26. KAPITEL

Verzweiflung

„Wie konntest du ihn in mein Haus lassen?“, tobte Nathan zum dritten Mal, seit er erfahren hatte, dass Cyrus hier gewesen war.

Hektisch trank ich einen Schluck Blut, während Max den Waffenschrank aufstemmte. Darin wurden Stapel von Äxten, Armbrüsten und scharf angespitzten Pflöcken aufbewahrt, mit denen wir auch für eine Reise zurück ins dunkle Mittelalter gut ausgerüstet gewesen wären. Natürlich war ich in keiner Verfassung für eine Auseinandersetzung. Von dem Blutverlust war ich ziemlich entkräftet, aber ich erholte mich schnell. Was immer ich an Kraft hatte, würde ich aufwenden, um Cyrus zurückzuholen.

„Das habe ich dir doch schon erklärt. Er ist jetzt ein Mensch, und wir mussten ihn von dem Souleater fernhalten.“ Nathan war noch nie an größeren Zusammenhängen interessiert gewesen, wenn sie ihm nicht passten. Ich fügte das der Liste von Gründen hinzu, warum ich froh sein konnte, dass wir nie eine Beziehung haben würden, die über das Blutsband hinausging.

Max nahm eine Axt aus dem Schrank und reichte sie mir. Mein Arm wurde von dem Gewicht nach unten gerissen, und die Tasse in meiner anderen Hand kippte, Blut spritzte auf den Boden. Max stützte mich und nahm mir die Axt wieder ab. „Du kommst nicht mit, du bist noch zu schwach. Bella und ich übernehmen das.“

„Niemand geht irgendwohin“, knurrte Nathan und riss Max die Waffe aus der Hand.

Ich war der Meinung, dass bald jemand sterben würde, wenn sie weiterhin so unvorsichtig mit Äxten um sich warfen, aber ich sagte lieber nichts.

„Du warst ja die ganze Zeit weggetreten, seit diese Scheiße läuft. Deshalb kapierst du vielleicht nicht, was passiert, wenn der Souleater Cyrus in die Finger bekommt.“ Max hatte sich direkt vor Nathan aufgebaut, ihre Nasen berührten sich fast. „Wir haben nicht viel Zeit, um noch mal alle Einzelheiten durchzugehen, aber ich gebe dir die Kurzfassung: Schreckliche Dinge werden geschehen, wenn der Souleater heute Nacht eine Seele vertilgt!“

Nathan ließ die Axt mit einem lauten Krachen auf den Boden fallen. „Das ist mir egal, aber ihr werdet ihn nicht retten können!“

„Heute Nacht werden keine Seelen vertilgt“, erklärte Bella, nicht gerade eine tolle Unterstützung für unsere Sache. „Wir wissen nicht, ob der Souleater hier in dieser Stadt ist. Seine Knechte sind zwar hier, aber ich bin derselben Meinung wie Max und Carrie: Wir sollten Cyrus nicht in ihre Hände fallen lassen.“

„Cyrus ist zum Guten bekehrt“, sagte ich. Es klang, als ob ich seine Taten in der Vergangenheit verteidigte. „Aber sein Vater kann sehr überzeugend sein. Wenn er ihn wieder verwandelt …“

„Ich werde ihn töten und dieses Mal hundertprozentig sicherstellen, dass er verdammt noch mal auch tot bleibt.“ Nathan wandte sich von uns ab. „Ich diskutiere das nicht mit euch. Ich sage euch nur, wir werden ihn nicht retten können.“

„Okay. Kann ich ihn eben nicht retten. Ich zieh jetzt los und leg ein paar Schläger des Souleaters um.“ Max nahm eine größere Axt aus dem Schrank und legte sie sich über die Schulter, als ob er nur darauf wartete, dass Nathan eine falsche Bewegung machte.

