»Wo bist du?«, will ich wissen.
Keine Antwort.
»Wer bist du?«
»Du weißt es.« Diesmal kommt die Stimme von rechts. Ich drehe mich. Sie klingt nicht wie Nicks Stimme. Sie ist älter und glatter.
»Woher kennst du meinen Namen?«, frage ich und lausche angestrengt.
»Ich habe deinen Namen schon immer gekannt, Prinzessin.«
Zara bedeutet Prinzessin. Gut. Ist mir egal, was mein Name bedeutet. Ich stürze in die Richtung, wo ich die Stimme vermute, jage über Steine und Kiefernzapfen und Wurzeln.
»Wo bist du?«
Nichts unterbricht die endlose Reihe von Baumstämmen, kein Fetzen Stoff, keine Augen, keine Haare. Bäume soweit ich sehen kann. Bäume. Bäume. Bäume. Ich drehe mich um und halte Ausschau nach dem Haus. Eigentlich sollte es zu meiner Rechten liegen, aber da ist es nicht. Nur Bäume. Verdammt dunkel ist es in dem Wald.
Angst krallt sich in meinen Magen, aber diesmal ist es nicht nur Angst um Nick. Es ist auch Angst um mich. Ich habe mich doch nicht verirrt? Nicht so schnell.
»Wo bist du?«
»Hier entlang.« Die Stimme kommt von links. Ich stürze mich auf sie und stürme zwischen den Bäumen hindurch immer weiter in die zunehmende Dunkelheit hinein. Es ist fast Nacht.
»Hast du Nick geholt? Ich trete dich in den Arsch, wenn du Nick geholt hast. Ehrenwort.«
Vor mir öffnet sich eine kleine Lichtung. Junge Fichten stehen wie Wachen im Kreis. Es beginnt zu schneien. Ich halte inne und stehe allein in der Mitte des Kreises, während der Schnee immer dichter fällt.
»Du willst mich in die Irre führen«, rufe ich. Ich hebe drohend den Schürhaken, aber dann lasse ich ihn wieder sinken, denn ich will ihm ja nicht zeigen, dass ich Angst habe. Ich habe keine Angst. »Du gehst mir wirklich auf die Nerven!«
Keine Antwort.
»Ich bilde mir deine Stimme nicht ein!«
Immer noch keine Antwort.
Mein Kopf pocht. Es gibt einen Namen für diese Angst, für die Angst vor einer Stimme. Aber er fällt mir nicht ein. Verdammt.
Phobophobie, die Angst vor der Angst.
Phonophobie, die Angst vor Geräuschen oder Stimmen.
Photoaugliaphobie, die Angst vor blendendem Licht.
Photophobie, die Angst vor Licht.
Das ist sie. Und welche Angst kommt im Alphabet als nächste?
Phronemophobie, die Angst vor den Gedanken.
Ich habe keine Angst davor nachzudenken. Denken beruhigt mich. Ich suche mit den Augen den Waldrand ab, starre angestrengt in die Nacht.
Wo bin ich?
Im Wald.
Wo ist Nick?
Keine Ahnung. Er hat ihn nicht verschleppt. Das darf nicht sein.
Wo ist die Stimme?
Ich greife in die Tasche nach meinem Handy, aber es ist noch in meiner Sporttasche. Ich schüttle den Kopf. Kann man so blöd sein? Ich folge der Stimme eines verrückten Elfen, der wahrscheinlich ein Serienmörder ist, renne in einen Wald hinein, der eines Steven-King-Romans würdig wäre, und habe mein Handy nicht dabei.
Ein kehliger, panischer, kläglicher Laut entschlüpft meinen Lippen. Ich schlucke und richte mich auf. So wird das nicht laufen. Ich werde nicht warten, bis der Mörder mich kriegt, und als Jammerlappen sterben.
Der Schnee bedeckt die Fichten. Er berührt meine Haare, legt sich auf meine Jacke und meine Hose und dringt in meine Turnschuhe ein. Er fällt so dicht, dass der Boden schon fast bedeckt ist. Das heißt, dass es Fußspuren gibt, denen ich oder jemand anders folgen kann.
»Zara«, ertönt die Stimme wieder. »Komm zu mir.«
Ich schüttle den Kopf. Ich habe mich schon wider alle Vernunft benommen. Ich werde die Sache nicht noch schlimmer machen. »Nein.«
Ich wische mir den Schnee aus dem Gesicht.
»Hier entlang.«
Ich halte mir die Ohren zu und bewege mich nicht.
»Ich habe mich verirrt. Du hast mich in die Irre geführt«, sage ich mit schwacher Stimme, »und das ist total fies.«
Und dann höre ich es: ein amüsiertes Lachen, aber neben dem Lachen noch etwas anderes: ein Heulen.
Von einem Wolf?
Es ist ein Hund. Es muss ein Hund sein. Einen Wolf kann ich im Augenblick nicht gebrauchen.
Ich lausche wieder. Vielleicht stimmt es ja, was ich in der vierten Klasse in den alten Büchern gelesen habe, in denen Schäferhunde und Bernhardiner immer Menschen in Not gerettet haben. Vielleicht ist ein netter Hund gekommen und rettet mich vor wem oder was immer sich im Wald verbirgt. Vielleicht baumelt an seinem Hals sogar ein Fässchen Bier. Mir egal. Im Augenblick würde ich auch einen Werwolf nehmen. Alles würde ich nehmen.
Mit der Hoffnung ist es schon merkwürdig. Sie sorgt dafür, dass du den Glauben nicht verlierst.
Ich renne auf das Heulen des Hundes zu, sehne mich nach einem weichen Fell und einer sabbernden Schnauze. Das Heulen klingt jetzt näher, es kommt von hinten. Ich laufe, ohne auf den Schnee zu achten, ohne daran zu denken, dass er Wurzeln und Steine verbirgt und jeder Schritt gefährlich sein könnte.
Ich bleibe stehen und hole Luft. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Wegen meiner Gehirnerschütterung dreht sich alles in meinem Kopf.
Einatmen, Zara.
Ausatmen, Zara.
Die Phobien aufzählen.
Ich kann nicht. Mir fällt keine Einzige ein.
Einatmen.
Mrs Nix!
Sie hat gesagt, dass man die Jacke auf links anziehen muss, damit man sich nicht verirrt. Klar, sie spinnt, und das ist alles nur ein blöder Aberglaube, aber ich bin bereit, es zu tun. Im Augenblick würde ich alles tun.
Ich reiße mir die Jacke vom Leib und drehe sie auf links. Dann ziehe ich das Sweatshirt aus und drehe es auch um. Die Ärmel fühlen sich merkwürdig eng an.
»Schlimmer kann es nicht werden«, murmle ich den Bäumen zu und laufe wieder los.
Ich weiß nicht genau, wie lange ich durch den Wald gerannt bin. Ich laufe blind, streife Baumstämme, meine Haare verfangen sich in tief hängenden Zweigen, meine Füße halten mich irgendwie aufrecht, der Schmerz in meinem Kopf pocht.
Ich höre den Hund.
Ich folge ihm, komme näher und näher an ihn heran, bis ich auf einmal dem Wald entkommen bin und in unserem Vorgarten stehe.
Ich recke die Faust in den Himmel und ich würde den Boden küssen, wenn er nicht so verdammt schneebedeckt wäre. Ich hab’s geschafft. Ich hab’s geschafft. Ich hab’s geschafft!
Ein Hoch auf mich!
Ein Hoch auf alle Hunde!
Ich führe einen kleinen Freudentanz auf, der jedem Fußballspieler zur Ehre gereicht hätte. Juhu.
Dann schaue ich mich um. Auf der vorderen Veranda brennt noch immer Licht, Grandma Bettys Pick-up steht noch immer nicht da und der Mini parkt noch immer schneebedeckt in der Einfahrt. Keine Fußspuren stören.
Der Mut verlässt mich. Ich schlucke und drehe mich vorsichtig um. Vielleicht entdecke ich irgendwo den Mann, der zu der Stimme gehört, die meinen Namen kennt.
Aber ich sehe nur Bäume.
»Nick?«
Sein Name hallt in der schneeerfüllten Luft wider wie eine besorgte Frage. Ich stapfe durch den Schnee, einen Schritt, dann den nächsten. Meine Laufschuhe sind völlig durchnässt. Hatte ich bislang gar nicht bemerkt. Ich schiebe sorgenvolle Gedanken über abgefrorene Zehen beiseite. Warum ist Nick noch nicht zurück?
»Nick?«
Zu meiner Rechten nehme ich eine Bewegung wahr und wirble mit erhobenem Schürhaken herum, bereit zu treten, zu stoßen, zuzuschlagen, wegzurennen. Aber es ist nicht der Psychotyp. Hinter Nicks Mini kommt der größte Hund hervor, den ich je gesehen habe. Er ist schlanker als ein Bernhardiner, aber größer und muskulöser. Sein braunes Fell erinnert an einen Wolf, aber Wölfe sind nicht so groß. Oder? Nein. Auf keinen Fall.
Vielleicht ist das der Hund, der mich heimgelotst hat, mein Retter.
Ich strecke die Hand aus. Der Hund dreht den Kopf und schaut mich direkt an. Seine wunderschönen, blanken Augen liegen tief in seinem schneebedeckten Fell.
»Na, Hundchen?«, sage ich. »Komm her, Süßer. Weißt du, wo Nick ist?«
In diesem Augenblick entdecke ich den Pfeil, der tief in seiner Schulter steckt. Blut ist aus der Wunde herausgesickert und an seinem Fell herabgetropft. Wo der Pfeil eingedrungen ist, hat sich schon ein bisschen Schorf gebildet. Wer zur Hölle schießt mit einem Pfeil auf einen Hund? Heiße Wut steigt in mir auf, und ich beiße die Zähne zusammen, um sie niederzuhalten und wegzuschieben. Dann winselt der Hund, und die ganze Wut verwandelt sich in etwas anderes.
»Ach, du Armer«, sage ich und stürze zu ihm, ohne einen einzigen Gedanken an seine Größe zu verlieren oder daran, dass er wahrscheinlich ein Wolf ist. Ich lasse mich vor ihm im Schnee auf die Knie plumpsen.
»Tut es sehr weh?«
Der Hund/Wolf schnuppert an meiner Hand. Ich kraule seine Schnauze und schaue ihm in die Augen. Ich bin total verliebt in dieses Hündchen. Er bewegt die Schulter, als würde er mit der Achsel zucken, aber der Pfeil scheint ihm große Schmerzen zu machen, denn er lässt ein lautes, heftiges Stöhnen vernehmen. Der arme Kerl.
Meine kalten Finger streicheln ihn unter dem Kinn. Er ist so warm dort.
»Wir müssen dich ins Warme bringen«, sage ich, stehe auf, klopfe an meinen Oberschenkel und hoffe, dass er mich versteht. »Komm.«
Ich gehe langsam auf das Haus zu und vergewissere mich durch einen Blick über die Schulter, dass der Hund/Wolf irgendwann mal abgerichtet wurde und mir folgt. Könnte ja sein, oder?
Ich klopfe mir auf die Brust und sage noch einmal: »Komm.«
Mit einer kraftvollen und zugleich anmutigen Drehung des Kopfes schaut er zu mir auf. Unsere Blicke treffen sich. Ich kann nicht genau sagen, was ich sehe. Etwas Wildes? Etwas Starkes? Etwas sehr Intelligentes? Oh Gott …
»Ich will dir nur helfen«, sagte ich mit sanfter Stimme. Ich ziehe die Ärmel über meine Hände, die ganz gefühllos sind von dem Schnee und der Kälte.
»Bitte, komm ins Haus. Ich ziehe den Pfeil raus. Ich sorge dafür, dass du es warm hast. Lass mich dich retten.«
Meine Augen fixieren den Hund, dann wenden sie sich ab und betrachten den dicht fallenden Schnee und Nicks Auto. Meine Stimme gerät wieder ins Stocken.
»Und dann rufe ich meine Gram an und gehe noch mal raus und suche Nick. Das ist der Typ, dem der Mini gehört«, erkläre ich.
Der Hund legt den Kopf schief, als ich Nicks Namen ausspreche.
In meinem Herzen flackert eine alberne Hoffnung auf. »Hast du ihn gesehen? Hast du Nick gesehen?«
Der Hund verhält sich nicht gerade wie Lassie, aber sein Schwanz bewegt sich schwach, als ob er wedeln wollte, sich aber nicht ganz darauf festlegen könnte. Natürlich antwortet der Hund nicht. Ich hab sie wohl nicht mehr alle. Als ob ich tatsächlich an Werwölfe und Elfen glaube. Als ob etwas tief in meinem Innern, ganz tief drinnen, schon immer an Werwölfe und Elfen geglaubt hat. Und dieser Glaube hat sich jetzt endlich Bahn gebrochen, auch wenn ich versucht habe, ihn zurückzudrängen.
Ich zeige auf die Tür und sage: »Dort hinein, los.«
Der Hund legt die Ohren flach an den Kopf. Seine Muskeln zucken und dann springt er mit einem Satz an mir vorbei auf die Veranda. Als seine Vorderpfoten den Verandaboden berühren, jault er auf. Ich begreife das nicht. Er ist mindestens zehn Meter weit gesprungen. Wie ist das möglich? Ich steige mühsam die Treppen hinauf und lege dem Hund zögernd die Hand auf den Kopf.
»Also gut, Süßer«, sage ich, während ich mit der Schulter die Vordertür aufstoße. »Dann verbinden wir dich mal.«
Im Haus ist es einladend warm, und der Hund erscheint mir schrecklich fehl am Platz, wie er tropfend in der Kälte bei der Eingangstür steht. Ich streife die nassen Schuhe ab, schnappe mir eine Decke von der Couch und werfe sie ihm über.
»Okay«, sage ich, indem ich mit ausgebreiteten Händen rückwärts gehe und versuche, mir etwas einfallen zu lassen. »Du wärmst dich auf. Okay? Ich rufe einen Tierarzt an.«
Im anderen Zimmer schnappe ich mir das Telefon und das Telefonbuch und gehe wieder zurück an die Eingangstür, wo der Hund zusammengesackt ist. Ich setze mich neben ihn. Er legt seinen Kopf in meinen Schoß. Ich beuge mich hinunter und küsse ihn auf die Nase. Sie ist schwarz und trocken. Er zittert.
»Ach, Hundchen, es wird alles gut werden«, murmle ich, während ich im Telefonbuch blättere. Nur ein Tierarzt ist aufgeführt, aber er hat eine Notfallnummer. Ich wähle sie.
Ein irritierender Ton dringt durch den Hörer: »Die Nummer, die Sie gewählt haben, ist nicht vollständig.«
Ich hänge auf. Eigentlich werfe ich das Telefon auf den Boden, denn ich lasse meinen Zorn an unbelebten Dingen aus. Das ist besser, als ihn an Menschen auszulassen, oder?
Ich atme ein, versuche, mich zu beruhigen und nachzudenken. Ich habe also die falsche Nummer gewählt. Das passiert mir manchmal, ich verdrehe die Zahlen. Ich versuche es noch einmal und höre dieselbe verdammte Bandaufnahme.
»Die Nummer, die Sie gewählt haben, ist nicht vollständig«, sagt die Computerstimme in herablassendem Ton. Wie kann etwas, das nicht lebendig ist, so herablassend sein? Keine Ahnung. Aber es ist so.
Der Hund winselt, als ich wieder auflege. Ich hake das Telefon ab und untersuche den Pfeil, der aus seinem süßen Hundekörper ragt. Er ist aus schwarzem Holz gearbeitet und in den schmalen Schaft sind grüne Blätter eingeritzt. Er wäre wunderschön, wenn er nicht in Fleisch und Muskeln steckte.
»Wer hat dir das angetan?«, flüstere ich.
Heißer Atem strömt aus der Schnauze des Hundes, als würde er antworten. Er hat Schmerzen. Starke Schmerzen. Unruhe überfällt mich und putscht mich auf, als hätte ich acht Tassen Espresso getrunken. Ich reibe mir den Kopf. Denk nach, Zara, denk nach. Ich vergrabe meine Hände in seinem Fell.
Die Antwort kommt.
»Ich rufe meine Großmutter an«, sage ich zu ihm. »Betty weiß, was zu tun ist. Sie ist sehr praktisch veranlagt. Du würdest sie mögen.«
Ich drücke die Nummer ihres Handys, was ich eigentlich nicht tun soll. Ich soll Josie anrufen. Aber das hier ist ein Notfall, und erstaunlicherweise geht sie sogar dran.
»Gram, hier ist ein Hund. Er ist verletzt. Jemand hat mit einem Pfeil auf ihn geschossen. Ich hab beim Tierarzt angerufen, komme aber nicht durch. Und ich kann Nick nicht finden, aber sein Mini steht hier. Du musst nach Hause kommen«, sprudelt es aus mir heraus.
»Zara, immer mit der Ruhe, Liebes.« Ihre Stimme kommt ganz ruhig durch das Telefon. »Erzähl mir das noch einmal.«
Ich erzähle noch einmal. Während ich spreche, schmiegt der Hund seinen süßen Hundekopf in meinen Schoß. Er zittert. Oh Gott.
»Er zittert«, berichte ich ihr.
Sein Atem geht immer schneller und flacher. Seine Augen blicken vertrauensvoll zu mir herauf. Er vertraut, dass ich ihn rette. Einen Wimpernschlag lang bin ich wieder bei dem Augenblick, als das Herz meines Dads aussetzte, als er sich an die Brust griff und zusammengekrümmt auf dem Boden lag. Ich hatte ihm nicht helfen können. Wen will ich zum Narren halten? Ich kann niemandem helfen.
