Mittwoch, 6. Juli
16
Die meisten Staats- und Regierungschefs der G8
landeten auf dem Flughafen Prestwick südwestlich von Glasgow.
Insgesamt würden im Lauf dieses Tages annähernd hundertfünfzig
Flugzeuge dort landen. Die Staats- und Regierungschefs, ihre
Gattinnen und engsten Mitarbeiter würden dann per Hubschrauber nach
Gleneagles befördert, während andere Mitglieder der verschiedenen
Delegationen von einer Wagenflotte mit Chauffeuren zu ihren
eigentlichen Reisezielen gebracht wurden. George Bushs Spürhund
hatte sein eigenes Auto. Heute war Bushs neunundfünfzigster
Geburtstag. Jack McConnell, Erster Minister von Schottland, stand
auf dem Rollfeld, um die Führer der Welt zu begrüßen. Es gab keine
Anzeichen von Protesten oder Störungen.
Nicht am Flughafen.
Aber aus Stirling brachte das Morgenfernsehen
Bilder von maskierten Demonstranten, die auf Autos und Lieferwagen
einschlugen, die Fenster eines Burger King einwarfen, die A9
blockierten und Tankstellen angriffen. In Edinburgh brachten
Demonstranten den ganzen Verkehr auf der Queensferry Road zum
Erliegen. Die Lothian Road war von Einsatzwagen der Polizei
gesäumt; ein Kordon uniformierter Polizisten stand schützend vor
dem Sheraton Hotel und seinen mehreren hundert Delegierten.
Polizeipferde patrouillierten in Straßen, durch die normalerweise
der morgendliche Berufsverkehr rollte, die heute aber autofrei
waren. Am Waterloo Place stand eine Schlange von Bussen bereit, um
Demonstranten nach Auchterarder zu transportieren. Es gab jedoch
unterschiedliche Signale; niemand wusste genau, ob die offizielle
Route freigegeben war. Die Demonstration ging voran, stockte, ging
wieder voran. Die Polizei wies die Busfahrer an, ihre Fahrzeuge
nicht von der Stelle zu bewegen, bevor die Lage nicht auf die eine
oder andere Weise geklärt war.
Und es regnete; wie es aussah, könnte das »Final
Push«- Konzert am Abend buchstäblich ins Wasser fallen. Im
Murrayfield-Stadion waren die Musiker und Stars eifrig mit
Soundchecks und Proben beschäftigt. Bob Geldof hielt sich im
Balmoral Hotel auf, war allerdings auf dem Sprung, mit seinem
Freund Bono zusammen nach Gleneagles zu fahren – immer unter der
Voraussetzung, dass die diversen Demonstrationszüge sie durchlassen
würden. Auch die Königin war auf dem Weg nach Norden, wo sie ein
Dinner für die Delegierten geben würde.
Die Nachrichtensprecher klangen atemlos,
aufgeputscht durch zu viel Koffein. Siobhan, die die Nacht in ihrem
Auto verbracht hatte, behalf sich mit dem wässrigen Kaffee von
einem ortsansässigen Bäcker. Die anderen Kunden waren eher an den
Szenen interessiert, die sich auf dem Bildschirm oben hinter der
Theke abspielten.
»Das ist Bannockburn«, hatte eine von ihnen
erklärt. »Und das da Springkerse. Sie sind überall!«
»Tut euch zusammen«, riet ihre Freundin, woraufhin
einige lächelten. Die Demonstranten hatten Camp Horizon morgens um
zwei verlassen und die Polizei buchstäblich im Schlaf
überrascht.
»Ich verstehe nicht, weshalb uns diese verfluchten
Politiker weismachen wollen, das wäre gut für Schottland«, murmelte
ein Mann im Maleranzug, der auf sein Schinkenbrötchen wartete. »Ich
hab heute in Dunblane und Crieff zu tun. Gott weiß, wie ich da
hinkommen soll …«
Wieder im Auto, wärmte Siobhan sich an der Heizung
auf, aber Wirbelsäule und Nacken blieben steif. Sie hatte in
Stirling übernachtet, denn wenn sie nach Hause gefahren wäre, hätte
sie morgens wiederkommen und dann das ganze Sicherheitsprozedere
erneut über sich ergehen lassen müssen. Nachdem sie zwei Aspirin
geschluckt hatte, machte sie sich auf den Weg zur A9. Sie war auf
der Schnellstraße noch nicht weit gekommen, als die Warnblinkanlage
eines Autos vor ihr signalisierte, dass der Verkehr auf beiden
Fahrbahnen völlig zum Erliegen gekommen war. Fahrer waren aus ihren
Autos gestiegen, um die Männer und Frauen anzubrüllen, die in
Clownskostümen auf der Straße lagen, manche an die Leitplanken des
Mittelstreifens gekettet. Polizisten jagten andere knallbunt
gekleidete Gestalten über die angrenzenden Felder. Siobhan parkte
auf dem befestigten Seitenstreifen und lief zur Spitze der
Autoschlange, wo sie dem diensthabenden Beamten ihre Dienstmarke
zeigte.
»Ich sollte jetzt eigentlich in Auchterarder sein«,
erklärte sie dem Mann. Er deutete mit seinem kurzen Schlagstock auf
ein Polizeimotorrad.
»Falls Archie einen Ersatzhelm hat, kann er Sie in
zwei Sekunden hinbringen.«
Archie zauberte den benötigten Helm hervor. »Da
hinten wird Ihnen allerdings höllisch kalt werden«, warnte er
sie.
»Dann muss ich mich eben ankuscheln, oder?«
Als er jedoch Gas gab und losfuhr, fand sie das
Wort »ankuscheln« völlig deplatziert. Um ihr nacktes Leben bangend,
klammerte Siobhan sich an ihm fest. In ihrem Helm befand sich ein
Hörer, über den sie Meldungen von Operation Sorbus mitverfolgen
konnte. Rund fünftausend Demonstranten brachen über Auchterarder
herein, bereit, die Tore des Hotels zu passieren. Sinnlos, wie
Siobhan wusste: Sie wären immer noch mehrere hundert Meter vom
Hauptgebäude entfernt, und ihre Parolen würden im Wind verwehen.
Die hohen Tiere in Gleneagles würden nichts von Demonstrationen,
nichts von massenhaftem Protest mitbekommen. Aus allen Richtungen
strömten Demonstranten über die Felder herbei, aber die Polizisten
jenseits des Sicherheitskordons waren vorbereitet. Als sie Stirling
verließ, war Siobhan ein neues Graffito auf einer Fastfoodbude ins
Auge gefallen: 10 000 Pharaos, sechs Milliarden Sklaven. Sie
versuchte immer noch herauszufinden, wer wer sein sollte …
Als Archie plötzlich bremste, wurde sie nach vorn
gedrückt, sodass sie über seine Schulter hinweg sehen konnte, was
sich vor ihnen abspielte.
Schutzschilde, Hundeführer, berittene
Polizei.
Ein zweimotoriger Transporthubschrauber
durchpflügte die Luft über ihnen.
Flammen züngelten an einer amerikanischen
Flagge.
Ein Sitzstreik, der sich über die ganze Breite der
Fahrbahn erstreckte. Als Polizisten begannen, ihn zu durchbrechen,
schoss Archie mit dem Motorrad auf die Lücke zu und quetschte sich
hindurch. Wären Siobhans Finger nicht vor Kälte steif und taub
gewesen, hätte sie ihm auf die Schulter geklopft. Durch den
Kopfhörer erfuhr sie, dass der Bahnhof Stirling möglicherweise in
Kürze wieder geöffnet würde, dass Anarchisten aber die Linie als
Abkürzung nach Gleneagles verwenden könnten. Sie erinnerte sich,
dass das Hotel sich mit seinem eigenen Bahnhof brüstete, zweifelte
jedoch daran, dass irgendjemand ihn heute benutzen würde. Bessere
Nachrichten kamen aus Edinburgh, wo sintflutartiger Regen die
Begeisterung der Demonstranten gedämpft hatte.
