Sechstes Kapitel
Auf dem Rückweg fuhren wir in Manderscheid die Alte Molkerei an, und Claudia machte uns Flammkuchen. Emma hatte erklärt: »Ich gebe eine Runde aus.«
Peter lernte das Wort Flammkuchen und fand Gefallen daran. »Flammkuchen gut!« sagte er.
Als Emma bezahlen wollte, geschah etwas Seltsames. Sie hatte, wahrscheinlich anläßlich der Renovierung der neuen Wohnung an der Mosel, sehr viel Bargeld bei sich.
Sie zog ein Bündel Hunderter heraus, das noch mit einer Banderole umwickelt war.
»Das Jessica!« sagte Peter. Er sprach es Schessikka aus, und er tippte mit dem Zeigefinger auf das Geldbündel.
»Jessica Luxemburg?« fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Jessica Quiddelbach.«
»Jessica Irmchen?« fragte Rodenstock.
»Jessica Irmchen.« Er tippte erneut auf das Geldbündel.
»Ich muß dringend in Irmchens Wohnung«, sagte ich. »Ist das möglich?«
»Wenn wir versprechen, den Kollegen jede Erkenntnis mitzuteilen, ja«, nickte Rodenstock. »Peter hilft uns am meisten, aber kein Richter würde ihn als Zeugen akzeptieren können.« Während er das sagte, hatte er schon sein Handy aus der Tasche genommen und wählte. Er sagte knapp: »Rodenstock hier, ich brauche euren Kwiatkowski.« Und dann nach einer Weile: »Du wirst deine Stoßrichtung verändern müssen. Ich sage dir, warum. Und ich brauche den Schlüssel zu Irmchens Wohnung. Kann ich den haben? Und wo ist er? – Gut. Danke. Ich rufe dich an, wenn wir in Quiddelbach sind und Peter abgeladen haben.«
»Alice nackt«, sagte Peter.
Wir brachen auf und waren gegen vier Uhr in Quiddelbach. Nachdem wir Peter abgesetzt hatten, fuhren wir zu dem Haus, in dem Irmchen gewohnt hatte.
Kwiatkowski erwartete uns dort. »Ihr macht mir Spaß«, sagte er muffig. »Solange wir uns auf den Nürburgring konzentrieren konnten, war das ein richtig schönes Familienunternehmen. Jetzt geht es in die internationale Wirtschaft, wie ich annehme.«
»So kann man es bezeichnen«, nickte ich.
Er schloß die Wohnung auf. »Wonach wollt ihr suchen?«
»Nach 170.000 Mark«, sagte Rodenstock gutgelaunt.
»Geklautes Geld?«
»Ja und nein. Auf jeden Fall schwarzes Geld. Habt ihr diese Wohnung gründlich durchsucht?«
»Oh ja«, nickte Kwiatkowski. »Sehr gründlich. Aber nicht nach Bargeld.«
»Na gut, dann laß man die Profis ran. Setzt euch in die Sessel da und guckt uns zu, wie man sowas macht.«
Dinah, Emma und Kwiatkowski setzten sich, und Rodenstock und ich teilten die Wohnung zwischen uns auf.
»Such an den Orten, wo eine Frau etwas verstecken würde«, mahnte der Kriminalrat a. D.
»Ich bin keine Frau«, erwiderte ich.
»Dann tu so.«
In der ersten Stunde fanden wir nichts.
Emma murmelte leicht säuerlich: »Zuschauer kommen hier nicht auf ihre Kosten.«
»Ich würde es in der Küche verstecken«, überlegte Dinah.
»In der Küche ist es nicht«, sagte Rodenstock.
»Ich würde es trotzdem da verstecken«, beharrte meine Gefährtin. »Vielleicht auch im Badezimmer.«
»Im Badezimmer ist nichts«, sagte ich.
»Bleiben wir bei der Küche«, nickte Emma.
»Da ist aber nichts«, brauste Rodenstock auf.
»Nun laß sie doch mal.« Kwiatkowskis Tonfall war gemütlich. »Also, wo, gnädige Frau, würden Sie es denn in der Küche verstecken?«
»Na ja, da, wo man normalerweise nichts vermutet. Ist das eine Einbauküche?«
»Ja«, nickte Rodenstock. »Teuer. Fast alles Edelstahl.«
Emma überlegte einen Augenblick und sah Dinah dabei an, als erwarte sie Schützenhilfe. »Dunstabzugshaube«, sagte sie dann. »Ja, zum Beispiel da.«
Rodenstock drehte sich auf den Fersen und stolzierte in die Küche. Es gab einige scheppernde Laute.
»Das habe ich übersehen«, sagte er, als er in das Zimmer zurückkam. Er trug einen dunkelbraunen Schuhkarton und stellte ihn auf den Tisch.
»Es ist wie Weihnachten«, bemerkte Kwiatkowski ironisch. Er wandte sich an Emma: »Sie sind darauf gekommen, Sie dürfen die Überraschung aufmachen.«
Irmchen hatte ein rotes Band um den Karton gewickelt und einfach geknotet. Emma löste den Knoten, öffnete die Schuhschachtel und seufzte: »Halleluja!«
Es waren Geldbündel darin, 170.000 Mark. Und mehrere Zettel im Format DIN-A4.
Auf dem ersten stand: Ich weiß, es geht mich eigentlich nichts an, aber ich glaube, das alles ist nicht legal. Ich fürchte, sie mißbrauchen dich. Laß das sein, weil es alles kaputtmachen würde, wenn sie drauf kommen. Die Unterschrift lautete Walter. Ein Datum gab es nicht.
Dann gab es einen Drei-Seiten-Brief, handgeschrieben von Irmchen an Walter, ebenfalls ohne Datum:
Liebster Walter!
Wir haben nun vor vier Wochen den Entschluß gefaßt zu heiraten. Ich kann das immer noch nicht glauben. Mir ist so, als würde ich träumen. Aber dann denke ich, daß es Wirklichkeit wird, und ich denke auch daran, daß es Zeit wird, Dir einiges zu sagen. Ich will nicht mit Dir vor den Altar treten, ohne ein paar Sachen geklärt zu haben. Damit hinterher nicht jemand kommen kann, der behauptet, ich sei eine Hure. Ich bin eine Hure. Wenigstens soweit, daß ich es für Geld getan habe. Ich denke, daß Du das weißt, ich denke aber auch, daß Du das von mir hören mußt, damit Du weißt, wie ich mich einschätze. Wir haben gesagt, wir krempeln unser Leben um. Du gehst von Deiner Mutter fort, ich gehe von meinem Leben fort. Keine betrunkenen Kerle mehr, die mich anmachen und antatschen und immer etwas wollen und die mich vor allen Leuten nach dem Preis fragen. Es heißt, einmal Hure, immer Hure. Aber ich weiß, daß das falsch ist. Nach ein paar Jahren hat jede Frau das so satt, daß sie nichts lieber machen würde, als abzuhauen und ganz normal zu leben. Aber das ist schwer, denn wenn du deinen Ruf weg hast, dann kommst du nicht mehr raus. Kann sein, daß du Glück hast. Ich habe das Glück, mit Dir. Das ist mein Geschenk an Dich zu unserer Hochzeit: es sind 170.000 DM, Du kannst damit machen, was Du
willst. Ich habe Deinen Brief, daß alles kaputtgehen kann, wenn sie uns draußommen. Aber sie können uns eigentlich nicht draußommen, weil ich ja mit den Sachen nichts zu tun habe. Andy hat gesagt, ich soll ihm den Gefallen tun, und ich habe ihm den Gefallen getan. Jetzt muß ich nächste Woche hingehen und ihm sagen, daß alles aus ist. Im Grunde ist er ein armes Schwein, weil er mit Frauen nicht zurechtkommt und weil er eine unheimlich harte Frau hat, die geldgeil ist, sonst nichts. Ich habe also die letzte Tour gemacht, und Du warst dabei, und ich hob Dir erzählt, wie das gelaufen ist. Na sicher habe ich überlegt, ob ich das Geld irgendwem geben soll. Aber wem? Und weil es hier auch um mein Glück geht, kannst Du es ruhig nehmen und damit machen, was du willst. Ich glaube, daß Andy nicht irgendwen bescheißen will, sondern einfach ein Geschäft macht. Er hat mir zwei Bescheinigungen mitgegeben, weil ich ihn bei der letzten Sitzung hier bei mir gefragt habe, ob auch wirklich alles klar ist. Es ist alles klar. Weil – die Leute haben ihre Sparbücher leergemacht, und die Bankfritzen haben bescheinigt, daß das so ist und daß keine Steuern fehlen werden. Ich hob auch Harro davon eine Kopie gemacht, damit er was in der Hand hat und nicht mit leeren Händen dasteht. Er ist wirklich ein lieber Kerl, und er ist einer von denen, die mir niemals einen Vorwurf gemacht haben, weil ich als Hure gelebt habe. Er hat gesagt, wenn ich in Not gerate, kann ich mich melden. Bei ihm oder bei seiner Frau, das ist egal. Das einzige, was wir wirklich noch machen müssen ist: JONNY LOSWERDEN, EGAL WIE. Ich weiß nicht, wie das gehen soll, aber sicher wird Dir etwas einfallen. Mein Gott, ich liebe Dich so. Nimm das Geld, denn wenn Du überlegst: Es gehört eigentlich keinem, weil keiner davon weiß. Auf ewig Dein Irmchen.