»Gram«, beharre ich, »du musst heimkommen.«
»Ich bin auf dem Weg, Liebes, aber die Straßen sind katastrophal. Ich werde eine Weile brauchen.«
»Und der Hund? Er ist wirklich schwer verletzt, Gram. Und Nick … Nick ist verschwunden.«
»Was?«
»Nick hat mich heimgebracht. Dann haben wir etwas im Wald gehört. Er ist davongerannt und hat zu mir gesagt, dass ich drinbleiben soll. Und bis jetzt ist er nicht wieder zurückgekommen.«
»Er ist nicht wieder zurückgekommen? Aber jetzt ist ein Hund da?«
»Ja. Ich bin raus und hab ihn gesucht. Im Wald habe ich einen Mann gehört, der meinen Namen gerufen hat.«
»Zara!«, unterbricht sie mich. »Sind die Türen verschlossen?«
Ich schaue nach. »Ja. Aber Nick ist verschwunden, und der Hund ist so schwer verletzt und …«
»Jetzt beruhige dich erst einmal. Atme tief ein. Du bist Nick keine Hilfe, wenn du in Panik gerätst. Okay?«
Beschämt hole ich tief Luft und sage: »Okay.«
Ich streichle den Kopf des Hundes. Er öffnet die Augen. Etwas in seinem Blick macht mich ruhiger und stärker. Er vertraut mir. Also kann ich mir auch vertrauen.
»Gut.« Bettys Stimme nimmt einen strengen und ruhigen offiziellen Ton an. »Ich habe Josie gerade gebeten, eine Einheit zum Haus zu schicken, okay? Und ich bin auf dem Weg.«
»Sag mir, was ich tun soll.«
»Zuerst musst du dir die Hände mit heißem Wasser und einer antibakteriellen Seife waschen. Du möchtest ja die Wunde nicht infizieren.«
Sachte hebe ich den Kopf des Hundes von meinem Schoß und lege ihn auf den Fußboden. Ich umrunde seinen massigen Körper und eile in die Küche, um mir die Hände zu schrubben.
»Fertig.«
»Gut. Nimm ein Handtuch und mach es ein bisschen nass. Dann hol das Neosporin aus dem Schrank im Badezimmer.«
Ich eile zurück in die Küche, befeuchte das Handtuch und hole das Neosporin. Der Backofen ist immer noch an. Ich schalte ihn nicht aus. Dazu ist keine Zeit. »Erledigt.«
»Zuerst musst du den Pfeil herausziehen.«
»Oh, Gram, ich weiß nicht …«
»Du musst. Du kannst das, Zara. Sei stark und ruhig. Ich bin gleich da.«
Ich starre auf den Pfeil und berühre ihn mit dem Finger. Der Hund stöhnt leise, schlägt aber nicht die Augen auf.
»Ich muss das Telefon ablegen«, sage ich.
»Dann leg es ab, Liebes.«
Ich lege das Telefon auf den Perserteppich neben der Eingangstür. Dann umfasse ich den Pfeil mit den Händen. Er ist dünn und hart und kalt in meinen Händen. Ich ziehe leicht daran. Er bewegt sich nicht. Er bewegt sich überhaupt nicht, aber der Hund zittert und stöhnt leise. Es bricht mir echt fast das Herz.
Etwas Saures kommt meinen Hals herauf.
»Du kannst das«, sage ich mir.
Ich fasse fester zu, dann ziehe ich langsam und versuche dabei, meine Kraft gleichmäßig und weich einzusetzen. Der Pfeil wehrt sich gegen mich, und der Hund zittert wieder. Er stöhnt so schrecklich traurig, dass mir die Tränen übers Gesicht laufen. Es muss so wehtun. Es muss ihm so schrecklich wehtun.
»Gleich haben wir’s geschafft«, sage ich. »Gleich haben wir’s geschafft, Hundchen. Du bist tapfer. Tapferes Hundchen.«
Ein schreckliches saugendes Geräusch ertönt und mit einem Schwall Blut gleitet der Pfeil heraus. Der Hund zittert heftig und bewegt sich nicht mehr.
»Hundchen!«
Er bewegt sich nicht. Blut sprudelt aus der Wunde.
Ich werfe den Pfeil beiseite und nehme das Telefon. Die andere Hand drücke ich auf das Loch.
»Ich hab’s getan, aber jetzt blutet er. Er blutet heftig. Es tut mir so leid, mein kleines Hundchen.«
»Das ist okay«, antwortet Gram. »Spritzt das Blut aus der Wunde?«
»Nein.« Ich starre auf das schreckliche rote Blut. »Es blutet schon weniger.«
»Gut, dann musst du keinen Druckverband anlegen. Drück einfach mit einem Wundverband leicht auf die Wunde. Hast du einen Verband?«
»Ich glaube, ja.« Ich wühle in dem Erste-Hilfe-Kasten und schmiere Blut an die Pflasterpackung, das Aspirin und die Schere mit den merkwürdigen Enden. »Jep. Hab ihn.«
»Also, Zara. Keine Sorge. Das Schlimmste ist überstanden. Ich sage dir, was du jetzt tun musst. Wenn die Blutung nachgelassen hat, reinigst du die Wunde mit Wasser. Wenn du noch Schmutz aus der Wunde entfernen musst, tauchst du die Pinzette in Alkohol. Die Pinzette ist auch im Erste-Hilfe-Kasten. Alles klar?«
Sie redet wahnsinnig schnell, aber ich glaube, ich kann ihr folgen.
»Okay.«
»Dann schneidest du das Fell um die Wunde herum ab. Rasieren wäre noch besser, aber das ist jetzt vielleicht doch zu viel. Dann gibst du ein bisschen Neosporin darauf und legst einen Verband an. Okay?«
»Okay.«
»Gut gemacht, Zara. Ich bin auf dem Weg. Die Polizei ist vielleicht vor mir da.«
»Gut.« Ich schlucke schwer. Wenn sie nur heimkommen und mir helfen könnte. Wenn ich nur nicht ganz alleine wäre. »Danke. Meinst du, dass mit Nick alles in Ordnung ist?«
»Mach dir keine Sorgen um ihn, Zara. Er hat mehr drauf, als du denkst. Und die Polizei wird bald da sein.«
»Danke, Gram«, sage ich und drücke auf die Wunde des Hundes.
»Gern geschehen, Liebes. Gut gemacht! Ich mag es, wenn du Gram zu mir sagst.«
Sie legt auf, und auf einmal ist die Welt viel zu ruhig. Mehr drauf, als ich denke? Hatte sie das tatsächlich gesagt?
Ich beuge mich hinunter und küsse den Hund auf die Wange. »Denkst du, sie meint, was ich denke?«
Er stöhnt.
»Sieht so aus, als wären nur noch ich und du hier, Junge«, sage ich zu ihm. »Aber du schläfst dich jetzt gesund, ja? Meinst du, du magst Kartoffelbrei?«
Der Hund antwortet nicht. Natürlich nicht. Ich kuschle mich an ihn.
Der Hund und ich sind allein. Aber, was zählt, ist, dass ich ihn gerettet habe. Natürlich mit Grandma Bettys Hilfe. Aber ich habe ihn gerettet. Ich.
Teratophobie
Die Angst vor Monstern oder entstellten Menschen
Ich tue, was ich kann für den Hund: Reinige seine Wunde und hebe seinen schweren Körper immer stückchenweise an, damit ich ihn in eine Decke wickeln kann, verbinde ihn und streichle seinen Kopf, während er im Schlaf leise stöhnt,
»Armes kleines Hundchen«, sage ich, obwohl er ganz offensichtlich nicht klein ist. Vielleicht ist er nicht einmal ein Hund. »Glaubst du, dass mit Nick alles in Ordnung ist?«
Der Hund atmet im Schlaf tief aus. Ich fröstle, denn bei der Tür zieht es. Dann nehme ich den Kopf der Hundes vorsichtig von meinem Schoß herunter und bette ihn auf ein weiches Kissen, das ich von der Couch gezogen habe. Er ist so groß.
»Bis du ein Werwolf?«, flüstere ich, beschämt, dass ich überhaupt frage.
Er öffnet ein Auge und sieht mich an.
»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.« Ich beuge mich hinunter und küsse ihn auf die Schnauze. »Geht’s dir gut?«
Ich kontrolliere den Verband und ziehe die Decke ein bisschen zurück.
»Ich glaube, die Wunde blutet nicht mehr. Das ist gut. Ich schau mich mal draußen um. Bin gleich wieder da. Ich mach mir echt Sorgen um diesen Nick. Aber du brauchst nicht eifersüchtig zu werden. Um dich mach ich mir auch echt Sorgen.«
Der Hund versucht, den Kopf zu heben, aber er ist wohl zu müde und zu erschöpft von seiner Verletzung. »Du ruhst dich aus, Süßer.«
Er ist so süß mit seinem zotteligen Fell und den breiten Hundeschultern und den Hängebacken. Vielleicht kann er ja bei uns bleiben. Bettys Haus wäre bei Weitem nicht mehr so einsam, wenn es einen Hund dort gäbe. Sollten eigentlich nicht alle Haushalte in Maine einen Hund haben? So will es, glaube ich, das große Buch der Vorurteile über Maine, wo Hunde gleich nach ausrangierten Pick-ups im Vorgarten kommen und einer Veranda auf der Vorderseite des Hauses mit Betonsäulen und Hummerfallen.
Ich ziehe auf einer Seite des Mauls die Lefzen hoch und schaue mir seine Zähne an. Sie sind sauber, weiß und riesengroß. Der Hund öffnet ein Auge und schaut mich vorwurfsvoll an.
Ich lasse die Lefze los. »’tschuldigung. Das war sehr indiskret, ich weiß.«
Er wedelt mit dem Schwanz, aber nur ein Mal.
»Danke, dass du mich nach Hause gelotst hast«, sage ich und wünsche mir, er könnte mich verstehen.
Er wedelt wieder mit dem Schwanz.
»Ich bin gleich wieder da.«
Ich stehe jetzt wirklich auf und überprüfe, ob die Eingangstür auch abgeschlossen ist, falls ein Serienkiller vorbeikommen möchte. Dann spähe ich aus dem Fenster. Der Schnee bedeckt alles, absolut alles. Nicks Auto steht immer noch da. Die Reifen sind schon ganz im Schnee verborgen. Ich schlucke und nehme das Telefonbuch. Dann gehe ich auf Zehenspitzen an dem jetzt schnarchenden Hund vorbei in die Küche. Seine Wangen zittern, wenn er ausatmet.
»Es wird alles gut.«
Im Telefonbuch finde ich Nicks Nummer unter »Anna und Mark Colt« und wähle sie. Niemand hebt ab.
Ich rufe wieder bei Gram an, komme aber nicht durch, sondern erreiche nur ihre Mailbox. Dann wähle ich die Nummer der Rettungsstation, und Josie von der Leitstelle sagt mir, Gram sei auf dem Heimweg.
»Gut«, sage ich und denke daran, höflich zu sein. »Viel los heute Abend?«
»Kann man so sagen«, sagt sie gehetzt, während im Hintergrund ein anderes Telefon klingelt.
»Eine Spur von Jay?«, frage ich.
»Dem Dahlberg-Jungen?« Josie seufzt. »Nö. Du rührst dich nicht von der Stelle, Zara. Die Polizei ist noch draußen auf Deer Isle, aber sie sind auf dem Weg zu dir, und Betty ebenfalls.«
»Können sie sich beeilen?«
»Sie beeilen sich, Liebes. Aber die Straßen sind zu bei diesem Wetter.«
»Okay.«
»Kopf hoch, Mädel. Mach dir keine Sorgen. Nick Colt ist ein findiger Bursche. Den muss man sich warmhalten, diesen Jungen. Bist du noch dran?«
Ich beiße mir auf die Lippen.
»Bist du noch dran?«, fragt sie noch einmal.
»Ja.«
»Mist. Da kommt ein Anruf rein. Du rührst dich nicht von der Stelle, Zara.«
Was soll ich sonst tun? »Ja.«
Ich fühle mich nutzlos und lege seufzend auf. Dann starre ich auf den schmutzigen weißen Faden, den ich mir um den Finger gewickelt habe. Mein Dad würde sagen, ich solle mich beruhigen, meine überbordende Fantasie mache mal wieder aus einer Mücke einen Elefanten, oder er würde einen anderen albernen Daddy-Spruch loslassen.
Ich vermisse alberne Daddy-Sprüche.
»Alles wird gut«, verkünde ich der Küche. Eine gewaltige Windbö trifft heulend das Haus. Die Lichter flackern, verlöschen ungefähr drei Sekunden lang und gehen dann wieder an.
Die grüne Digitalanzeige der Mikrowelle springt auf blinkende 00:00 Uhr, was gut zur Dunkelheit draußen passt. Ein Zweig kratzt am Fenster. Ich fahre herum und beiße die Zähne zusammen.
Genau.
Ich werde wohl wieder hinausgehen und nach Nick suchen, doch diesmal werde ich vorbereitet sein.
Aufgepasst, ihr potenziellen Psycho-Freaks, die clevere Zara ist bereit.
Ich reiße die Tür zum Keller auf, um mir dort ein paar alte Stiefel von Grandma Betty und eine dicke Winterjacke zu holen, vielleicht auch ein paar Scheite Holz, falls der Strom ganz ausfällt und ich Feuer machen muss. In meiner Hektik stoße ich mir den Zeh an einer der tausend Eisenbahnschwellen, die Betty dort aufbewahrt. Dann fahre ich mit den Füßen in den einen und in den zweiten Stiefel und stülpe mir einen Hut über. Ich stampfe die ausgebleichten Stufen wieder hinauf. Die Stiefel machen, dass ich mich schwer und groß anhöre. Ich beiße mir auf die Lippen und ziehe die Jacke auf links an. Deshalb muss ich auch nach innen in die Jacke fassen, um den Reißverschluss zu schließen. Der Faden um meinen Finger bleibt am Reißverschluss hängen, und so lockert sich der Ring ein bisschen. Er franst langsam aus.
»Ich sollte mir wegen eines Fadens keine Sorgen machen«, verkünde ich dem Haus.
Das Haus knarzt im Wind, was wahrscheinlich heißt, dass es mir zustimmt.
Ich nehme drei Scheite Holz und balanciere sie gegen die Brust gedrückt auf einem Arm. Holzfasern bleiben an der Jacke hängen. Mit der anderen Hand greife ich mir die Taschenlampe genau in dem Augenblick, in dem die Lichter wieder flackern und ausgehen.
Bei meinem Glück wäre es keineswegs erstaunlich, wenn die Batterien nicht funktionierten, aber die Lampe leuchtet in einem kräftigen Strahl auf.
»Danke, Betty«, flüstere ich.
Grandma Betty ist eben eine Frau, die auf alles vorbereitet ist und immer frische Batterien in ihrer Taschenlampe hat.
Ich stampfe die restlichen Stufen hinauf und lasse das Holz auf die Küchentheke fallen. Es riecht nach Kartoffelbrei und noch nach etwas anderem, nach Wald und Wildnis.
Panik kriecht über meine Haut wie krabbelnde Spinnen. Mit klopfendem Herzen und voller Angst, was ich vielleicht entdecken würde, schwenke ich die Taschenlampe durch die Küche. Die Digitalanzeige der Mikrowelle leuchtet nicht mehr. Sie ist dunkel, still und tot.
Ich gehe ein paar Schritte zurück, ziehe die Besteckschublade heraus und nehme mir das größte Messer, das ich finden kann, das, mit dem man das große Gemüse schneidet. Es hat eine lange, scharfe, silberne Klinge und einen schweren schwarzen Griff.
Aus dem Wohnzimmer kommt ein Geräusch. Meine Finger schließen sich fester um den Messergriff. Vielleicht ist es nur der Hund.
Vielleicht auch nicht.
Ich gleite mit den Füßen über den Holzboden und versuche möglichst wenig Lärm zu machen, was in Grams Stiefeln gar nicht so leichtfällt. Eine Hand umfasst das Messer, bereit zuzustechen. Die andere Hand hält die Taschenlampe, die lang und schwer ist und wahrscheinlich auch gut als Waffe dienen könnte. Nicht wahr?
Einen Schritt vorwärts und noch einen, dann schwenke ich den Lichtkegel durch den Raum – direkt in die Augen eines groß gewachsenen, nackten Typen, der in eine Decke gehüllt dasteht.
Hormophobie
Die Angst vor Schock
Ich schreie. Die Taschenlampe schlägt auf dem Boden auf, schaltet sich durch den Aufprall aus und rollt weg.
»Zara?« Seine Stimme durchbricht die Dunkelheit.
»Nick, meine Güte, du hast mich zu Tode erschreckt«, sage ich. Ich knie auf den Boden und versuche die Taschenlampe zu finden. Als ich sie habe, schalte ich sie wieder an. Mein Herz schlägt ungefähr eine Million Mal pro Minute. Wie hält ein Herz so was aus?
»Du bist nackt.«
»Echt? Wär mir gar nicht aufgefallen«, scherzt er schwach.
»Warum bist du nackt?«
Ich leuchte ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht, nicht auf die unteren Körperteile. Ehrenwort. Er hebt den Arm, um seine Augen zu schützen, deshalb senke ich den Lichtkegel ein wenig und treffe auf die glatten Linien seiner Brust und seiner Bauchmuskeln. Er hat sich die Decke, die ich um den Hund gewickelt hatte, wie eine Toga umgelegt, sodass ich nur die Hälfte seiner schönen Gestalt erkenne.
Aber darum geht es nicht.
Er nickt langsam, während ich auf ihn zugehe. Als ich vor ihm stehe, bin ich ein bisschen besänftigt. Es ist mitleiderregend, wie sich seine Augen verdunkeln. »Ist dir kalt?«
Ich strecke den Arm aus und berühre ihn mit der Hand, die immer noch das Messer hält.
»Du bist ganz warm.« Meine Stimme klingt ängstlich, und ich weiche einen Schritt zurück. Ich leuchte mit der Lampe auf den Türgriff. Ich habe die Tür abgeschlossen. Ich weiß, dass ich abgeschlossen habe. »Wie bist du reingekommen?«
»Die Tür«, sagt er.
Ich weiche noch ein Stück zurück. »Ich habe die Tür abgeschlossen.«
Er sagt nichts. Seine müden braunen Augen treffen meine.
Ich leuchte mit der Lampe über die Bodendielen. Sie wackelt hin und her und hüpft auf und ab
»Wo ist der Hund?«, will ich wissen.
