»Dann bin ich morgen wohl den ganzen Tag hindurch am anderen Ende des Lagers beschäftigt. Ich möchte nicht, daß er auf die Idee kommt, ich hätte irgend etwas mit der Sache zu tun. «

»Ein weiser Entschluß. «

Als ’Ring ins Zelt zurückkehrte, hatte sich Maddie die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Sie lauschte jedoch den Geräuschen, die er beim Ausziehen und beim Ausbreiten seiner Decken auf dem Boden machte. Sie fragte sich, was er wohl anhatte.

Er löschte die Lampe und kroch zwischen seine Armeedecken. »Gute Nacht«, sagte er leise.

Maddie antwortete nicht, sondern wartete gespannt, ob er nicht doch etwas unternahm. Sie erinnerte sich daran, daß Toby gesagt hatte, Captain Montgomery wäre an Frauen nicht interessiert. An keiner Frau oder nur an ihr nicht?

»War ich heute abend tatsächlich gut, oder wollten Sie mir nur etwas Nettes sagen? «

»Sie waren mehr als gut. «

Sie schwieg einen Moment. »Ich habe noch nie zuvor so etwas getan. Ich meine, ich habe noch nie so eine Rolle gespielt. Mein Leben ist eher gesetzt gewesen, was Männer betrifft. Tatsächlich habe ich noch keinen… « Sie konnte den Satz nicht beenden.

»Ich weiß. «

Diese Bemerkung machte sie wütend. »Wie können Sie nur annehmen, daß Sie so viel über mich wissen, während ich so wenig über Sie weiß? «

»Wir lernen dort, wo unsere Interessen liegen. «

»Was soll das nun wieder heißen? «

Er sagte nichts, und sie ahnte, daß er ihr die Antwort auf diese Frage schuldig bleiben wollte. Sie hatte wieder die Szene vor Augen, als er ihr seine Arme entgegenhob, um sie vor ihren betrunkenen Zuhörern zu retten, und sie dachte daran, was sie ihm morgen früh antun würde. »’Ring«, flüsterte sie.

Er sagte nichts, aber sie wußte, daß er horchte. »Manchmal muß ein Mensch etwas tun, was nicht gerecht ist oder was in dem Moment der Tat ungerecht zu sein scheint, aber die Umstände zwingen einen manchmal dazu, ob man will oder nicht. Verstehen Sie? «

»Nicht ein Wort. «

Sie seufzte. Es war besser, wenn er es nicht verstand. »Gute Nacht«, sagte sie, drehte sich auf die Seite und versuchte einzuschlafen.

Am Morgen, gegen fünf, kam eine verschlafen aussehende Edith mit einer kleinen Schachtel aus Holz unter dem Arm ins Zelt. »Morgen, Captain«, sagte sie.

Maddie rollte sich auf die linke Seite und sah Captain Montgomery voll bekleidet mit seinem schmutzigen, blutbefleckten Hemd und seiner Armeehose auf einem Klappstuhl sitzen und Kaffee trinken. »Wie lange sind Sie schon wach? « fragte Maddie.

»Eine Weile. Was bringen Sie denn da, Miss Honey? «

»Trockenfrüchte. Einer der Männer hat sie ihr geschickt«, antwortete Edith und deutete auf Maddie. »Als Anerkennung für ihre Vorstellung gestern. Ich glaube, man nennt diese Dinger Feigen. Ich habe noch nie so was gegessen, und sie sehen mir auch nicht besonders verlockend aus, aber eines von den Mädchen hat mir erzählt, daß sie ein horrendes Geld kosten. «

’Ring nahm Edith die Schachtel ab und schaute hinein. »Es sind tatsächlich Feigen. « Er hielt Maddie die Schachtel hin. »Wollen Sie eine probieren? «

Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen, gähnte und sagte: »Nein, vielen Dank, aber Sie können gern welche davon essen. «

Sie versuchte, nicht hinzusehen, als er die Hand über die Schachtel legte und dann zögerte. »Nein, später vielleicht. «

Er stand auf. »Ich warte draußen, bis Sie sich angezogen haben, und dann begleite ich Sie zur Toilette. Heute lasse ich Sie keine Sekunde aus den Augen. «

»Und was wollen Sie jetzt machen? « flüsterte Edith, sobald er das Zelt verlassen hatte.

»Ich habe keine Ahnung. Vielleicht fällt mir noch etwas ein… Hilf mir beim Anziehen. «

Seinem Wort getreu, erwartete Captain Montgomery sie vor dem Zelt. Er bot ihr seinen Arm an, aber sie weigerte sich, ihn anzunehmen. »Ich kann allein gehen. «

»Wie Sie wollen. «

Sie hatte keine Lust, mit ihm zu reden, weil sie nachdenken mußte. Wenn er die Feigen nicht anrührte - was dann?