Emma ließ das letzte Blatt sinken und hauchte: »Sie hat ihn wirklich geliebt. Es war wirklich eine richtige Liebesgeschichte, und irgendein Schwein...«
»Ich will die Bescheinigungen.« Kwiatkowski war erregt.
»In den Unterlagen von Harro waren keine Bescheinigungen«, sagte ich. »Nicht eine.«
»Ich lese sie vor«, sagte Dinah und hielt zwei Blätter Papier hoch. »Die erste ist vom 20 Juni 1997 und stammt von einer Volksbank in ... Moment, in Mayen. Da steht: ›Wir bescheinigen Herrn Wenzel Stanicke, uns persönlich seit Jahren bekannt, daß er auf alle seine Ersparnisse die notwendigen Abgaben zahlte und daß er drei Sparbücher im Gesamtwert von 210.000 DM auflöste und sich auszahlen ließ, um sich mit dieser Summe an einem internationalen Konsortium zu beteiligend Mayen. Unterschrift. Die ist unleserlich. Die zweite Bescheinigung ist von einer Sparkasse in Bonn ... Sekunde ... sie hat den gleichen Wortlaut, nur die Summe liegt bei 112.000 Mark. Das Datum ist der 1. August 1997. Die Unterschrift der Bank ist ebenfalls unleserlich.«
Rodenstock grinste mich an. »Falls du etwas ahnst, gebe ich dir recht. Morgen geht's zuallererst nach Mayen.«
»Auf was läuft das hinaus?« fragte Kwiatkowski.
»Wir sagen es dir morgen mittag, sobald wir etwas wissen«, erwiderte Rodenstock. »Was ist mit diesem Jonny?«
»Zyankali«, nickte Kwiatkowski. »Ihr habt wohl kaum etwas anderes erwartet. Der Todeszeitpunkt dürfte in etwa mit dem von Irmchen identisch sein.«
»Was war dieser Jonny für ein Mann?« fragte Dinah.
»Die Antwort ist schwierig«, erwiderte Kwiatkowski. »Er war zuletzt als Kraftfahrer bei einer Firma beschäftigt, die Vulkangestein abbaut und die Bimsindustrie beliefert. Das war vor zwei Jahren. Seine Kollegen schildern ihn als einen ausgesprochen fröhlichen Menschen, als sehr guten Kumpel. Er war geschieden, hatte aus dieser Ehe zwei Kinder und ist nach der Scheidung ganz offensichtlich aus der Bahn geraten. Er nahm Jobs an, die er nach ein paar Tagen wieder schmiß, weil er sich nicht unterordnen konnte und sofort Krach mit dem Chef bekam. Er wohnte im Haus seiner Eltern in Rieden, beide verstorben. Er verkam, lebte in einem Raum, in dem er aß, Fernsehen schaute, schlief und so weiter. Die Kripo ermittelte vor drei Jahren gegen ihn, eine Nachbarin behauptete, er habe sich ihrer Tochter unsittlich genähert. Auf gut deutsch hat er sein Geschlechtsteil streicheln lassen. Das angestrengte Verfahren wurde eingestellt, die Nachforschungen ergaben kein klares Bild, wie üblich fehlten Zeugen. Dann, vor zwei Jahren, schien er auf einen grünen Zweig zu kommen. Das war die Periode, in der Irmchen die Kneipe in Rieden betrieb. Er hatte Arbeit als Lkw-Fahrer gefunden. Er war Abend für Abend bei Irmchen und trug nahezu all sein Geld dorthin. Es scheint gesichert, daß er mit Irmchen schlief, ob er dafür bezahlt hat, wissen wir nicht. Sicher ist, daß er Irmchen schlug und sie eine panische Angst vor ihm entwickelte. Dann ging bekanntlich die Kneipe ein, weil der Inhaber plötzlich verstarb, Irmchen kam hierher. Und schon begann das Techtelmechtel mit Andreas von Schöntann. Der schickte Jonny eine Truppe auf den Hals. Sie mischten Jonny auf, er lag vierzehn Tage im Krankenhaus ...«
»Ist das bewiesen, daß Andreas von Schöntann die Schläger schickte?« fragte Emma schnell.
»Nein«, gab Kwiatkowski widerwillig zu.
»Hätte mich auch gewundert«, murmelte Dinah. »Wir schätzen diesen von Schöntann nicht so ein. Der würde sich niemals mit Schlägern in einer dunklen Ecke treffen.«
»Aber er kann eine solche Aktion anstoßen«, sagte Rodenstock.
»Braucht er gar nicht«, widersprach Emma scharf. »Wenn seine Umgebung merkt, daß irgendwer nervt, wird er stillschweigend abgeräumt. Das geschieht ganz automatisch.«
»Jedenfalls tauchte Jonny dann vor ein paar Monaten wieder auf. Er kam hierher. Und da muß er spitz bekommen haben, daß hier etwas lief. Tatsache ist, daß er versuchte, der Zuhälter von Irmchen zu werden. Er nannte das Manager. Wahrscheinlich hockte er in dem Zelt, um dieses Haus unter Kontrolle zu halten.« Kwiatkowski atmete explosionsartig aus. »Meiner Ansicht nach hat Jonny mit den Morden nichts zu tun.« Er seufzte: »Mich macht fertig, daß ich nicht genügend Leute habe. Ich habe ganze drei, und das ist schon verdammt viel. Und die haben genug zu tun. Daher möchte ich dich bitten, Rodenstock, diese komische Geschichte mit den Sparbüchern heute noch zu klären.« Er fühlte sich in seiner Haut nicht wohl. »Wenn die Bevölkerung wüßte, daß eine sogenannte Mordkommission heutzutage auch nur noch ein Torso ist, würde sie wahrscheinlich aufjaulen.«
»Klar, tue ich das für dich«, nickte Rodenstock sofort. »Wir sollten aber trotzdem erst einmal überlegen, wen der Mörder denn noch töten müßte, um sicher zu sein, daß es gefährliche Zeugen nicht mehr gibt.«
»Peter«, sagte Dinah und Emma wie aus einem Mund.
»Der ist doch kein Zeuge«, wandte Kwiatkowski ein.
»Ist er doch«, beharrte Dinah. »Er kann zumindest mitteilen, wen er in bestimmten Zusammenhängen gesehen hat. Also kann er durchaus von großem Nutzen sein oder jemandem enorm schaden.«
»Er ist ein liebenswertes Kind, mehr nicht.« Für Rodenstock stand fest, daß Peter ausfiel.
»Vom Standpunkt der Justiz aus ist Peter kein Zeuge«, nickte Emma. »Aber dieser Fall ist rundum irrational. Es war doch völlig idiotisch, diesen Jonny zu töten ...«
»Nicht unbedingt!« widersprach ich. »Nehmen wir an, er hat den Mord an Irmchen beobachtet. Dann war es logisch, Jonny zu töten.«
»Es war nicht logisch, Walter Sirl von seinem Motorrad zu schießen!« brauste Dinah auf. »Warum sollte Peter nicht als gefährlich eingestuft werden?«
»Na schön, ich schaue nach. Er wird in der Scheune sitzen und vom nächsten Eis träumen.« Ich stand auf und ging hinaus.