Er antwortet mir nicht.
»Der Hund«, wiederhole ich, als ob er es beim ersten Mal nicht verstanden hätte. »Hier war ein Hund. Er ist verletzt. Und die Decke da, woher hast du die? Hast du sie dem Hund weggenommen? Das wäre echt gemein. Er ist verletzt.«
Er antwortet nicht.
Ich wirble zu ihm herum, der Lichtkegel der Taschenlampe fährt im Zickzack mit. »Warum bist du nackt?«
Er zieht die Augenbrauen hoch und geht hinüber zu dem weißen Ledersessel vor dem Fenster, das nach vorne hinaus geht. Er sinkt hinein und zuckt dabei zusammen. Ich bin ein bisschen besänftigt, aber nur ein bisschen.
»Bist du verletzt?«, frage ich und stampfe zu ihm hinüber.
»Ich bin okay.«
Seine Stimme sagt mir, dass das eine Lüge ist. Ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber ich werde jetzt einfach so tun, als würde ich ihm vertrauen und so versuchen, was immer er versteckt, ans Tageslicht zu bringen.
»Nick, ich bin nicht mehr wütend. Es tut mir leid«, sage ich, lege das Messer auf den Boden und die Taschenlampe auf den Beistelltisch. Ich strecke den Arm nach ihm aus. »Ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Merkwürdige Dinge sind passiert. Ich habe im Wald nach dir gesucht, und ein Typ ist mir gefolgt.«
Er nimmt meine Hand in seine. Sein Griff quetscht mir die Finger zusammen. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst im Haus bleiben.«
»Aber ich hab mir Sorgen um dich gemacht«, verteidige ich mich und versuche, geduldig zu sein. »Und zu Recht.«
Seine Hand greift nicht mehr so fest zu und fühlt sich auf einmal angenehm an. Ich führe sie an meine Lippen und küsse sie, nur ein Mal, wie die flüchtigen Küsse, die meine Mutter mir immer gab, wenn ich mich nicht wohlgefühlt habe. Es ist mir egal, dass er nackt ist. Ich bin froh, dass er in Sicherheit ist und dass ich nicht allein bin.
»Und dann war da dieser Hund«, sage ich und versuche zu erkennen, wie er reagiert. »Er war riesengroß und jemand hat ihn in die Schulter geschossen. Hast du ihn gesehen? Vielleicht ist er die Treppe hinaufgegangen.«
Nick schüttelt den Kopf.
»Ich glaube nicht«, sagt er langsam.
»Hmmm. Okay. Im Augenblick mache ich mir keine Sorgen um den Hund«, erkläre ich und ziehe meine Finger aus seiner Hand. »Ich mache mir Sorgen um dich. Wo bist du verletzt?«
»Mir geht’s gut. Es heilt schon wieder.«
»Oh, ja. Was heilt schon wieder?«, frage ich.
Er schaut weg.
»Du bleibst hier«, sage ich und entferne mich widerstrebend von ihm. »Ich mache ein Feuer im Ofen.«
Ich will gerade weggehen, da überlege ich es mir anders: »Versprich mir, dass du dich nicht bewegst.«
Er hustet. »Versprochen.«
»Ehrenwort?«
»Ehrenwort.« Er lacht ein wenig, als würde ich ihn amüsieren.
Mit der Taschenlampe in der Hand eile ich in die Küche zurück und hole die Holzscheite. Ich lege zusammengeknülltes Zeitungspapier in den großen schwarzen Franklin-Kaminofen, werfe ein bisschen Anzündholz darauf und nehme eines der langen Streichhölzer, die Betty in einer Art Korb aus Eisen neben dem Ofen aufbewahrt. Sobald das Feuer brennt, lege ich ein Scheit auf. Die Flammen tauchen die Mitte des Raumes in ein weiches, warmes, rötliches Licht, aber die Ränder sind immer noch dunkel und geheimnisvoll.
Der Geruch nach brennendem Holz hat etwas Tröstliches, als ob alles normal sei, als ob ich nicht im Wald von einem Verrückten verfolgt worden wäre oder einen Pfeil aus der Schulter eines Hundes gezogen hätte oder ein nackter Junge im Sessel sitzen würde.
»Ich kann es kaum glauben, dass du weißt, wie man Feuer macht«, sagt er.
Ich wische mir die Hände an der Hose ab. »Ich bin kein ganz hoffnungsloser Fall.«
Er lächelt. »Ich weiß.«
»Ich kann auch gut Briefe schreiben.«
»Und rennen.«
»Stimmt. Und ich bin eigensinnig.«
»Wir sind beide eigensinnig.«
Während ich die Stiefel abstreife, atme ich tief die nach Wald riechende Luft ein, dann stehe ich auf.
»Zeig mir deine Verletzung.«
»Es ist nichts.«
»Ich will sie sehen.«
Ich gehe auf ihn zu, und er zuckt zurück. Ehrlich. Der große Nick Colt zuckt zurück.
»Ich tu dir nicht weh. Betty muss bald da sein und die Polizei auch.« Ich strecke die Hand aus und schiebe eine dunkle Haarlocke aus seiner Stirn. »Du bist heiß. Vielleicht hast du eine Infektion.«
»Ich bin immer heiß.« Er rutscht unbehaglich in dem Sessel herum.
»Wie bescheiden.«
Er lacht, und die Bewegung lässt ihn zusammenzucken. »So hab ich das nicht gemeint.«
»Ich weiß.«
Wir schauen uns einen Augenblick lang an, und dann lasse ich meine Hand an seiner warmen Wange liegen. Er war bei diesem Unwetter draußen. Womöglich ist er wirklich krank. Und wo zum Teufel sind seine Klamotten? Und der Hund? Und wie ist er ins Haus gekommen? Ich möchte nicht darüber nachdenken, worüber ich versuche, nicht nachzudenken, seit ich das Hundefell in seinem Mini gesehen habe, aber ich tue es. Ich denke darüber nach.
»Nick, du musst mir vertrauen. Eigentlich bin ich eine sehr vertrauenswürdige Person.«
Er schluckt. Er nimmt seine Hand, legt sie auf meine und führt sie zu seiner bedeckten Schulter.
»Ich weiß.«
Ich fröstle. In mir wallt etwas auf, sodass ich wegrennen möchte, aber ich bleibe da, ganz ruhig. »Wo bist du verletzt?«
Mit einer kleinen Bewegung seines Arms lässt er die Decke von seiner Schulter rutschen. Ich erstarre. Die tüchtige Zara verflüchtigt sich praktisch vollständig. Da ist ein blutverkrusteter Verband. Der Verband ist mir vertraut, sehr vertraut.
Meine Hand zuckt von ganz allein zurück, aber sie ist der einzige Teil von mir, der sich bewegt. Nick sieht mich abwartend an.
Ich schlucke und versuche meine Angst und meine Verwirrung wegzuschieben. Mehr kann ich nicht tun, damit ich nicht aufstehe und wegrenne. Das würde meine Mutter tun, aber nicht ich. Ich bin nicht meine Mutter.
»Aber …«, flüstere ich. »Das ist unmöglich. Oder?«
Mit schief gelegtem Kopf betrachte ich den Verband, dann strecke ich die Hand aus und reiße ihn mit einem raschen Ruck ab. Unter dem Verband kommt eine punktförmige Wunde zum Vorschein, die ein Pfeil verursacht hat. Aber sie ist schon verschorft und heilt.
Mein Atem bleibt mir in der Brust stecken.
Ganz, ganz langsam drehe ich den Kopf und begegne seinem Blick. Er sieht ängstlich aus und entschlossen, ruhig, aber irgendwie auch kampfbereit.
Der Verband baumelt von meinem Fingern, als die Frage meine Lippen verlässt: »Nick? Was bist du?«
Ich habe schreckliche Angst davor, dass ich eigentlich schon weiß, was er ist. Aber das darf nicht sein. Mein Herz krampft sich zusammen, als würde jemand es zusammenpressen, aber niemand tut mir das an. Ich selbst bin es, weil ich solche Angst habe.
Nick schließt ein Auge und dreht den Kopf, um nach seiner Wunde zu spähen, dann schaut er mich direkt an.
»Wo ist der Hund?«, frage ich und klinge panisch.
»Das war kein Hund, Zara«, sagt er. Starke geflüsterte Worte.
Ich werfe den Kopf nach hinten. »Was dann? Eine Katze? Eine Rennmaus? Ein geriatrischer Hamster?«
Er nimmt meine Hand. »Sei nicht hysterisch.«
Ich mache einen Satz von ihm weg und zeige auf ihn: »Ich bin nicht hysterisch. Das war ein Scherz. Warum haben gut aussehende Jungs einfach keinen Sinn für Humor?«
»Zara …« Er streckt den Arm nach mir aus.
»Das war eine rhetorische Frage«, sage ich und weiche ängstlich aus. Das Feuer knistert, und ich fahre wieder zusammen. Die Angst vor Feuer heißt Pyrophobie. Ranidaphobie ist die Angst vor Fröschen, einfach lächerlich. Rectophobie ist die Angst vor dem Rektalbereich oder rektalen Erkrankungen, und das ist einfach nur ekelhaft.
Schluss mit den Phobien. Das wirkliche Leben ist furchterregend genug.
»Wo ist der Hund?«, will ich wissen und stampfe auf.
»Es war ein Wolf, Zara«, sagt er. Er kommt mir viel zu wohlerzogen und ruhig vor, wie er da in dem Sessel herumrutscht.
Dann schaut er mir direkt in die Augen: »Und du weißt, wo er ist.«
Ich greife nach dem Schürhaken und rücke das Scheit im Feuer beiseite. Dann lege ich ein neues Scheit auf. Funken und glühende Holzstückchen fliegen in die Luft. Meine Hand schlägt die Ofentür mit der Glasscheibe zu.
»Pass auf«, sagt Nick.
»Es ist ein Feuer. Es ist warm, und ich mag Wärme.«
Die Flammen züngeln gegen die Glasscheibe, sie »lecken an ihr« hat mein Dad immer gesagt. Die Flamme leckt an der Glasscheibe. Ihre Farbe verändert sich von dunkelorange zu bräunlich-schwarz, dann zu einem helleren Orange und wieder zurück.
»Zara.« Nicks Stimme leckt an mir wie die Flammen an der Glasscheibe. Jede Faser in mir sehnt sich nach dieser Wärme, aber nichts, rein gar nichts ergibt einen Sinn. Ich muss alle Energie, die ich aufbringen kann, einsetzen, um mich zu ihm umzudrehen. Tiefe Atemzüge zwingen mich dazu, ruhiger zu werden. Ich schaffe das. Ich fürchte mich nicht.
»Nick?« Meine Stimme hat einen flehentlichen Ton. Er muss mir sagen, dass es für alles einen klaren, logischen Grund gibt.
»Zara«, sagt er, »Komm her.«
Er streckt mir die Hand entgegen. In seinen Augen scheint einen Augenblick Trauer auf, vermischt mit Schmerz und Einsamkeit. Während ich vorwärts wanke, frage ich mich, ob dies derselbe arrogante Junge ist, den ich am ersten Schultag kennengelernt habe, der Junge, der mir so zäh und selbstsicher vorgekommen war. Seine Verletzlichkeit ängstigt mich noch mehr als das, was die Wunde auf seiner Schulter bedeuten könnte.
Ich nehme seine Hand. Er zieht mich zu sich und dreht mich sanft, sodass ich auf seinem Schoß lande.
»Ich hab dir wehgetan.«
Seine Stimme wird tiefer. »Die Wunde heilt schon. Schau sie dir an.«
Die Wunde zieht sich zusammen, ich kann fast zusehen, wie sie sich schließt.
»Unsere Wunden heilen normalerweise schnell«, sagt er.
»Unsere?«
Ich schlucke und sehe ihm suchend in die Augen, aber ich habe keine Ahnung, was ich dort finden möchte.
Seine Augen bleiben ganz ruhig, wie seine Stimme. »Wandelwesen.«
»Wandelwesen?«
Fast gegen meinen Willen lehne ich mich an seine warme Brust.
Er nickt.
»Gut, aber was sind Wandelwesen?«
»Sie wandeln ihre Gestalt. Werwesen.«
Ich schnaube. Er seufzt.
»Ich meine es ernst, Zara.«
»Hmmm. Und was für eine Art von Wandelwesen bist du?«
»Also, ich persönlich bin ein Werwolf.«
Ich lache und schnipse eine winzige weiße Fussel von seiner nackten Schulter. »Das ist nicht sehr originell.«
»Ich meine das ernst, Zara.« Er schüttelt mich ein bisschen. »Das ist kein Witz. Schau meine Schulter an. Denk an den Wolf, den du gerettet hast.«
»Den Hund.«
»Wolf.«
Ich schaudere, wenn ich an das Geräusch denke, als ich den Pfeil aus der Schulter des Tieres herausgezogen habe. »Das beweist nichts.«
Er hebt eine Augenbraue. »Es ist ein und dieselbe Wunde.«
»Deine Wunde ist kleiner.«
»Weil sie heilt.«
Ich versuche aufzustehen, aber er lässt mich nicht. »Ich will das nicht glauben.«
»Aber du glaubst es.«
Ich stehe auf, und er lässt mich los. Ich gehe zur Tür hinüber. Eine kurze Bewegung meiner Finger entriegelt sie. Ein kräftiger Zug öffnet sie. Der Wind bläst Schnee herein. Der Schnee bringt die Welt draußen zum Leuchten, und die einzigen Spuren, die ich sehe, füllen sich bereits mit Schnee. Meine Hand tastet nach dem Türrahmen, stützt mich gegen den Wind ab, gegen die Wahrheit, aber vielleicht muss ich doch fallen, ohnmächtig werden oder so, weil das alles nicht sein kann, weil das alles nicht wahr sein darf.
Nick steht hinter mir. Er legt mir eine Hand um die Taille.
Ich schnappe nach Luft. Die Welt um mich herum scheint sich zu drehen.
»Fällst du jetzt in Ohnmacht?«, fragt er.
Ich mach einen Schritt zurück gegen ihn und stoße aus: »Aber du bist so süß, Werwölfe sind nicht süß. Vampire vielleicht. Wenigstens im Film. Aber die Werwölfe sind immer ziemlich hässlich. Sie tragen Lederjacken und haben riesig lange Koteletten, die total dreckig sind.«
»Mehr hast du nicht dazu zu sagen? Nur, dass ich süß bin?« Er nimmt eine Strähne meiner Haare und wickelt sie um seinen Finger. »Die meisten Leute werden ohnmächtig oder schreien oder reden nie wieder mit mir.«
»Hast du es vielen Leuten erzählt?«
»Nicht vielen.«
»Deinen Eltern?«
»Ja, sie wissen Bescheid.« Seine Gesichtszüge verhärten sich. »Es ist genetisch bedingt.«
»Dein Vater?«
»Beide.«
Ich nicke, denke eine Sekunde nach und lege dann meine Hände an beide Seiten seines Körpers. Eine Hand berührt die raue wollene Decke, die anderen seine glatte Haut. »Tut deine Schulter sehr weh?«
Er schüttelt den Kopf. Seine Hand verlässt mein Kinn und bewegt sich zu meinem Hinterkopf und verharrt dort. »Danke, dass du den Pfeil rausgezogen hast.«
»Schon gut«, sage ich und versuche, mich zu beruhigen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich erschrockener darüber bin, dass er ein Werwolf ist oder darüber, dass seine Lippen mir so nahe sind. »Ich rette jeden Tag Menschen, die glauben, dass sie Werwölfe sind, hast du das nicht gewusst?«
»Nein«, sagt er und kommt näher. »Das hab ich nicht gewusst.«
Seine Augen sind so wunderbar dunkel und sie sehen wirklich aus wie die des Hundes, ich meine, Wolfes. Sie sind lieb und stark und noch ein bisschen was anderes, und ich mag sie. Ich mag sie sehr. Nein, ich mag sie viel zu sehr. Etwas in mir wird ein bisschen wärmer und rückt näher zu ihm hin.
Das Feuer knackt, und kribbelig und nervös wie ich bin, fahre ich wieder auf, aber ich zucke nicht von ihm weg, sondern zu ihm hin. Nick, im Licht des Feuers, nur mit einer Decke bekleidet, kann man schwer widerstehen, egal wie verrückt er ist. Seine Haut ist ganz heiß und scheint zu glänzen. Seine Muskeln sind klar konturiert, nicht unförmig dick, wie sie durch die Einnahme von Steroiden werden. Er ist einfach perfekt. Und wunderschön. Auf eine knabenhafte Art. Nicht wie ein Monster. Und nicht wie ein Wolf.
»Küsst du mich?« Meine Worte zittern in der Luft.
Er lächelt, aber antwortet nicht.
»Ich hab noch nie einen Werwolf geküsst. Sind Werwolfküsse wie Elfenküsse? Verändern sie was in mir? Hast du deshalb noch nie jemanden geküsst?«
Er lächelt ein bisschen. »Nein. Ich hab einfach deshalb nie jemanden geküsst, weil ich immer dachte, ich könnte nicht ehrlich zugeben, wer ich bin, verstehst du? Und ich wollte nicht, dass sich jemand in mich verliebt, schließlich bin ich …«
»Weil du ein Werwolf bist?«
»Weil ich ein Werwolf bin«, wiederholt er leise. Wenn ich zusehe, wie sich seine Lippen bewegen, fange ich an zu zittern. Aber nicht, weil ich mich fürchte, sondern weil er einfach so verdammt gut aussieht.
Ich lege meine Hand auf seine Haut. Sie ist warm. Sie ist immer warm. Er riecht so gut nach Wald und nach Sicherheit. Ich schlucke meine Angst hinunter und mache einen Schritt auf ihn zu. Meine Lippen berühren die seinen, aber nur ganz leicht. Seine Lippen bewegen sich unter meinen. Seine Hände wandern zu meinen Schultern, und mein Mund fühlt sich an, als würde er gleich vor Glück explodieren. Mein ganzer Körper zittert.
»Wow«, sage ich.