Sie versicherte ihm, daß sie keine Eskorte brauchte, wenn sie sich zur Toilette begab, und ging ihm dann drei Schritte voraus. Doch kaum hatte sie das stille Örtchen erreicht, als sie neben der Wand ein Zischen hörte.

»Madam, wir sind es. Erinnern Sie sich? «

Rasch sah sich Maddie in dem Örtchen nach Astlöchern um und entdeckte die vier Männer, die sie vor ein paar Tagen in das entlegene Goldgräberlager verschleppt hatten. »Was wollen Sie von mir? «

Die vier machten ihr den Vorschlag, sich an ihrer Mine zu beteiligen. Ais Sicherheit wollten sie ihr die Hälfte ihrer drei Claims abtreten. Warum nicht? dachte sie und wußte sofort, daß Captain Montgomery mit dieser Idee nicht einverstanden wäre. Aber die Tatsache, daß sie so ein Angebot überhaupt in Erwägung zog, war allein seine Schuld. All sein Gerede von Geld und davon, was sie anfangen wollte, wenn sie nicht mehr singen konnte, mußte sie doch auf den Gedanken bringen, daß sie Geld brauchte. Was hatte John mit dem Geld gemacht, daß sie seit Jahren eingenommen hatte? Er hatte stets die Rechnungen bezahlt, die sie ihm schickte, aber sie war nie auf die Idee gekommen, ihn zu fragen, wo das übrige Geld geblieben war.

»Schön«, sagte sie. »Gehen Sie zu Frank. Er soll jedem von Ihnen hundert Dollar auszahlen. «

»Vielen Dank, Madam«, riefen sie im Chor. »Danke. Wir werden Sie zu einer reichen Frau machen. «

Sie war erleichtert, als sie gingen und ihr endlich etwas Privatsphäre gönnten. Captain Montgomery erwartete sie wieder. Ich bin nicht besser dran als eine Zuchthäuslerin, dachte sie.

Im Zelt hielt ihr Captain Montgomery wieder die Schachtel hin. »Wollen Sie nicht mal kosten? «

»Nein, danke. Ehrlich gesagt, ich mache mir nichts aus Feigen. Aber Sie dürfen so viele davon essen, wie Sie wollen. «

»Da sage ich nicht nein. « Sie beobachtete, wie er zwei Früchte gleichzeitig in den Mund steckte und sie aufaß. »Sie sind wirklich gut. Wollen Sie nicht wenigstens eine davon probieren? «

»Nein, lieber nicht. « Sie lächelte, als er noch eine Feige aß. Aber ihr wurde mulmig zumute, als er die vierte verzehrte. Sie hatte keine Ahnung, wieviel Opium Edith in jede Frucht getan hatte, und sie wußte auch nicht, wieviel Opium man brauchte, um eine Person in ewigen Schlaf zu versetzen.

Als er die fünfte in den Mund stecken wollte, sprang sie auf ihn zu und schlug ihm die Schachtel aus der Hand.

Er sah sie überrascht an, bevor ihm die Erleuchtung kam. »Was haben Sie getan, Maddie? «

»Etwas, was ich tun mußte. Bitte, versuchen Sie, mich zu verstehen. «

»Verstehen, daß Sie kein Vertrauen zu mir haben? Daß Sie denken, ich wäre unfähig, Ihnen aus einer Klemme zu helfen? «

»Ich würde Sie um Hilfe bitten, wenn ich könnte. Aber ich kann nicht. Sie müssen mich verstehen. «

»Ich verstehe überhaupt nichts. « Er legte die Hand an die Stirn und schwankte hin und her.

Maddie eilte an seine Seite, legte den Arm um seine Schultern und führte ihn zur Liege. Er sank auf die Decke und zog Maddie mit sich. Sie versuchte, sich von ihm zu lösen, aber er hielt sie fest, bis sie ihren Widerstand aufgab. Sie wußte, daß er bald nicht mehr die Kraft hatte, sie festzuhalten.

»Was haben Sie vor? Mit wem treffen Sie sich? Was ist so wichtig, daß Sie dafür Ihr Leben riskieren? « Er hatte den Arm um ihren Hals gelegt.

