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Reden. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. Nein, dachte Carson. Sie wollte nicht reden. Das führte lediglich in eine Richtung, die sie nicht einschlagen mochte. »Ja.«

Mit seiner freien Hand umschloss er ihre Finger und zog sie Richtung Wohnzimmer. Selbst mit den Cowboystiefeln machte er kein Geräusch. Er bewegte sich geschmeidig wie ein Tänzer. Doch vorhin, beim Restaurant, hatten sich seine geschmeidigen Bewegungen in eine tödliche Bedrohung verwandelt. Nein. Das stimmte nicht. Es war nichts passiert. Gar nichts.

Das Wohnzimmer war gemütlich und einladend. Das mit grünem Samt bezogene Sofa wirkte bequem. Dazu gab es zwei passende Sessel und einen Lehnstuhl aus schwarzem Leder.

Nikodemus stellte sein Bier auf den Tisch, zog sein Handy aus der hinteren Hosentasche und legte es daneben, dann setzte er sich lässig hin.

Carson entdeckte auf dem Tischchen neben dem Flachbildfernseher ein Wii-Set samt Fernbedienung und Nunchucks. Das Gerät war ihr vertraut, weil Magellans Männer ständig damit spielten.

Nikodemus hatte einen Ellbogen auf das hochgezogene Knie gestützt. Wieder fielen Carson seine schlanken Finger auf. Und die langen Beine. Die schmalen Hüften. Und die ausgeprägten Muskeln. So nah, wie sie vor ihm stand, waren sie nicht zu übersehen. Kein Wunder, dass er keine Angst vor Kynan hatte.

»Du nimmst den Sessel«, sagte er. »Du solltest nicht zu bequem sitzen.«

»Okay.« Ihr Mund wurde trocken. Sie stellte ihre Tasche auf den Boden und setzte sich. Der Sessel war wirklich unbequem. Carson blickte zur Decke hinauf. Ganz schwach funkelten dort Bronzesterne im Putz, liefen, zu einem Muster geordnet, hin zu einer Wand und an dieser hinab zu einem kupfernen Krug, der so platziert war, dass es schien, als fielen die Sterne hinein. Oder vielleicht stiegen sie auch aus ihm auf.

»Ich bin bereit, dir eine Chance zu geben und dich nicht von vornherein zu verurteilen.« Nikodemus’ Stimme klang nun ganz ernst. Sein freundliches Lächeln war verschwunden.

Es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, dass er ihr nicht vertrauen könnte. Die Vorstellung, dass sie nicht die Einzige war, die jedes Recht hatte, misstrauisch zu sein, irritierte sie. Was hatte sie sonst noch übersehen?

»Für was hältst du mich?«, wollte sie wissen.

»Für eine grünäugige Hexe, die beinahe von Kynan Aijan ins Jenseits befördert worden wäre.«

Sie umklammerte die Sessellehnen. »Du kennst ihn.«

»Magellan lässt Kynan immer dann auf jemanden los, wenn er ernsthaften Schaden anrichten will.«

»Kynan hasst mich. Das war schon immer so.«

»Ja. Natürlich. Du bist eine Hexe.«

Carson blinzelte.

»Ich werde dich nicht töten, wenn es das ist, was du denkst. Ich will lediglich die Wahrheit herausfinden.«

»Ich habe dir die Wahrheit gesagt.«

»Nein. Jedenfalls nicht die ganze Wahrheit.« Er legte den Kopf schief. »Wie wäre es, wenn du mir alles erzählen würdest? Von dem Moment an, als du zum letzten Mal etwas Normales‹ getan hast, bis jetzt.«

Carson kauerte sich in dem Sessel zusammen, doch auch damit konnte sie nicht die Kälte vertreiben, die ihr in die Knochen kroch. »Nichts in meinem Leben ist normal.«