Hinter mir murmelte Rodenstock: »Ich begleite ihn. Und wartet bitte, bis das geklärt ist.«
Mir fiel noch etwas ein. »Ich glaube immer mehr, daß Harro, ohne auch nur im geringsten die Gefahr zu ahnen, mit seinem Mörder verabredet war. Wir brauchen die Gästeliste des Dorint von diesem Tag. Und wir brauchen nun erst recht einen einigermaßen verläßlichen Stammgast aus Irmchens Bude hier.«
»Geht klar. Ich erledige das«, nickte Kwiatkowski.
Auf dem Weg zu Peter schwiegen wir. Rodenstock ging in die Scheune und kam sofort zurück. »Da ist er nicht.«
»Er war hier«, sagte ich und deutete auf die zwei Stufen vor dem Hauseingang. Da waren dunkle Flecken, noch nicht getrocknet. »Das ist Blut.«
»Verdammt noch mal«, stöhnte Rodenstock wütend.
Die Haustür war offen. Auch im Flur gab es viele Blutflecken. Sie führten zur Treppe, endeten dann aber auf der fünften Stufe. In der Küche war niemand, aber auf dem Boden waren Flecke, besonders viele vor dem Tisch.
»Lieber Gott«, sagte Rodenstock tonlos, »mach, daß er sich nur die Nase gestoßen hat.«
Wir durchsuchten das Haus, wir schauten in jede Ecke. Peter war nirgends. Dann begannen wir zu rufen, gaben aber bald auf, weil sich nichts rührte.
»Wo läuft so ein Kind hin, wenn es in Gefahr gerät?« fragte er.
»In die Scheune«, sagte ich. »Aber da ist er nicht. Also in den Wald dahinter.«
»Er kennt sich aus. Wenn er fliehen konnte, werden wir ihn nicht finden.« Rodenstock sah die kleine Straße entlang in Richtung Quiddelbach. »Vielleicht wissen die Leute in dem Haus dahinten etwas.«
Ich setzte mich in den Wagen und fuhr dorthin. Im Vorgarten schnitt ein alter Mann ein winziges, handtuchgroßes Rasenstück mit einer Grasschere.
»Haben Sie Peter gesehen?« fragte ich.
»Heute nachmittag. Er war zu Hause.«
»Ist ein Auto gekommen? Irgendwelche Fremden?«
»Nicht, daß ich wüßte.« Sein Gesicht war steinalt, seine Hände waren knochig. »Nein, niemand. Auch keinen, den ich kenne. Ich bin den ganzen Nachmittag hier im Garten gewesen, ich hätte das gesehen. Wieso? Ist er weg?«
»Ja, er ist weg. Und da sind Blutstropfen im Eingang und auf dem Flur.«
»Das ist ja komisch«, sagte der Mann erschrocken. Er reckte sich hoch und legte die Schere auf einen Pfahl des Gartenzauns.
»Kennen Sie Peter gut?«
»Na ja, er ist schließlich mein Nachbar. Manchmal ißt er bei mir.«
»Nehmen wir an, jemand hat ihn geschlagen, er konnte aber weglaufen. Wo würde er dann sein?«
»In der Scheune.«
»Da ist er aber nicht.«
»Dann weiß ich es auch nicht. Vielleicht sollten wir die Jungs von der Feuerwehr anrufen, daß die ihn suchen? Ist ja nicht mehr sicher hier. Erst haben sie eine Frau umgebracht. Und dann einen Mann, der im Wald gezeltet hat. Ist eine elende Zeit, ist das. Ich geh mal mit.«
Der Nachbar stieg zu mir ins Auto, und wir fuhren zu Rodenstock zurück, der vor dem Wohnhaus stand.
Der alte Mann kletterte aus dem Wagen und rief: »Pitter, kumm ens.«
Nichts rührte sich. Der Alte öffnete die Scheunentür und wiederholte seine Worte. Dann winkte er uns.
Die Scheune war recht groß. Drinnen stand ein alter, blaulackierter Lanz, ein richtig antikes Stück. Daneben eine Egge, ein Heuwender, ein alter Pflug, eine Sämaschine – alles im besten Rost.
Der Alte sagte etwas zu laut: »Der Peter ist nicht da.« Dabei deutete er auf einen Haufen alter, viereckiger, kleiner Heuballen, der sicherlich vier Meter hoch bis zur Decke getürmt war.
»Da kann man nichts machen«, sagte der Alte und bedeutete uns, mit ihm hinauszugehen. Er schloß die Tür hinter sich.
»Es ist so«, erzählte er leise. »Das Heu ist seit Jahren da drin. Peter hat sowas wie einen Fuchsbau draus gebaut. Und ich wette, er steckt da drin. Aber wir kriegen ihn nicht da raus. Das kenne ich.«
»Woher kennen Sie das?« fragte Rodenstock.
»Von der Kirmes vor drei Jahren«, sagte der Mann. »Da hat ihn ein Betrunkener geschlagen, einer aus Virneburg. Peter hat sich im Heu verkrochen, und wir haben ihn nicht gefunden. Es hat Tage gedauert, bis er wieder rauskam. Viele Tage. Ich wette, er steckt da drin. Er hat da auch immer was zu essen. Und Kerzen hat er auch ...«
»Im Heu?« fragte ich entsetzt.
Er grinste matt. »Keine Bange, Peter kann damit umgehen.« Er seufzte. »Man müßte wissen, was passiert ist.«
»Es ist keine Schwierigkeit, von hinten an die Scheune und das Wohnhaus heranzukommen?« fragte Rodenstock.
»Keine«, nickte der Alte. »Du kannst irgendwo oben am Berg parken und dann durch die Bäume runterkommen.«
»Haut mal ab, ihr Zwei«, sagte ich. »Ich sehe eine schwache Möglichkeit.«
Ich lief zum Wohnhaus und suchte in der Küche nach der alten Bibel. Ich fand sie nicht, aber ich war zu nervös, sorgsam zu suchen. Ich entdeckte ein altes DIN-A5-Heft, Zeitungsdruck. Von den Kraftfeldern des Lebens stand darauf. Ich nahm es, ging in die Scheune und schloß die Tür hinter mir. Die Sämaschine hatte einen alten verrosteten Sitz. Ich kletterte hinauf und stemmte mich an zwei Metalltritten ab.
Das Licht reichte noch. Auf der ersten Seite befand sich ein kurzer Text aus Malte von Rainer Maria Rilke.
Ich las, ich wollte lesen. Doch erst sagte ich ganz langsam: »Alice nackt.« Dann las ich: »Manchmal gehe ich an kleinen Läden vorbei, in der Rue de Seine etwa. Händler mit Altsachen oder kleine Buchantiquare oder Kupferstichverkäufer mit überfüllten Schaufenstern. Nie tritt jemand bei ihnen ein, sie machen offenbar keine Geschäfte. Sieht man aber hinein, so sitzen sie, sitzen und lesen, unbesorgt; sie sorgen sich nicht um morgen, ängstigen sich nicht um ein Gelingen, haben einen Hund, der vor ihnen sitzt, gut aufgelegt, oder eine Katze, die die Stille noch größer macht, indem sie die Bücherreihen entlangstreicht, als wische sie die Namen von den Rücken. Ach, wenn das genügte: Ich wünschte manchmal, mir so ein volles Schaufenster zu kaufen und mich mit einem Hund dahinterzusetzen für zwanzig Jahre.«
War da etwas? Atmete Peter da? Raschelte da was?
Mach nicht so lange Pause, Baumeister, denn er hat furchtbare Angst. Ich fuhr mit einem Wort von Phil Bosmans fort: »Um ein bißchen glücklich zu sein, ein bißchen Himmel auf Erden zu haben, mußt du dich mit dem Leben versöhnen, mit deinem eigenen Leben, wie es nun einmal ist. Du mußt Frieden machen mit deiner Arbeit, mit den Grenzen deiner Brieftasche, mit deinem Gesicht, das du dir nicht ausgesucht hast. Du mußt Frieden machen mit den Menschen um dich herum ...«
Er war da vor mir, er war todsicher da. Ich hörte Atem, aber ich sah nichts. Auch das Rascheln war nicht mehr zu hören. Ich las weiter.