»Ich kann es Ihnen nicht sagen. Glauben Sie mir - ich täte es, wenn ich könnte. Ich wäre froh, wenn mir jemand zur Seite stehen würde. «

Er schloß einen Moment die Augen und zwang sie dann wieder auf. »Ist es der gleiche Mann wie zuvor? «

»Was? «, sagte sie, erinnerte sich jedoch sofort daran, daß er ihr beim ersten Mal gefolgt war. »Das kann ich nicht sagen. Ich muß jetzt gehen. Ich habe einen langen Weg zurückzulegen bis zum Abend. «

Sie versuchte sich von ihm zu lösen, aber er war immer noch wach genug, um sie daran zu hindern. »Wohin? «

»Ich werde es Ihnen nicht verraten, weil Sie mir folgen würden, sobald Sie wieder dazu fähig sind. Verdammt! « rief sie, »warum mußten Sie in mein Leben treten und mich so verwirren? Mir ging es viel besser, ehe ich Sie kennengelernt habe. Ich war frei. Es gab niemanden, der glaubte, mein Wächter sein zu müssen. Und jetzt… «

Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen und befreite sich mit einem energischen Ruck von ihm. Er versuchte ihr zu folgen; aber der Schlaf übermannte ihn. Maddie ging zu ihrem Koffer, holte die Wegskizze heraus und steckte sie in ihre Bluse.

Sie ging zu ’Ring zurück, beugte sich über ihn und berührte sein Haar. Mit einiger Mühe brachte er die Augen wieder auf.

»Ich habe Angst, Sie könnten verletzt werden«, flüsterte er. »Oder sich verirren. «

»Nein, das werde ich nicht. Ich reite nicht durchs Lager. Ich schleiche mich am Stadtrand entlang, damit mich keiner sieht. Ich bin noch vor morgen abend zurück. »Warten Sie auf mich. Und… «, sie lächelte ihn an, »… seien Sie nicht wütend auf mich. «

»Ich werde Ihnen folgen. «

Sie konnte seine Worte kaum noch verstehen. »Warten Sie hier auf mich«, wiederholte sie, »ich passe schon gut auf mich auf. «

Er schwieg und lag reglos da. Als sie auf ihn hinuntersah, spürte sie ein tiefes Bedauern. Sie hatte Angst vor den Männern, die Laurel in ihrer Gewalt hatten, und vor den Goldgrä-bem. Sie strich ihm eine schwarze Strähne aus der Stirn. Sie hätte sich viel sicherer gefühlt, wenn er sie in die Wälder begleitet hätte. Und vielleicht hätte sie eine Weile ihren Kummer um Laurel vergessen können, wenn er sie mit seinen großspurigen Reden unterhalten hätte.

»Tut mir leid, ’Ring«, flüsterte sie dem schlafenden Mann ins Ohr. »Ich würde das nicht tun, wenn ich es nicht müßte. «

Sie wollte sich von der Liege entfernen, gab dann aber einem Impuls nach und drückte ihren Mund auf seine Lippen. Sie hatte gedacht, er läge im tiefen Schlaf; aber in diesem Moment kehrte seine Kraft zurück. Sein rechter Arm legte sich um ihren Rücken und sein linker um ihre Taille. Er drückte ihren Kopf zur Seite, so daß ihr Mund fest auf seinem lag, und dann küßte er sie.

Schon einige Männer hatten versucht, Maddie zu küssen, aber Küsse hatten sie nie sonderlich interessiert. Aber dieser Kuß war anders. Sie hatte das Gefühl, zu ertrinken, und meinte, daß seine Lippen ihr die Seele aus dem Leib saugten. Sie schlang die Arme um seinen Hals und zog ihn noch fester an sich und legte sich neben ihn. Die Liege war so schmal, daß sie halb auf ihm lag.

Unerwartet ließ er sie los. Sie mußte sich an seinen Schultern festhalten, um nicht von der Liege zu fallen. Sie hob den Kopf, um ihn anzusehen, und merkte, daß er fest schlief.

Langsam stand sie auf, aber ihre Knie waren so weich, daß sie zu Boden sank. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie keuchte und betrachtete mit großen Augen die schlafende Gestalt von Captain Montgomery. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und spürte, daß sich dort kleine Schweißperlen gebildet hatten.

»Mon Dieu«, flüsterte sie, und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sich daran erinnern konnte, wer sie war und wo sie sich befand. Dann stand sie auf. »Ich komme wieder«, sagte sie zu der schlafenden Gestalt. »Dessen kannst du sicher sein. Ich komme zurück. «

Sie ging zum Zeltausgang, schlug die Plane zurück, warf noch einen letzten Blick über die Schulter und trat ins Freie, wo ein gesatteltes Pferd auf sie wartete.