»Ja«, sagt er. »Wow.«
Unsere Lippen berühren sich wieder. Als würde mein Mund dorthin gehören … genau dorthin. Ein kleiner Teil von mir hat endlich einen Platz gefunden, wo er hingehört. Wir lösen uns voneinander, um Luft zu holen.
»Gibt es viele von deiner Sorte?«, frage ich. »Ich glaube nämlich, es gibt einen Markt für solche Werwolfküsse.«
Er lacht. »Ein paar.«
Ich ziehe mich ein Stück zurück, nur ein kleines bisschen, ziehe mein T-Shirt glatt und versuche, etwas Sinnvolles zu sagen. »Gibt’s noch welche in Bedford?«
»Ja. Es gibt sogar viele in Bedford, mehr als an anderen Orten. Manche sind auch weggezogen.«
»Warum gibt er hier mehr?«
»Das liegt an den Genen. Inzucht im neunzehnten Jahrhundert oder so. Ich weiß es nicht.« Er berührt seine verletzte Schulter mit dem Handrücken. »Aber es ist nicht der einzige Ort, an dem es Werwesen gibt.«
»Kenne ich sonst noch jemanden, der ein Werwesen ist?«
Seine Augen schauen mich direkt an. »Betty.«
»Betty?«
»Sie ist ein Tiger.«
Achtung – Tiger.
Eine Sekunde vergeht. Zwei. Ich schlage meine Hände auf seine Brust. »Hau ab!«
Er hebt die Hände hoch. »Was ist los?«
»Du kannst mir doch nicht weismachen, dass meine Großmutter ein verdammter Tiger ist, ja? Hau einfach ab!«
»Zara …«
»Das ist zu viel«, sage ich, schleppe mich davon und werfe mich auf die Couch. »Ja? Es ist einfach zu viel.«
Algophobie
Die Angst vor Schmerzen
Ich muss zugeben: Ich bin ein Feigling.
Noch einmal:
Ich bin ein Feigling.
Ich stehe von der Couch auf und gehe im Raum auf und ab:
»Oh mein Gott. Oh mein Gott. Oh mein Gott«, jammere ich vor mich hin.
Ich stürze zum Ofen hinüber und strecke die Hände aus, weil ich feststellen will, ob ich wahnsinnig geworden bin oder ob ich die Hitze spüre. Das Feuer ist wirklich. Wahnsinnige verlieren oft den Bezug zur Wirklichkeit.
»Das darf doch alles nicht wahr sein.«
Aber es ist wahr.
Ich lache hysterisch und halte mir mit der Hand den Mund zu,
»Alles in Ordnung«, murmle ich. »Alles ist okay. Du kannst damit umgehen. Deine Großmutter ist kein Mensch. Nick ist kein Mensch. Sie sind Menschen, die keine Menschen sind.«
Nick sitzt schweigend auf der Kante des Couchtischs und schaut mich an. Er wirkt total angespannt, wie ein Soldat, der einen Hinterhalt erwartet und auf den schmerzhaften Treffer gefasst ist. Endlich bleibe ich stehen.
»Danke, dass du mir vertraust«, flüstere ich.
Er legt den Kopf schief und entspannt sich. Dann hebt er den Finger und bedeutet mir zu warten, während er in die Küche trottet. Ich bleibe, wo ich bin, und einen Augenblick später kehrt er zurück. Er ist ein bisschen blasser als sonst. Die Decke trägt er jetzt um die Taille und dazu einen übergroßen blauen Kapuzenpulli von Grandma Betty. Er zieht den metallenen Reißverschluss zu und lehnt sich dann mit vor der Brust verschränkten Armen an die Wand neben dem Ofen.
»Also …«, sagt er.
»Also.«
»Also ich bin ein Werwolf und deine Großmutter ist ein Wertiger. Soweit alles klar?«
Ich nicke wie ein braves Mädchen, als ob das alles vollkommen normal wäre. »Sieht so aus. Hast du Schmerzen?«
»Mir geht’s gut.«
Meine Hand zuckt zu meiner Stirn hinauf. Die Welt scheint sich wieder zu drehen. Er bemerkt das, denn er nimmt meine Hand und führt mich hinüber zu der hässlichen, lächerlich karierten Couch. Wir setzen uns nebeneinander hin.
»Ich dachte, du wolltest nicht ohnmächtig werden.« Er schaut mich finster an. Ich hasse es, wenn er mich so anschaut.
»Werd ich auch nicht.«
Ich lehne mich an die Armstütze und schnappe mir ein Kissen, das ich mir gegen den Bauch drücke wie eine Barriere zwischen uns. Er empfindet das auch so. Ich weiß es, denn in seinen Augen liegt wieder dieser verletzliche Ausdruck, deshalb lege ich das Kissen zurück auf die Rückenlehne der Couch. Es rutscht hinunter auf Nicks Kopf. Ich lache. Auch er lacht und schlägt mit dem Kissen nach mir. Staub wirbelt durch die Luft und ich niese.
»Es ist einfach merkwürdig, verstehst du«, sage ich und entreiße ihm das Kissen. »Es ist merkwürdig, wenn man herausfindet, dass jemand ein Werwolf ist. Ich glaube nicht einmal daran, dass es Werwölfe gibt. Das ist nicht möglich. Das ist physikalisch nicht möglich.«
»Eigentlich nicht.«
»Offensichtlich nicht.«
Meine Hand fährt gestikulierend durch die Luft. Ich lege sie wieder in den Schoß. »Und Betty ist auch ein Werwesen. Und wenn sich das vererbt, dann ist mein Dad, ich meine, mein Stiefvater, wahrscheinlich auch eines.«
»Brillante Schlussfolgerung.«
»Halt die Klappe.«
Er nervt. Lächelnd sitzt er da, als wäre es lustig zuzuschauen, wie ich mich winde. Eine Million Fragen rattern in meinem Kopf. Ich stelle die erste: »Wie wird man zum Werwolf?«
»Man wird so geboren. Oder man wird gebissen.« Er zwinkert mir zu. »Bist du interessiert?«
Ich schreie auf und schrecke zurück, wobei ich mir die Hüfte an der Seitenlehne der Couch anstoße und fast auf den Boden falle. »Nein!«
Er umfasst mit seinen großen Händen meine Taille und zieht mich lauthals lachend auf die Couch zurück. »Ich hab nur Spaß gemacht, Zara. Ich würde nicht zulassen, dass dir das zustößt.«
»Wirklich nicht?«
Seine Augen lassen mich dahinschmelzen. »Wirklich. Ich würde niemals zulassen, dass dir irgendetwas zustößt.«
»Oh, ach so. Da haben wir wieder den Helden-Komplex. Du bist ein Werwolf mit Helden-Komplex. Das ist echt witzig.«
Er antwortet nicht. Das gedämpfte Licht lässt alles im Raum romantisch schimmern, obwohl der heiße Ofen die Luft so austrocknet, dass meine Kehle schmerzt. Das Herz schwirrt mir in der Brust. Die Hoffnung lässt es viel zu schnell schlagen. Er streckt die Hand aus und berührt meinen Hinterkopf. Seine Finger wühlen sich in meine Haare. Und es kommt wieder, dieses Gefühl des Dahinschmelzens und der Sehnsucht. Ich will meinen Körper an seinen schmiegen. Die Decke, die ihn umhüllt, reibt an seinen Beinen und an meinen Beinen.
Seine Stimme klingt heiser. »Ich küss dich jetzt, okay?«
Ich glaube nicht, dass ich noch sprechen kann, deshalb nicke ich nur.
»Okay.«
Seine Lippen sind warm. Meine Arme legen sich um seine Schultern und er drückt mich an sich. Hier fühle ich mich warm und sicher. Meine Kniekehlen prickeln, und ich fühle mich absolut nicht hohl oder leer, im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, dass mein Leben vor lauter Fülle zu platzen droht.
Schließlich sage ich. »Ich kann’s nicht fassen, dass du mich küsst.«
Er lehnt sich zurück und legt seine große Hand seitlich an mein Gesicht. »Was? Und du küsst mich nicht zurück?«
Ich zucke die Achseln. »Ich dachte nur …«
»Was dachtest du?«
»Dass du vielleicht … Ach, ich weiß auch nicht. Noch nie ein Mädchen geküsst hast. Nicht böse werden! Das haben Issie und Devyn gesagt.«
»Dass ich noch nie ein Mädchen geküsst habe?«
»Ja. Ich dachte, das liegt vielleicht daran, dass du ein Elf bist. Ich habe Goldstaub auf deiner Jacke gesehen.«
»Du hast was?« In seiner Stimme liegt eine gewisse Schärfe.
»Ich hab nicht wirklich daran geglaubt. Es war nur so ein Gedanke.« Ich kuschle mich an ihn, um ihn zu besänftigen,
»Wann war Staub auf meiner Jacke?«
»Als du mir mit meinem Auto geholfen hast.«
Er nickt. »Da war ich vorher im Wald und hab ihn gesucht. Ich habe meine Jacke abgelegt, bevor ich mich verwandelt habe. Dabei ist der Staub wahrscheinlich drangekommen. Ich fass es nicht, dass du mich für einen Elf gehalten hast.«
»Nur ein bisschen.« Wir sitzen eine Minute schweigend da. »Ich finde, wir sollten Issie und Devyn anrufen und ihnen alles erzählen.«
»Dass wir rumgeknutscht haben?«
Ich boxe ihn mit dem Ellbogen. »Nein. Die Elfen/Werwolf-Sache.«
Ich ziehe mch von der Couch hoch und nehme das Telefon vom Kaminsims. Es ist warm. Ich fange an, die Tasten zu drücken. »Und dann sollten wir Jay suchen.«
Das Telefon gibt ein komisches Geräusch von sich. Auf dem Display erscheint »kein Empfang«.
»Na prächtig.«
Nick steht auf, nimmt das andere Telefon und lauscht. »Die Leitungen sind tot.«
Ich klappe das Handy auf. »Kein Empfang.«
Ich stecke es in die Tasche.
Nick zeigt nach draußen. Blaues Licht färbt die Scheiben, blaue Lichter blinken durch die Fenster. »Die Polizei ist da.«
Pogonophobie
Die Angst vor Gesichtsbehaarung, vornehmlich Bärten
Zwei Polizisten kommen an die Tür, beide sind Stellvertreter des Sheriffs. Ihre Hände liegen an ihren Waffen, als ob sie gleich losballern wollten.
»Bist du Zara?«, fragt der Größere mit dem Bart. Seine kurzen Haare sind rot.
Ich nicke.
»Sergeant Fahey«, stellt er sich vor, nimmt die Hand von seiner Waffe und streckt sie mir hin. Dann entdeckt er Nick hinter mir und lässt sich zu einem Lächeln hinreißen. »Hallo, Nick.«
Nick lächelt und grüßt mit einem Kopfnicken.
»Dann hast du also wieder zurückgefunden«, sagt Sergeant Fahey mit einem Blick auf die Decke um Nicks Taille. Er nickt dem anderen Polizisten zu, der keinen Bart trägt und wirklich sehr jung aussieht. »Gesund und munter. Dann … müssen Deputy Clark und ich uns nicht auf die Suche machen.«
»Nee«, sagt Nick, »tut mir leid.«
»Tut dir leid? Ist doch gut«, sagt Deputy Clark. Er fröstelt vor Kälte.
»Oh, möchten Sie vielleicht reinkommen?«, frage ich.
»Nein, danke«, sagt Sergeant Fahey ganz stramm und förmlich, was seinen Kollgen Clark zu einer Grimasse verleitet. »Aber deine Großmutter sagte, dass du im Wald einen Mann gehört hast. Er hat deinen Namen gerufen?«
Ich nicke. »Und er wollte Nick angreifen.«
Sergeant Fahey reißt die Augen auf. »Wirklich?«
Nick wirft mir einen bösen Blick zu, und da wird mir klar, dass es dafür keine Beweise gibt. Seine Wunde ist schon fast verheilt.
»Es ist nichts passiert. Ich bin weggerannt.«
Sein Mund zuckt. Wegrennen entspricht ganz und gar nicht seinem Charakter. Diese Lüge kostet ihn einiges.
Deputy Clark zückt einen Notizblock. »Kannst du ihn beschreiben?«
Nick beschreibt ihn. Die Polizisten kommen herein, setzen sich auf die Couch und stellen Fragen. Deputy Clark fragt viel. Ich denke, vor allem deshalb, weil er nicht zurück nach draußen in die Kälte will. Schließlich stehen sie auf und fahren mit ihren superstarken Scheinwerfern in den Wald, um den Mann zu suchen.
Wir stehen am Fenster und sehen zu, wie der Lichtkegel suchend durch die Dunkelheit blitzt.
»Sie finden ihn nie«, meint Nick.
»Man weiß nie.«
»Er hinterlässt keine Spur.« Nick dreht sich um und setzt sich wieder auf die Couch.
Ich gehe ihm nicht nach. Ich starre weiter in die Nacht hinaus und zu den Polizisten. Meine Stimme verhakt sich in meiner Kehle. »Ich dachte, du wärst weg.«
»Ich bin zäh.«
»Weil du ein Werwesen bist?« Ich ziehe den Vorhang zu.
»Ja.«
»Du bist verletzt worden, obwohl du ein Werwesen bist.« Ich drehe mich um und schaue ihn an. Er sitzt so stark und gesund auf der Couch und sieht so normal aus, so verdammt gut aussehend, so menschlich.
»Du hast doch gelesen, was auf der Website stand. Wir sind die natürlichen Feinde der Elfen.«
»Wusstest du bis zu dieser Woche, dass es Elfen überhaupt gibt?«
Er zuckt zusammen und fasst an seine Schulter. »Nein. Aber seit letztem Monat oder so wissen Devyn und ich, dass da draußen etwas ist, etwas Böses. Issie wusste es auch. Wir haben es ihr gesagt.«
»Deine Eltern sind auch Werwesen, oder? Aber jetzt sind sie irgendwo auf Foto-Safari.«
»Sie drehen einen Dokumentarfilm.«
»Und sie haben dich einfach hier allein gelassen. Ich dachte immer, Wölfe wären Herdentiere, die zusammenbleiben.«
»Tun sie auch, aber meine Eltern … Bei uns in der Familie laufen gerade interessante, gruppendynamische Prozesse ab.«
»Wie meinst du das?«
»Wenn der Sohn eines Alpha-Wolfs, also des Leitwolfs, heranwächst, reift er auch zu einem Alpha, und dann entstehen gewisse Spannungen. Denn wenn man von den Genen her ein Alpha-Tier ist, dann muss man sich auch wie ein Alpha-Tier verhalten.«
»Also derjenige sein, der das Sagen hat. Der Held.«
»Ja, so ungefähr. Aber es kann immer nur ein Alpha-Tier geben, deshalb unternehmen meine Eltern dieses Jahr eine ausgedehnte Reise und nächstes Jahr auch. Bis ich im College bin. So verhindern wir, dass mein Vater und ich uns in Stücke reißen.«
»Weil ihr beide Alpha-Wölfe seid?«
Er nickt.
»Wow. Das ist ja irre.«
Ein Pick-up rumpelt in die Einfahrt. Ich sehe zu, wie die Polizisten aus dem Wald herausfahren und mit Betty reden. Dann fahren sie davon, und Betty kommt herein.
Sie zeigt auf Nick und sagt in ganz geschäftsmäßigem Ton. »Zieh dein Hemd aus.«
Er gehorcht.
»Warum soll er …«, will ich fragen.
»Sie weiß Bescheid«, unterbricht Nick. »Sie weiß, dass ich ein Werwesen bin.«
Betty nickt und betrachtet die kaum noch zu erkennende Wunde. »Hast du es ihr gesagt?«
»Dass du auch ein Werwesen bist?« Ich lasse mich in den grünen Ledersessel neben der Tür fallen. »Ja, er hat’s mir gesagt.«
»Und wie hat sie es aufgenommen?«, fragt Betty.
»Nicht gut«, antwortete Nick.
Sie lacht. »Die Wunde sieht prima aus. Hast du gut gemacht, Zara.«
Ich bringe ein Nicken zustande.
»Die Polizisten haben nichts gefunden«, sagt Betty und legt Holz nach. Es knistert. »Aber das habe ich auch nicht erwartet. Hoffen kann man allerdings immer.«
»Wir glauben, dass er ein Elf ist, Gram.« Es sprudelt förmlich aus mir heraus.
Sie nickt. »Ihr glaubt richtig. Wo ist der Schürhaken?«
Ich finde ihn neben der Eingangstür. »Ich hab ihn als, äh, Waffe genommen.«
»Gute Idee«, lobt sie, nimmt ihn mir aus der Hand und rückt damit die Scheite zurecht. Ein paar Glutstückchen fliegen ins Zimmer und verlöschen. »Ich hab deine Mutter angerufen. Sie will, dass du wieder heimkommst. Sie meint, es sei wohl ein Fehler gewesen, dich hierher zu schicken.«
Es schnürt mir die Kehle zu, und ich ziehe die Beine an meinen Oberkörper, während ich in dem geheimnisvollen Licht des Feuers ihr Gesicht betrachte. »Und was meinst du?«
Nick antwortet an ihrer Stelle. »Vielleicht ist es sicherer für dich, wenn du gehst.«
»Ich laufe nicht weg«, sage ich. »Er würde mich sowieso finden, oder? Er hat mich in Charleston gefunden. Und er hat mich nicht angegriffen oder so, nicht mal, als ich allein draußen war. Ich bin nicht in Gefahr.«
»Das kannst du nicht wissen, Zara«, gibt Betty zu bedenken.
»Aber sie hat mich hierher geschickt, weil sie gedacht hat, dass ich hier bei dir sicherer wäre«, sage ich zu Betty. »Weil du ein Werwesen bist. Und wenn Nick auch ein Werwesen ist, dann muss ich ja doppelt sicher sein, oder?«
»Hoffen wir’s«, meint sie.