»... mit den Menschen um dich herum, mit ihren Fehlern und Schwächen. Mit deinem Mann, mit deiner Frau, auch wenn du jetzt vielleicht weißt, daß du nicht den idealen Mann, nicht die ideale Frau getroffen hast. Glaube nicht, daß es so etwas gibt ...« Weil ich Furcht hatte, ich könne Peter verscheuchen, las ich ohne Pause weiter. Ein Wort von Hermann Hesse: »Alle Tage rauscht die Fülle der Welt an uns vorüber; alle Tage blühen Blumen, strahlt das Licht, lacht die Freude. Manchmal trinken wir uns daran dankbar satt, manchmal sind wir müde und verdrießlich und mögen nichts davon wissen; immer aber umgibt uns ein Überfluß des Schönen ...«
»Alice nackt«, sagte er ruhig.
Ich erkannte ihn kaum. Er steckte seinen Kopf aus einem Loch in ungefähr anderthalb Metern Höhe und mühte sich, mich anzusehen. Beide Augen waren zugeschwollen, zugeschlagen, das Kinn war blutverkrustet, und das Haar lag wie ein Helm in seiner Stirn, glänzte wie Lack.
»Peter wehgetan«, sagte ich so gelassen wie möglich.
»Aua«, sagte das Kind.
»Wer war das?«
»Männer«, sagte das Kind und rührte sich nicht.
»Was für Männer?«
»Männer«, sagte er.
»Okay«, sagte ich. »Männer, böse Männer. Magst du ein Eis essen?«
»Zähne«, sagte er.
»Dann komm doch mal her«, sagte ich, stand ganz langsam auf und kletterte von dem Sitz.
Peter ließ sich nach vorn aus der Wand aus Heu fallen und drehte sich. Er kam zu mir, gab mir die Hand und verbeugte sich.
»Peter weh«, sagte er und faßte sich an den Kopf.
»Wollten sie dich totmachen?« fragte ich.
»Peter weggelaufen, Peter schnell«, sagte er heftig.
Ich drehte vorsichtig sein Gesicht herum. »Mach mal den Mund auf.«
Er machte den Mund auf. Oben fehlten vier Zähne, unten zwei.
»Hast du Schmerzen?«
»Ja. Schmerzen.«
»Wie viele Männer?« Ich zeigte ihm erst zwei Finger, dann drei, dann vier.
»Zwei.«
»Blut abwaschen«, sagte ich.
Er nickte sehr ernsthaft. »Peter dreckig.«
Ich legte ihm den Arm um die Schulter und stieß die Scheunentür auf. »Komm her, laß uns gehen. Du mußt untersucht werden. Zum Arzt.«
»Nicht.«
»Ich gehe mit.«
»Dann«, nickte er. Er setzte jedoch hinzu: »Nicht Krankenhaus!«
»Doch Krankenhaus«, sagte ich energisch und überlegte, wieso dieser Junge nicht längst ohnmächtig war. Wahrscheinlich hatte sich Peter in seiner panischen Angst nicht gestattet, das Bewußtsein zu verlieren.
»Peter ganz ruhig. Ich bin ein Freund!« sagte ich.
»Peter ruhig«, sagte er. Dann fiel er um.
Rodenstock und der alte Mann kamen heran.
»Er muß dringend zu einem Arzt«, erklärte ich. »Helft mir mal, ihn ins Auto zu tragen.«
Rodenstock half mir, wir fuhren zur Praxis des Dr. Salchow, der kurzerhand entschied, einen Krankenwagen zu rufen und mit Peter ins Krankenhaus zu fahren.
»Er darf keine Minute allein sein«, sagte ich mahnend, bevor wir uns wieder ins Auto setzten.
»Sie wollten ihn einschüchtern«, mutmaßte Rodenstock.
»Eher nicht«, sagte ich. »Ich glaube, sie wollten ihn schlicht erst verprügeln und dann töten, um uns zu verwirren. Er hatte Glück, er konnte ihnen entwischen. Alles bleibt Theorie, bis wir die erwischen, die es taten. Kennen wir jemanden in Mayen?«
»Kwiatkowski sagte, einer der Bankdirektoren, der Oberboß sozusagen, wohnt in einem Ort namens Kottenheim in der Nähe von Mayen. Wir können nur hoffen, daß er zu Hause ist. Wieso ist plötzlich so viel Verkehr hier?«
»Sonntag findet der Große Preis von Luxemburg statt. Morgen ist Training, Sonntag mittag das Rennen. Dann ist das hier ein Riesennest mit Verrückten. Rund 250.000 Menschen auf wenigen Quadratkilometern. Und mindestens 50.000 saufen sich bis zum Beginn des Rennens die Hucke voll, nur um die Zeit zu vertreiben. Ich habe im Expreß gelesen, daß jemand für ein Teufelsgetränk, irgendeinen Billigkognak mit Cola, eigens eine Pumpe erfunden hat. Der Typ strahlte in die Kamera, daß er für sich und seine Kumpels dreißig Flaschen Kognak hergekarrt hat. Auf die Frage, wie viele Kumpels er denn erwartet, antwortete er: Sechs. Ist das nicht niedlich?«
»Meine Güte, wenn die alle in den Wald pinkeln, geht der an einer Alkoholvergiftung ein. Dann mach schnell, daß wir hier wegkommen.«
Ich fuhr bis Kelberg, dann auf der Hauptkreuzung nach links in Richtung Mayen.
Wir rauschten an dem Ort vorbei und nahmen dann die Abfahrt nach Kottenheim. Rodenstock fragte eine Frau mit Hund nach der Gartenstraße, und schließlich standen wir vor einem Haus, das wie der verzweifelte Versuch aussah, aus einem ganz normalen Kasten eine verspielte, mittelalterliche Burg zu basteln.
»Er heißt Siegfried Hillesheim«, murmelte Rodenstock. »Mach dir die Fingernägel sauber, und sag bitte und danke, wenn du angeredet wirst.«
Die Frau, die die Tür öffnete, war klein, dick und freundlich. »Ja, bitte?«
»Wir hätten gern Herrn Hillesheim gesprochen. Es ist dringend«, spulte Rodenstock ab.
»Moment.« Sie drehte sich herum und verschwand. Nach etwa einer Minute erschien sie wieder. »Mein Mann läßt fragen, in welcher Angelegenheit?«
»Die Morde am Nürburgring«, sagte Rodenstock, als beschreibe er ein Teeservice. »Wir brauchen seine Hilfe.«
»Ach so, die Sache. Tja, da hört man ja den ganzen Tag von. Ich sag's ihm mal.« Sie verschwand wieder.
Als sie erneut erschien, verkündete sie: »Mein Mann sagt, damit hätte er nicht das geringste zu tun, und Sie sollen sich an die Polizei wenden.«
»Das geht aber nicht, Frau Hillesheim. Wir sind quasi die Polizei.«
Sie kniff die Augen zusammen, sie arbeitete. »Sind Sie nun die Polizei oder quasi die Polizei?«
»Wir kommen mit einer Bitte von Kriminaloberkommissar Kwiatkowski von der Mordkommission, die zur Zeit in Adenau an dem Fall arbeitet«, sagte Rodenstock zuvorkommend und höflich. »Außerdem brauchen Sie nicht immer zwischen Ihrem Mann und uns hin- und herzurennen. Sie können ihn auch selbst schicken.«
Das gefiel ihr so sehr, daß sie zu prusten begann: »Ich schick ihn mal raus.«
Der Mann, der dann zur Tür kam, wirkte wie eine seltsame Mischung aus erfolgreichem Manager und Gartenzwerg. Er war klein und rund wie ein Fußball, so breit wie hoch, aber er hatte Augen, die hart wirkten wie Fünfmarkstücke. Er trug die Hose eines unglaublich bunten Trainingsanzugs und darüber ein Unterhemd, das vorne für den Bauch nicht reichte. Dazu Schlappen an den Füßen, die er irgendwo in Mallorca erbeutet haben mußte. Er bellte: »Ja?« und baute sich vor uns auf.
»Mein Name ist Rodenstock«, sagte Rodenstock. »Kriminalrat a. D. Das ist Siggi Baumeister, ein Freund. Herr Kwiatkowski von der Mordkommission schickt uns. Wir wollen Sie nach einem Ihrer Kunden befragen. Der Kunde heißt Wenzel Stanicke. Und er hat ein merkwürdiges Geschäft eingefädelt. Das spielt unter Umständen eine Rolle bei den Morden.«
»Lassen Sie sich von meiner Sekretärin einen Termin geben.« Er lief ein bißchen rot an; vermutlich nahm er jeden Tag Beta-Blocker.