„Bist du verrückt?“ Machogehabe war eine Sache, aber der Souleater hatte ein endloses Gefolge an Wächtern. Sogar Max, Bella und ich zusammen könnten uns nicht mit allen anlegen. „Sie werden uns umlegen.“

„Das ist gar keine schlechte Idee“, sagte Bella, worauf wir anderen schockiert den Mund hielten. „Wenn du ein paar der Wächter tötest, dann lockst du damit vielleicht den Souleater aus seinem Versteck. Und dann können wir ihm den Garaus machen.“

Nathan stellte sich vor die Tür. „Ich lasse nicht zu, dass ihr euer Leben riskiert. Keiner von euch.“

„Ich will nicht, dass Cyrus stirbt!“, stieß ich aus, ohne über meine Worte nachzudenken. Durch den Blutverlust war ich so erschöpft, dass ich unvorsichtig wurde. Überleg dir genau, was du sagst, warnte mich eine innere Stimme. Du denkst vielleicht, dass die Situation zwischen euch beiden nicht noch schlimmer werden kann. Dabei hast du heute Nacht den Beweis dafür geliefert, dass es immer noch grausamer kommen kann.

Ich blickte zu Nathan, entschuldigte mich aber nicht. „Ich will nicht, dass Cyrus stirbt. Das hat er nicht verdient. Du hast Marianne das Leben genommen, nicht er. Und für all seine anderen Verbrechen hat er Buße getan.“ Es tat gut, meinen Schmerz an ihm auszulassen, obwohl ich mich eigentlich schämen sollte dafür, wie mies ich ihn behandelte.

„Jeden Morgen, wenn ich einschlafe, erinnere ich mich daran, wie ich deinen toten Körper in der Gasse gehalten habe.“ Nathan schlug sich mit der Faust auf die Brust. „Wann immer ich die Augen zumache, sehe ich Mariannes Gesicht …“

„Daran bist du schuld, nicht er!“ Ich lachte darüber, wie lächerlich das alles war, ein bitteres, scharfes Lachen. „Hast du denn gar nichts begriffen heute Nacht? Marianne war schon lange tot, bevor ihr in diese Falle gelaufen seid. Du hasst doch nicht Cyrus, du hasst nicht einmal den Souleater. Du hasst dich selbst. Weil du sie nicht retten konntest, nicht vor dem Krebs, nicht einmal vor dir selbst. Und du hasst es, dass sie von dir gehen wollte! Aber es ist vorbei, Nathan. Es ist vorbei!“

Seine Züge waren angespannt und gequält, er nickte. „Du hast recht, Carrie. Es ist vorbei.“

Er schob mich aus dem Weg und knurrte Max an: „Mach, zum Teufel, was du willst. Ich mache keine Handlangerdienste mehr für die Bewegung. Such dir jemanden anderen, wenn du Hilfe brauchst.“

Nathan knallte die Schlafzimmertür so laut zu, dass ich dachte, sie würde aus den Angeln gerissen. Der Knall war so endgültig, so erschütternd, dass ich nicht einmal mehr Trauer spürte.

Wild entschlossen wandte ich mich an Max und Bella. „Los, suchen wir ihn.“

„Wir können Nathan nicht alleine lassen. Wenn der Souleater seine Typen hierher schickt, ist er ihnen hilflos ausgeliefert“, setzte Max an.

Ich würgte ihn ab. „Nathan lebt seit zehn Jahren in diesem Gebäude, und er arbeitet schon genauso lange im Buchladen. Wenn der Souleater wirklich hinter ihm her wäre, wenn er irgendeinen von uns wollte, dann hätte er schon lange jemanden geschickt. Versteht ihr nicht? Er spielt nur mit uns und wartet, bis wir aus unseren Löchern kriechen! Und ich hab, verdammt noch mal, genug davon, dass er uns an der Nase herumführt!“

„Sie hat recht“, sagte Bella leise. „Der Souleater weiß genau, wo wir alle uns jeden Moment aufhalten. Warum sonst hätte er seine Leute hier in die Stadt geschickt?“

„Was soll das heißen, jetzt will er auf einmal doch kein Gott mehr werden? Seid ihr denn alle total übergeschnappt?“ Max donnerte mit der Faust gegen die Wand, Putz bröckelte unter seiner Hand. „Ihr reimt euch da was zusammen!“