»Ich gehe nicht weg.« Ich stehe auf, trete auf sie zu und schaue sie direkt an. »Und du wirst mich nicht zwingen zurückzugehen.«
»Nein«, sagt sie. »Das werde ich nicht tun. Aber hier ist es gefährlich. Wir wissen nicht, wie wir ihm das Handwerk legen können.«
Nick steht auf und legt den Arm um mich. »Wir knobeln was aus.«
Nick bleibt über Nacht. Am nächsten Tag ist keine Schule, und als ich aufwache, ist es schon Tag und weißes Schneelicht erfüllt den Raum. Alles erscheint mir viel sicherer und viel weniger furchterregend.
Nick kommt den Flur herunter, späht in mein Zimmer und sieht, dass ich wach bin. Er lächelt. »Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf.«
»Ich war müde«, erkläre ich. Ich strecke mich und mache mir Gedanken wegen meiner Haare und wegen meines Atems und dass ich vielleicht Schlaf in den Augen haben könnte. Dann bemerke ich etwas. »Du hast ja eine Hose an.«
»Ich habe immer eine Ersatzhose im Auto.« Er kommt herein und setzt sich auf die Bettkante. »Enttäuscht?«
»Ein bisschen.«
Ich lehne mich an das Kopfende und reibe mir die Augen. »Was hast du gemacht?«
»Ich hab Devyn und Issie angerufen. Sie wollen versuchen, irgendwie hierher zu kommen. Devyns Eltern haben ein Schneemobil, aber wegen seiner Verletzung wollen sie nicht, dass er damit fährt. Betty ist mit ihrem geilen Pick-up zur Arbeit gefahren.«
»Geil?«
»Ja. Hast du dir mal die Reifen angeschaut?«
»Du hast einen Mini Cooper.«
»Das heißt nicht, dass ich einen guten Pick-up nicht zu schätzen wüsste.« Er lächelt und wuschelt mir durch die Haare, als wäre er mein großer Bruder oder so. Das ist nicht besonders cool. »Egal. Ich hab Pfannkuchen gebacken. Es sind noch welche im Ofen, und ich habe in alten Büchern von Stephen King gelesen.«
»Ach, das ist aber eine gute Idee. Wolltest du dir noch mehr Angst einjagen?«
»Ich lasse mir nicht so leicht Angst einjagen.«
»Zäher Bursche.«
Er lacht. Ich lache auch und dann lächle ich ihn an: »Hast du wirklich Pfannkuchen gebacken?«
Er nimmt meine Hand und zieht mich aus dem Bett. »Komm.«
»Du kannst ja schlingen wie ein Wolf.«
Seine Gabel verharrt in der Luft. »Sehr originell.«
Ich fange an zu kichern. »Das war Absicht.«
Seine Grübchen erscheinen. »Du steckst das alles echt gut weg.«
»Und du machst gute Pfannkuchen.«
»Danke.«
»Ich finde, du solltest zu uns ziehen und einfach immer Pfannkuchen backen.«
»Ist Betty eine so schlechte Köchin?«
»Ja, und ich bin nicht viel besser.«
»Vielleicht könnte ich wirklich hierbleiben, bis sich die Sache wieder beruhigt hat oder …«
Mein Magen zwickt, und ich schneide meinen Pfannkuchen, ohne zu ihm aufzusehen: »Ich gehe nicht zurück nach Charleston.«
»Es wäre sicherer.«
»Nur für mich. Er würde sich Jungen holen, bis er eine Königin gefunden hat. Das kann ich nicht zulassen.«
»Das ist nicht dein Kampf.«
»Okay.« Ich führe die Gabel zum Mund, lasse sie dort schweben und schaue ihn genau an. Er steht so unter Spannung und ist so stark, aber dennoch besteht er aus Haut und Muskeln. Dennoch kann er verletzt werden. »Aber wessen Kampf ist es dann? Nur deiner? Das kommt nicht infrage. Du bist nicht Mister Rette-die-Welt-im-Alleingang, kapiert?«
Er gießt sich noch ein bisschen Sirup auf seine Pfannkuchen und zuckt dann zusammen, als würde das Reden ihm wehtun. »Gut, in Ordnung. Es ist unser Kampf. Unser aller.«
»Der Sirup tropft auf das Buch.« Ich strecke die Hand aus und stelle den Sirup zur Seite. Da erkenne ich das Cover: »Im Morgengrauen: Unheimliche Geschichten?«
»Stephen King.«
Mein Herz hört auf zu schlagen, und mein Gehirn stellt eine Verbindung her, die ein gutes Gehirn schon längst hätte machen sollen. »Ich weiß, dass das von Stephen King ist. Es ist nur … diese eine Geschichte …«
Ich blättere in dem Buch, halte inne und betrachte den Titel.
»Was?«
»Achtung, Tiger«
Er zieht seinen Stuhl dichter an den Tisch, dichter zu mir her und beugt sich wartend nach vorn.
»Mein Dad hat in das Buch aus der Bibliothek geschrieben: ›Keine Angst. Achtung – Tiger, 157‹.«
»Ich weiß. Ich dachte Devyn oder Betty oder sonst jemand hat gesagt, das wäre der Titel einer Kurzgeschichte. Stephen King hat niemand erwähnt, oder?« Nicks Worte fliegen mit seinem Atem gegen die Haut an meinem Nacken. Ich kann mich kaum konzentrieren.
»Ich glaube, es war Ray Bradbury. Oder auch nicht. Vielleicht haben auch zwei Schriftsteller denselben Titel benutzt.« Ich schlage die Seite 157 auf.
»Zara?«
Ich drehe das Buch so, dass wir es beide in einem Neunzig-Grad-Winkel lesen können. »Schau mal.«
»Er hat was reingeschrieben«, sagt Nick mit zusammengekniffenen Augen. Der Duft nach Ahornsirup trifft meine Wange. »Kannst du es lesen?«
»Es ist ganz ausgebleicht.«
»Warum hat er mit Bleistift geschrieben?«
»Er hat immer mit Bleistift geschrieben. Er war ein bisschen schrullig«, sage ich und hebe das Buch dichter an mein Gesicht. »Da steht: Abwehr: Werwesen, Eisen. Problem: Wenn die Begierde zu groß wird, jagen sie auch bei Tageslicht. Christine. Na prächtig. Schön kryptisch, Dad. Und er hat diesen Satz hier in der Geschichte unterstrichen über Tiger, die hungrig und böse aussehen.«
»Wer ist Christine?«
»Auch eine Geschichte von Stephen King. Ich glaube, die mit dem Auto.«
Nick schiebt seinen Stuhl zurück. »Wir sollten sie noch einmal lesen. Ich hab das Buch oben gesehen.«
»Ich lese es noch mal«, schreie ich, damit er mich hören kann. Er ist schnell, werwolfschnell. Innerhalb weniger Wimpernschläge ist er die Treppe hoch und kommt mit dem Buch von Stephen King in der Hand wieder runter.
»Er sagt, dass sie auch tagsüber kommen können, wenn die Gier zu groß wird«, sagt er. »Wir sollten Betty anrufen.«
»Lass mich zuerst einen Blick in das Buch werfen.« Ich strecke die Hand aus. Er gibt mir das Buch, und wie ich es aufschlage, fällt ein Blatt Papier heraus.
Nick fängt es auf und reicht es mir, bevor ich überhaupt reagieren kann. Mit zitternden Händen falte ich das Blatt auf. »Das muss nichts Besonderes sein, ein Zeugnis oder eine Notiz für meine Mom …«
»Lies vor, Zara.« Nicks Stimme schwebt durch die Küche. Es fühlt sich an, als würde sogar die Luft warten.
Ich lese.
»Wenn Du dies hier gefunden hast, hat die Begierde wieder Besitz von ihm ergriffen. Er sagt, sie sei ihm lästig und er kämpfe gegen sie an, und ich würde es gern glauben, aber spielt das überhaupt eine Rolle? Wenn er die Kontrolle über seine Begierde verliert, dann verliert er die Kontrolle über seine Untergebenen. Und sie fordern Blut und Seelen, um ihre Gier zu stillen, eine Gier, die sie überfällt, wenn der König älter wird und eine Königin braucht. Mom, du weißt, warum wir weggelaufen sind. Mehr Opfer konnte ich ihr nicht zumuten, und sein Zorn über unseren Handel war so groß. Wir fürchteten uns davor, ihm zu vertrauen. Es tut mir so leid, dass es nicht genug war.« Ich schaue zu Nick auf. »Verstehst du, was das bedeutet?«
»Nicht wirklich. Ist das alles?«
»Nein, da kommen noch ein paar Zeilen«, sage ich und lese weiter: »Vorsicht! Wenn die Begierde zu groß wird, beschränkt er sich nicht auf die Nacht, dann streift er auch im Sonnenschein herum wie die anderen. Eisen macht sie schwach. Sie sind schnell, aber wir sind schneller, und auch wir können töten. Das ist unsere einzige Hoffnung. Andere Lichtgestalten sind unsere einzige Hoffnung.«
Ich falte das Blatt wieder zusammen und lege es neben meine Gabel. Dann überlege ich es mir anders und schiebe es in mein Sweatshirt. »Das hat mein Dad geschrieben.«
Nick nickt. »Sie können auch bei Tag kommen.«
»Wenn die Begierde groß ist.«
»Da gehe ich kein Risiko ein«, sagt er. »Ich rufe Betty an.«
Ich greife nach seinem Arm und halte ihn auf. »Nick?«
Er kommt mit seinem Gesicht auf meine Höhe. Seine Augen sind so besorgt und liebevoll. »Was?«
»Ich hab ein komisches Gefühl.«
»Es ist vollkommen in Ordnung, dass du Angst hast, Zara. Aber ich ruf Betty an, und wir sorgen zusammen für deine Sicherheit.«
»Nein. Es fühlt sich an wie Spinnen.« Ich versuche, es ihm zu erklären. Mein Gesicht wird dabei ganz heiß. »Es klingt total blöd. Ich habe immer wieder das Gefühl, als würden Spinnen über meine Haut krabbeln. Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll.«
Seine großen Hände legen sich um meine Arme und streicheln sie sanft. »Und wann kommt das Gefühl?«
»Ich weiß nicht genau. Seit ich aus Charleston weg bin. Immer, wenn ich den Mann sehe, den ich auch auf dem Flughafen gesehen habe, oder wenn ich diese Stimme höre.«
»Die Stimme im Wald?«
Ich nicke.
Nick lässt meine Arme los und stürzt zum Ofen. Er nimmt den Schürhaken, mit dem Betty immer die Scheite zurechtrückt, und drückt ihn mir in die Hand. »Da, nimm.«
»Was? Warum?«
Seine Stimme klingt fast wie ein Knurren. »Es bedeutet, dass er kommt. Er versucht bestimmt, dich auszutricksen, damit du ihm die Tür öffnest. Lass ihn nicht rein.«
Ich will widersprechen, aber Nick hebt den Finger. Seine Augen sind so konzentriert, so aufmerksam und erinnern so sehr an einen Wolf. Warum hatte ich das nicht schon früher bemerkt?
»Es ist mir ernst damit, Zara. Du darfst niemanden hereinlassen. Versprich es mir.«
»Können sie nicht einfach einbrechen?«, will ich wissen. Ich stampfe mit dem Fuß auf wie ein zweijähriges Kind, aber das ist mir egal. Ich bin so verdammt enttäuscht. Ich möchte, dass er aufhört, mir Angst zu machen.
Er antwortet nicht, sondern hastet herum und zieht die Vorhänge zu.
»Nimm lieber noch das Messer, das du in der Küche gelassen hast«, sagt er und wirft einen Blick auf die Treppe. »Oben sind alle Fenster zu, oder?«
»Ich weiß es nicht!«, schreie ich und schwenke den Schürhaken. Angst prickelt auf meiner Haut. Oder ist es das Spinnengefühl? Keine Ahnung. Nick stürmt schon die Treppe hinauf, immer drei Stufen auf einmal nehmend.
»Und wenn sie die Tür einschlagen?«
»Das können sie nicht!«
»Woher weißt du, dass sie das nicht können? Der Typ sah ganz schön stark aus.«
»Elfen müssen hereingebeten werden«, schreit er von oben zu mir herunter, »wie Vampire. Ich hab’s im Internet gelesen.«
»Na dann«, murmle ich, »dann muss es stimmen.«
Elfophobie
Die Angst vor Elfen(Diese Angst habe ich erfunden, aber es sollte sie echt geben, denn sie ist eine sehr berechtigte Angst.)
Ich poltere die Treppe hinauf hinter ihm her.
Er ignoriert mich, eilt von einem Zimmer zum nächsten, kontrolliert die Fenster, zieht die Vorhänge vor und hastet dann weiter. Seine Bewegungen sind so schnell, dass die Konturen seines Körpers verschwimmen. Kein Wunder, dass er ein so guter Läufer ist. Er ist kein Mensch.
Ich schaudere, aber was soll’s, er ist immer noch Nick.
In mein Zimmer geht er zuletzt. Ich blockiere die Tür, damit er nicht wieder wegrennen kann, aber er wirkt jetzt ein bisschen ruhiger. Ihm stehen nicht die Haare zu Berge oder so.
»Die Fenster sind alle zu«, sagt er und setzt sich auf mein Bett.
Ich wähle Bettys Mobilnummer.
Sie nimmt sofort ab und ihre Stimme kingt hellwach. »Zara?«
»Ich glaube der Elfentyp kommt.«
»Was? Es ist heller Tag.«
»Ich weiß! Aber ich habe eine Notiz gefunden, die Dad für dich geschrieben hat. Er sagt, wenn die Begierde zu groß wird, dann kommen sie auch bei Tag.«
»Herrje!« Sie wartet, hält inne, als ob sie mit etwas Großem zu kämpfen hätte. »Er hat eine Notiz hinterlassen?«
»Hm.« Ich gebe ihr noch eine Sekunde, weil ich weiß, dass sie das irgendwie verdauen muss. Dann spreche ich weiter. »Außerdem habe ich dieses krabbelige Gefühl auf der Haut, das ich immer bekomme, wenn er auftaucht.«
»Okay. Nick ist bei dir, oder?«
»Hm.«
»Gib ihn mir. Ich bin so schnell wie möglich bei dir, okay? Ich bin schon auf dem Weg.«
»Gut.«
Ich reiche Nick das Telefon. »Ja«, sagt er. »Ich weiß. Ich weiß.«
Dann schaut er auf das Display. »Keine Verbindung mehr.«
»Toll.«
Er verzieht das Gesicht und lässt sich auf mein Bett plumpsen. »Dein Amnesty-International-Poster gefällt mir.«
»Das sind also deine goldenen Worte in Zeiten der Not? Dass dir mein Poster gefällt? Du machst mich fertig.« Ich schlurfe durchs Zimmer und setze mich neben ihn. »Rutsch mal.«
Ich wackle mit der Hüfte, damit er auf dem Bett ein bisschen Platz macht. Romantisch zu sein ist einfach zu unheimlich. Er streckt den Arm aus. Ich lehne den Kopf dagegen und schaue zu dem Poster auf.
Als echt brillante Small-Talkerin sage ich: »Ich mag Amnesty International.«
»Auch eine Art Rette-die-Welt-Komplex, was?«, fragt er und umfasst meine Schulter.
»Vermutlich.«
»Ich habe auch einen.«
»Ach nee, das wäre mir fast entgangen.«
»Sarkasmus steht dir nicht.« Er dreht sich auf die Seite, um mich anzusehen.
Mein ganzer Körper fängt an zu kribbeln. Ich liege schließlich mit einem süßen Jungen, ’tschuldigung einem süßen Werwolf, auf meinem Bett. Der Wind rüttelt am Fenster. Glücksgefühle? Wie weggeblasen.
»Müssen wir Angst haben?«, frage ich.
»Willst du eine ehrliche Antwort?«
Ich nicke.
»Ja.«
Ich strecke den Arm aus und berühre sein Gesicht, streiche einfach mit der Hand seitlich darüber. Seine Kaumuskeln spannen sich unter meinen Fingern an. »Erklär mir, was es bedeutet, ein Werwolf zu sein.«
Er schüttelt den Kopf. Meine Hand bewegt sich mit ihm. Diesmal lasse ich nicht locker.
»Werwesen haben eine Seele. Wir sind zum Teil menschlich. Elfen eher weniger. Sie sind gar nicht menschlich, sagt Betty. Eine Theorie besagt, dass sie einem Geschlecht angehörten, das es nicht in den Himmel schaffte, das aber auch nicht so böse war, dass es in die Hölle kam. Deshalb müssen sie sich auf ewig hier auf der Erde rumquälen.«
Ich hebe die Augenbrauen. Er streckt die Hand aus und glättet meine Stirnfalten. Dann senkt er den Kopf und schnüffelt an meinen Haaren. Seine Worte blasen mich an. »Du glaubst nicht an diese Theorie?«
»Sie ist dumm.«
»Finde ich auch«, sagt er, lässt sich auf den Rücken fallen und zieht mich zu sich heran. »Elfen sind eindeutig böse genug für die Hölle.«
»Wenn es die Hölle überhaupt gibt«, wende ich ein.
»Genau.« Er klingt nicht wirklich überzeugt. »Nach einer anderen Theorie kamen einst fünf alte Geschlechter auf die Erde.«
»Welche?«
»Elfen, Feen, Werwesen, Kobolde und noch eines, aber das weiß ich nicht mehr. Sie halten eine Ratsversammlung ab und werden Lichtgestalten genannt.«
»Wie in der Notiz von meinem Dad.«
Wir liegen einen Augenblick schweigend da, dann schlucke ich und kuschle mich ein bisschen dichter an Nick. Mir ist es egal, was er über Elfen oder Werwöfe oder was immer sagt. Bei ihm fühle ich mich sicher.
»Du hast gesagt, dass die Elfen nur reinkommen können, wenn man sie einlädt, wie die Vampire bei Stephen King.«
»Keine Ahnung, wie Vampire funktionieren. Bin mir nicht mal sicher, ob es sie in Wirklichkeit gibt.«
»Echt nicht?«
»Ja.«
»Na, wenigstens eine gute Nachricht.«
Seine Finger schließen sich fester um meine Schulter.