Archie wandte den Kopf zu ihr um. »Schottisches
Wetter!«, brüllte er. »Was würden wir bloß ohne es machen?«
Auf der Forth Road Bridge lief der Verkehr mit
»minimalen Störungen«, und frühe Straßenblockaden auf der Quality
Street und der Corstorphine Road waren aufgelöst worden. Archie
fuhr langsamer, um eine weitere Blockade zu passieren, was Siobhan
nutzte, um sich mit dem Jackenärmel den Nieselregen vom Visier zu
wischen. Als sie blinkten, um von der Schnellstraße abzubiegen,
schien ein anderer, kleinerer Hubschrauber sie zu begleiten. Archie
hielt seine Maschine an.
»Endstation«, sagte er. Sie hatten noch nicht
einmal die Stadtgrenze erreicht. Aber vor ihnen, jenseits eines
Polizeikordons, wogte ein Meer von Fahnen und Transparenten.
Sprechchöre, Pfiffe und Buhrufe.
Bush, Blair, CIA, how many kids did you kill
today? Derselbe Sprechchor, den sie beim Verlesen der Toten
gehört hatte.
George Bush, we know you, your daddy was a
killer, too. Gut, das war jetzt ein neuer …
Siobhan ließ sich vom Soziussitz gleiten, gab
Archie den Helm zurück und bedankte sich. Er grinste sie an.
»Werd wohl nicht allzu viele so aufregende Tage
erleben«, sagte er, während er sein Motorrad umdrehte. Beim
Losfahren winkte er ihr zu. Siobhan erwiderte den Gruß, wobei das
Gefühl langsam in ihre Finger zurückkehrte. Ein rotgesichtiger
Polizist stürzte auf sie zu. Sie hielt ihm bereits ihre Dienstmarke
hin.
»Umso idiotischer von Ihnen«, blaffte er sie an.
»Sie sehen aus wie eine von denen.« Er zeigte auf die in Schach
gehaltenen Demonstranten. »Die sehen Sie hinter unseren Linien und
meinen, da gehören sie auch hin. Und deshalb verschwinden
Sie jetzt von hier oder besorgen sich eine Uniform.«
»Sie vergessen«, entgegnete Siobhan, »dass es noch
einen dritten Weg gibt.« Und mit einem Lächeln ging sie bis
zur Polizeilinie vor, drängte sich zwischen zwei schwarz gekleidete
Gestalten und kroch geduckt unter ihren Schutzschilden hindurch.
Nun stand sie in der ersten Reihe der Demonstranten. Der
rotgesichtige Offizier starrte sie entgeistert an.
»Zeigt eure Dienstmarken!«, rief ein Demonstrant
den Polizisten zu. Siobhans Blick fiel auf den Polizisten
unmittelbar vor ihr. Er hatte so etwas Ähnliches wie einen Blaumann
an. Auf seinem Helm über dem Visier prangten in Weiß die Buchstaben
ZH. Sie versuchte sich zu erinnern, ob irgendeiner von dem Trupp
aus den Princes Street Gardens die gleichen Abzeichen getragen
hatte. Ihr fiel jedoch nur XS ein.
Polizeiexzess.
Das Gesicht des Beamten war schweißnass, aber er
machte einen gelassenen Eindruck. Befehle und Aufmunterungen gingen
durch die Reihen der Polizei: »Macht dicht!«
»Nur die Ruhe, Jungs.«
»Drängt sie zurück!«
Auf beiden Seiten gab es so etwas wie einen
vereinbarten Katalog abgestufter Reaktionen auf das Geschiebe.
Einer der Demonstranten, der das Ganze zu kontrollieren schien,
rief, der Protestmarsch sei genehmigt und die Polizei setze sich
jetzt über sämtliche Absprachen hinweg. Für die Konsequenzen könne
er keine Verantwortung übernehmen. Die ganze Zeit hielt er sich ein
Handy ans Ohr, während Pressefotografen mit hochgehaltenen Kameras
auf Zehenspitzen standen, um etwas von dem Geschehen
mitzubekommen.
Siobhahn begann, sich zuerst rückwärts, dann
seitwärts zu bewegen, bis sie den Rand des Zugs erreicht hatte. Von
diesem Punkt aus suchte sie die Menge nach Santal ab. Neben ihr
stand ein Teenager mit schlechten Zähnen und kahlgeschorenem Kopf.
Als er anfing, Beschimpfungen loszulassen, verriet sein Akzent den
Einheimischen. Einmal klappte seine Jacke auf, und Siobhan
erhaschte einen Blick auf etwas, was in seinem Hosenbund steckte
und sehr nach einem Messer aussah.
Er hatte sein Handy in der Hand und nahm damit
Videoschnipsel auf, die er anschließend seinen Kumpeln schickte.
Siobhan sah sich um. Unmöglich, die Polizisten zu rufen. Wenn sie
eine Bresche schlügen, um ihn festzunehmen, wäre hier die Hölle
los. Also drängte sie sich hinter ihn und passte den geeigneten
Moment ab. Als ein Sprechchor ertönte, flogen Hände in die Luft,
und sie ergriff ihre Chance. Sie packte seinen Arm, drehte ihn dem
Jungen auf den Rücken und drückte ihn so nach vorn, dass er auf die
Knie fiel. Mit ihrer freien Hand griff sie nach dem Messer an
seiner Taille, riss es heraus und schubste ihn so fest, dass er auf
allen vieren landete. Danach warf sie das Messer über eine niedrige
Mauer ins Gebüsch und bahnte sich rasch rückwärts einen Weg durchs
Gewühl. Sie mischte sich unter die Demonstranten, riss die Arme
hoch und klatschte im Rythmus mit den anderen mit. Währenddessen
kämpfte sich der Junge auf der Suche nach seinem Angreifer mit vor
Wut hochrotem Gesicht durch die Menschenmenge vor ihr.
Er würde sie nicht finden.
Siobhan konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen,
obwohl ihr klar war, dass ihre eigene Suche sich als ebenso
erfolglos erweisen könnte. Und einstweilen befand sie sich mitten
in einer Demonstration, die jeden Augenblick in Krawall ausarten
konnte.
Ich würde alles für einen Starbucks Latte tun,
dachte sie.
Falscher Ort und ganz eindeutig auch die falsche
Zeit …
Mairie saß in der Halle des Balmoral Hotels. Die
Aufzugtür öffnete sich, und sie sah den Mann im blauen Seidenanzug
heraustreten. Sie erhob sich von ihrem Stuhl, während er mit
ausgestreckter Hand auf sie zuging.
»Mr. Kamweze?«, fragte sie.
Er verneigte sich wie zur Bestätigung, worauf sie
seine Hand ergriff.
»Nett, dass Sie sich so kurzfristig mit mir
treffen«, sagte Mairie und versuchte, nicht zu überschwänglich zu
klingen. Ihr Anruf war nämlich genau das gewesen: die aufstrebende
Reporterin, überwältigt von der Möglichkeit, mit einem so
bedeutenden afrikanischen Politiker zu sprechen … und ob er
möglicherweise fünf Minuten erübrigen könnte, um ihr bei
einem Porträt zu helfen, an dem sie gerade arbeitete?
Die Pose war nicht mehr nötig: Er stand jetzt
direkt vor ihr. Aber natürlich wollte sie nicht, dass er gleich
Reißaus nahm.
»Tee?«, erkundigte er sich und ging voraus zum Palm
Court.