»Nicht so, Herr Hillesheim«, sagte ich. »Es geht um Mord und nicht um einen Kleinkredit. Wenn Sie das lieber mögen, können wir Ihnen auch einen Streifenwagen hinters Haus schicken.«
Er brüllte, er brüllte aus dem Stand ohne Anlauf. »Sie wagen es ...«
»Wenzel Stanicke«, sagte Rodenstock laut. »Herr Hillesheim, uns reichen drei Minuten. Aber die will ich jetzt und hier und nicht über Ihre Scheißsekretärin. Klar? Wenzel Stanicke. Kennen Sie ihn? Natürlich kennen Sie ihn.«
Hillesheim machte den Mund zu, er hatte endlich begriffen, daß das alles gar nicht spaßig war. »Stanicke? Stanicke? Kenne ich, ja.«
»Na, das ist doch schon was«, freute sich Rodenstock. Er hatte diese gemeine Stimme, vor der ich immer Angst habe, wenn er sie aus dem Schrank holt.
»Ich bin nicht richtig gekleidet!« sagte der Bankdirektor.
»Das stimmt«, nickte Rodenstock. »Aber wir brauchen Ihr Hirn und nicht Ihre Krawatten.«
Er wartete einige Sekunden. Als nichts geschah, setzte er hinzu: »Wir können es auch hier zwischen Tür und Angel erledigen.«
»Wie? Ach so. Ja, dann kommen Sie mal.« Der Mann drehte sich und schlappte vor uns her. Es ging durch ein Wohnzimmer der Marke Deutsche Eiche, dann durch eine Glastür auf eine Terrasse mit Blick über ein weites, meist bewaldetes Tal.
»Da sind Stühle«, sagte er und ließ sich in einem Sessel nieder.
Wir nahmen uns zwei Stühle und bauten sie vor ihm auf. Dann setzten wir uns.
Rodenstock erklärte: »Es ist so: Wir haben eine merkwürdige Quittung entdeckt...«
»Martha!« schrie Hillesheim. »Martha!« Und als sie von irgendwoher: »Ja, bitte?« rief, schrie er zurück: »Bring mal Stubbis für die Leutchen hier.«
»Ich trinke keinen Alkohol«, bemerkte ich.
»Wird schon noch«, sagte er unwillig, als habe er es mit einem störrischen Enkel zu tun.
Martha erschien mit dem Bier, und ihr Mann nahm die Flasche, setzte sie nach Eifeler Art an und trank sie zur Hälfte aus. Dann stellte er mit einem harten Knall das Gefäß auf den Tisch, grinste Rodenstock an und forderte: »Also, noch mal mit Gefühl. Was habt ihr für 'ne Quittung?« Irgendwie war er ein Schätzchen.
Rodenstock seufzte und legte die Quittung einfach vor ihn hin.
Er nahm das Papier und schrie schon wieder: »Martha! Martha! Mein Brille!«
Martha kam mit der Brille, blickte ergeben zum Himmel und deponierte sie auf dem Tisch vor ihm.
Interessiert betrachtete er die Bescheinigung. Schließlich warf er sie auf den Tisch zurück, als sei sie schmutzig, und erklärte: »Das habe ich noch nie gesehen. Und das habe ich schon gar nicht unterschrieben.«
Rodenstock hatte wieder diesen gemeinen Unterton. »Kein Mensch hat behauptet, daß Sie das unterschrieben haben. Aber jemand aus Ihrem Haus hat das unterschrieben, oder? Denn das ist offizielles Papier der Bank und gestempelt von der Bank. Also, wer leistete im Namen der Bank die Unterschrift?«
Erst wollte Hillesheim erneut losbrüllen, besann sich aber darauf, daß das auf uns nicht den geringsten Eindruck machen würde. Er beugte sich ruckartig vor und musterte aufmerksam die Signatur. Seine Zungenspitze stahl sich zwischen seinen Lippen hervor. Es war deutlich, daß er jetzt wußte: Er hatte ein massives Problem und er würde es nicht durch Brüllen beseitigen können.
»Das ist nicht meine Unterschrift. Und es ist auch nicht die Unterschrift des Mannes, der in meinem Haus für die entsprechende Abteilung zuständig ist. Es ist überhaupt keine Unterschrift von irgendeinem, der in unserem Haus leitende Funktion hat. Diese Unterschrift kenne ich nicht. Ich schwöre, ich kenne sie nicht.«
»Aber es ist Papier der Bank und ein Stempel der Bank. Sagen Sie, haben Sie über ein Modem Zugang zu Ihrem Computer in der Bank?« Rodenstock fragte das aus reiner Höflichkeit. Daß der Mann von zu Hause aus Zugang zum Bankrechner hatte, war sowieso klar.
»Na sicher«, sagte er. »Aber was soll das? Da kann ich mich doch totsuchen.«
Da hatte er zweifelsfrei recht.
»Wie sieht es mit diesem Kunden aus? Wer ist Wenzel Stanicke?« Rodenstock blieb unerbittlich am Ball.
»Stanicke ist ein guter Mann. Hat einen Betrieb, stellt Holzfenster und Kunststoffenster her. Gut im Markt, guter Mann.«
»Verdammt noch mal!« Rodenstock brüllte los. »Es geht hier um Morde, Sir. Ich habe Sie nicht gefragt, ob dieser Stanicke ein guter Mann ist, sondern was er für ein Mann ist.«
Das Erstaunliche war, daß Hillesheim sofort begriff, daß er augenblicklich einlenkte. »Stanicke ist ein knallharter Geschäftsmann. Dem kann man nichts vormachen, wirklich nichts.«
»Umsatz? Wie hoch?« fragte ich.
»Runde 24 Millionen zur Zeit. Steigt aber, steigt unerbittlich. Hat gerade einen Konkurrenten geschluckt.«
»Gut. Dieser Stanicke kommt also daher mit dieser Bescheinigung Ihres Hauses. Wer könnte sie ihm ausgestellt und unterschrieben haben?«
»Ich weiß es nicht.«
Rodenstock beugte sich vor. »Fragen wir mal anders: Wen aus Ihrem Haus könnte Stanicke dafür bezahlt haben, daß er ihm diesen Wisch ausstellt?«
»Für meine Leute lege ich die Hand ...« Der Bankdirektor sah, daß Rodenstock zum Himmel blickte, und er wußte, daß Rodenstock gleich wieder brüllen würde. Also hielt er inne und murmelte: »Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Gnade ihm Gott, wenn ich den erwische. Ich schicke ihn lebenslang in den Steinbruch.« Dann beugte er sich vor: »Darf ich jetzt mal fragen, woher denn diese gottverdammte Bescheinigung kommt? Woher Sie die haben?«
Rodenstock kaute auf seiner Unterlippe herum. »Dürfen Sie nicht. Noch nicht. Rufen Sie diesen Wenzel Stanicke an. Jetzt. Bestellen Sie ihn hierhin. Sofort. Welchen Grund Sie angeben, ist mir scheißegal. Der Mann muß antanzen. Jetzt!«
»Das kann ich nicht machen«, sagte Hillesheim.
»Das können Sie«, sagte ich. »Und wie Sie das können. Los, machen Sie schon.«
»Stanicke hat einen Ferrari, und er hockt jetzt mit anderen, die auch einen Ferrari haben, in der Sauna. Da störe ich nicht.«
»Geben Sie mir die Telefonnummer«, forderte Rodenstock.
»Nein.«
»Wir fahren hin«, entschied ich. »Ich wollte schon immer mal mit einem reichen Schmerbauch in der Sauna sitzen.«
»Scheiße!« fluchte Hillesheim. »Scheiße! Scheiße! Scheiße! Ich rufe ihn her.« Er stand auf und verschwand und stand nach Sekunden mit einem Handy am Ohr in der Tür zum Wohnzimmer.
»Wenzel? Hillesheim. Du solltest deinen Arsch hochbringen und in zwei Minuten hier sein. Frag nicht, diskutier nicht, komm her.« Dann schaute er das Handy an wie St. Georg den Drachen.
»Das war sehr gut«, lobte Rodenstock. »Wieso nur zwei Minuten?«
»Er ist mein Nachbar«, sagte Hillesheim trocken.
Der Mann kam nicht durch die Haustür, sondern tobte durch den Garten. »Ich will endlich mal meine Ruhe«, schrie er. »Was soll das? Brennt deine Scheißbank?«
»Guten Tag«, sagte Rodenstock. »Bitte, nehmen Sie Platz. Nur eine Frage: Wer hat Ihnen diese Bescheinigung unterschrieben?« Er hielt dem Mann das Blatt hin.