Ich nehme einen tiefen Zug von seinem Duft nach Wolf/Mann/Kiefer und wappne mich. »Meine Mom hat mich in das Land der Kälte und der Elfen geschickt. Tolle Mom.«
»Nachdem, was Betty gesagt hat, war sie wirklich sehr um dich besorgt. Sie meinte, du wärst innerlich tot.«
»Das war ich auch. Ich war leer. Aber jetzt nicht mehr«, sage ich, aber ich will nicht über mich sprechen. Ich denke einen Augenblick nach und atme seine Wärme ein. »Warum hat sie mich hierher geschickt, obwohl wir vorher niemals hierher zurückgekommen sind?«
»Du warst nie wieder in Maine?«
»Betty hat immer uns besucht. Das letzte Mal, als Mom da war, sind all die Jungs verschwunden.«
»Okay.«
»Das war direkt, nachdem meine Mom mit dem College fertig war. Das muss schon irre gewesen sein. Sie ist heimgekommen, dann sind die Jungs verschwunden, sie hat mich bekommen, hat meinen Dad geheiratet und dann an der Tulane-Uni in New Orleans ihren Master gemacht. Sie muss doch das Gefühl gehabt haben, mit allem von vorn anzufangen. Vielleicht wollte sie einfach alles vergessen. Ich meine, sie hat doch bestimmt einige der Jungen gekannt, die verschwunden sind.«
Das krabbelige Gefühl kommt. Der Kratzer an meiner Hand brennt.
»Das ist komplett wahnsinnig«, sage ich und lasse mich zurück aufs Bett plumpsen.
Er drückt meine gesunde Hand. »Allerdings.«
Ich schaue hinauf zu der Flamme der Amnesty-International-Kerze. All die Menschen in den Gefängnissen auf der ganzen Welt – gefoltert, eingesperrt, oft völlig grundlos, oft nur, weil sie gesagt haben, was sie denken. Wie konnte all das Teil ein und derselben Welt sein? Nick und ich machen uns Sorgen wegen Elfen. All die anderen Menschen auf der ganzen Welt sorgen sich ums Überleben.
Was ist die Gemeinsamkeit?
Nur die Flamme der Kerze.
Nur die Hoffnung.
»Was ist passiert?«, frage ich. »Was ist das letzte Mal passiert?«
»Dauernd sind Menschen verschwunden. Nachts. Immer, wenn sie allein waren. Die Stadt hat ein Ausgangsverbot verhängt«, sagt er. »Irgendwann hat es aufgehört.«
»Und weshalb?«
»Das weiß niemand.« Seine Stimme wird tiefer. »Außer vielleicht Betty. Ich habe den Verdacht, dass sie mehr weiß.«
»Dann hätte sie es uns sagen sollen.«
»Vielleicht war sie nicht dieser Ansicht.«
»Schwach.« Ich halte mir mit der Hand die Augen zu und versuche, nicht an die Stimme zu denken, die meinen Namen ruft, aber sie hallt in meinen Ohren wider. »Und sie fingen genau zu der Zeit wieder an Jungen zu entführen, als ich den Typen in Charleston gesehen habe. Und du, Nick Colt, glaubst, es sei deine Aufgabe, die Menschen vor all dem zu beschützen?«
»Ich kann sie verjagen«, sagt er, als ob er angeben würde oder so.
»Wie?«
»Wir haben gewisse Fähigkeiten.«
»Was für Fähigkeiten?«
»Wir können jagen.«
Ich berühre den metallenen Reißverschluss an seinem Sweatshirt, ziehe ihn hoch und runter und wiederhole dann, was er gesagt hat, um es irgendwie zu verstehen. »Ihr könnt jagen.«
Werwölfe jagen.
»Ihr tötet«, sage ich langsam und rücke ein bisschen von ihm ab.
»Menschen töten wir nicht«, sagt er, ganz offensichtlich verärgert.
Ich setze mich auf meinem Bett auf. »Woher soll ich das wissen?«
Er legt den Kopf schräg. »Schau mich an.«
Zögernd schaue ich. Sozusagen.
»Schau mir in die Augen, Zara. Ich töte keine Menschen.«
Ich schlucke. »Okay.«
»Glaubst du mir?«
Nickend stehe ich auf, gehe durch das Zimmer und zünde eine Kerze an. Dann staple ich die CDs, die auf dem Fußboden herumliegen. Der Armreif schlägt gegen mein Handgelenk.
»Zara.«
»Was ist denn? Ich räume nur auf, ja?« Ich schreie ihn fast an, deshalb senke ich meine Stimme ein wenig. »Das ist alles ein bisschen schwer zu verdauen.«
Er schwingt seine Beine vom Bett herunter, kommt herüber und geht neben mir in die Hocke. »Ich weiß.«
Seine Hand streicht über meinen Rücken, dann erstarrt er. Ich lasse die CD fallen, die ich in der Hand halte. Ein krabbeliges, spinnenartiges Gefühl kriecht über meine Hand. Nick schnappt sich den Schürhaken und umfasst ihn fest mit seiner großen Faust.
Dann klopft unten jemand gegen die Tür. Laut und nachdrücklich.
Ich springe auf. »Nick?« Meine Stimme klingt verängstigt.
Er schaut mich ruhig an, aber seine Hand schließt sich fester um den metallenen Schürhaken, sodass die Knöchel weiß hervortreten.
»Nicht öffnen, Zara.«
»Ist es …«
Erneutes Klopfen unterbricht meine Frage.
Ich schaue Nick an und nehme mein Bild in dem Spiegel über der Kommode wahr. Meine Augen sind riesengroß und voller Angst, und genauso fühle ich mich auch. Das Spinnengefühl ist jetzt überall, es kriecht über mich und dringt in mich ein.
Mein Fuß stößt gegen den CD-Stapel, sodass die CDs sich wieder über den ganzen Fußboden verteilen. Mein Herz macht einen Satz und verteilt sich wie die CDs in Einzelstücken überall. Ich trete auf einen Stapel mit Umschlägen, die zum Versand an Diktatoren in der ganzen Welt bereitliegen.
Ich greife nach Nicks Handgelenk.
»Sie können nicht rein, oder?«
Er nickt. »Nur wenn du sie reinlässt.«
»Und das werde ich nicht tun.«
»Genau.«
Wieder wird unten an die Tür geklopft. Und dann noch einmal. Und noch einmal.
»Nick?«
Er legt die Arme um mich. Der eiserne Schürhaken liegt kalt in einer geraden Linie an meinem Rücken. Aber die Kälte kann seine Wärme nicht vertreiben. »Du bist hier bei mir vollkommen sicher.«
»Wirst du dich in einen Wolf verwandeln?«
»Nur wenn ich muss.«
»Du brauchst keinen Vollmond oder so?«, flüstere ich und halte mich an ihm fest.
»Nö.«
Ich fröstle. Am liebsten würde ich unter seine Haut kriechen und mich dort verstecken. »Glaubst du, dass du dich verwandeln musst?«
Er schiebt mich zum Bett und drückt mich hinunter. Den schweren metallenen Schürhaken hält er einsatzbereit in der Hand. Er sieht beängstigend aus.
»Eigentlich können sie nicht ins Haus eindringen«, sagt er. »Außer sie waren vorher schon mal hier.«
»Sind es viele?«
»Ich rieche mindestens fünf. Wegen der Rangniedrigen mache ich mir keine Sorgen, aber ihr Anführer steht auf einem anderen Blatt.«
»Sie haben einen Anführer?«
»Da bin ich mir ziemlich sicher.« Er lässt mich los, geht zur Tür, macht sie zu und schließt ab. Er wendet den Kopf nicht, um mit mir zu sprechen, sondern starrt die geschlossene Tür an. Seine freie Hand stemmt sich gegen den hölzernen Türrahmen.
Schritte poltern die Treppe herauf. Nick dreht den Kopf und schaut mich an. Die Iris in seinen Augen ist schmal und schräg geworden wie bei einem Wolf.
»Wahrscheinlich war einer der Elfen zuvor schon einmal in diesem Haus«, sagt er über die Schulter hinweg zu mir. Das tiefe, drohende Grollen klingt kaum noch menschlich.
Ich erstarre.
Die Muskeln auf Nicks Rücken zittern, als ob er sich anstrengen würde. Aber ich habe keine Ahnung, was für eine Art von Anstrengung das sein könnte.
»Nick? Können alle hereinkommen, wenn einer zuvor hier drinnen war?«
»Nein. Sie warten draußen.«
»Kann er dieses Zimmer betreten, wenn er schon mal im Haus gewesen ist?« Das Entsetzen hat mich im Griff.
»Keine Ahnung.«
Er knurrt, und ich weiß nicht, was ich tun oder sagen soll, deshalb flüstere ich einfach seinen Namen. »Nick?«
Seine Stimme ist warm und zugleich voller Schmerz. »Ich bemühe mich sehr, mich nicht zu verwandeln, Zara, aber wenn jemand in Gefahr ist, verwandle ich mich.«
»Und ich bin in Gefahr?«
Er nickt.
Ich berühre seinen Rücken. Ich bin total durcheinander. Ich erinnere mich nicht mal daran, dass ich zu ihm gegangen bin. Seine Muskeln zittern und bewegen sich unter meinen Fingern, als ob die Fasern sich gegen die Verwandlung wehrten.
»Dann verwandle dich«, bitte ich ihn.
»Ich will dir keine Angst machen.«
»Ich hab schon Angst«, kreische ich. »Ich will bloß nicht, dass dir was zustößt.«
»Mir? Es geht nicht um mich. Es geht um dich.«
Eine Hand hämmert an die Tür meines Zimmers. Das ganze Türblatt zittert in seinem Rahmen. Oh Gott. Oh Gott.
Nick wirbelt herum. Seine Augen sind traurig und schmerzerfüllt. Er reißt sich das Sweatshirt vom Leib und stürzt auf die andere Seite des Bettes, wo ich ihn nicht sehen kann.
»Was immer du tust, Zara, lass ihn nicht herein. Was immer er sagt. Du darfst ihn nicht reinlassen.« Er knurrt, und dann klopft es wieder an der Tür, ein behutsames, freundlich klingendes Klopfen. Ich weiche zurück.
Nicks Hose fliegt durch den Raum, und ich fange sie auf.
Er bemüht sich weiterzureden. »Vielleicht kann ich es im Zweikampf mit ihm aufnehmen, aber ich lege es lieber nicht darauf an. Er ist stärker als die anderen, und das ist nicht mein Revier, weißt du …«
»Nick?«, flüstere ich.
Ein Kissen fliegt über das Bett.
»Wir müssen nur durchhalten, bis Betty da ist. Halt einfach bis dahin durch, Zara.« Die Wörter sprudeln aus ihm heraus, und das Klopfen an der Tür übertönt sie, nicht jedoch das wütende Knurren, das seiner Kehle entweicht, halb Warnung, halb Kampfgebrüll, aber vollkommen Wolf.
»Oh Gott«, flüstere ich.
Jemand klopft leicht an die Tür.
»Zara, lass mich rein.«
Der Wolf knurrt und steht zwischen mir und der Tür. Sein dickes, dichtes Fell sträubt sich.
Er hat gesagt, sie seien wenigstens zu fünft. Einer ist hier bei uns im Haus, aber solange ich die Tür nicht öffne, sind wir sicher.
Warum denkt Nick, ich würde die Tür öffnen? Er hält mich wohl für den naivsten Menschen überhaupt. Auf keinen Fall öffne ich diese Tür und lasse das Elfen-Teil rein.
Aber was ist mit den anderen?
Vorsichtig schieb ich den Vorhang nur wenige Zentimeter beiseite und spähe aus dem Fenster. Im Schnee mache ich zwei dunkle Gestalten aus. Die Flocken fallen dicht wie ein Vorhang aus einem gräulich weißen Himmel, und alles sieht fast friedlich aus.
Wieder klopft es an der Tür. Es ist ein vorsichtiges Klopfen – so hat meine Mutter immer geklopft, wenn sie mich und meine Freundinnen nach einer Pyjama-Party wecken musste. Ich schaue zu Nick hin. Er kauert sich sprungbereit zusammen.
Sie versuchen mich auszutricksen. Das wird ihnen nicht gelingen. Ich werde die Tür ignorieren und stattdessen die Vorgänge draußen beobachten.
Als ich mich wieder dem Fenster zuwende, schreie ich auf. Ein blasses Gesicht mit wilden Augen schwebt da, angehängt an einen Körper. Ich mache einen Satz nach hinten und schreie noch viel lauter. Der Vorhang fällt zu, sodass mir der Blick nach draußen verstellt ist.
Ich sitze mitten auf meinem Bett und ziehe die Knie an die Brust, aber ich halte den Schürhaken fest in der Hand. Und ich werde ihn benutzen. Zuweilen wird der Pazifismus einfach überbewertet.
»Das passiert alles gar nicht«, intoniere ich. »Das passiert alles gar nicht.«
Etwas kratzt an meinem Fenster, und es ist kein Zweig, da bin ich mir sicher. Es ist etwas Furchteinflößendes, das hereinwill.
Nick dreht seine Runde in meinem Zimmer. Er patrouilliert hin und her, und hin und her, vom Fenster zur Tür, vom Fenster zur Tür, Fenster, Tür. Er hat die Lefzen hochgezogen und zeigt seine Zähne. Wieder ertönt ein leichtes Klopfen mit dem Fingerknöchel an der Tür. Nick bleckt die Zähne noch mehr, bis das Zahnfleisch sichtbar wird.
»Zara?« Die Stimme ist tief und ein bisschen heiser. Sie klingt vertraut, und es ist nicht die Stimme aus dem Wald.
Mein Herz macht einen Satz, aber diesmal nicht aus Angst.
»Zara, Liebes?«
Das kann nicht sein, völlig unmöglich.
Ich setze mich aufrechter hin und schwinge die Beine vom Bett hinunter.
Die Kerze auf dem Schreibpult flackert, bekommt durch einen Lufthauch neue Nahrung und wächst zu doppelter Größe an.
Voller Hoffnung flüstere ich:
»Daddy?«
Vitricophobie
Die Angst vor dem Stiefvater
Das kann nicht sein. Es ist völlig unmöglich, aber die Stimme klingt nach ihm. Die Zunge scheint mir am Gaumen zu kleben, und mein Brustkorb drückt sich eng zusammen, dennoch schaffe ich es noch einmal:
»Daddy?«
Nicks Knurren gerät außer Kontrolle. Sein ganzer Körper bebt. Er vibriert. Mein Körper vibriert auch.
Einem knurrenden Wolf will man nicht mal mit einem Abstand von drei Metern begegnen, und ich bin viel dichter dran und es ist furchterregend. Es ist wirklich furchterregend, aber nicht so furchterregend wie das, was sich auf der anderen Seite der Tür befindet.
Mein Dad ist gestorben. Aber jetzt redet er hier. Ich kann ihn trotz des Knurrens hören. Wirklich. Ich höre ihn, direkt hinter der Tür.
Meine Füße bewegen sich über den Fußboden.
»Daddy, bist du das?«, flüstere ich.
Irgendwie hört er mich auch.
»Mach die Tür auf, Zara, Liebes, und lass mich rein.«
Ich möchte es tun. Ich möchte es wirklich, aber der Schock macht meine Gliedmaßen langsam und schwer. Dann stellt sich Nick auf die Hinterbeine und drückt seine Pfoten gegen die Tür. Er versperrt mir den Weg.
»Geh weg, Nick«, bitte ich und trete näher heran, lehne mich gegen ihn und lege die Handflächen an die Tür, als ob ich irgendwie durch die Tür hindurch etwas erfühlen und das Gesicht meines Dads berühren könnte, als ob ich seine wieder warme Haut spüren könnte, in der das Leben pulsiert. Natürlich kann ich das nicht. Dass das Holz unter meinen Händen so kalt ist, erscheint mir total unfair.
»Es kann nicht sein, dass du hier bist.« Meine Stimme klingt piepsig. Das Herz klopft mir in der Brust.
Wenn ich diese Tür öffne, steht er dann da? Lächelt er mich dann an und zeigt seine Grübchen? Umarmt er mich? In den vergangenen Monaten habe ich nur einen einzigen Wunsch gehabt: Dass er am Leben ist.
Aber ich habe ihn auf dem Boden liegen gesehen. Ich habe ihn im Sarg gesehen. Und du spürst es, wenn jemand gestorben ist, du spürst, dass seine Seele fort und dass sein Körper leer ist. Aber wenn es Werwölfe und Elfen gibt, dann ist vielleicht auch dies möglich. Vielleicht ist mein Daddy wirklich da, direkt vor mir, nur durch ein paar Zentimeter Holz getrennt von mir.
Ich schwanke in Richtung Tür. Meine Schulter drückt in Nicks Flanke. »Unmöglich. Du kannst nicht hier sein.«
»Aber ich bin da, Zara. Lass mich rein. Ich erklär dir alles«, sagt er.
Er ist gestorben. Er ist gestorben. Ich habe gesehen, wie er gestorben ist. Das Wasser auf dem Fußboden. Sein Gesicht, ganz kalt unter meinen Fingern.
Aber was, wenn nicht? »Daddy?«
»Ich bin hier, Süße.«
In meinem Hals bilden sich Klumpen, die bis in mein Innerstes hinunterreichen.
Es ist seine Stimme. Seine. Direkt hier. Ich strecke die Hand nach dem Türknauf aus, komme aber nicht dazu, die Tür zu entriegeln.
Nick stößt mit dem Kopf nach mir, drückt gegen mein Kinn und meine Wange. Es fühlt sich an wie ein Schlag. Seine Schnauze schiebt meinen Kopf weg von der Tür. Er zwängt sich zwischen mich und das Holz. Ich bekomme Fell in den Mund, spucke es aus und versuche, ihn wegzudrücken.
»Das ist mein Dad. Mein Dad.« Ich schlage mit der Hand gegen die Tür. »Er ist auf der anderen Seite. Die Elfen werden ihn kriegen.«
Nick zeigt mir die Zähne.
»Ich will ihn nicht noch einmal verlieren, Nick.«
Der Wolf knurrt, als wolle er gleich beißen. Mein Kopf zuckt zurück, weg von ihm, aber dann fange ich mich wieder.