»Ihr Anzug gefällt mir«, sagte sie, während er den
Stuhl für sie zurückzog. Beim Setzen strich sie sich den Rock
glatt. Joseph Kamweze schien den Anblick zu genießen.
»Danke«, erwiderte er und rutschte auf die
gepolsterte Bank ihr gegenüber.
»Ist es ein Designermodell?«
»In Singapur gekauft, auf dem Heimweg von einer
offiziellen Mission in Canberra. In Wirklichkeit eher günstig …« Er
beugte sich verschwörerisch zu ihr vor. »Aber das bleibt unter
uns.« Er grinste über das ganze Gesicht, wobei ein Goldzahn hinten
in seinem Mund sichtbar wurde.
»Ich möchte Ihnen noch einmal danken, dass Sie
gekommen sind.« Mairie holte Notizbuch und Stift aus ihrer Tasche.
Außerdem hatte sie ein kleines digitales Aufnahmegerät und fragte
ihn, ob es ihm etwas ausmachen würde.
»Das wird von Ihren Fragen abhängen«, sagte er,
erneut grinsend. Die Kellnerin kam, und er bestellte Lapsang
Souchong für sie beide. Mairie hasste das Zeug, ließ es sich jedoch
nicht anmerken.
»Die Rechnung übernehme ich«, erklärte sie ihm. Er
wischte das Angebot mit einer Handbewegung beiseite.
»Das spielt keine Rolle.«
Mairie hob eine Augenbraue. Sie war immer noch mit
ihrem Handwerkszeug beschäftigt, als sie die nächste Frage
stellte.
»Ihre Reise wurde von Pennen Industries
finanziert?«
Das Grinsen verschwand; sein Blick verhärtete sich.
»Wie bitte?«
Sie bemühte sich, einen Eindruck von Naivität zu
erwecken. »Ich habe mich nur gefragt, wer Ihren Aufenthalt hier
bezahlt.«
»Was wollen Sie eigentlich?« Die Stimme klang
eiskalt. Seine Hände fuhren die Tischkante entlang.
Mairie tat, als läse sie in ihren Aufzeichnungen
nach. »Sie gehören zur kenianischen Handelsdelegation, Mr. Kamweze.
Was genau erwarten Sie vom G8-Gipfel?« Sie vergewisserte sich, dass
das Aufnahmegerät funktionierte, und legte es auf den Tisch
zwischen ihnen. Die völlige Normalität dieser Frage schien Joseph
Kamweze aus dem Konzept gebracht zu haben.
»Schuldenerlass ist für Afrikas Wiedergeburt von
eminenter Bedeutung«, zitierte er. »Finanzminister Brown hat darauf
hingewiesen, dass einige von Kenias Nachbarn …« Unfähig
weiterzureden, brach er ab. »Warum sind Sie hier? Ist Henderson
überhaupt Ihr richtiger Name? Ich bin ein Idiot, dass ich Sie nicht
nach Ihrem Ausweis gefragt habe.«
»Ich habe ihn hier.« Mairie schickte sich an, in
ihrer Handtasche danach zu suchen.
»Warum haben Sie Richard Pennen erwähnt?«,
unterbrach Kamweze.
Sie zwinkerte ihm zu. »Das habe ich nicht
getan.«
»Lügnerin.«
»Ich habe von Pennen Industries gesprochen, und das
ist eine Gesellschaft, kein Individuum.«
»Sie waren mit dem Polizisten in Prestonfield
House.« Das klang wie eine Tatsache, obwohl es auch nur eine
Vermutung sein konnte. So oder so, sie leugnete es nicht.
»Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen«, forderte er
sie auf.
»Sind Sie da sicher?« Auch ihre Stimme war hart
geworden, und sie hielt seinem Blick stand. »Wenn Sie nämlich jetzt
weggehen, werde ich ein Foto von Ihnen groß auf der Titelseite
meiner Zeitung bringen.«
»Sie machen sich ja lächerlich.«
»Das Bild ist etwas grobkörnig, und wir werden es
vergrößern müssen, was bedeutet, dass es außerdem ein bisschen
unscharf sein könnte. Aber es wird eine Striptänzerin zu sehen
sein, die vor Ihnen herumturnt, Mr. Kamweze. Sie werden die Hände
auf Ihren Knien und ein breites Lächeln im Gesicht haben, während
Sie ihre nackte Brust anstarren. Sie heißt Molly und arbeitet im
Nook in der Bread Street. Ich habe mir heute Morgen die Videos der
Überwachungskameras besorgt.« Lügen, alles Lügen, aber sie genoss
die Wirkung, die diese Worte auf ihn hatten. Seine Fingernägel
bohrten sich in die Tischplatte. Sein kurzgeschnittenes Haar
glänzte vor Schweiß.
»Dann wurden Sie auf einem Polizeirevier vernommen,
Mr. Kamweze. Ich könnte mir denken, dass auch dieser kleine Ausflug
im Film festgehalten ist.«
»Was wollen Sie eigentlich von mir?«, zischte er.
Doch dann musste er sich zusammenreißen, denn gerade kam das
Tablett mit dem Tee und ein paar Shortbread-Keksen. Mairie biss in
einen hinein – morgens nicht gefrühstückt! Der Tee roch nach im
Ofen gebackenem Seetang, und kaum dass die Kellnerin eingeschenkt
hatte, schob sie ihre Tasse zur Seite. Der Kenianer tat es ihr
gleich.
»Nicht durstig?«, fragte sie und musste
unwillkürlich lächeln.
»Das hat der Detective Ihnen erzählt«, sagte
Kamweze. »Er hat mir auf die gleiche Weise gedroht.«
»Die Sache ist nur die, dass er Sie nicht belangen
kann. Ich dagegen … Nun, es sei denn, Sie geben mir einen guten
Grund, eine exklusive Titelstory in der Schublade verschwinden zu
lassen …« Sie sah, dass er noch nicht so ganz angebissen hatte.
»Eine Titelstory, die man auf der ganzen Welt zu Gesicht bekommen
wird. Wie lange kann es dauern, bis die Presse in Ihrem Land die
Geschichte aufgreift und selbst veröffentlicht? Wie lange, bis Ihre
Vorgesetzten in der Regierung davon erfahren? Ihre Nachbarn,
Freunde …«
»Genug«, knurrte er. Sein Blick war starr auf den
Tisch gerichtet. In dessen hochglanzpolierter Oberfläche erblickte
er sein eigenes Spiegelbild. »Genug«, wiederholte er, und sein Ton
verriet ihr, dass er sich geschlagen gab. Sie biss in einen
weiteren Keks. »Was wollen Sie?«
»Eigentlich nicht viel«, beruhigte sie ihn. »Nur
alles, was Sie mir über Mr. Richard Pennen erzählen können.«
»Soll ich Ihr Informant à la ›Deep Throat‹ sein,
Miss Henderson?«
»Warum nicht, wenn der Gedanke Ihnen reizvoll
erscheint«, antwortete sie.
Und dachte bei sich: In Wirklichkeit bist du noch
so ein Betrogener, der erwischt wurde … noch so ein makelbehafteter
Beamter …
Noch so ein Singvogel …
Seine zweite Beerdigung innerhalb einer
Woche.
Er war aus der Stadt hinausgekrochen. An der Forth
Bridge winkte die Fife Constabulary Lastwagen und Transporter
heraus, um sie auf ihre Tauglichkeit als Barrikaden zu überprüfen.
Jenseits der Brücke gab es dagegen keine Störungen, sodass er sogar
zu früh ankam. Er fuhr ins Zentrum von Dundee, parkte am Hafen und
rauchte eine Zigarette, während er im Radio die Nachrichten hörte.