„Und du hörst nicht richtig zu!“ Bella legte ihm eine Hand auf die Schulter, und er schien tatsächlich ruhiger zu werden. „Was immer der Souleater vorhat, er ist noch nicht fertig mit deinem Freund. Er wird ihn nicht heute Nacht töten.“

„Du bist dir da sehr sicher“, sagte Max bitter. Er schüttelte ihre Hand ab, verließ die Wohnung und schloss die Tür dabei ebenso unsanft wie Nathan.

Während Bella und ich uns stumm anstarrten, wurde mir klar, dass sie sich tatsächlich sicher war. Was immer der Souleater mit Nathan vorhatte, er wollte ihn nicht töten. Noch nicht.

Und das machte mir mehr Angst als alles, was wir bisher erlebt hatten.

Bella lokalisierte Cyrus mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Ich konnte mir nicht helfen, aber es sah wirklich witzig aus, wie sie den Kopf aus dem Wagenfenster streckte und in der Luft schnupperte. Wir fuhren durch die Gegend, in der sie zum ersten Mal auf die Diener des Souleaters gestoßen waren.

„Links!“, brüllte sie, und Max riss das Lenkrad herum. Der Wagen stellte sich fast auf die zwei Seitenräder, als wir kreischend um die Ecke bogen.

„Das ist eine Einbahnstraße!“, warnte ich und hielt mich am Armaturenbrett fest.

„Ich hupe, dann hören sie, dass ihnen ein Auto entgegenkommt“, brummte Max verbissen. „Um diese Uhrzeit geht hier nicht mal mehr jemand joggen und …“

„Pass auf!“, schrie Bella, als eine Gestalt vor uns auf die Straße stolperte.

Max trat auf die Bremse, und wir schlingerten zur Seite. Der Mann starrte uns aus dunklen, geschwollenen Augen an, als wir vielleicht zwanzig Zentimeter vor ihm zum Stillstand kamen.

Dicke, blutige Rinnsale tropften aus einer Wunde an seiner Stirn. Seine Kleidung war zerrissen und hing in Fetzen an ihm, sodass sie seinen Körper kaum noch bedeckte.

„Es ist Cyrus.“ Ich drückte die Tür auf und stürzte auf ihn zu.

Benommen schaute er mich an, und ich war mir nicht sicher, ob er mich erkannte.

Vorsichtig ergriff ich seine Hand, ich wollte ihn nicht erschrecken. Er war warm, Gott sei dank. Zumindest war es ein Hinweis, dass er nicht wieder verwandelt worden war.

„Cyrus, ich bin es, Carrie. Weißt du, wer ich bin?“ Während ich mit ihm sprach, wollte ich ihn zurück zum Wagen führen, aber er weigerte sich.

„Er will mich töten lassen. Er hat sie geschickt … Er will wirklich, dass ich tot bin.“ Seine Stimme klang tonlos, als spräche er in einem leeren Raum. Ich hatte den Ausdruck „ich war außer mir“ schon oft gehört, aber noch nie war mir jemand begegnet, der sich wörtlich in diesem Zustand befand. Und Cyrus war im Moment wirklich nicht bei sich, das stand fest.

„Komm, wir bringen dich in Sicherheit.“ Ich schaute in die Richtung, aus der er gekommen war. Die Männer des Souleaters konnten jeden Augenblick hier auftauchen und nach ihm suchen.

Max war ebenfalls ausgestiegen, aber er blieb hinter dem Wagen stehen und beobachtete uns. Als ich nach ihm rief, kam er zu mir.

„Die Vampire, die ihr entdeckt habt. Weißt du noch, auf welchem Grundstück das war?“, fragte ich Max leise. Die riesigen Häuser wirkten bedrohlich in der Dunkelheit des frühen Morgens, wie Movie-Sets für mehrere Horrorfilme, die nebeneinandergequetscht worden waren.