»Nun ja, was für dich normal war.«

»Ich war in meinem Zimmer.«

»Wann?«

»Gestern. Ich hatte Kopfschmerzen. Ziemlich schlimme. Ich wollte meine Medizin aufschrauben, doch meine Hände zitterten so sehr, dass es mir nicht gelang. Mir war schrecklich übel.« Sie strich sich über die Stirn. »Und ich konnte auch nicht besonders gut sehen. Magellan mag es nicht, wenn ich seine Assistenten belästige, und der Koch hatte seinen freien Tag. Also habe ich mich auf die Suche nach Magellan gemacht.«

Sie war die Treppe hinuntergegangen, wie von Sinnen. Weinend vor Schmerzen und weil sie Angst hatte, dass sie an einer tödlichen Erkrankung leiden könnte. Und dann, in dem Moment, als sie die untere Tür geöffnet hatte, hatte jegliche Normalität ein abruptes Ende gefunden.

»Ich bin nicht verrückt«, flüsterte sie. »Ich weiß, was ich gesehen habe.« Und ob sie das wusste! Es hatte sich in ihren Verstand eingebrannt. »Ich weiß, was ich gesehen habe.«

»Du hast Magellan gesehen. Und was noch?«

Sie hielt ihren Blick auf sein Gesicht gerichtet, als sie antwortete. Wie viel sie ihm anvertrauen würde, hing davon ab, was sie in seinen Augen las. »Er stand da, über einen Mann gebeugt.«

»Was passierte dann?«

Carson setzte sich auf ihre Hände, damit Nikodemus nicht bemerkte, wie sehr sie zitterten. »Er hielt ein steinernes Messer in der Hand.« Solange sie an dieses Messer dachte, brauchte sie nicht an andere, viel schlimmere Dinge zu denken. »Laut Katalog stammt es aus der Thar, der Großen Indischen Wüste. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es gestohlen wurde. Von einer Ausgrabung.« Sie holte tief Luft. »Magellan stach mit dem Messer auf ihn ein.«

»Und?« Das klang nicht ungläubig. Nicht betroffen. Und auch nicht mitleidig.

Erneut sprang das Entsetzen sie an, als wäre sie gerade erst in jenen Raum marschiert und stünde dort, jemanden anstarrend, den sie kannte und dessen Körper dennoch irgendwie anders wirkte. Nicht mehr menschlich. Und genau das war der springende Punkt, oder?

Carson zwang sich, wieder ruhiger zu werden. Sein Körper hatte nicht menschlich gewirkt. Der emotionale Aufruhr dieser Nacht hatte dazu geführt, dass sie nicht mehr beurteilen konnte, was sie tatsächlich erlebt hatte. In ihrer Erinnerung verlieh sie dem, was sie gesehen hatte, eine gewisse Monstrosität, weil das, was sich ereignet hatte, tatsächlich monströs war. Und so erzählte sie von dem, was geschehen war.

»Niemand zeigt gegenüber Magellan Ungehorsam.« Carson war kein Mensch, der einfach drauflosplapperte. Stets redete sie mit Bedacht, es war ihr wichtig, die Worte sorgsam auszuwählen. Besonders jetzt. »Er würde niemals seine Stimme erheben, doch jeder weiß, wann er verärgert ist. Es ist schrecklich.«

Sie war ganz nach vorn auf die Sesselkante gerutscht, beugte sich nun vor, die Knie zusammengepresst. »Er war wütend auf mich. Von mir wurde erwartet, dass ich seine Assistenten nicht belästigte. Und es wurde erwartet, dass ich auch ihn nicht belästigte, wenn er mit seiner Arbeit beschäftigt war. Bis dahin hatte ich das auch noch nie getan. Aber ich brauchte so dringend Hilfe.«

Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Er war wütender, als ich ihn je zuvor erlebt hatte. Tibold war bei ihm. Er führte mich aus dem Raum.« Sie schauderte allein bei der Erinnerung daran. Und fand es seltsam, wie sehr es sie erleichterte, nun davon zu erzählen. »Er öffnete das Fläschchen für mich. Doch als er gegangen war, hatte ich plötzlich Angst, die Pillen zu nehmen.« Sie blickte Nikodemus an, um zu sehen, wie er reagierte. Sein Gesicht verriet nichts, blieb ohne jede Regung. »Weil ich mit tödlicher Sicherheit wusste, dass ich nicht mehr sicher war. Ich konnte nicht länger bleiben. Deshalb bin ich weggerannt.« Zitternd atmete sie ein. »Tja, und dann bin ich hier gelandet.«