Komisch, die englischen Sender berichteten ständig über die
Bewerbung Londons zu den Olympischen Spielen; kaum ein Wort über
Edinburgh. Tony Blair jettete gerade von Singapur zurück. Rebus
überlegte, ob er wohl Flugmeilen sammelte …
Die schottischen Nachrichtensendungen hatten
Mairies Geschichte aufgegriffen: Alle nannten ihn den »G8-Mörder«.
Chief Constable James Corbyn gab zu dem Thema keine offizielle
Erklärung ab; SO12 betonte, dass für die Staats- und
Regierungschefs, die in Gleneagles zusammenkamen, keinerlei Gefahr
bestehe.
Zwei Beerdigungen innerhalb einer Woche. Rebus
fragte sich, ob er unter anderem deshalb so viel arbeitete, weil er
dann nicht allzu viel über Mickey nachdenken musste. Er hatte eine
der beiden Quadrophenia-CDs dabei, von der er auf der Fahrt
nach Norden ein paar Songs gehört hatte, auch den, wo Daltrey immer
wieder mit krächzender Stimme fragt: Can you see the real
me? Auf dem Beifahrersitz lagen die Fotos: Edinburgh Castle,
Smokings und Fliegen. Ben Webster, dem noch zwei Stunden zu leben
blieben, sah genauso aus wie die anderen. Aber Selbstmörder hatten
ja keine Schilder um den Hals hängen. Ebenso wenig wie
Serienmörder, Gangster, korrupte Politiker. Unter den ganzen
offiziellen Porträtfotos lag Mungos Nahaufnahme von Santal und
ihrer Kamera. Rebus studierte sie einen Augenblick, bevor er sie
obenauf legte. Dann ließ er den Motor an und machte sich auf den
Weg zum Krematorium.
Dort wimmelte es von Menschen. Familie und Freunde,
dazu Vertreter aller politischen Parteien. Auch Labour-Abgeordnete.
Die Presse hielt Abstand und drängte sich am Tor zum Krematorium.
Vermutlich jüngere Mitarbeiter, die sich darüber ärgerten, dass
ihre älteren und erfahreneren Kollegen sich unterdessen beim
G8-Gipfel tummelten und die Schlagzeilen und Titelseiten der
Donnerstagsausgaben für sich beanspruchten. Rebus verlangsamte
seinen Schritt, als die eigentlichen Gäste hineingeleitet wurden.
Manche von ihnen sahen ihn fragend an, konnten sich wohl nicht
vorstellen, dass er irgendeine Verbindung zu dem Abgeordneten
gehabt hatte; hielten ihn für eine Art Geier, der sich am Schmerz
Fremder weidete.
Vielleicht hatten sie damit nicht einmal so
unrecht, dachte Rebus.
Ein Hotel in Broughty Ferry hielt für danach
Erfrischungen bereit. »Die Familie«, richtete der Geistliche sich
an die Trauergemeinde, »hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass Sie
alle herzlich eingeladen sind.« Aber sein Blick verriet etwas
anderes: bitte nur engster Familien- und Freundeskreis. Auch das
war richtig: Rebus bezweifelte, dass irgendein Hotel in »the Ferry«
es mit einer solchen Menschenmenge würde aufnehmen können.
Er saß in der letzten Reihe. Der Geistliche hatte
einen von Ben Websters Kollegen gebeten heraufzukommen und ein paar
Worte zu sagen. Klang ganz ähnlich wie die Lobrede bei Mickeys
Beerdigung: Ein guter Mann … fehlt denen, die ihn kannten, sehr,
und das taten viele … seiner Familie eng verbunden … in der
Gemeinde sehr beliebt. Rebus fand, dass er lange genug gewartet
hatte. Von Stacey keine Spur. Seit jener Begegnung vor der
Leichenhalle hatte er nicht mehr viel an sie gedacht. Er vermutete,
dass sie nach London zurückgekehrt war oder sich um das Haus und
den Nachlass ihres Bruders kümmerte.
Aber die Beerdigung zu verpassen …
Zwischen Mickeys Tod und seiner Einäscherung war
mehr als eine Woche vergangen. Und bei Ben Webster? Nicht einmal
ganze fünf Tage. Konnte man die Eile als ungebührlich bezeichnen?
Stacey Websters Entscheidung oder die von jemand anderem? Draußen
auf dem Parkplatz steckte er sich eine weitere Zigarette an und
wartete noch fünf Minuten. Dann schloss er das Auto auf und stieg
ein.
Can you see the real me …
»O ja«, sagte er ruhig und drehte den Zündschlüssel
um.
Chaos in Auchterarder.
Das Gerücht hatte die Runde gemacht, Bushs
Helikopter sei unterwegs. Siobhan warf einen prüfenden Blick auf
die Uhr, denn sie wusste, dass er erst am späteren Nachmittag in
Prestwick eintreffen sollte. Jeder Hubschrauber, der kam, wurde von
der Menge mit Pfiffen und Buhrufen begrüßt. In Scharen waren sie
kleine Straßen entlanggelaufen, hatten Felder überquert und waren
über Mauern in private Gärten gestiegen. Ihr einziges Ziel: zu dem
Polizeikordon vorzudringen. Nein, hinter den Polizeikordon.
Das wäre der wahre Sieg: zwar immer noch achthundert Meter vom
Hotel entfernt, aber auf dem Gleneagles-Gelände. Sie hätten die
Polizei überlistet. Siobhan sah Mitglieder der Clowns-Armee und
zwei Demonstranten in Knickerbockern mit Golftaschen über der
Schulter: die People’s Golfing Association, deren Mission darin
bestand, ein Loch auf dem heiligen Meisterschaftsplatz zu spielen.
Sie hatte Stimmen mit amerikanischem, spanischem und deutschem
Akzent gehört. Sie hatte beobachtet, wie eine Gruppe schwarz
gekleideter Autonomer mit vermummten Gesichtern ihren nächsten
Schritt plante. Über ihnen brummte ein Flugzeug, das
Überwachungsdaten sammelte …
Aber keine Santal.
Auf der Hauptstraße von Auchterarder war die
Nachricht eingetroffen, dass das Edinburgher Kontingent daran
gehindert wurde, die Stadt zu verlassen.
»Also demonstrieren sie stattdessen dort«, erklärte
jemand voller Schadenfreude. »Die Bullen werden an ihre Grenzen
stoßen.«
Da hatte Siobhan so ihre Zweifel. Trotzdem
versuchte sie es auf dem Handy ihrer Eltern. Ihr Vater ging dran
und sagte, sie säßen schon seit Stunden im Bus und seien immer noch
da.
»Versprich mir, dass ihr an keiner Demo teilnehmt«,
beschwor Siobhan ihn.
»Versprochen«, sagte ihr Vater. Dann reichte er das
Handy an seine Frau weiter, damit Siobhan ihr das gleiche
Versprechen abnehmen konnte.
Als sie das Gespräch beendete, kam Siobhan sich
plötzlich wie eine Vollidiotin vor. Was machte sie hier, wo sie
doch genauso gut bei ihren Eltern hätte sein können? Eine weitere
Demonstration bedeutete mehr Bereitschaftspolizisten; vielleicht
würde ihre Mutter ja den Angreifer erkennen, oder irgendetwas würde
die Erinnerung wecken.
Sie verfluchte sich im Stillen, dann drehte sie
sich um und stand der Gesuchten gegenüber.
»Santal«, sagte sie. Die junge Frau senkte ihre
Kamera.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte Santal.