„Es ist nicht weit von hier. Aber sie könnten überall sein.“ Ich warf ihm einen bittenden Blick zu, und Max nickte mit entschlossener Miene. „Ich schau nach.“

„Sei vorsichtig“, rief Bella ihm nach, als er die Straße hinunterlief. Sie näherte sich uns vorsichtig, als wäre Cyrus ein wildes Tier, das ich gezähmt hatte und das sie nicht wieder verscheuchen wollte.

„Er muss zu einem Arzt. Kannst du ihn ins Krankenhaus bringen? Ich würde ihn selbst hinfahren, aber die Sonne geht in ein paar Stunden auf, und dann will ich nicht in der Notaufnahme sitzen und von den ersten Sonnenstrahlen zu Staub pulverisiert werden.“ Oder von einem Ex-Kollegen erkannt werden. Es war nicht gerade der günstigste Moment für ein Wiedersehen mit meinen früheren Mitarbeitern, wenn ich mit einem verwirrten, blutenden Mann das Krankenhaus betrat.

„Kannst du ihn nicht medizinisch versorgen?“ Bella bezweifelte zwar meine Kompetenz als Ärztin nicht, aber es war klar, dass sie nicht mit Cyrus allein sein wollte. Nach allem, was ich in dem Kreis gesehen hatte, konnte ich sie nur zu gut verstehen.

„Ich kann ihn nicht zurück in die Wohnung bringen. Nathan würde ihn nicht ertragen.“ Ich hob hilflos die Schultern. Cyrus hatte heute Nacht schon genug durchgemacht. Viel mehr könnte er wahrscheinlich nicht überleben.

Und ich auch nicht. Diese ganze Sache mit dem Ritual und dem Scherbenhaufen, den es nach sich gezogen hatte, war einfach zu viel gewesen. Ich musste allein sein und über alles nachdenken. Noch eine grausame Ironie des Schicksals, dass ich noch vor wenigen Tagen allein auf der Straße vor Einsamkeit fast verrückt geworden war.

Max erschien wieder und pflückte sich trockene Blätter aus den Haaren. Anscheinend war er über ein paar Hecken gesprungen – oder hatte sich durch sie hindurchgekämpft.

„Hast du sie gefunden?“, rief ich und lief ihm entgegen.

„Die Vampire? Sind verschwunden. Ich hab ein paar gesehen, die den Park dort drüben durchsuchen, aber ich glaube nicht, dass sie mich gesehen haben. Ich bin zu dem Haus zurück und hab den Alarm ausgelöst. Die Bullen werden bald hier sein, und dann verschwinden sie hoffentlich.“

Just in diesem Moment trieb der Wind den weit entfernten, blechernen Klang von sich nähernden Sirenen zu uns. Ich seufzte. „Verdammt.“

„Komm, lass uns gehen“, drängte Max. Wir rannten zurück zum Wagen, wo ich Cyrus mit Bellas Hilfe überredete, sich auf den Rücksitz zu setzen. Wir stiegen alle ein, und Max fuhr die kurze Strecke zur nächsten Notaufnahme. Auf den reservierten Plätzen für die Rettungsfahrzeuge hielt er an und ließ Bella und Cyrus aussteigen. Ich gab ihr strikte Anweisungen, Cyrus nicht in die psychiatrische Abteilung einweisen zu lassen.

Ob Bella ihn danach zurück in die Wohnung brachte oder ob er einfach auf sich selbst gestellt seiner Wege ging, ich wusste es nicht. Mir schnürte es jedenfalls die Kehle zu bei dem Gedanken, wie Cyrus obdachlos und ohne Geld in der sterblichen Welt überleben sollte.

Oder schlimmer, wie es ihm ergehen würde, wenn er zurück zu Dahlia ging.

Für einen zärtlichen Abschied war er noch nicht wieder klar genug, und Max und mir lief die Zeit davon. Bald ging die Sonne auf, wir mussten zurück.