»Geh … mir … aus … dem … Weg.«
Ich drücke gegen seinen dicken Hals und schlage mit den Händen immer wieder zu, verprügle ihn regelrecht. Er rührt sich nicht vom Fleck.
»Geh zur Seite!«, befehle ich ihm. »Geh zur Seite.«
»Zara, ist da ein Wolf bei dir? Trau ihm nicht«, sagt die Stimme meines Dads ruhig, sehr ruhig sogar.
Ich packe eine Handvoll Fell und erstarre. Auf einmal fällt mir auf, dass etwas nicht stimmt. Mein Dad wäre nie im Leben so ruhig, wenn er weiß, dass ein Wolf bei mir im Zimmer ist. Er wäre völlig gestresst, würde schreien, die Tür aus den Angeln reißen oder sie eintreten, wie er es einmal gemacht hat, als ich noch ganz klein war und mich im Bad eingeschlossen hatte und das Schloss nicht entriegeln konnte, weil es so alt war. Er trat gegen die Tür, dass das Holz splitterte, und drückte mich an sich. Immer wieder küsste er mich auf die Stirn.
»Ich lasse nicht zu, dass dir jemals etwas passiert, Prinzessin«, hatte er gesagt. »Du bist mein Baby.«
Mein Dad würde die Tür eintreten. Mein Dad würde mich retten.
»Lass mich rein«, sagt er. »Zara …«
Ich lasse von Nick ab und torkle rückwärts ins Zimmer hinein, weg von der Tür. Meine Hände fliegen zu meinem Mund und bedecken ihn.
Nick knurrt mich nicht mehr an, sondern wedelt mit seinem buschigen Schwanz.
Woher sollte mein Dad wissen, dass ein Wolf in meinem Zimmer ist, und nicht ein Hund?
Ich schaudere. Nick lässt sich neben mir auf die Keulen nieder und drückt seine Flanke an meine Beine. Ich vergrabe meine Hände in seinem Fell. Ich suche etwas. Trost vielleicht? Oder Wärme? Oder Kraft? Vielleicht auch alle drei?
»Du bist tot«, sage ich, und ein Schluchzer bricht aus meiner Brust. »Du kannst nicht hier sein.«
»Ich bin nicht tot, Zara.«
Ich gehe weg von Nick, schnappe mir ein Kissen und drücke es wie einen Schild an mich. Die Erinnerung an meinen Dad auf dem Fußboden überfällt mich. Ich sehe die Wasserflasche über die Dielen rollen. Ich sehe seinen Mund, offen, nach Luft ringend.
»Doch. Du bist tot«, sage ich. »Du hast mich verlassen. Ich habe dich gesehen. Du hast mich verlassen. Und ich bin jetzt hier in Maine. Wo alles vollkommen verrückt ist und wo du nachts nicht laufen kannst und wo es kalt ist.«
»Zara, lass mich rein. Ich erklär dir alles.«
Ich werfe den Menschenrechtsbericht 2009 an die Tür. Er schlägt gegen das Holz. Nick duckt sich und kriecht aus der Schusslinie. Ich greife nach dem nächsten Jahresbericht und knalle ihn gegen den Türknauf.
»Du Lügner! Gar nichts kannst du erklären. Überhaupt nichts! Du hast mich verlassen!«
Schluchzend stürze ich zur Tür und schlage mit den Fäusten dagegen.
»Du bist gegangen.«
Mein Dad war der größte Umarmer überhaupt. Seine Umarmungen waren allumfassend und gaben Sicherheit, wie die eines großen Teddybären, nur wärmer.
»Lass mich einfach rein, Zara.« Jetzt klingt er ärgerlich, so hat er immer geklungen, wenn ich meine Mutter angemotzt habe. Er klingt genau wie mein Dad.
Einen Schritt nach vorn, noch einen. Nicks Wolfsstimme lässt ein leises grollendes Knurren ertönen. Ich lege den Finger an die Lippen und bedeute ihm so, leise zu sein.
Meine Finger zittern, aber sie entriegeln die Tür.
»Lass mich rein, Zara«, sagt er.
Nick stupst mich an, damit ich von der Tür weggehe, und ich lasse ihn.
»Nein«, sage ich. »Wenn du wirklich mein Dad wärst, könntest du die Tür selbst öffnen.«
Keine Antwort.
Ich hab’s gewusst. Ich hab gewusst, dass darauf keine Antwort kommen würde.
Nick schnuppert an meiner Hand. Meine Hände vergraben sich in seinem Fell.
»Warum machst du die Tür nicht auf?«, frage ich. »Sie ist nicht verriegelt.«
Etwas in mir schreit gellend auf. Die Verzweiflung nimmt mir den Atem.
»Los, mach schon!«, brülle ich, zugleich wild und verloren, allein und doch nicht allein. Nick schiebt sich vor mich, schirmt mich ab gegen die Tür und was immer dahinter ist. »Warum kommst du nicht, hä? Warum machst du diese gottverdammte Tür nicht auf?«
Ich starre auf den Türknauf. Er bewegt sich nicht. Der Typ weiß, dass er mich nicht zum Narren halten kann.
Nick hat recht gehabt. Elfen können nur Räume betreten, in die sie eingeladen werden oder in denen sie zuvor schon einmal waren.
Mein Stiefvater ist x-mal in diesem Raum gewesen. Wenn wirklich er draußen stehen würde, dann wäre er einfach in dem Augenblick hereingekommen, in dem ich die Tür entriegelt habe.
Aber er steht nicht da draußen. Er ist nicht auf magische Weise von den Toten auferstanden.
Es ist jemand anderes. Oder etwas anderes, etwas, das in diesem Haus war, aber nicht in diesem Zimmer. Es ist etwas, das sich anhört wie mein Dad.
»Komm einfach zu mir, Zara. Ich brauche dich.«
»Was?«
»Die Begierde … Ich kann mich ihr nicht länger widersetzen … Sie ist gewaltig.«
»Was bist du?«, frage ich, während ich zurücktaumle, die Augen starr auf den Türknauf gerichtet. »Was zum Teufel bist du?«
Was immer er ist brüllt vor Wut. Er stürmt die Treppe hinauf und hinunter, und es hört sich an, als habe er einen Tornado herbeigerufen, um Bettys Haus zu Kleinholz zu zerlegen. Bücher krachen auf den Boden. Glas splittert. Ich schließe die Augen und halte mir die Ohren zu. Nick knurrt.
Ich sacke auf meinem Bett zusammen. Einen Augenblick lang habe ich geglaubt, dass das, was ich mir am meisten auf der Welt wünsche, wahr geworden ist. Einen Augenblick lang habe ich geglaubt, dass mein Dad zurückgekehrt ist. Aber er ist es nicht. Er ist wieder weggegangen. Er ist wirklich und wahrhaftig gegangen, und ich weiß es. Ich weiß, dass ich ihn nie wieder sehen werde, egal, wie sehr ich es mir auch wünsche.
Die Kerze in mir ist erloschen, und ich habe Angst, ich habe richtig große Angst, denn meine größte Angst ist wahr geworden. Ich muss ohne meinen Dad leben, ohne meinen Laufpartner, ohne den Kerl, der mir alles über Amnesty beigebracht hat und der die Lieder von John Lennon so schön falsch gesungen hat.
Ich schluchze und umklammere meinen Stoffhasen. Nick springt auf mein Bett und drückt seinen Körper an meinen. Er schnüffelt mit seiner Schnauze an meinem Gesicht, bis ich es so weit anhebe, dass er die Tränen ablecken kann.
Während der Elf unten wütet, schlinge ich die Arme um Nicks weichen Körper und weine in sein Fell hinein. Meine Schultern beben. Nick fiept ein oder zweimal und versucht noch einmal, mein Gesicht abzulecken, aber hauptsächlich beobachtet er die Tür. Ich höre schließlich mit dem jämmerlichen Geschluchze auf und weine einfach nur noch. Und schließlich hört auch die Weinerei auf, denn ich presse Nick an mich und hoffe, dass all das gar nicht wirklich passiert, sondern ein Traum ist, aber wenn das so wäre, dann würde ich auch Nick verlieren. Denn es würde bedeuten, dass er nicht wirklich existiert, und ich wünsche mir doch so sehr, dass es ihn wirklich gibt. Ich wünsche es mir, obwohl ich weiß, dass ich ihn wahrscheinlich verlieren werde, wie ich meinen Dad verloren habe und meine Mom, und wie ich mich selbst verloren habe.
Nekrophobie
Die Angst vor dem Tod
Als er mich mit einem flüchtigen Kuss auf die Stirn weckt, ist er wieder ein Mensch.
Ich schlage die Augen auf und sehe sein lächelndes Gesicht über mir.
Stöhnend halte ich mir die Hände vors Gesicht. Er hat die Jalousien hochgezogen und helles Licht strömt ins Zimmer. Ich ächze.
»Bin ich eingeschlafen? Echt? Wie konnte ich einfach einschlafen?«
»Stress und Weinen kann einen schon umhauen. Du bist eingepennt, als der Elf aufgehört hat, im Erdgeschoss alles kurz und klein zu schlagen.«
»Oh.« Ich berühre meine Wangen. »Du hast mich abgeleckt.«
Er lacht, beugt sich zu mir herunter und fährt mit der Zunge kurz über meinen Handrücken. »Du schmeckst einfach gut.«
Ich versuche nach ihm zu schlagen. Er lacht noch mehr und packt meine Hand.
»Das ist unfair. Ein einfaches Menschenkind gegen einen Werwolf«, beschwere ich mich.
»Okay.«
Er lässt mich los, nicht ohne zuvor jeden einzelnen meiner Finger zu küssen. Ich seufze vor Glück.
Dann komme ich richtig zu mir und setze mich auf.
»Wo sind die Elfen?«
»Weg«, sagt er, steht auf und streckt sich. Er hat seine Kleider wieder angezogen. Sein ganzer Körper knackt, immer ein Wirbel nach dem anderen. »Ich kann sie nicht mehr riechen.«
Ich nicke, als ob das alles vollkommen einleuchtend wäre, aber andererseits bin ich ja auch nicht gerade eine Expertin für magische Wesen. Mir wird ganz flau zumute.
»Er hat so getan, als wäre er mein Daddy«, sage ich.
Nicks Blick wird weicher. »Das war bestimmt schwer für dich.«
Ich schlucke. Ich habe einen schrecklichen Geschmack im Mund nach altem, verbranntem Holz.
»Aber du hast ihn ausgetrickst«, sagt er. »Ich bin stolz auf dich.«
Ich versuche zu lächeln, kriege es aber nicht ganz hin.
Er nimmt meine Hand. »Komm, wir schauen nach, ob die Telefone wieder funktionieren, okay? Vielleicht finden wir ja auch was zu essen?«
»Ist Betty da?«
»Noch nicht.«
»Glaubst du, mit ihr ist alles in Ordnung?«
»Die Straßenverhältnisse sind sehr schlecht, Zara. Wenn sie sich nicht verwandelt hat, kann es dauern.«
»Wenn sie sich nicht verwandelt hat«, wiederhole ich. Meine Finger verschränken sich mit seinen und schmiegen sich in die Zwischenräume zwischen seinen Fingern. Es fühlt sich gut und sicher an. »Sind wir hier sicher?«
»Ich bin bei dir, Zara. Dir passiert nichts, das versprech ich dir.«
Ich möchte ihm glauben, weiß aber nicht genau, ob ich das kann. Gibt es überhaupt noch Sicherheit?
Wir nehmen unseren Mut soweit zusammen, dass wir uns die Treppe hinunterwagen, und es ist schrecklich. Wirklich schrecklich. Vielleicht ist ja tatsächlich nur ein Elf eingedrungen, aber er hat so viel Schaden angerichtet, dass man durchaus meinen könnte, hundert Elfen wären da gewesen.
»Es sieht aus, als hätte ich hier richtig einen draufgemacht«, sage ich und bleibe mitten auf der Treppe stehen, um den Schaden zu begutachten. »Meine Güte, Betty bringt mich um.«
Die Couch ist umgekippt. Der weiße Ledersessel mit Ruß beschmiert. Zeitungen und Bücher liegen auf dem Fußboden verstreut. Elfenstaub überzieht die Kissen der Couch.
Nick nimmt meine Hand und zieht mich die Treppe hinunter. »Keine Sorge. Wir kümmern uns darum. Alles halb so schlimm.«
Er lässt meine Hand los und packt ein Ende der Couch an. »Komm, die stellen wir zuerst auf.«
Gemeinsam stellen wir die Couch richtig hin und schieben sie wieder an die Wand. Nick bläst sich den Staub von den Händen. »Ekelhaft.«
»Könnte schlimmer sein. Immerhin hat er die Kissen nicht aufgeschlitzt«, sage ich, aber meine Stimme klingt aufgesetzt.
Nick lässt sich täuschen. »Allerdings.«
Wir fangen an, die Sachen vom Boden aufzuheben. Ich teste, ob mein Handy und das Festnetztelefon wieder funktionieren. Tun sie nicht. Wir machen die Tür auf, und Schnee wirbelt ins Haus. Irgendwelche Elfenspuren sind längst zugeschneit.
Mir stockt der Atem. Die Welt sieht märchenhaft aus wie im weihnachtlichen Nussknacker-Ballett. Die schneebedeckten Bäume wirken verzaubert. Nicks Mini ist vollkommen mit Schnee überzogen Alles sieht so wunderschön und ordentlich aus, so natürlich und sicher, das komplette Gegenteil von Bettys Haus.
»Wir sind eingeschneit«, verkünde ich.
Nick hält witternd die Nase nach draußen. »Das ist ein richtiger Schneesturm. Wahrscheinlich dauert er den ganzen Nachmittag und legt sich erst morgen früh wieder.«
Mit schweren Schritten gehe ich durch das Wohnzimmer und versuche, Betty über Funk zu erreichen. Ich gerate an Josie von der Leitstelle, die mir sagt: »Sie hat sich vor zwei Stunden auf den Heimweg gemacht.«
»Oh Gott.«
»Nein, mach dir keine Sorgen. Ich versuche, sie auf dem anderen Kanal anzurufen. Vom Dahlberg-Jungen gibt’s nichts Neues. Der Schneesturm soll die ganze Nacht dauern, und die Straßen sind zugeschneit, deshalb braucht sie wahrscheinlich einfach noch ein bisschen. Und das Satellitentelefon hat auch keine Verbindung, deshalb funktionieren ein paar Kanäle nicht.«
Ich drücke den Knopf an dem Funkgerät. »Okay. Überanstrengen Sie sich nicht, Josie.«
Sie lacht, und ihr Lachen dringt laut und klar durch das Rauschen: »Noch bin ich nicht tot, Zara. Ich habe immer noch ein bisschen Leben in mir.«
Das haben wir alle, denke ich. Ich gehe zurück und mache mich wieder daran, das Wohnzimmer aufzuräumen.
Wir räumen eine gefühlte Ewigkeit lang auf, und schließlich knurren unsere Mägen so laut, dass sie den heulenden Wind draußen übertönen.
»Ich bin am Verhungern. Du auch?«, fragt er.
Ich klopfe mir auf den Bauch. »Jep. Glaubst du, mit Betty ist alles okay?«
Er nimmt mich in den Arm. »Ja, ganz bestimmt.«
Er geht in die Küche und holt ein paar Eier aus dem Kühlschrank, während ich den restlichen Inhalt nach draußen in den Schnee stelle, damit er nicht schlecht wird.
Als ich wieder reinkomme, stellt Nick gerade zwei Pfannen auf den Herd und öffnet eine Dose Corned Beef.
»Corned Beef?«, frage ich. »Pfui Spinne.«
»Das ist gut, da wachsen dir Haare auf der Brust.«
»Fell, meinst du wohl.«
»Genau.«
Er zieht den Blechdeckel ab und legt ihn auf ein Stück Küchenpapier. Dann kippt er den Inhalt der Dose in die Pfanne und rührt um.
»Das dauert noch ein bisschen.« Er nimmt einen anderen Kochlöffel und rührt in den Eiern. »Ich habe überlegt, dass wir wegen dieser Elfengeschichte vielleicht Hilfe holen sollten.«
»Gut. Ich dachte immer, Wölfe würden im Rudel leben. Hast du kein Rudel?«
»Nein, nicht im traditionellen Sinn.«
»Tut mir leid, Nick, aber im Zusammenhang mit Werwölfen, habe ich keinen blassen Schimmer, was der ›traditionelle Sinn‹ bedeutet.«
»Ich heule nicht mit den Wölfen.«
Ich nicke abwartend. Schließlich gebe ich auf und sage: »Sondern mit …«
Er windet sich. »Mit Kojoten. Aber sie besitzen Wolf-DNA.«
Es fällt schwer, nicht zu lächeln. »Und du bist das Alphatier, oder?«
»Natürlich bin ich das Alphatier.« Er knurrt mich fast an.
»’tschuldigung. Dann bitten wir dein Rudel um Hilfe?«, frage ich. »Wenn du der Leitwolf bist, kannst du ihnen doch sagen, was sie tun müssen, oder?«
»Wir fragen sie. Sie können die Elfen ablenken, sie auf Trab halten. Aber sie sind ganz normale Kojoten, Zara, und sie fürchten sich vor allem Magischen.« Er zerteilt das Corned Beef in der Pfanne ein bisschen. »Nein. Ich habe daran gedacht, jemand anders zu fragen.«
»Wen?«
Er zeigt mit dem Löffel auf mich. »Du darfst dich aber nicht aufregen, okay? Wenn ich es dir sage, darfst du nicht hysterisch werden oder so.«
»Sag’s mir einfach.
»Issie und Devyn.«
Ich wirble zu ihm herum. »Das können wir nicht machen. Erstens könnte ihnen was passieren. Und zweitens, willst du ihnen sagen, dass du ein Werwolf bist? Ja, klar. Das wird richtig gut ankommen.«
»Sie wissen es schon, weil …«
Das Feuer knistert wieder. Der Wind rüttelt am Haus. Nick steht aufmerksam und kampfbereit da, aber nichts passiert, auch sein Satz bleibt unvollendet.