»Überrascht?«
»Ein bisschen schon. Sind Ihre Eltern …?«
»Sie sitzen in Edinburgh fest. Ich merke, Ihr
Lispeln hat sich gebessert.«
»Was?«
»Am Montag im Park«, fuhr Siobhan fort, »waren Sie
mit Ihrer kleinen Kamera beschäftigt. Nur haben Sie sie nicht auf
die Polizisten gerichtet. Warum das?«
»Ich weiß gar nicht, worauf Sie hinauswollen.«
Dabei schaute Santal sich jedoch flüchtig nach allen Seiten um, als
fürchtete sie, dass jemand mithörte.
»Der Grund dafür, dass Sie mir keins Ihrer Fotos
zeigen wollten, ist, dass sie mir etwas verraten würden.«
»Nämlich?« Sie klang weder ängstlich noch
misstrauisch, sondern wirklich neugierig.
»Sie würden mir verraten, dass Sie eher an Ihren
Krawallbrüdern als an den Ordnungshütern interessiert waren.«
»Und?«
»Da habe ich mich gefragt, wie das wohl kommt.
Hätte mir schon früher auffallen müssen. Schließlich haben es ja
alle gesagt – im Camp in Niddrie und auch hinterher in Stirling.«
Siobhan war bis auf wenige Zentimeter an Santal herangetreten. Sie
beugte sich vor. »Sie arbeiten undercover«, flüsterte sie. Dann
wich sie wieder einen Schritt zurück, so als bewunderte sie die
Aufmachung der jungen Frau. »Die Ohrringe und Piercings …
wahrscheinlich Imitationen«, mutmaßte sie.
»Vorübergehende Tätowierungen und …«, dabei starrte
sie auf die Haare, »eine hübsch gemachte Perücke. Warum Sie sich
solche Mühe mit dem Lispeln gegeben haben, ist mir allerdings
schleierhaft – vielleicht, um wenigstens ein Gespür für Ihre eigene
Identität zu behalten.« Sie machte eine Pause. »Bin ich nicht
gut?«
Santal verdrehte die Augen. Ein Handy klingelte,
worauf sie ihre Taschen durchwühlte und zwei herauszog. Bei einem
leuchtete das Display. Sie schaute darauf, dann warf sie einen
Blick über Siobhans rechte Schulter. »Jetzt ist die Clique
beisammen«, sagte sie. Siobhan wusste nicht, was sie meinte. Der
Trick war so alt wie die Welt, und trotzdem drehte sie sich
neugierig um.
Da stand John Rebus, Handy in der einen und so
etwas wie eine Visitenkarte in der anderen Hand.
»Mit den Etiketten kenne ich mich nicht so genau
aus«, meinte er beim Näherkommen. »Wenn ich etwas anzünde, das zu
hundert Prozent aus Tabak besteht, macht mich das zu einem Sklaven
im Reich des Bösen?« Er zuckte die Achseln, holte aber auf alle
Fälle die Zigarettenschachtel heraus.
»Santal hier ist ein Spitzel«, erklärte Siobhan
ihm.
»Das ist vielleicht nicht der passende Ort, um
diese Tatsache hinauszuposaunen«, zischte Santal.
»Erzählen Sie mir doch lieber was Neues«, schnaubte
Siobhan.
»Ich glaube, den Gefallen kann ich Ihnen tun«,
meinte Rebus, ohne den Blick von Santal abzuwenden.
»Pflichterfüllung ist ja gut und schön«, sagte er zu ihr, »aber
deswegen der Beerdigung Ihres eigenen Bruders fernzubleiben
…«
Sie funkelte ihn an. »Waren Sie dort?«
Er nickte. »Ich muss allerdings zugeben, dass ich
immer wieder das Foto von ›Santal‹ angestarrt habe und es trotzdem
ewig gedauert hat, bis es mir endlich dämmerte.«
»Das verstehe ich als Kompliment.«
»Das sollten Sie auch.«
»Ich wäre wirklich gern gekommen.«
»Was haben Sie denn als Entschuldigung
vorgebracht?«, fragte Rebus.
Erst jetzt mischte Siobhan sich ein. »Sie sind Ben
Websters Schwester?«
»Jetzt ist der Groschen gefallen«, kommentierte
Rebus. »DS Clarke, darf ich vorstellen, Stacey Webster.« Rebus’
Blick lag immer noch auf Stacey. »Aber vermutlich sollten wir Sie
lieber Santal nennen?«
»Dazu ist es jetzt wohl ein bisschen zu spät«,
antwortete Stacey. Wie auf ein Stichwort schlenderte ein junger
Mann mit einem roten Tuch um die Stirn auf sie zu.
»Alles klar hier?«
»Haben nur eine alte Freundin wiedergetroffen«,
warnte Rebus ihn.
»Ihr kommt mir vor wie Bullen.« Seine Augen
bewegten sich zwischen Rebus und Siobhan hin und her.
»Hey, lass mich mal machen.« Santal war wieder in
ihre Rolle geschlüpft: die starke Frau, die imstande war, ihre
Kämpfe selbst auszufechten. Sie fixierte den jungen Mann, bis er
den Blick abwandte.
»Wenn du meinst …« Und schon trat er den Rückzug
an. Als sie sich zu Rebus und Siobhan umwandte, wurde sie wieder
Stacey.
»Hier können Sie nicht bleiben«, erklärte sie. »Ich
dürfte in einer Stunde abgelöst werden – dann können wir
reden.«
»Wo?«
Sie überlegte einen Moment. »Innerhalb der
Absperrung. Hinter dem Hotel liegt ein Feld, wo die Fahrer sich
aufhalten. Warten Sie da auf mich.«
Siobhans Blick wanderte über die Menschenmenge.
»Und wie kommen wir da hin?«
Stacey lächelte säuerlich. »Lassen Sie sich etwas
einfallen.«
»Ich glaube«, erläuterte Rebus, »sie meint, wir
sollten uns verhaften lassen.«
17
Rebus brauchte gute zehn Minuten, um sich, Siobhan
im Schlepptau, an die Spitze des Gedränges vorzuarbeiten. Während
er seinen Körper an einen zerkratzten und beschmierten Schild
presste, drückte er in Augenhöhe des Polizisten mit der Handfläche
seine Dienstmarke gegen das durchsichtige, verstärkte
Plastik.
»Bringen Sie uns hier raus«, formte er mit den
Lippen. Darauf fiel der Polizist nicht herein. Stattdessen rief er
seinen Vorgesetzten, der entscheiden sollte. Der rotgesichtige
Beamte erschien hinter dem Polizisten und erkannte Siobhan sofort.
Sie bemühte sich, einigermaßen geläutert auszusehen.
Der Polizeibeamte gab ein Schniefen von sich und
dann einen Befehl. Die Kette aus Schutzschilden öffnete sich einen
winzigen Spalt, und Hände griffen nach Rebus und Siobhan. Auf der
anderen Seite des Kordons stieg der Geräuschpegel merklich
an.
»Zeigen Sie ihnen Ihre Dienstmarken«, befahl der
Polizeibeamte. Rebus und Siobhan kamen seinem Wunsch nur allzu gern
nach. Der Mann hielt ein Megafon vor sich und ließ die Menge
wissen, dass es keine Festnahmen gegeben hatte. Als er Rebus und
Siobhan als Kriminalbeamte zu erkennen gab, erhob sich ein
gewaltiges Gejohle. Trotzdem schien die Situation sich zu
entspannen.
»Für diese kleine Eskapade müsste ich Sie
eigentlich melden«, erklärte er Siobhan.
»Wir sind vom Morddezernat«, log Rebus, ohne mit
der Wimper zu zucken. »Da war jemand, mit dem wir reden mussten –
was hätten wir sonst tun sollen?«
Der Polizeibeamte starrte ihn an, sah sich aber
plötzlich mit drängenderen Aufgaben konfrontiert. Einer seiner
Männer war gestürzt, und die Demonstranten hatten offensichtlich
vor, diese Bresche in der Absperrung zu nutzen. Er bellte Befehle
in sein Megafon, und Rebus gab Siobhan mit einer Geste zu
verstehen, dass es wohl besser sei, das Weite zu suchen.