Wenzel Stanicke nahm das Blatt und starrte darauf. Er war ein mächtiger, blonder Mann mit schütterem Haar und der Figur eines Gewichthebers. Er trug einen weißen Bademantel und ähnliche Gummilatschen wie Hillesheim.
Er kapierte sofort. »Bullen?«
»Viel schlimmer«, meinte Hillesheim. »Es geht um die Morde am Ring.«
»Ach ja?« Stanicke wußte nicht, was er sagen sollte. Sein Mund bewegte sich, aber er sprach nicht. Schließlich fragte er förmlich: »Was kann ich für Sie tun?«
»Wenzel, du bist ein Arsch«, sagte Hillesheim tonlos. »Wer hat dir diese Bescheinigung unterschrieben?«
»Na, irgendeiner von deinen Wasserträgern«, antwortete er patzig.
»Herr Stanicke«, sagte Rodenstock, »beantworten Sie bitte die Frage, wer aus der Bank für Sie diese Bescheinigung angefertigt und unterschrieben hat.«
»Florian Basten.«
»Wie bitte?« Hillesheims Kopf ruckte nach vorn, und seine Augen wurden groß und quollen hervor. Dann sackte er zurück. »Das ist ein Lehrling in der Kreditabteilung.«
»Aha«, nickte Rodenstock. »Und was hat Florian dafür bekommen?«
»Nichts«, behauptete Stanicke schnell.
»Das glaube ich Ihnen nicht«, sagte ich freundlich.
Eine Weile herrschte Schweigen.
Hillesheim flüsterte: »Um Gottes willen, mach nicht alles komplizierter.«
»Ich habe ihm ein altes Käfer-Cabrio zum Selbstkostenpreis überlassen.«
»Und vermutlich lag der Selbstkostenpreis bei null«, sagte Rodenstock.
Wenzel Stanicke nickte widerwillig. »Kann man so sagen.«
»Verdammte Scheiße, warum machst du so einen Blödsinn?« schrie Hillesheim. »Das lohnt doch nicht, Junge. Sparbücher auflösen! So ein Scheiß.«
Ich starrte Rodenstock an und Rodenstock mich. Dann mußten wir beide lachen.
Hillesheim und Stanicke waren verblüfft. »Was ist denn?« fragte Hillesheim.
»Lieber Himmel«, sagte Rodenstock. »Ich dachte, Sie hätten das längst kapiert. Der Herr Stanicke hat nie im Leben drei Sparbücher mit 210.000 Mark besessen.«
»Wie bitte?« Die Stimme des Bankdirektors war schrill.
»Er hat auf diese Weise 210.000 DM Schwarzgeld gewaschen. Das Geld war nicht auf Sparbüchern, das Geld hatte er bar im Küchenschrank. Nicht wahr, Herr Stanicke? Und leugnen Sie nicht. Wir kennen nämlich den Empfänger.«
Stanicke nickte. »Aber das ist ein minderschweres Wirtschaftsvergehen. Ich zahle eine angemessene Buße, und das war es dann. Und nun, meine Herren, muß ich zurück zu meinen Gästen.« Er drehte sich herum und wollte an Rodenstock vorbei auf den Rasen zurück.
Gefährlich ruhig sagte Rodenstock: »Bleiben Sie noch ein paar Minuten. Es gibt vier Tote, Herr Stanicke.«
»Mit denen habe ich nichts zu tun.«
»Können Sie das beweisen?«
»Lecken Sie mich doch am Arsch!« schrie Stanicke.
Dann passierte es, und selbst drei Wochen später konnte ich nicht erzählen, was Rodenstock getan hatte. Er war einfach zu schnell: Plötzlich lag Stanicke flach auf dem Bauch, Rodenstock zog ihn an dem Bademantel hoch, und auf wundersame Weise begann der Mann plötzlich in Tischhöhe in der Luft zu liegen. Als er auf die Fliesen knallte, gab es ein ganz häßliches Geräusch.
»Nun machen Sie mich doch nicht wütend, Männeken!« sagte Rodenstock in die Stille. »Setzen Sie sich da auf den Stuhl und reden Sie, wenn man Sie fragt.«
Hillesheim brachte mühsam atmend ein: »Das ist rohe Gewalt ist das!«
»Aber gekonnt«, sagte ich begeistert. »Herr Stanicke, würden Sie jetzt so freundlich sein zu berichten, wie das alles abgelaufen ist? Und halten Sie sich nicht damit auf, etwas zu verschweigen.«
Der Unternehmer sah Rodenstock an und knurrte wütend: »Wenn ich dich in die Finger kriege, alter Bock, bist du nur noch Plissee.«
Rodenstock seufzte: »Behandeln wir uns doch wie zivilisierte Menschen. Also, wie war das mit den 210.000? Aus welchem Zweig Ihres profitablen Unternehmens stammen die?«
Er wollte nicht, überlegte, wie er aus dieser Situation herauskommen würde. Doch dann begriff er, daß seine Situation nicht die des Siegers war: »Eine alte Lieferung Fenster. 600 genormte Dachfenster. Jemand war pleite gegangen, ich hing drauf. Ich habe sie verkauft. Sie waren aus den Büchern schon raus.«
»Weiter«, sagte Rodenstock. »Was passierte dann?«
»Jemand aus dem Ferrari-Club sagte, ich könne das Geld anlegen. Gutes Geschäft. Ich tat ihm den Gefallen und ...«
»Andreas von Schöntann«, nickte ich. »Wissen wir schon.«
»Ich investierte bei ihm. Ich brauchte die Freistellung von der Bank. Das machte der kleine Basten für mich.«
»Wer hat das Geld abgeholt?« fragte ich.
»Irgendeine Tussi von Andy.«
»Tussi heißen die wenigsten«, mahnte Rodenstock.
»Diese Assistentin.«
»Jessica Born.«
»Richtig, die war es. Die knöpft ihm nach dem Pinkeln auch die Hose zu.«
»Was soll eigentlich diese Firma von Schöntann machen?« fragte Rodenstock. »Briketts verkaufen? Oder lebende Krokodile? Oder Luftschlösser?«
»Vermarktung von Zubehör im Bereich Motorsport. Motorrad und Auto«, antwortete Stanicke kühl. »Der Markt wird neu geregelt, da steckt verdammt viel Geld drin.«
»Das müssen Sie erläutern«, sagte ich. »Wir sind vom zweiten Bildungsweg.«
»Das ist alles nichts Illegales«, stöhnte er wild. »Das ist ein Geschäft auf Euro-Basis. Wer zuerst kommt, schöpft ab. Schöntann mag ja ein Arschloch sein, aber in dieser Hinsicht ist er ein Cleverle.«
»Ich habe Sie nicht nach der theoretischen Unterfütterung gefragt«, unterbrach ich ihn. »Was für eine Firma? Auf welchem Markt? Ab wann? Mit welchen konkreten Artikeln?«
»Lassen Sie sich das von Andy erklären«, muffelte er.
Rodenstock schaute ihn nur an.
»Na gut. Ich will mal für die Analphabeten unter uns die Lage erklären. Eigentlich können Sie das in jeder Zeitung lesen, aber wahrscheinlich können Sie gar nicht lesen.«
Hillesheim grinste.
Rodenstocks Gesicht war vollkommen ausdruckslos.
»Bis 1969 war die Formel 1 ein wilder chaotischer Haufen, nichts war geregelt, jeder sahnte ab, so gut er konnte.