»Sie wissen es schon, weil …«, souffliere ich ungeduldig.
Er holt tief Luft.
»Oh Gott, ich hab’s! Issie ist ein Kaninchen, stimmt’s? Gibt’s so was? Werkaninchen?«
»Total daneben, Zara.« Nick kriegt sich nicht mehr ein vor Lachen.
Ich schmolle. »Sie wäre ein wunderbares Kaninchen.«
»Stimmt. Aber sie ist es nicht, es ist Devyn.«
»Devyn? Devyn ist ein netter Junge und vollkommen normal.«
Nick kratzt auf dem Boden der Pfanne herum. Seine Stimme klingt ganz ruhig. »Er ist ein Adler.«
»Aha. Okay. Ich werde deshalb nicht ausflippen, aber lass mich dir sagen, dass mich das überrascht.«
»Weil er im Rollstuhl sitzt?«
»Nein! Weil er ein Vogel ist.«
Agateophobie
Die Angst vor dem Wahnsinn
Der Wind zerrt am Haus und lässt die Flammen im Ofen tanzen. Ich koche eine bizarre Kombination aus Fleisch und gewürfelten Kartoffeln zusammen mit einem Jungen, der heißer ist als das Feuer im Ofen – und was sage ich zu ihm?
»Wir müssen rauskriegen, wie wir den Elf davon abhalten, mich zu küssen und mich zu seiner Königin zu machen.«
»Ich weiß«, sagt Nick.
»Einfach nein sagen wird nicht reichen, vermute ich mal.« Ich lache nervös.
Nick kratzt das braune, knusprige Corned Beef aus der Pfanne, das am Boden angebacken ist. Er mischt es mit dem weichen Fleisch zu einem braun-weißen Pamps.
Aber der Brei riecht gut, fast, aber wirklich nur fast, so gut, dass ich nicht mehr an die Elfen denke, oder daran, dass die einzigen coolen Typen in der Schule Werwesen sind.
»Im Ernst, Zara«, sagt er und macht sich an die Zubereitung der Rühreier.
»Also, erstens kann ich nicht glauben, dass Elfen Könige und Königinnen haben. Das ist absolut überholt. Und wenn sie hundert Mal Lichtgestalten sind. Es ist einfach schwach. Haben sie vielleicht so eine Art totalitäre Diktatur, die auf einem monarchistischen Ideal von Überlegenheit basiert? Das sind nämlich mit die schlimmsten Regierungen, die man sich vorstellen kann. Ich meine, die Menschenrechtsverletzungen unter solchen Regimen …«
Nick hält mir mit der freien Hand den Mund zu, wie Devyn das mal bei Issie gemacht hat. Aber anders als Issie fange ich nicht an zu kichern oder lecke an seinen Fingern, sondern ich schau ihn einfach böse an. Nick rührt mit der freien Hand in den Eiern, als wäre nichts, als wäre alles vollkommen normal, eine ganz normale Unterhaltung zwischen zwei ganz normalen Menschen.
»Zara, das sind Elfen, und die interessieren sich nicht die Bohne für Menschenrechtsverletzungen«, erklärt er. »Erstens sind sie keine Menschen, und zweitens gehört Folter zu ihrem normalen Verhalten.«
Ich versuche, ihm auf den Fuß zu treten, aber er dreht ihn einfach mit einer superschnellen Werwolfbewegung weg, ohne auch nur einen Augenblick das Rühren der Eier zu unterbrechen, die inzwischen stocken und fast fertig sind. Er nimmt seine Hand nicht von meinem Mund, und seine Augen blitzen, als würde er sich köstlich über mich amüsieren.
Aber über mich amüsiert man sich nicht.
»Ich nehme meine Hand jetzt weg, okay?«
»Aus mir macht man keine Königin«, spucke ich ihm entgegen.
Er wischt sich die Hand am T-Shirt ab.
»Was ist? Hab ich dich vollgesabbert?«
»Ein bisschen.«
»Du bist ein Wolf. Du bist an Gesabber gewöhnt.«
»Das war schwach.«
Er zieht die Pfanne vom Ofen und stellt sie an den Rand.
Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Ist mir doch egal.«
Eine Minute lang schweigen wir. Er schabt wieder an dem Corned Beef in der Pfanne herum. Die Fenster wirken wegen des dichten Schnees, der vom Himmel fällt, wie leere, weiße Höhlen. Ein paar Schneeflocken spritzen gegen das Haus, als versuchten sie der winterlichen Realität zu entkommen.
»Normalerweise verhalten sie sich nicht so, das ist offensichtlich. Ich meine, die Elfen haben nicht die ganze Zeit über getötet. Es gab eine Pause«, sage ich. Nick will mich unterbrechen, aber ich hebe die Hand. »Ich weiß schon, dass wir das wissen. Ich denke einfach laut nach. So bringe ich die Informationen am besten zusammen. Alles steht irgendwie in Zusammenhang mit der Notiz von meinem Dad.«
»Und sie sind seit einem Vierteljahrhundert ohne Königin. Da muss es eine Regel geben.« Er richtet den Kochlöffel auf mich. »Zara, ich weiß, dass du wegen dieser ganzen Geschichte ein bisschen neben dir stehst, und das ist ja ganz normal, aber ich glaube …«
»Normal? Was ist hier normal? Du, der wahrscheinlich bestaussehende Junge im ganzen Universum, magst mich, aber du bist ein Werwolf.« Ich höre die Hysterie in meiner Stimme, aber ich kann nichts dagegen tun. »Zwei der liebsten Menschen, die ich an dieser verrückten Schule kenne, sind ein Werwolf und ein Weradler. Habe ich das richtig verstanden? Werwolf und Weradler? Und, bevor ich’s vergesse, meine Großmutter ist ein Wertiger.«
Er nickt und lässt mich alles auskotzen. Ich gehe im Wohnzimmer auf und ab.
»Dann sollte ich vielleicht noch erwähnen, dass ein Elfentyp mein Wohnzimmer verwüstet hat, und die Elfen mich zu ihrer Königin machen wollen. Und um der ganzen Sache die Krone aufzusetzen, flüstert ein Typ im Wald meinen Namen, um mich in die Irre zu führen, statt freundlich zu sein und mir Blumen oder so zu schenken. Und kaum ist meine Gram weg, dringt er in das Haus ein.« Ich halte einen Augenblick inne. »Halt mal. Warum hat er gewartet, bis Betty weg ist?«
Nick löffelt ein bisschen angebratenes Corned Beef auf einen Teller und nimmt sich dann Eier.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich haben sie Angst vor ihr. Wertiger sind stark.«
Er zuckt die Achseln und schaufelt noch mehr Essen auf seinen Teller.
»Vielleicht hatten sie keine Lust mehr zu warten«, schlägt er vor und setzt sich vor dem Ofen auf den Boden. Ich setze mich zu ihm. Die Wärme strahlt auf uns ab und das fühlt sich einfach nur gut an.
»Vielleicht haben sie gemerkt, dass ich es nicht zulasse, dass sie dich im Wald schnappen, deshalb haben sie überlegt, dass ein direkter Angriff besser ist«, sagt er. »Wölfe kämpfen besser draußen. Wir sind keine Haustiere. Schmeckt’s?«
Ich schiebe die Eier auf meinem Teller herum und nehme dann ein bisschen Corned Beef auf meine Gabel. Es ist warm in meinem Mund. »Schmeckt gut.«
Er lächelt. »Danke.«
»Dann kannst du also nicht nur Pfannkuchen?«, frage ich. »Du bist perfekt, was?«
»Ich bin ein Werwolf«, sagt er zwischen zwei Bissen. Er neigt den Kopf.
»Und das entschuldigt ganz wunderbar, dass du dauernd so gereizt bist.«
Er hebt die Augenbrauen ein paar Mal an. »Absolut richtig.«
»Wenn ich Elfenkönigin werde, musst du ›Eure Majestät‹ zu mir sagen«, ziehe ich ihn auf.
»Niemals.«
»Du willst niemals ›Eure Majestät‹ zu mir sagen? Das ist gemein. Du bist einfach nur ein ganz normaler, alter Werwolf, während ich Mitglied des Königshauses sein werde.«
Das Feuer knistert, und ein Holzscheit verrutscht. Ich fahre zusammen, während Nick gar nicht reagiert. Wahrscheinlich ist es schwer, einen Werwolf aus der Ruhe zu bringen.
»Du wirst niemals Elfenkönigin sein. Das lasse ich nicht zu.« Er schaut mir in die Augen.
Mit diesem Leittiergehabe kriegt er mich. Ich kann nicht wegsehen. Selbst wenn es mir gelänge, würde ich die Augen immer noch spüren. Seine Augen.
»Igitt, mich kotzt das alles an. Ich hab das Gefühl, dass ich nicht weiterkomme.«
Ich hatte gedacht, es würde endlich wieder aufwärtsgehen. Ich meine, ich hatte gedacht, ich würde in Maine festsitzen, aber ganz langsam habe ich mich an die Zukunft rangetastet, an eine Zukunft ohne meinen Dad … aber immerhin eine Zukunft, meine Zukunft. Issie und Devyn sind meine Freunde. Nick ist hier. Aber all das könnte auf einmal einfach weg sein. Ich zucke zusammen. Ich will nicht sterben.
Nick stellt seinen Teller auf den Boden. Er wackelt ein bisschen, weil der Untergrund nicht ganz eben ist. Da er jetzt nichts mehr in der Hand hat, kann er sich nach vorn beugen und beide Hände flach auf den Boden legen wie im Yoga bei der »Hundestellung Kopf nach unten«.
»Zara?« Seine Stimme rührt mich an, aber ich untersuche lieber ganz genau meine Eier. »Ich lasse nicht zu, dass dir etwas geschieht.«
»Du kannst mir das nicht versprechen. Kein Mensch kann verhindern, dass ein anderer verletzt oder gar getötet wird.« Ich schlucke und schaue ihn an. Sein Mund ist so nahe an meinem. Seine Augen erscheinen mir hungrig, aber auch ruhig und stark, deshalb spreche ich weiter: »Noch vor zwei Wochen wäre es mir egal gewesen. Wenn ich gestorben wäre. Verstehst du?«
Er nickt und wartet ab.
Meine Lippen zucken, denn ich finde nicht die richtigen Worte. »Mein Dad hat mir einfach so gefehlt.«
Ich schlucke noch einmal. Warum ist schlucken so schwer? »Aber jetzt.« Ich rutsche ein bisschen vor. »Jetzt will ich nicht sterben. Ich will keine Angst haben. Ich will einfach leben.«
Er lässt meine Worte auf sich wirken und fragt dann: »Was hat sich verändert?«
»Ich weiß nicht. Du, vielleicht? Oder vielleicht, weil ich gesehen habe, wie glücklich und mutig Issie die ganze Zeit ist. Oder …« Ich rutsche näher, sodass meine Stirn die seine berührt. »Vielleicht, weil ich so schreckliche Angst hatte. Da wurde mir auf einmal klar, dass ich nicht sterben will.«
Er küsst mich auf die Nase. Seine Lippen wandern zu meiner Wange und dann hinunter zu meinen Lippen. Dort flüstert er: »Ich sorge dafür, dass dir nichts geschieht, Zara.«
Ich packe ihn an den Schultern. »Und was ist mir dir? Wer sorgt dafür, dass dir nichts geschieht?«
»Mir geschieht nichts.«
Seine Lippen streifen meine Lippen und pressen sich dann auf meinen Mund. Ich erwidere den Druck. Meine Hände verlassen seine Schultern und bewegen sich zu seinem Kopf. Vorsichtig ziehe ich sein Gesicht von mir weg.
»Versprichst du es?« Ich starre ihn an. »Schwörst du es?«
»Ich schwöre.«
»Wir müssen gehen«, sagt er.
Wir stehen in der kalten Küche und stellen das Geschirr in ein wasserloses Spülbecken. Draußen wird die Schneedecke immer dicker. Meine Fingerspitzen berühren die kalte Fensterscheibe. »Soll das ein Witz sein?«
Ich stelle die Pfanne in die Spüle. Das Metall passt zum Edelstahl der Spüle. Eine eklig braune Kruste aus angebackenem Corned Beef überzieht den Pfannenboden.
Ich reiße ein Stück von der Küchenrolle ab. »Igitt.«
»Zara? Wir können uns nicht die ganze Nacht in deinem Zimmer verstecken.« Nick greift um mich herum und packt den Pfannenstiel. Er schwenkt die Pfanne so, dass das Spülmittel sich über die gesamte Kruste verteilt. »Wir müssen uns das Problem jetzt vom Hals schaffen.«
»Jetzt?«
»Solange es noch hell ist.«
»Ach, sieh an, Mister Hyperaktiv.«
»Ich meine es ernst, Zara.«
Er stellt die Pfanne wieder in das Spülbecken. Wir können nichts weiter machen, ohne Wasser.
»Ich weiß. Ich weiß, dass du es ernst meinst. Aber ich bin für Schnee nicht geeignet.« Ich ziehe meinen Pferdeschwanz stramm. Meine Haare sind nicht gerade im besten Zustand, weil ich ja nicht duschen konnte. Dann ziehe ich die Wollsocken hoch. Ich trage zwei Paar übereinander, und sie werfen unter meinen Zehen Falten. »Und wohin sollen wir gehen? Und was ist mit Betty?«
»Sie sollte inzwischen eigentlich hier sein«, sagt er, und mein Herz versucht sich hinter meinen Lungen zu verstecken, um nicht zuhören zu müssen. Ich aber höre zu. Ich höre weiter zu, obwohl ich mir so schreckliche Sorgen um Betty mache. »Wir gehen zu mir. Wir holen Issie und Devyn und denken uns gemeinsam was aus.«
Ich zeige aus dem Fenster. »Und wie kommen wir dahin?«
»Mit meinem Auto.«
»Die Straßen sind katastrophal. Betty hat gesagt, wir sollen nicht fahren.«
»Ich weiß, aber manchmal muss man gegen Verbote verstoßen.«
Ich geb’s auf. Ohne Betty will ich sowieso nicht hierbleiben. Vor allem nicht, wenn die Elfen wieder zurückkommen. Ich stürme die Treppe hinauf und hole meine Aktionsaufrufe.
»Du willst zur Post?«, spottet Nick.
»Das sind die Aktionsaufrufe. Die müssen so schnell wie möglich raus, sonst werden die Menschen gefoltert oder getötet oder …«
Er legt mir die Finger auf die Lippen. »Du bist ja noch schlimmer als ich.«
»Nö, überhaupt nicht.«
Wir packen zusammen und machen uns auf den Weg nach draußen. Zuerst befreien wir den Mini von all dem Schnee. Die Bäume machen mir Angst. Eigentlich nicht die Bäume, sondern das, was sich hinter ihnen verstecken könnte.
Der Schnee bedeckt alles. Er bedeckt die Zweige und die Autos, das Land und das Wasser. Er bedeckt das Haus. Die Welt ist unter ihm verschwunden. Die Menschen darunter und die Tiere und das Gras sind ebenfalls verschwunden. Alles ist einfach weiß. Blendend weiß. Alles ist weg. Die klaren Konturen der Dächer und der Äste, die geraden Linien der Straßen, alles ist verwischt, bedeckt, verschwunden.
»Meinem Dad hätte das gefallen. Er hätte ein Paar Skier hervorgezogen und gesagt: ›Wie wär’s mit einem Abenteuer?‹«, sage ich.
»Klingt cool.«
»Er war cool.«
»Muss ein Werwesen gewesen sein.«
»Ja, vermutlich«, sage ich und lasse diesen zusätzlichen Informationssplitter, der endlich laut ausgesprochen wurde, noch ein bisschen in der Luft schweben. »In seiner Notiz hat er ›Lichtgestalt‹ geschrieben.«
Nick holt einen Handfeger aus dem Mini und wischt den letzten feinen Schneeschleier weg, aber darunter kommt eine Eisschicht zum Vorschein, die alle Fenster bedeckt. Er setzt sich ins Auto und stellt das Gebläse auf die höchste Stufe.
Ich lehne mich gegen den Kühler und schaue zu, wie die Scheiben langsam auftauen. Dann lasse ich meine Gedanken schweifen und versuche, all die Erlebnisse irgendwie zu verarbeiten.
»Zara?«
Nick steht neben der offenen Fahrertür. Der Schnee färbt seine Haare weiß und bleibt an seinen Augenbrauen hängen. Ein liebevoller Ausdruck liegt in seinem Blick.
»Kommst du?«
»Ja.«
Bettys Haus ist nur ein paar Meter weit weg. Ich könnte reinrennen, die Tür zuschlagen, sie verschließen und mich verstecken.
Ich könnte mich hinkauern.
Ich könnte aufhören, mich zu bewegen.
Stattdessen setze ich mich ins Auto.
»Gut«, sage ich und knalle die Tür zu. »Fahren wir.«
Im Mini ist es schon warm, weil der Motor die ganze Zeit gelaufen ist. Ich seufze behaglich und lächle. Hier könnte ich ewig sitzen, es ist gemütlich, sicher und warm, so wie Nick. Ich fasse nach unten und berühre das Fell, das ich neulich im Fußraum entdeckt habe. Es gehört Nick. Ich werfe einen Blick zu ihm hinüber, um sicherzustellen, dass er nicht schaut, und stecke es heimlich in die Tasche. Was immer geschieht – es wird mich an ihn erinnern.
Aber was soll schon geschehen. Oder?
Nick nimmt meine Hand, und es ist, als würde er meine Gedanken lesen. Können Werwölfe das?
»Alles wird gut, Zara.«
»Ich weiß«, schnüffle ich. Meine Nase ist ganz verstopft. »Mir geht’s gut.«
Er drückt meine Hand und lässt sie dann los, was total unfair ist. Ich mag es, wenn seine Hand auf meiner liegt.
»Bei diesem Wetter brauche ich beide Hände zum Fahren«, erklärt er.
Seine Finger sind kräftig und lang und unbehaart.
»Nicht zu fassen, dass aus ihnen Pfoten werden.«