Einsatzwagentüren sprangen auf, weitere Polizisten
quollen heraus, um ihre Kollegen in der vordersten Reihe zu
unterstützen. Ein Sanitäter fragte Siobhan, ob ihr etwas
fehle.
»Ich bin nicht verletzt«, antwortete sie. Ein
kleiner Hubschrauber stand mit sich drehenden Rotorblättern auf der
Straße. Rebus ging geduckt darauf zu, um mit dem Piloten zu
sprechen, und winkte dann Siobhan herbei.
»Er kann uns zu dem Feld bringen.«
Der Pilot mit seiner verspiegelten Sonnenbrille
nickte zur Bestätigung. »Kein Problem«, rief er mit amerikanischem
Akzent. Dreißig Sekunden später saßen sie auf ihren Plätzen, und
die Maschine erhob sich in die Luft, wobei sie unter sich Staub und
Abfall aufwirbelte. Rebus pfiff ein paar Takte Wagner – eine
Verneigung vor Apocalypse Now -, aber Siobhan ignorierte
das. Man konnte kaum etwas hören, was sie jedoch nicht daran
hinderte, Rebus zu fragen, was er dem Piloten erzählt habe. Sie las
die Antwort von seinen Lippen ab: Morddezernat.
Das Hotel lag eine Meile südlich. Aus der Luft
konnte man mühelos den Sicherheitszaun und die Wachtürme erkennen.
Endlos weite verlassene Hänge und dann einzelne Nester von
Demonstranten, die von Schwarzuniformierten eingekesselt
waren.
»Direkt zum Hotel darf ich nicht fliegen«, rief der
Pilot. »Da würde uns eine Rakete runterholen.«
Das schien er ernst zu meinen, denn er machte einen
weiten Bogen um das Hotelgelände. Unten sahen sie eine Menge
provisorischer Bauten, in denen vermutlich die Vertreter der
internationalen Presse untergebracht werden sollten.
Satellitenschüsseln auf anonym aussehenden Lieferwagen. Fernsehen
oder vielleicht auch der Geheimdienst. Rebus konnte einen Pfad
erkennen, der von einem großen weißen Baldachin zur Umzäunung
führte. Das Feld war in einen Stoppelacker verwandelt worden, und
jemand hatte mit Farbe ein riesiges H darauf gesprüht, damit die
Hubschrauberpiloten wussten, wo sie landen sollten. Ihr Flug hatte
nur ein paar Minuten gedauert. Rebus schüttelte dem Piloten die
Hand und sprang hinaus, Siobhan hinterher.
»Für mich ist heute Tag des stilvollen Reisens«,
sinnierte sie. »Zur A9 bin ich auf dem Motorrad gekommen.«
»Belagerungsmentalität«, erklärte Rebus. »Bei
diesem Haufen hier geht es diese Woche nur um uns und sie.«
Ein Soldat im Kampfanzug und mit einer
Maschinenpistole bewaffnet kam auf sie zu. Ihre Ankunft schien ihn
ganz und gar nicht zu erfreuen. Beide zeigten ihre Dienstmarke,
aber das genügte dem Soldaten nicht. Rebus bemerkte, dass er keine
Abzeichen an der Uniform trug, nichts, woran man seine Nationalität
oder die Abteilung der Armee, in der er diente, hätte erkennen
können. Er bestand darauf, ihnen ihre Dienstausweise
abzunehmen.
»Warten Sie genau hier!«, befahl er und zeigte auf
die Stelle, an der sie standen. Als er sich umdrehte, deutete Rebus
einen kleinen Stepptanz an und zwinkerte Siobhan zu. Der Soldat war
in einem riesigen Wohnwagen verschwunden, dessen Tür von einem
anderen bewaffneten Soldaten bewacht wurde.
»Es ist was faul im Staate Dänemark«, meinte
Rebus.
»Bin ich deshalb jetzt Ophelia?«
»Lassen Sie uns mal schauen, was da drüben los
ist«, schlug Rebus vor und war schon auf dem Weg zum Baldachin.
Dessen Dach war eine feste Konstruktion aus Plastikteilen, die
durch Pfosten gehalten wurde. Darunter standen mehrere Limousinen
nebeneinander aufgereiht. Chauffeure in Livree tauschten Zigaretten
und Geschichten aus. Das Merkwürdigste war jedoch ein Koch mit
weißer Jacke, schwarz-weiß karierter Hose und Kochmütze auf dem
Kopf, der so etwas wie Omeletts zubereitete. Er stand hinter einer
Art niedrigem Gerüst, neben sich eine große rote Butangasflasche.
Das Essen wurde auf richtigen Tellern und mit silbernem Besteck
serviert. Für die Chauffeure hatte man Tische aufgestellt.
»Ich habe davon gehört, als ich mit dem DCI hier
oben war«, erklärte Siobhan. »Die Hotelangestellten kommen von
hinten auf das Gelände und lassen ihre Autos auf dem nächsten Feld
stehen.«
»Ich nehme an, sie sind alle überprüft worden«,
sagte Rebus, »was im Moment auch mit uns passiert.« Er warf einen
Blick auf den Wohnwagen und nickte dann einer Gruppe von Fahrern
zur Begrüßung zu. »Sind die Omeletts in Ordnung, Jungs?«, fragte
er, worauf er bestätigende Antworten erhielt. Der Koch wartete auf
neue Bestellungen.
»Eins mit allem«, sagte Rebus zu ihm und wandte den
Kopf Siobhan zu.
»Das Gleiche«, meinte sie.
Der Koch begann, emsig mit seinen kleinen
Plastikschüsseln voll Schinkenwürfeln, Pilzscheiben und klein
geschnittenen Paprikaschoten zu hantieren. Rebus nahm sich, während
er wartete, Messer und Gabel.
»Kleine Abwechslung für Sie«, sagte er zu dem Koch.
Der Mann lächelte. »Aber mit allen Schikanen«, fuhr Rebus in
beeindrucktem Ton fort. »Chemietoilette, warme Mahlzeit, ein
Unterstand, wenn’s regnet …«
»Die Hälfte der Autos haben Fernseher«, fügte einer
der Fahrer hinzu. »Allerdings ist der Empfang nicht
besonders.«
»Das Leben ist schon hart«, äußerte Rebus
mitfühlend. »Durften Sie mal in den Wohnwagen?«
Die Fahrer schüttelten die Köpfe. »Der ist
gerammelt voll mit Zeug«, antwortete einer. »Ich hab mal einen
Blick riskiert. Computer und so was.«
»Diese Antenne auf dem Dach ist dann wohl nicht für
Coronation Street gedacht«, sagte Rebus, mit dem Finger
darauf deutend. Die Fahrer lachten. Im selben Moment öffnete sich
die Tür des Wohnwagens, und der Soldat kam wieder heraus. Er schien
verblüfft darüber, dass Rebus und Siobhan den ihnen zugewiesenen
Platz verlassen hatten. Während er auf sie zuging, nahm Rebus sein
Omelett in Empfang und aß einen Bissen davon. Er machte dem Koch
gerade ein Kompliment, als der Soldat vor ihm stehen blieb.
»Möchten Sie was davon?«, fragte Rebus und hielt
ihm die Gabel hin.
»Sie werden gleich was kriegen, und zwar auf die
Ohren«, entgegnete der Soldat. Rebus drehte sich zu Siobhan
um.
»Ziemlich gute Reaktion«, sagte sie, während sie
von dem Koch ihren Teller entgegennahm.
