine Mutter darauf aufmerksam zu machen, zumal sie mir ja versicherte, dass uns das alles nicht betreffen würde. Wir schlängelten uns durch die Menschen, den gleichen Weg wie am Abend zuvor. Am Lufthansa-Schalter am Terminal 1 gerieten wir ins Stocken. Dort war kein Durchkommen mehr, selbst das Sicherheitspersonal versuchte sich vehement nach vorne zu kämpfen. Uns blieb nichts, als zusammengepfercht mit den anderen Fluggästen zu warten, bis schließlich die Polizei hinzugezogen wurde. Diese löste die Masse auf, es konnte weiter gehen.

„Was war denn da los?“, fragte ich meine Mutter.

„Gute Frage. Vielleicht wollten sie all deren Gepäck auch nicht, so wie unseres gestern?“

Wenn Mami noch Witze machte, konnte es nicht so schlimm, beziehungsweise nicht wirklich interessant für uns sein. Zudem war es nicht einmal unsere Fluggesellschaft. Also weiter, bevor wir noch einmal steckenbleiben würden. Auch wenn dies nicht geschah, kamen wir doch ziemlich entnervt am anderen Ende des Flughafens an, um diesmal hoffentlich unser Gepäck loszuwerden. Es herrschte ein wahrhaft reges Gedränge im gesamten Gebäude. Am Schalter angekommen fragten wir die Mitarbeiterin, welche gerade unsere Koffer abfertigte, was denn nur los sei.

„Aufgrund der Aschewolke, von der sie bestimmt schon gehört haben, sind nun doch wesentlich mehr Flüge gestrichen worden, als anzunehmen war.“

„Aber es handelt sich hierbei doch nur um Inlandsflüge, beziehungsweise welche gen Norden?!“

„Anfangs, ja. Mittlerweile jedoch ist die Anzahl der gestrichen Flüge rapide gestiegen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, nach aktuellem Stand wird Ihr Flugzeug starten.“

 

„Alle Flüge fallen aufgrund des Vulkanausbruchs in Island aus. Sie können an den Informationsschaltern umbuchen oder bekommen je nach Reiseanbieter Ihre Kosten erstattet. Wir bitten um Ihr Verständnis und wünschen Ihnen noch einen angenehmen Tag“.

 

Ich sah, wie meine Mutter wieder sichtlich nervös wurde. Ich hingegen machte mir weniger Sorgen, warum sollten sie auch unsere Koffer annehmen, um sie uns dann letztendlich wieder auszugeben, sofern dies überhaupt der Fall wäre. Wir erhielten unsere Tickets und begaben uns Richtung Gate.

Ich fand es wie immer erstaunlich, was der Frankfurter Flughafen in seiner überdimensionierten Größe an Geschäften zu bieten hatte. Ebenso erstaunte mich, was die Menschen alles kauften. Musste ich wirklich in Urlaub fahren, um mich mit Schmuck und Alkohol einzudecken? Der allgemeinen Auffassung nach scheinbar schon, die Einkaufstüten sprachen für sich. Das einzig Relevante für mich waren ein paar Heftchen mit Kreuzworträtseln darin, um am Strand etwas völlig Unproduktives zu tun zu haben. Während Mutti noch darüber rätselte, welche Boulevard-Zeitschriften sie mit ins Flugzeug nehmen sollte, setzte ich mich vor den Kiosk auf eine Bank, nahm etwas zu trinken aus meinem Rucksack und nahm meine Tabletten ein. Es sollte genug Zeit sein, dass sie ihre Wirkung antreten konnten und knapp genug sein, dass ich nicht schon auf dem Weg zum Flugzeug einschlafe. Als meine Mutter alles eingekauft hatte, was für einen 4-stündigen Flug unabdingbar war, traten wir den Weg zum Gate an. Die Handgepäckskontrolle verlief nach dem Hinweis, dass ich meine Trinkflasche doch bitte entsorgen möchte, problemlos. Bei der Passkontrolle gab es keine Beschwerden. Ich stelle mir gerne vor, wie ich beim Anblick mancher Bilder in den Reisepässen laut loslachen müsste, so scheußlich, wie die immer aussahen. Aber die Herren Kontrolleure hatten sich seit jeher im Griff, jedenfalls war mir noch nichts Gegenteiliges zu Ohren gekommen. Nachdem wir nun also alle Stationen mit jeglichen Sicherheitskontrollen hinter uns gelassen hatten, ließen wir uns im Warteraum nieder. Unser Flug sollte in etwas mehr als einer Stunde starten. Doch nicht einmal eine halbe Stunde später kam die Durchsage, dass aufgrund höherer Gewalt mit aktuell nicht näher definierbarer Verspätung zu rechnen sei. Tolle Wurst. Meine Mutter und ich schauten uns genervt an.

 

„Siehst du, soviel zu deiner Paranoia, zu spät zu kommen. Nun waren wir mehr als 30 Stunden vor Abflug in Frankfurt und kommen doch nicht in Urlaub.“

Ja, ich war genervt. Ich wusste dass meine Mutter nichts dafür konnte, aber wenigstens wollte ich meinem Ärger ein wenig Luft machen.

 

„Wer rechnet denn auch mit sowas?“

„Der Flughafen wusste das bestimmt schon länger. Die blöde Kuh, die uns eingecheckt hat ebenso. Ich bin mir sicher.“

„Ist jetzt eh nicht mehr zu ändern.“

„Na ja, wir können ja mal fragen, ob die Beamten vorne eine Prognose geben können, wie lange das Ganze noch dauert, dann könnten wir noch etwas essen gehen.“

„Vergiss es. Aus dem Wartebereich kommen wir nicht mehr raus, nicht nachdem wir die Passkontrolle durchlaufen haben.“

Daran hatte ich nicht gedacht.

 

„Alle Flüge fallen aufgrund des Vulkanausbruchs in Island aus. Sie können an den Informationsschaltern umbuchen oder bekommen je nach Reiseanbieter Ihre Kosten erstattet. Wir bitten um Ihr Verständnis und wünschen Ihnen noch einen angenehmen Tag.“

 

Nervig!

Ich beugte mich nach vorne, um meinen Rucksack zu nehmen. Ich kramte ein Sudoku-Heftchen hervor und machte mich an meine Rätsel. Das war auch mein einziger Trost, ich hatte genug davon dabei, um es hier locker zwei bis drei Tage auszuhalten. Mein einziges Problem bestand darin, dass ich wusste, dass ich ziemlich bald müde werden würde, wenn die Tabletten anfingen zu wirken. Ich hoffte inständig, dass bis dahin zumindest ein Einsteigen in den Flieger möglich sein würde. Nicht dass meine Mutter mich noch am Flughafen zurückließe, wie sie es angedroht hatte. Obwohl, nein, das traute ich ihr nicht zu, ihr einziges und somit liebstes Kind würde sie bestimmt nicht schnarchend in einer Wartehalle zurücklassen. Hoffentlich.

 

 

8.