»Und hast nichts mitgenommen außer der Kleidung, die du anhast.«

»Ja. Genau.« Sie blickte an sich herab. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch nie eine Jeans getragen. »Aber das sind gar nicht meine Sachen.« Sie legte ihre Hände in den Schoß und verschränkte sie. »Ich wusste, dass er mich suchen würde, deshalb wollte ich mein Äußeres verändern. Magellan mag es nicht, Dinge zu … zu verlieren. Und dann bist du mir gefolgt.«

Nikodemus, der Mann, der den gleichen Namen wie ein fünftausend Jahre alter Dämon trug, nickte. Ihre Blicke trafen sich, und sie spürte eine merkwürdige Anziehungskraft, als zöge Nikodemus mit einem unsichtbaren Band an ihr. Doch sie wagte es nicht, ihn danach zu fragen. Sie wollte nicht laut aussprechen, was in ihrem Kopf vorging.

»Nun ja, wenn ich sagen müsste, wer denn nun verrückt geworden sei, dann würde ich auf mich tippen.«

»Du bist nicht verrückt.«

Vor ihrem inneren Auge sah sie erneut Magellan mit seinen von Blut geröteten Händen, und sie spürte immer noch die Kühle des Raums. Sie sah den Wahnsinn in Magellans Augen, und sie sah auch wieder dieses Wesen vor sich, das im einen Moment ein Mensch war und gleich darauf etwas Nicht-Menschliches und dann tot. Sie spürte ein weiteres Mal, wie das Leben aus ihm schwand. Aus ihm – dem Monster. Nichts würde jemals diese Erinnerungen auslöschen können. Nicht einmal, wenn sie fünftausend Jahre alt werden würde.

»Das ist alles?«

»Ja.«

»Ganz sicher?«

Sie schaute weg, dann wieder zu ihm hin. »Ja.« Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie kaum sprechen konnte, und ihre Worte waren nicht mehr als ein Flüstern. »Weißt du, was mir immer wieder durch den Kopf geht?«, sagte sie. »Wozu würde es dich machen, Nikodemus, wenn all die Legenden über Wüstendämonen wahr wären?«

Er schien nachzudenken. »Zu einem Warlord ohne spezielle Aufgaben?«

Carson musterte ihn, doch sie hätte nicht sagen können, ob er scherzte oder nicht. Machte sie sich jetzt selbst verrückt?

Nikodemus zuckte mit den Schultern. »Nun ja, zu einer dieser Kreaturen, die Magellan unbedingt ins Jenseits befördern will«, fügte er hinzu.

»Kommst du aus China? Aber dann hättest du dunkle Augen.« Sie blickte in seine, die grau-blau waren.

»Wieso?«, fragte er. »Woher willst du das wissen? Falls es tatsächlich so etwas wie Dämonen gibt, warum sollten sie dann die gleichen rassischen und herkunftsbedingten Merkmale wie die Menschen zeigen?«

»Warum sollten sie überhaupt wie Menschen aussehen?«

Wieder neigte er den Kopf zur Seite. »Gute Frage, Carson.«

»Ich finde, du siehst ganz normal aus«, erwiderte sie. »Wie ein ganz normaler Durchschnittsmann.« Ihre Stimme drohte ihr plötzlich zu versagen, und ohne zu fragen, nahm sie schnell einen Schluck aus Nikodemus’ Flasche. Das Bier war eiskalt.