Dann kam Bernie Ecclestone. Er faßte den Haufen zusammen, machte Verträge mit der Zigarettenindustrie, die ganz wild auf Reklame war. Ecclestone wurde König und nannte die Formel 1 denn ja auch die Königsklasse. Ohne Ecclestone kannst du nicht mal den Helm von Michael Schumacher kaufen oder das Modell des alten Rennwagens von Fittipaldi. Du kriegst keine Originalhandschuhe, keine Jacke mit dem Ferrari-Emblem, nix von Mercedes und so weiter und so fort. An jedem Furz verdient Ecclestone mit. Sein Privatvermögen wird übrigens auf 700 Millionen geschätzt. Er ist 66, es ist Zeit, in Rente zu gehen. Mit Sicherheit kommen neue Regeln für die Rennen, mit Sicherheit geht die Formel 1 an die Börse. Das erledigt für Ecclestone übrigens Ex-Mercedes-Chef Helmut Werner. Und Andy hatte die Idee, eine Firma aufzubauen, die im Bereich Formel 1 die japanischen, koreanischen und anderen asiatischen Hersteller vertritt. Das ist eine reine Geldmaschine. Seit ein, zwei Jahren sammelt er Verträge und bereitet alles vor. So wie Schumacher jetzt vom Sekt bis zum Bleistift alles verscheuert, was groß genug ist, seinen Namenszug zu tragen, so wird Andy eines Tages alle Firmen auf den Markt bringen, die bisher an Ecclestone scheiterten, weil der einfach nicht wollte. So einfach ist das.«
»Das ist wirklich einfach«, nickte Rodenstock. »Und Sie haben die 210.000 Mark geliefert.« Dann machte er eine Pause. »Und wieviel haben Sie vorher geliefert?«
»Insgesamt bin ich mit eins Komma vier drin. Die erste Tranche lag bei zehn Millionen, die zweite bei fünfzehn, die letzte umfaßt bisher, glaube ich, 3,8 oder 3,9 Millionen, ich weiß das nicht genau.«
»Es geht also bis jetzt um rund 30 Millionen Mark?« fragte ich.
»Das kann hinhauen«, nickte Stanicke mürrisch. »Es wird einfach gewartet, bis Ecclestone abtritt und zum Beispiel von dem Italiener Marco Piccinini abgelöst wird. Dann werden die Karten neu gemischt. Piccinini, Werner und Walter Thoma werden die Chefs sein.«
»Wer ist Thoma?« fragte Rodenstock.
»Der Boß beim Tabakkonzern Philip Morris.«
»Woher stammten nun die Gelder, die Sie vorher einzahlten?«
»Haus- und Grundbesitz«, antwortete er verdächtig bereitwillig.
»Sie haben Häuser verkauft?«
»Das nicht«, erwiderte er. »Aber jetzt werde ich keine Antworten mehr geben. Jetzt möchte ich meinen Anwalt sprechen.«
»Wir finden es sowieso heraus«, meinte Rodenstock.
»Richtig, tun Sie was für Ihr Geld. Kann ich jetzt gehen?«
»Moment noch«, sagte Rodenstock und hob die Hand. »Ich möchte erst mit dem Chef der Mordkommission telefonieren.« Er nahm sein Handy aus der Tasche, ging ein paar Schritte auf den Rasen hinaus und telefonierte. Wir konnten nichts verstehen. Als er zurückkehrte, hatte er eine für Hillesheim und Stanicke betrübliche Botschaft: »Der Mann kommt gleich. Und Sie bleiben solange hier.«
»Wieso denn Mord, verdammt noch mal?« schrie Stanicke. Jetzt hatte er Angst. »Was habe ich mit Mord zu tun? So eine verdammte Scheiße. Ich tue doch keinem Menschen was.«
Rodenstock erwiderte betulich: »Schwarzgelder aus Immobiliengeschäften. Wie sieht so etwas aus? Verkauft man ein Haus teuer und gibt der Steuer nur die Hälfte an?«
»Das ist eine Möglichkeit«, nickte erstaunlicherweise Hillesheim.
»Du hältst den Mund, du Lappes!« brüllte Stanicke.
Der Bankdirektor musterte ihn mitleidig. »Hör auf, Wenzel. Wenn die Staatsanwaltschaft hier hereinspaziert, bist du im Eimer.«
»Und du? Du etwa nicht? Bei der ersten Tranche warst du dabei. Ich weiß, daß du dabei warst.«
Hillesheim lächelte unbestimmt.
»Wieviel?« fragte ich.
»600.000«, sagte Hillesheim geziert.
»Auch von Sparbüchern, die nicht existieren?«
Er schüttelte den Kopf. »Aktiengewinne. Ich gehe sowieso in Rente.«
»Das ist aber fein für Sie«, spottete Rodenstock.
»Das konnte sowieso nicht lange gut gehen«, seufzte Hillesheim. »Da werden ein paar Leutchen umgebracht, und schon bist du dran.«
»Aber was habe ich mit Mord zu tun?« fragte Stanicke. »Unsereiner sorgt sich doch nur um anständigen Profit, den dieser Scheißstaat unbedingt verhindern will. Ich sage dir, es geht nicht gerecht zu in Deutschland. Richtige Kreativität wissen die doch nicht zu schätzen, diese Pfeifen in Bonn.«
»Du sagst es«, nickte Hillesheim trübe.
Rodenstock schwieg vor sich hin, nahm einen Block aus der Tasche und machte sich einige Notizen. Dann stand er auf und winkte mich beiseite.
»Was siehst du?« flüsterte er.
»Was soll ich sehen?«
»Eine junge Frau, die krampfhaft nach oben will und dabei ihrem Chef alles beiseite räumt, was ihm im Wege stehen könnte.« Er sah mich an. »Was hältst du davon?«
»Sie muß aber jemanden haben, der es für sie getan hat«, überlegte ich.
»Richtig«, nickte er. »Wir müssen in Erfahrung bringen, wie das Leben der Jessica Born bisher aussah. Und zwar genau und sehr schnell. Wer könnte das wissen?«
»Eltern?«
»An die können wir nicht heran, dann verscheuchen wir die Born. Wir müssen einen Feind finden, einen richtigen, ekelhaften Feind.«
»Den gibt es in dieser Branche todsicher.«
»Wir warten auf Kwiatkowski und verschwinden dann. Bis dahin fallen wir den Jungs noch ein bißchen auf die Nerven.« Er grinste wie ein Gassenjunge, dem ein guter Trick eingefallen ist. »Eines wissen wir jetzt: Was dein Freund Harro Simoneit recherchiert hat.«
»Es gibt einen Punkt, den ich noch nicht begreife: Wieso hat Degrelle in Luxemburg immer nur von 3,4 Millionen gesprochen? Wieso nicht von 25 oder 30 Millionen?«
»Habe ich mich auch schon gefragt«, bestätigte er. »Die Antwort ist wahrscheinlich, daß niemand die genaue Summe kennt, weil von Schöntann mehrere Anwaltskanzleien eingeschaltet hat, die alle verschiedene Teile des Etats verwalten und damit nur eine begrenzte Übersicht haben. Need to know, ist das Prinzip, mein Lieber. Der andere weiß immer nur das, was er unbedingt wissen muß, um zu arbeiten. Wahrscheinlich sind auch die 30 Millionen nicht richtig, wahrscheinlich sind es mehr. Jeder weiß etwas anderes, und keiner weiß etwas Genaues.«
»Du bist ein kluges Kind«, lobte ich.
Es gibt einen schäbigen Trick, Leuten, denen es sowieso nicht gut geht, den Rest der Nerven zu stehlen. Du hockst dich hin, sagst kein Wort und starrst in die Luft. Ab und zu solltest du sanft seufzen, aber nicht zu stark. Ab und zu solltest du so etwas wie »ja, ja«, sagen, aber nicht zu deutlich und auf keinen Fall zu laut, sowie den Mund spitzen und die Stirn in Falten legen, weil das nach konzentriertem Nachdenken aussieht und den anderen vollkommen verunsichert. So machten wir das.
Nach etwa fünf Minuten meinte Hillesheim: »Ich halte unser Vergehen für wirklich nicht so schlimm. Tatsächlich haben wir ja nur ein Steuersparmodell ausgenutzt, das staatlich nicht anerkannt ist. Der Finanzminister in Bonn tut ganz andere Dinge.«
Stanicke nickte.
»Sagen Sie mal, Hillesheim, was glauben Sie, wie viele Leute hier aus der Umgebung bei von Schöntann eingezahlt haben?«
»Zehn bis zwanzig, schätze ich. Aber ich nenne keine Namen, weil ich auch keine kenne.«
»Zehn bis zwanzig! Hah!« schnaubte Stanicke. »Jung, du bist naiv. Ich kenne auch keine Namen, aber unter sechzig bis siebzig liegt das garantiert nicht. Ich weiß, daß allein aus Adenau und Umgebung rund zwanzig Hoteliers und Pensionsbesitzer im Boot sind.«
Wieder aufdringliches Schweigen, das so laut ist, daß es in den Ohren dröhnt.
»Ich gehe sogar jede Wette ein, daß es mehr als siebzig sind«, murmelte Stanicke.
Schweigen.
»Du kannst recht haben«, nickte Hillesheim.
