Löff und ich saßen jeder vor seinem vierten Bier. Es war kurz vor sechs. Die Feierabendkundschaft begann, den Tresen zu besetzen. »Ein Klarer, ein Bier« war die allgemeine Begrüßung. Je mehr Gläser über die Theke geschoben wurden, desto vertrauter wurde man untereinander. Die ›Soni‹ war Bedienung und hatte einen großen Arsch. Es machte ihr Mühe, den Männerhänden auszuweichen, und meistens versuchte sie es gar nicht. Der Arsch war Teil ihrer Arbeit. Löff hatte schon schwere Schatten über den Augen, und ich bekam Angst, ich müsse ihn nachhause fahren.
»Herr Kayankaya, ssaben Ssie gut gemacht, aber trossdem…«
»… trotzdem kann ein guter Anwalt die Anklage wegen Mord an Ahmed Hamul zu Fall bringen, da keine eindeutigen Beweise vorliegen, nicht wahr?«
Er hatte mir das schon fünf oder sechsmal erzählt.
»Genau… owwoll alls klar ist, bei Gricht zähln nur Beweise… dassis so.«
»Erst mal abwarten, ob Harry Eiler ein Alibi für den fünften achten zusammenbringen kann. Man wird ihn sowieso zum Sündenbock für alles machen. Diese Chance lassen sich Futt und Hosch nicht entgehen.«
»Das ’s wahr.«
Das Blut pochte um meine angeknackste Rippe. Ich begann, mir die nächsten drei Tage auszumalen. Ein frisch bezogenes Bett, ein Haufen Reise- und Ferienprospekte für den Vormittag, verschiedene Fernsehzeitschriften für den Nachmittag und abendlange Spielfilme und keine Rateoder Wettshows von Deppen, mit Deppen, für Deppen! Nachrichten und anschließend Bogart!
Ich rüttelte Löff an der Schulter. Sein Blick war starr auf Sonis Hinterteil gerichtet.
»Herr Löff, ich mach mich auf den Weg, muß noch zur Familie Ergün, berichten, und dann will ich ins Bett.«
»Mhmm… ich fahr auch ma nahause… habscho ’n kleinen in der Krone…«
»Vielen Dank nochmal. Ohne Sie hätte ich das nicht so geschafft. Ich werde die nächsten Tage bei Ihnen draußen vorbeikommen.«
»Machn Se das, meine Frau freut sich beschtimmt.«
Ich winkte Soni, und sie kam mit der Rechnung. Ich zahlte. Löff zwinkerte. Dann gingen wir.
Es war inzwischen halb zehn geworden. Ich hatte Löff zu seinem Benz gebracht, war in mein Büro gegangen, um den Tausendmarkschein zu holen, danach zu mir, hatte dort geduscht und gegessen.
Jetzt nahm ich das Wechselgeld von Madame Obelix und drei Tafeln Schokolade für die Kinder Ilter Hamuls und wünschte einen schönen Abend.
»Gleischfalls.«
Die Sonne war untergegangen, und außer ein paar roten Wolken war der Himmel blau und leer. Weit oben flogen schwarze Vögel umher. Ich war müde.
Ilter Hamul öffnete mir die Tür. Sie trug einen dunkelgrünen Satin-Morgenrock.
»Guten Abend. Ich schaue noch so spät herein, um Ihnen mitzuteilen, der Fall ist erledigt. Der Mörder gefunden und hinter Gittern.«
Ihr Gesicht hellte sich fast zu einem Lächeln auf. Sie bat mich herein und fragte, was ich zu trinken wünsche.
»Einen Kaffee würde ich nicht ablehnen.«
Sie führte mich in das große, bunte Wohnzimmer, drückte mich in einen Sessel und verschwand. Zehn Minuten später stand eine Tasse guter, starker türkischer Kaffee vor mir.
»Die Schokolade ist für Ihre Kinder.«
Sie bedankte sich überschwenglich und bat mich zu erzählen. Zum zweiten Mal an diesem Tag ließ ich die ganze Geschichte ablaufen. Hanna Hecht konnte ich ihr nicht ersparen.