Es war keine lange Strecke, aber irgendwie schafften wir es, dass an jeder Kreuzung die Ampel auf Rot sprang. Die dauernde Warterei war unangenehm, und wir saßen eine ganze Weile schweigend nebeneinander, dann drehte Max das Radio leiser und sagte: „Wenn du möchtest, kannst du mit mir nach Chicago kommen.“

„Warum sollte ich?“, fragte ich teilnahmslos, als wäre Max in dieser Nacht nicht Zeuge geworden, wie Nathan und ich uns ziemlich hässlich mehr oder weniger voneinander getrennt hatten.

Er zuckte mit den Achseln. „Du hast ziemlich viel durchgemacht. Teufel, so wie Nathan dich vorhin behandelt hat, nach allem, was du für ihn getan hast – an deiner Stelle müsste ich erst mal ein wenig Abstand von dem Ganzen gewinnen.“

„Abstand gewinnen. Das klingt nicht schlecht.“ Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Chicago, was?“

„Ja. Mir gehört dort eine ziemlich geniale Wohnung mit Blick auf den Grant Park.“ Er lachte leise. „Nicht mein Stil, aber ich hab sie geschenkt bekommen. Ich bin nicht oft dort. Wahrscheinlich muss man erst mal gut durchlüften.“

Ich biss mir auf die Lippe, während ich mir den Gedanken durch den Kopf gehen ließ. Chicago war nicht weit weg. Ich konnte in einer Nacht zurückfahren, wenn ich Nathan unbedingt sehen musste. Und ich würde aus der Stadt herauskommen und die Dinge aus einer etwas größeren Distanz betrachten können. Max würde mich nicht immer unter seinen Fittichen halten, so wie Nathan. Allerdings –

„Ich weiß es nicht. Ich muss es mir überlegen.“ Ich machte mir Sorgen, wie Nathan auf sich selbst gestellt reagierte, falls der Souleater ihn noch einmal mit einem Zauber belegte. Außerdem hatte ich keine Ahnung, was Nathan eigentlich vorhatte. Er konnte nicht in der Stadt bleiben, selbst wenn der Souleater nur sein Spielchen mit ihm trieb. Abgesehen davon wollte ich nicht irgendwelchen romantischen Plänen im Weg stehen, die Bella und Max vielleicht schon geschmiedet hatten. „Du solltest vielleicht Bella fragen, was sie davon hält.“

„Ich glaube nicht, dass das für Bella ein Problem ist. Wir werden uns wahrscheinlich nicht mehr treffen, wenn das alles hier vorbei ist.“ Seine Stimme klang unbekümmert, aber sein Lächeln verschwand. Es machte ihm etwas aus, dass er sie so schnell wieder verlieren sollte.

„Das tut mir leid.“ Ich hatte zu wenig Kraft, mir fiel kein besserer Trost für ihn ein. „Aber vielleicht können wir beide uns dann amüsieren. Zwei zurückgewiesene Vampire, die sich in der großen Stadt eine schöne Zeit machen.“

„Es gibt da ein paar großartige Blues-Clubs.“ Noch ein gutes Argument für Chicago.

„Ich möchte Nathan nicht alleine lassen. Ich mache mir Sorgen um ihn.“ Ich brach ab, weil diese sinnlose Hoffnung sich zwischen meinen Rippen regte. „Lass mich mit ihm reden. Vielleicht kommen wir doch wieder zusammen.“

„Die Einladung gilt, wann immer du möchtest“, sagte er und wandte den Blick wieder der Straße zu. „Es ist eine große Wohnung. Ich bin immer froh über Gäste. Dann ist sie nicht so leer.“

„Aber das ist nicht der Grund, warum du so selten dort bist.“ Sein freundlicher Gesichtsausdruck wurde verschlossen. „Du hast dort mit deinem Schöpfer gewohnt.“

Max nickte. „Es ist ein komisches Gefühl, wenn man ein Blutsband mit jemandem hat, und dann ist es plötzlich nicht mehr da. Dinge, die einen nie gestört haben, können so … weh tun.“

„Ich weiß.“ Ich lachte bitter. „Glaub mir, das weiß ich.“

Bella tauchte später am Morgen in der Wohnung auf. Nathan schlief, und als sie fragte, ob sie Cyrus mit hochbringen könnte, sagte ich, es sei in Ordnung.