»Ehrlich, bis jetzt war ich überzeugt, über dem Durchschnitt zu liegen«, meinte er. »Aber auch das ist ziemlich normal, oder?« Er stützte seinen Ellenbogen auf. »Also gut, nehmen wir einmal an, ich wäre tatsächlich einer dieser Wüstendämonen.«

Sein Lächeln schickte einen Schauder über ihren Rücken. Er war kein normaler Mann. Das war ihr klar, doch das wollte sie lieber nicht laut sagen. »Okay.«

»Weißt du, was ich dann tun würde?«

»Was?«, flüsterte sie.

»Ich würde in deinen Verstand eindringen. Deinen Willen beugen. Nur ein wenig. Gerade so viel, dass ich erkennen könnte, was ich wissen muss. Dann wüsste ich zumindest sicher, was du bist.«

Beide schwiegen sie eine Weile. Carson verspürte einen Druck an ihrer Stirn, und sie warf den Kopf zurück, spannte die Nackenmuskeln an.

»Könnte ein Dämon das tatsächlich herausfinden?«, wollte sie wissen.

»O ja«, sagte er sanft und liebevoll.

»Und wie würde sich das anfühlen?«

»Es würde nicht lange dauern«, entgegnete er. »Es wäre nicht angenehm, doch im Eilverfahren wäre es schnell vorbei. Man kann sich dabei auch Zeit lassen, doch dann dauert auch der für dich unangenehme Teil länger. Ich beherrsche beides. Du hast die Wahl: langsam oder schnell?«

»Schnell«, erwiderte sie kaum hörbar. Ihr Mund war ganz trocken.

»Sicher?«

Carson nickte. Das ist verrückt, dachte sie. Es ist verrückt, so zu tun, als könnte das wirklich passieren.

Es fühlte sich an, als klopfte jemand an ihre Stirn, gleich darauf verspürte sie einen unglaublichen Druck. Sie sah Sterne hinter ihren Augen, und dann war da jemand in ihrem Kopf. Ihr Instinkt befahl ihr, dagegen anzukämpfen, und sie tat es. Mit aller Kraft. Doch dieser Eindringling verstärkte lediglich seine Anstrengungen. Seine Kraft brannte hinter ihren Augen, in ihrem gesamten Schädel. Feuer schien ihre Kehle zu versengen, ihr Blut unerträglich zu erhitzen.

»Süße«, sagte er, und seine Stimme klang, als käme sie aus weiter Ferne. »Wenn du mich weiterhin abwehrst, wird es nur noch schlimmer. Und ich will dir nicht wehtun.« Sein Ton wurde sanfter. »Bitte!«

Carson öffnete die Augen. Nikodemus wirkte traurig. Sie sah, wie seine Lippen erneut das Wort »bitte« formten. Wie sollte es denn noch schlimmer werden? Und obwohl ihr Verstand heftig protestierte, hörte sie auf, gegen Nikodemus anzukämpfen.

Sie spürte Erleichterung – nicht ihre eigene –, dann fuhr er mit seiner Erkundung fort, übernahm die Kontrolle, zerlegte ihre Gedanken, auf der Suche nach etwas, was ihm Betrug verraten könnte.

Carson glaubte zu ersticken, sie bekam keine Luft mehr. Ihr Kopf brannte.

Er drang in tiefere Schichten vor, mit unglaublicher Geschwindigkeit. Schneller, als sie hätte reagieren können, wäre sie dazu fähig gewesen. Erinnerungen rasten durch ihren Verstand, Bilder, die sie nicht kontrollieren konnte, Gefühle, aus dem Zusammenhang gerissen. Alles wurde hervorgezerrt, untersucht und wieder abgelegt. So rasch, dass es sie schwindelig machte und ihr Übelkeit verursachte. In ihren Ohren rauschte es, ein wilder Protest gegen diese Missachtung all dessen, was sie zu Carson Philips machte.

Die ganze Zeit über saß Nikodemus auf der Couch, ganz still, immer noch auf seinen Ellbogen gestützt. Silbernes Feuer flackerte hinter seinen Augen.

Merkwürdige Empfindungen zerbarsten in ihr, versengten sie.

»Dein Leben ist eine einzige Katastrophe«, hörte sie Nikodemus sagen.