Sie hörte still und gespannt zu. Manchmal schüttelte sie leicht den Kopf. Als ich geendet hatte, war es im Wohnzimmer stockfinster. Durch das Fenster sah man den Mond aufgehen. Eine Weile saßen wir uns stumm gegenüber, dann stand Ilter Hamul auf und knipste das Licht an. Tränen hingen in ihrem Gesicht.
»Wie soll ich Ihnen danken?«
»Wechseln Sie mir den Schein. Ich bekomme drei Tagessätze, sind sechshundert Mark. Das ist alles.«
Sie holte das Geld und gab es mir. Dabei drückte sie fest meine Hand.
»Ist Ihr Bruder da?«
»Er ist in seinem Zimmer. Er will morgen in die Türkei fahren und packt gerade.«
»Ich möchte ihn gerne sprechen.«
»Kommen Sie.«
Sie nahm meinen Arm, und wir gingen auf eine angelehnte Tür zu. Durch den schmalen Spalt schien Licht in den Flur. Ilter Hamul ließ mich dort stehen. Ich klopfte leise an und betrat, ohne eine Antwort abzuwarten, das Zimmer. Yilmaz Ergün stand über einen halb gepackten Koffer gebeugt. Über die Schulter schaute er mich an. In seinem Zimmer befanden sich ein ungemachtes Bett, ein offener Kleiderschrank, zwei Stühle und ein Nachttisch mit Radiowecker. Ein Kalender der Stadt Heidelberg schmückte den sonst kahlen Raum.
Mit drei zusammengelegten Hemden in der Hand drehte er sich um.
»Darf ich rauchen?«
Er nickte unwillig und ließ die Hemden in den Koffer fallen.
»Packen Sie ruhig weiter, ich will Sie nicht davon abhalten. Allerdings kann ich Ihnen versichern, Sie brauchen nicht zu verreisen.«
Ich steckte mit die Zigarette an und zog einen Stuhl heran. Yilmaz Ergün setzte sich aufs Bett.
»Wollen Sie?«
»Danke, ich rauche nicht.«
Er sah mich ernst, fast traurig an.
»Was soll das heißen, ich brauche nicht zu verreisen?« Ich zog an der Zigarette und rauchte eine Weile still.
»Das soll heißen, niemand sucht Sie wegen dem Mord an Ihrem Schwager!«
Er beugte sich vor und nahm sein Gesicht in die Hände. Ich sah nur noch die schwarzen, glänzenden Haare.
Ich rauchte drei Zigaretten, bis er seinen Kopf wieder hob.
»Woher wissen Sie…?«
»Das Messer. Nur ein Amateur benutzt ein Messer. Ich habe nie nachgefragt, aber ich nehme an, es war ein Küchenmesser.«
»Ja.«
»Sie hatten Ahmed Hamul noch nie leiden können, nicht wahr? Ihr Vater hat ihn Ihnen vorgezogen, Sie waren immer nur zweite Wahl. Sie mußten sich mit der Mutter zufriedengeben.«
»Hören Sie auf!«
»Tut mir leid. Wahrscheinlich glaubten Sie, Ahmed Hamul hätte Ihren Vater in den Drogenhandel hineingezogen. In Wahrheit wurde Ihr Vater dazu erpreßt. So begann das Unglück. Erst später hat er Ahmed den Einstieg ins Geschäft vermittelt. Drei Jahre lang stauten sich in Ihnen Wut und Trauer über die kaputten Familienverhältnisse. Der Schuldige war, klar, Ahmed Hamul. Als Ihr Vater tot war, hatten Sie sicher mit dem Gedanken gespielt, ihn aus der Familie rauszuschmeißen. Aber da er kaum noch nachhause kam, ließen Sie das mit Rücksicht auf Ihre Schwester. Auf Ihre Schwester Ilter, denn wegen Ayse haben Sie ihn zuletzt umgebracht. Daß Ahmed Ayse vom Heroin abhängig gemacht hat, konnten Sie ihm nicht verzeihen. Wahrscheinlich bestand seit diesem Tag die Idee, ihn zu töten. Je mehr Zeit verging, desto unausweichlicher wurde diese Lösung für Sie. Und tatsächlich, alle Probleme schienen damit vom Tisch. Die Eifersucht der ganzen Jahre wäre gerächt, und Ihre Familie hätte endlich in Ruhe leben können. Durch die Sucht Ihrer Schwester Ayse war die Tat moralisch gerechtfertigt. Also wurde die phantastische Idee zu einem Plan, zu einer Aufgabe. Zur Rettung der Familie.«
Yilmaz Ergün saß zusammengekrümmt auf dem Bett. Regungslos. Ich wußte nicht, ob er mir überhaupt noch zuhörte.