Ich saß mit ihm am Küchentisch, und Cyrus stierte mit trübem Blick auf ein Erdnussbuttersandwich mit Marmelade, das ich ihm zubereitet hatte. Um seine Augen lagen immer noch hässliche violette Ringe, aber sein Gesicht war gesäubert worden. Kurze genähte Linien waren deutlich auf seiner bleichen Haut am Haaransatz und am Kinn zu sehen. Seine Lippen waren geschwollen und aufgeplatzt, und er zuckte zusammen, als er einen Schluck von der Cola nahm, die ich ihm hingestellt hatte.

„Was hast du dir nur dabei gedacht?“ Ich wollte nicht so wütend klingen, aber er hatte mir einen furchtbaren Schreck eingejagt. Ich erinnerte mich, wie meine Mutter mich, wenn sie mich wieder einmal beim Sicherheitsdienst im Kaufhaus oder aus dem Garten einer unbekannten Spielgefährtin abholte, hart am Arm packte und mir ernste Vorwürfe machte, ich hätte sie zu Tode erschreckt. Als Cyrus verschwunden war, hatte ich zum ersten Mal verstanden, wie sie sich gefühlt haben musste.

Er schaute nicht hoch. „Ich weiß nicht. Ich wollte, dass sie mich umbringen. Aber dann war ich dort, und die Wächter von Vater … sie schlugen mich, und mir ist klar geworden, dass ich nicht sterben will. Ich wehrte mich mit aller Kraft gegen sie. Aber kaum war ich ihnen entkommen, war der Schmerz zurück. Ich weiß nicht, was das ist, Carrie. Wenn ich es spüre, will ich nur noch sterben. Aber wenn ich dann dem Tod … Warum tut es so weh, Carrie?“

„Es sind Schuldgefühle. Sie sollen wehtun.“

Ich fuhr herum. Nathan stand in der Küchentür. Sein Blick war hart, sein Gesicht schlaff vor Müdigkeit. Unter den Ärmeln seines T-Shirts waren die dunklen Linien der verheilenden Symbole zu erkennen.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Falls Nathan sich jetzt an Cyrus rächen wollte, dann gab es keine Möglichkeit für mich, wie ich es verhindern konnte. Nathan war zu stark und ein viel besserer Kämpfer als ich. Außerdem hatte ich ihm nicht einmal etwas antun können, als er mich völlig von Sinnen auf den Boden des Buchladens geworfen hatte.

Cyrus richtete sich etwas auf, aber sein Gesicht verriet keine Emotion. „Nolen.“

Nathan warf mir einen Blick zu, doch in seinen Augen war nicht zu erkennen, was er tun würde. „Sie hat dich nicht verwandelt?“

Er schüttelte den Kopf und führte dabei die Coladose an seinen Mund. „Sie hat mich an die Schläger meines Vaters ausgeliefert.“

„Schade, dass du dabei nicht draufgegangen bist.“ Nathan lehnte sich an den Türrahmen und blickte nachdenklich auf ihn herab.

Nachdem Cyrus getrunken hatte, wischte er sich den Mund ab. „Ich verstehe.“

Nathan löste sich von der Tür und stellte sich vor uns. „Was, keine kleine arrogante Bemerkung? Willst du mir nicht beweisen, wie weit du mir intellektuell überlegen bist?“

„Hör auf“, warnte ich ihn.