»DS Clarke ist nämlich Expertin«, informierte Rebus
den Soldaten. »Wir futtern nur schnell auf und steigen dann mal
kurz in einen Benz, um Columbo zu schauen …«
»Ich behalte vorerst Ihre Dienstausweise«, sagte
der Soldat. »Zu Prüfungszwecken.«
»Sieht aus, als säßen wir hier jetzt fest.«
»Auf welchem Kanal kommt denn Columbo?«,
fragte einer der Chauffeure. »Die Sendung gefällt mir.«
»Steht doch sicher in der Programmzeitschrift«,
meinte ein Kollege.
Der Soldat riss den Kopf hoch und beobachtete mit
vorgestrecktem Kinn, wie ein Hubschrauber näher kam. Der flog
niedrig und machte einen ohrenbetäubenden Lärm. Um ihn besser sehen
zu können, trat der Soldat unter dem Baldachin hervor.
»Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst!«, entfuhr es
Rebus, als der Mann steif vor der Unterseite des Hubschraubers
salutierte.
»Das macht er jedes Mal!«, brüllte einer der
Fahrer. Ein anderer fragte, ob es Bush sein könnte. Uhren wurden
abgeglichen. Der Koch bedeckte seine Zutaten, für den Fall, dass
der Abwind herumliegendes Kleinzeug aufwirbelte.
»Er muss demnächst kommen«, mutmaßte jemand.
»Ich habe Boki von Prestwick hergefahren«, fügte
ein anderer hinzu und schob die Erklärung nach, dass es sich dabei
um den Spürhund des Präsidenten handelte.
Der Hubschrauber war über einer Baumreihe
verschwunden. Sie konnten hören, wie er zum Landen ansetzte.
»Was machen eigentlich die Ehefrauen«, fragte
Siobhan, »während die Männer mit Armdrücken beschäftigt
sind?«
»Wir können sie auf eine Besichtigungsfahrt
mitnehmen …«
»Oder zum Einkaufsbummel.«
»Oder in Museen und Galerien.«
»Sie bekommen haargenau das, was sie wollen. Selbst
wenn dafür Straßen gesperrt oder Kunden aus den Geschäften
hinauskomplimentiert werden müssen. Um sich die Zeit zu vertreiben,
lassen sie aber auch so Künstlertypen – Schriftsteller und Maler –
aus Edinburgh herbringen.«
»Und Bono natürlich«, fügte ein anderer hinzu. »Er
und Geldof gehen nachher hier auf Shake-hands-Tour.«
»Apropos …« Siobhan warf einen Blick auf die
Zeitangabe ihres Handys. »Ich kann eine Karte fürs ›Final
Push‹-Konzert bekommen.«
»Von wem?«, fragte Rebus, der wusste, dass sie bei
der öffentlichen Kartenverlosung kein Glück gehabt hatte.
»Von einem der Sicherheitskräfte in Niddrie.
Glauben Sie, wir sind rechtzeitig zu Hause?«
Er zuckte nur die Achseln. »Ach«, bemerkte er dann,
»was ich Ihnen noch sagen wollte …«
»Was?«
»Ich habe Ellen Wylie in unser Team
kooptiert.«
Siobhans Blick wurde starr.
»Sie hat mehr Einblick in
Sexbestien-im-Visier als wir«, fuhr Rebus fort, ohne ihr in
die Augen zu schauen.
»Ja«, erwiderte Siobhan, »etwas zu viel
Einblick.«
»Was bedeutet?«
»Was bedeutet, dass sie zu nah dran ist, John.
Überlegen Sie mal, was ein Verteidiger vor Gericht mit ihr machen
würde!« Siobhan hatte ihre Stimme nicht mehr unter Kontrolle. »Ist
Ihnen nicht vielleicht der Gedanke gekommen, mich zu fragen? Ich
bin diejenige, die den Kopf hinhält, wenn das hier alles
schiefgeht!«
»Sie macht doch nur Verwaltungskram«, entgegnete
Rebus, dem klar war, wie erbärmlich das klang. Seine Rettung nahte
in Form des Soldaten, der in langen Schritten wieder auf sie
zukam.
»Ich brauche Angaben über den Bereich, in dem Sie
tätig sind«, verkündete der Mann.
»Also, ich bin im CID-Bereich tätig«, antwortete
Rebus, »und meine Kollegin hier ebenso. Wir sollten uns mit
jemandem treffen, wurde uns gesagt … und zwar genau hier.«
»Welche Person? Auf wessen Befehl?«
Rebus tippte sich seitlich an die Nase. »Pssst«,
sagte er mit gedämpfter Stimme. Die Fahrer unterhielten sich wieder
miteinander und debattierten darüber, welche Stars sie am Samstag
zu den Scottish Open chauffieren würden.
»Ich keinen«, prahlte einer von ihnen. »Ich fahre
zwischen Glasgow und T in the Park...«
»Ihre Dienststelle ist in Edinburgh, Inspector«,
stellte der Soldat fest. »Hier befinden wir uns weit außerhalb
Ihres Zuständigkeitsbereichs.«
»Wir ermitteln in einem Mordfall«, gab Rebus
zurück.
»Eigentlich in drei Mordfällen«, setzte Siobhan
noch eins drauf.
»Und das bedeutet keine Grenzen«, schloss
Rebus.
»Es sei denn«, konterte der Soldat und ging auf die
Zehenspitzen, »Sie haben die Order, Ihre Ermittlungen auf Eis zu
legen.« Er schien die Wirkung zu genießen, die seine Worte vor
allem auf Siobhan hatten.
»Aha, Sie haben also telefoniert«, sagte Rebus,
ohne sich sonderlich beeindruckt zu zeigen.
»Ihr Chief Constable war nicht besonders
glücklich.« Der Soldat lächelte. »Und er ebenso wenig …« Rebus
folgte der Richtung seines Blicks. Ein Landrover holperte auf sie
zu. Das Beifahrerfenster war offen, und Steelforths Kopf schaute
heraus, als zerrte er an irgendeiner Leine.
»Ach du Scheiße«, murmelte Siobhan.
»Kopf hoch, Schultern zurück!«, empfahl Rebus ihr,
wofür er wieder einen vernichtenden Blick erntete.
Das Fahrzeug hatte mit quietschenden Bremsen
angehalten, und Steelforth war herausgesprungen. »Wissen Sie
eigentlich«, schrie er, »wie viele Monate Training und
Vorbereitung, wie viele Wochen verdeckter Ermittlung … wissen Sie,
wie viel davon Sie gerade in tausend Stücke zerschlagen
haben?«
»Ich glaube, ich kann Ihnen nicht recht folgen«,
antwortete Rebus unbekümmert, während er dem Koch seinen leeren
Teller zurückgab.
»Wahrscheinlich meint er Santal«, sagte
Siobhan.
Steelforth funkelte sie wütend an. »Natürlich meine
ich sie!«
»Sie ist eine von Ihnen?«, fragte Rebus und nickte
dann, sich selbst zustimmend. »Logisch. Sie haben sie in die
Zeltstadt in Niddrie geschickt. Dort sollte sie Fotos von all den
Demonstranten machen und sie zu einer netten kleinen Mappe für den
späteren Gebrauch zusammenstellen … Nicht einmal für die Beerdigung
ihres Bruders konnten Sie sie entbehren, so wertvoll war sie für
Sie.«
»Ihre eigene Entscheidung, Rebus«, fauchte
Steelforth.
»Columbo hat um zwei angefangen«, meldete
einer der Fahrer.
Steelforth ließ sich nicht beirren. »Bei so einer
verdeckten Ermittlung fliegt die Tarnung oft auf, bevor der
Ermittler überhaupt richtig loslegt. Ihr Einsatz hatte schon vor
Monaten begonnen.«
Rebus hakte beim Gebrauch der Vergangenheitsform
ein, und Steelforth nickte bestätigend.