»Sie sind kein guter Mörder, erst recht kein Profi. Sie haben zwei dumme Fehler gemacht. Erstens kein Alibi. Von Ihrer Schwester Ilter weiß ich, Ihre Arbeitszeit endet kurz vor sechs, normalerweise sind Sie um sechs Uhr zuhause. Wie Sie die Nummer von Hanna Hecht rausbekommen haben, keine Ahnung, aber…«
»Ich bin ihm einmal gefolgt und habe den Namen an der Tür gelesen. Dann aus dem Telefonbuch.«
»Ah ja, auf jeden Fall haben Sie ihn am fünften achten dort angerufen und zu einem Gespräch in die Nähe bestellt. Direkt nach Ihrer Arbeit. Wenn man Sie fragen würde, könnten Sie wahrscheinlich nicht einmal beantworten, wo Sie sich um diese Zeit aufgehalten haben, nicht wahr?« Er nickte.
»Der zweite Fehler: Wenn man in einer Großküche arbeitet, nimmt man nicht das nächstbeste Schinkenmesser, um damit seinen Schwager umzubringen.«
Ich machte eine Pause. Er bewegte sich immer noch nicht.
»Wenn Ihnen jemand auf die Spur gekommen wäre, oder der Kommissar, der den Fall bearbeitet hat, nicht zufällig der Mörder Ihres Vaters wäre - der voraussichtlich auch den Mord an Ahmed in die Schuhe geschoben bekommt -, dann säßen Sie jetzt im Gefängnis.«
Er starrte mich mit großen Augen an.
»Der Mörder meines Vaters, aber…«
»Das ist eine andere Geschichte, lassen Sie sie sich von Ilter erzählen. Ich bin müde.«
Ich stand auf und ging zur Tür.
»Wissen Sie eigentlich, daß Ahmed aussteigen wollte? Als Sie ihm das Messer in den Rücken gesteckt haben, war er dabei, ein Haus in Norddeutschland abzubezahlen. Dort wäre er mit Ihrer Familie in ein paar Monaten hingezogen. Einen Therapieplatz hatte er für Ayse auch schon gefunden. Sie hätten ihn fragen sollen, was er in nächster Zeit vorhat. Sie hätten mit ihm reden können. Sie hätten sich den Mord sparen können!«
Wir sahen uns eine Weile in die Augen. Mir schien es eine Ewigkeit zu sein.
»Und wissen Sie, weshalb ich Sie nicht zur Polizei bringe?«
Er schüttelte traurig den Kopf.
»Weil Sie damit ein Leben lang zu kämpfen haben werden. Es ist kein gutes Gefühl, ein Mörder zu sein, um so mehr, wenn der Mord sinnlos war. Falls es Sie beruhigt, niemand außer mir weiß es.«
Ich tippte mir an den Kopf.
»Machen Sie es gut, Herr Ergün. Schöne Tage in Istanbul.«
Ich zog die Tür leise zu und schlich durch den stillen Flur aus der Wohnung. Das Treppenhaus war düster und noch vom Tag mit Hitze aufgeladen. Ich steckte mir eine Zigarette an. Während ich die Stufen hinunterstieg, drang aus einer Wohnung ein sanftes Jazz-Saxophon. Ich dachte an ein Mädchen, das ich vor langer Zeit gekannt hatte.
Dann kaufte ich bei Madame Obelix eine Flasche Chivas und ging durch die Nacht nach Hause.