„Lass ihn.“ Cyrus seufzte, er klang müde und resigniert. Nathan öffnete den Mund, aber er sagte nichts. Cyrus schaute zu ihm hoch und lächelte traurig. „Das ist mein Geschenk an dich, Nolen. Spuck aus, was du mir Gemeines sagen musst.“

„Warum? Damit du dich nicht mehr schuldig fühlen musst für das, was du ihr angetan hast?“ So viel Schmerz und Tränen lagen in seiner gebrochenen Stimme, ich konnte Nathans Worte kaum verstehen. „Was du mir angetan hast?“

„Ich war krank.“ Cyrus entschuldigte sich nicht, aber was er sagte, war auch keine Rechtfertigung. „Mit anderen bin ich viel schlimmer umgesprungen.“

„Wie mit Ziggy?“ Nathan lachte bitter auf. „Dafür könnte ich dich jetzt auf der Stelle in Stücke reißen.“

„Wenn du es nur tun würdest. Es wäre so viel leichter für mich.“ Cyrus legte die Stirn auf den Tisch und umfasste mit den Händen seinen Nacken.

Nathans Finger waren zu Fäusten geballt. Aus rotgeränderten Augen voller Tränen schaute er mich kurz an, dann starrte er wieder auf Cyrus. Er räusperte sich und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Ich bin nicht hier, um dir den Tod leichter zu machen. Und ich werde dir nicht vergeben. Ich will, dass du all die perversen, grausamen Dinge, die du getan hast, nie vergessen kannst. Ich will, dass sie dich nachts in den Schlaf verfolgen und quälen. Aber tu mir einen Gefallen.“

Cyrus hob den Kopf und schaute Nathan in die Augen. „Was?“

„Wenn du wieder mal Selbstmord begehen willst, lass mich dir diese Ehre erweisen.“ Nathan drehte sich um und ging, ohne ein Wort zu mir zu sagen.

Cyrus und ich blieben einige Zeit stumm in der Küche sitzen. Nathan hatte ihm nicht vergeben, aber es war schon eine Art von Fortschritt, dass er ihn nicht gleich zusammengeschlagen hatte.

„Was hast du jetzt vor?“, fragte ich, als Cyrus sich schließlich regte.

Langsam nahm er einen Bissen von dem Sandwich und kaute nachdenklich, bevor er mir antwortete. „Ich nehme an, niemand hat Mouse’ Verwandte von ihrem Tod informiert.“

„Die Polizei hat sicher schon ihre sterblichen …“ Ich sprach nicht weiter. Es kam mir obszön vor, von jemandem, den er geliebt hatte, als „Überresten“ zu sprechen.

Doch er nickte tapfer. „Ja, sie müssen sie entdeckt haben. Aber ihre Familie wurde bestimmt nicht ausfindig gemacht. Sie war mir in dieser Hinsicht ziemlich ähnlich. Wir hatten beide nicht viele irdische Verbindungen.“

Während er sein Sandwich aufaß, ging ich in mein Zimmer und holte ihm die Kleider, die ich gestern noch für ihn gekauft hatte. Traurigkeit packte mich, die schlimmer war als damals, als ich ihm ein Messer in sein Herz gestoßen hatte. Ich ballte die Hände zu Fäusten und spürte nasses Blut an den Stellen, wo meine Nägel in die Haut ritzten.

„Wenn du irgendetwas brauchst, Geld oder …“ fing ich an, aber er unterbrach mich.

„Ich werde dich um nichts bitten. Du hast genug für mich getan.“ Er legte mir die Hand an die Wange und um mein Kinn. Lange blickte er mir ins Gesicht, als wolle er sich meine Züge noch einmal genau einprägen.

Ich legte die Arme um ihn und vergrub mein Gesicht in seiner Schulter. „Ich möchte nicht, dass du einfach so aus meinem Leben verschwindest.“

Er strich über mein Haar und küsste mich auf die Stirn, aber er versprach mir nichts. Es ist eine seltsame Sache mit einem gebrochenen Herzen: Man vergisst den Schmerz, bis es erneut gebrochen wird. Selbst wenn es zweimal am gleichen Tag geschieht.

„Leb wohl, Carrie.“ Er küsste mich auf die Wange und trat zurück, dann ging er zur Tür hinaus.

Seit wir uns kannten, hatte ich so viel wegen Cyrus erleiden müssen, doch jetzt setzte ich mich auf den Küchenboden und weinte um ihn.