»Mir ist eines rätselhaft«, sagte ich. »Die Finanzbeamten in der Region müßten das doch längst mitbekommen haben.«
»Haben sie auch«, nickte Hillesheim. »Und wie sie das haben.« Er sah mich an. »Was sollen die denn groß machen? Die haben doch zum Teil selbst Zweitjobs. Ich kenne Finanzbeamte, die betreiben nebenbei Büros als Finanz- oder Steuerberater.«
Schweigen.
Endlich kam Kwiatkowski. Er steuerte zielsicher auf Hillesheim und Stanicke zu, baute er sich auf wie ein kleiner Turm und erklärte: »Meine Herren, ich danke Ihnen, daß Sie Herrn Rodenstock Rede und Antwort gestanden haben. Dies ist kein Verhör, sondern ein vertrauliches Gespräch. Wenn Sie mir helfen, dann werde ich mich durch Fairneß revanchieren.«
»Du willst wahrscheinlich erst ins Krankenhaus zu Peter«, mutmaßte Rodenstock. Als ich nickte, fuhr er fort: »Dann setz mich dort ab, wo die Mordkommission tagt. Ich will die Gästeliste des Hotels haben und mich um den Stammgast von Irmchen kümmern. Du holst mich später wieder ab.«
Ich brachte ihn weg und fuhr weiter ins Krankenhaus.
Sie hatten Peter in einem Einzelzimmer untergebracht, und vor seiner Tür hockte ein Mann auf einem Hocker und las im Kicker. Er mußte zuerst telefonieren, bevor er mich in das Zimmer lassen durfte.
»Hei, Peter«, sagte ich.
Klein und bedrückt lag er in dem Bett und hing an zwei Infusionen. »Alice nackt«, sagte er, aber seine Stimme war nicht sehr forsch. Wahrscheinlich bekam er Schmerz- und Beruhigungsmittel.
»Das geht jetzt nicht«, sagte ich. »Ich komme dich jeden Tag besuchen. Und morgen bringe ich dir auch Schokolade und Obst und so etwas mit. Willst du was Besonderes?«
»Eis essen«, lächelte er.
»Das machen wir.«
Ein Arzt erschien und erkundigte sich, wer ich sei. Nachdem das klargestellt war, erklärte er, was Peter hatte. »Insgesamt sechs Zähne raus, vier Rippen angebrochen, drei glatt durchbrochen. Schwere Hämatome im Gesichtsbereich und auf dem ganzen Schultergürtel. Die, die das gemacht haben, waren richtige Schweine. Aber wir kriegen ihn wieder hin.«
Ich bedankte mich, und er verließ den Raum.
Ich setzte mich auf einen Stuhl neben das Bett, holte meine Geldbörse heraus und nahm einen Fünfzig-Mark-Schein. »Jessica gab Irmchen Geld. Irmchen nahm das Geld, verpackte es, und ihr fuhrt zusammen nach Luxemburg. Ist das richtig?«
»Ja«, sagte er. »Peter Eis essen.«
»Richtig. Du hast ein Eis gegessen. War Jessica oft bei Irmchen?«
»Oft. Andy Irmchen, Jessica Irmchen.«
Er hatte Andy noch nie erwähnt, soweit ich mich erinnerte. Also fragte ich: »Wer ist Andy?«
»Andy Freund Irmchen. Andy gut.«
»Aha. Andy ist ein guter Freund?«
»Gut«, nickte er.
»Und Jessica?«
»Jessica nicht gut. Jessica streng.«
»Jessica streng? Wieso ist sie streng?«
»Jessica Irmchen. Irmchen macht Alice nackt. Jessica sagt: Darf nicht.«
Das verstand ich nicht, ich konnte mir keinen Reim darauf machen.
Der Arzt kehrte zurück und sagte: »Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber er sollte soviel Ruhe wie möglich haben.«
»Natürlich«, sagte ich und verabschiedete mich.
Trotz der Nadeln in seinen Armen zog Peter mich hinunter und umarmte mich ganz fest. »Bald«, sagte er. »Bald.«
Rodenstock sprach mit einigen Männern, die vor dem Haus standen. Er stieg zu mir ins Auto und erzählte: »Von Schöntann war im Dorint, natürlich war auch Jessica Born dabei sowie sechs weitere Frauen und Männer, die zu seiner Truppe gehören. Das ganze Hotel war mit den Mächtigen der Branche belegt. 70 Gäste, 70 Prominente. Vielleicht sollten wir uns nicht so sehr auf Frau Born konzentrieren. Die Kollegen von der Kommission sagen, daß auch einige Männer verdammt ehrgeizig sind und notfalls über Leichen gehen könnten. Mir gefällt die Born als einzige Auftraggeberin der Morde nicht mehr so recht.«
»Vielleicht ein gemischtes Doppel?«
»Vielleicht das. Jetzt holen wir die Frauen und dampfen ab. Dieses Adenau geht mir auf die Nerven. Und Autos kann ich auch nicht mehr sehen. Ich habe übrigens gehört, daß Bernie Ecclestone durchaus noch nicht entschieden hat, wer ihn beerbt.«
»Richtig. Soll ich dir einen Vortrag darüber halten?«
»Um Gottes willen!« wehrte er ab. »Ich sagte doch, ich habe die Nase voll. Sogar von denen, in denen unsere Schumachers sitzen – diese Senkfußspezialisten.«
»Es heißt Bleifuß.«
»Ich finde Senkfuß schöner. Drück auf die Tube. Ich will nur noch mein Weib und mein Bett. Hast du übrigens schon gehört, daß man die Schumacher-Brüder als Löffelgesichter bezeichnet?«
»Habe ich. Aber geht doch immer so, wenn Menschen neidisch sind, oder? Ich finde die Situation der beiden nicht besonders beneidenswert. Sie sind so schnell in die Höhe geschossen, daß Arroganz das einzige Mittel bleibt, sich gegen diese aufdringliche Welt zu wehren.«
»Wie kann ein Mann zig Millionen Mark im Jahr dafür bekommen, daß er ein paarmal Vollgas fährt?«
»Das gehört zu den Wundern unserer Welt«, entschied ich.
Als wir vor Irmchens Haus hielten und Rodenstock aus dem Wagen stieg, um die Frauen zu holen, dachte ich verwundert, wie weit ich mich bereits von dem toten Kollegen Harro Simoneit entfernt hatte. Ich jagte seinen Mörder und hatte ihn darüber schon für Stunden vergessen.
Bis Kelberg mußte ich hinter einem Wohnwagen herkriechen, der rostig, breit und qualmend jedes Überholmannöver vereitelte. Die Straße war in beiden Richtungen dicht, und Emma sagte verächtlich: »Wie kann man nur für so einen Sport schwärmen?«
»Das können viele«, erinnerte Rodenstock sie. »Sie zahlen Eintritt bis zum Gehtnichtmehr. Einer meiner jungen Kollegen hat mir eben erzählt, daß eine Eintrittskarte zum Ring für die VIPs runde 2.000 Dollar kostet. Dafür darfst du dann soviel essen und trinken, wie du magst. Natürlich sind die Karten schon ein Jahr vorher verkauft. Es ist nicht wichtig, zu essen und zu trinken, aber es ist wichtig, dort gesehen zu werden.«
»Ich würde den Leuten vorschlagen, statt eines Pimmels vielleicht ein Gaspedal zu tragen«, sinnierte Dinah.
Ich machte »buuuhhh«, aber sehr überzeugend wirkte es nicht. Ich tankte bei BP an der Opel-Station und machte, daß wir in ruhigere Landstriche kamen. Die Frauen hatten recht, allzuviel Autos und Motorräder waren unangenehm. In mir stieg der Verdacht hoch, daß die Nachbarländer Holland und Belgien völlig verödet am Nordmeer lagen, denn ihre Einwohner kamen uns entgegen, als ginge es darum, den letzten Rennwagen der Menschheit zu besichtigen. Nachbarschaft ist wirklich was Feines, aber zuviel Nachbarn können sich störend auswirken.
Und dann stand mitten auf der Abzweigung nach Daun ein Holländer und betrachtete eine Straßenkarte. Seine Frau betrachtete mit.
Es ist schön, wenn Touristen soviel Zeit mitbringen.
»Was bedeutet ein Zelt mitten in einem Kreisverkehr?« fragte ich.
Niemand antwortete.
»Das ist ein Holländer, der sich in Ruhe entscheiden will.«