»Was glauben Sie«, fragte er, »wie viele Leute Sie
heute mit ihr gesehen haben? Wie viele Sie als einen vom CID
erkannt haben? Die werden jetzt anfangen, ihr entweder zu
misstrauen oder sie in der Hoffnung, dass wir anbeißen, mit
Blödsinn füttern.«
»Wenn sie uns gleich vertraut hätte -« Siobhan
wurde durch ein schroffes Auflachen von Steelforth
unterbrochen.
»Ihnen vertrauen?« Er lachte wieder. »Großer
Gott, der ist wirklich gut.«
»Sie hätten vorhin hier sein sollen«, sagte
Siobhan. »Die Retourkutsche unseres Soldatenfreunds war
besser.«
»Ach übrigens«, warf Rebus ein, »ich wollte mich
noch bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie mich über Nacht in eine
Zelle gesperrt haben.«
»Ich kann nichts dafür, wenn Polizeibeamte
beschließen, auf eigene Faust zu handeln – oder wenn Ihr eigener
Chef nicht ans Telefon geht.«
»Es waren also echte Polizisten?«, fragte Rebus.
Steelforth stemmte die Hände in die Hüften. Er richtete den Blick
zu Boden, dann wieder auf Rebus und Siobhan.
»Sie werden natürlich vorübergehend
suspendiert.«
»Wir arbeiten nicht für Sie.«
»Diese Woche arbeitet jeder für mich.« Er
wandte seine Aufmerksamkeit Siobhan zu. »Und Sie werden DS Webster
nicht wiedersehen.«
»Sie hat Beweise …«
»Beweise wofür? Dass Ihre Mutter bei
Ausschreitungen von einem Schlagstock getroffen wurde? Sie
muss entscheiden, ob sie Anzeige erstatten will – haben Sie sie
überhaupt gefragt?«
»Ich …«, stammelte Siobhan.
»Nein, Sie mussten gleich auf Ihren kleinen
Kreuzzug gehen. DS Webster ist nach Hause geschickt worden – Ihre
Schuld, nicht meine.«
»Apropos Beweise«, schaltete Rebus sich ein, »was
ist eigentlich mit diesen Überwachungsvideos passiert?«
Steelforth runzelte die Stirn. »Videos?«, echote
er.
»Der Kontrollraum im Edinburgh Castle … Kameras,
die auf die Zinnen gerichtet sind …«
»Die haben wir ein Dutzendmal durchgesehen«,
brummte Steelforth. »Niemand hat irgendetwas gesehen.«
»Dann ist es also in Ordnung, wenn ich einen Blick
auf die Bänder werfe?«
»Wenn Sie welche finden, nur zu!«
»Sie sind gelöscht worden?«, fragte Rebus.
Steelforth antwortete gar nicht erst. »Bei unserer Suspendierung
vorhin«, fuhr Rebus fort, »haben Sie vergessen, ›vorbehaltlich
einer Untersuchung‹ hinzuzufügen. Deshalb vermute ich, dass es
keine geben wird.«
Steelforth zuckte die Achseln. »Hängt von Ihnen
beiden ab.«
»Von unserem Verhalten? Dass wir zum Beispiel nicht
darauf drängen, die Überwachungsvideos ausgehändigt zu
bekommen?«
Erneut zuckte Steelforth die Achseln. »Sie können
das hier überleben – aber nur knapp. Ich kann dafür sorgen, dass
Sie als Helden oder als Bösewichte daraus hervorgehen …« Das
Funkgerät an Steelforths Gürtel ging knackend an. Meldung von einem
der Wachtürme: Sicherheitszaun durchbrochen. Steelforth hielt sich
das Gerät an den Mund, forderte eine komplette
Chinook-Hubschraubermannschaft als Verstärkung an und eilte dann
wieder zurück zum Landrover. Einer der Chauffeure fing ihn
ab.
»Ich wollte mich Ihnen vorstellen, Commander. Ich
heiße Steve und werde Sie zu den Open -«
Steelforth knurrte irgendeinen Fluch, was Steve
verstummen ließ. Die anderen Fahrer begannen zu spotten, dass er am
Wochenende wohl kein großes Trinkgeld zu erwarten hätte. Dann
heulte der Motor von Steelforths Landrover auf.
»Nicht einmal ein Abschiedsküsschen?«, rief Rebus
und winkte hinter ihm her. Siobhan starrte ihn an.
»Sie können sich auf Ihre Pensionierung freuen –
manche von uns hatten auf eine Karriere gehofft.«
»Sie sehen doch, wie er ist, Shiv: Wenn das hier
erst mal vorbei ist, wird er uns gar nicht mehr auf dem Radar
haben.« Rebus winkte dem Fahrzeug nach. Der Soldat stand vor ihnen
und hielt ihnen ihre Dienstausweise hin.
»Und jetzt hauen Sie ab«, fauchte er.
»Wohin genau?«, fragte Siobhan.
»Und, wichtiger noch, wie?«, fügte Rebus
hinzu.
Einer der Fahrer räusperte sich und lenkte mit
einem ausgestreckten Arm die Aufmerksamkeit auf eine Ansammlung von
Luxuslimousinen. »Ich habe gerade eine SMS bekommen – eins der
hohen Tiere muss zurück nach Glasgow. Ich könnte Sie irgendwo
absetzen …«
Siobhan und Rebus schauten sich an. Dann lächelte
Siobhan den Fahrer an und deutete mit einem Nicken auf die
Autos.
»Dürfen wir wählen?«, fragte sie.
Schließlich saßen sie im Fond eines
Sechs-Liter-Audi A8, Tachostand sechshundertfünfzig Kilometer, von
denen die meisten seit dem frühen Morgen zurückgelegt worden waren.
Durchdringender Geruch von neuem Leder und der strahlende Glanz von
Chrom. Siobhan erkundigte sich, ob der Fernseher funktioniere.
Rebus warf ihr einen Blick zu.
»Hab mich gefragt, ob London den Olympiazuschlag
bekommen hat«, erklärte sie.
Ihre Dienstmarken wurden an drei verschiedenen
Kontrollpunkten zwischen dem Feld und dem Hotelgelände
geprüft.
»Wir fahren nicht bis zum Hotel«, erklärte der
Fahrer. »Ich werde den Herrn am Meetingpoint neben dem
Pressezentrum abholen.« Beide grenzten an den Hauptparkplatz des
Hotels. Rebus sah, dass niemand Golf spielte. Rasen für Pitch &
Putt und Krocket – beide leer, abgesehen von gepflegten, gemächlich
dahinschlendernden Sicherheitskräften.
»Kaum zu glauben, dass da überhaupt was passiert«,
bemerkte Siobhan flüsternd. Der Ort hatte etwas an sich, das einen
davon abhielt, Aufmerksamkeit zu erregen. Rebus empfand das
genauso.
»Nur eine Sekunde«, sagte der Fahrer und hielt an.
Beim Aussteigen setzte er seine Chauffeursmütze auf. Rebus
beschloss, auch auszusteigen. Auf den Dächern konnte er keine
Scharfschützen entdecken, ging aber davon aus, dass es welche gab.
Sie hatten auf einer Seite des Hauptgebäudes im Baronial Style
geparkt, in der Nähe eines Wintergartens, in dem Rebus ein
Restaurant vermutete.
»Ein Wochenende hier würde mir guttun«, vertraute
er Siobhan an, die ebenfalls ausstieg.
»Ihrem Konto aber sicher nicht«, entgegnete sie. Im
Pressezentrum – einer soliden Zeltkonstruktion – konnte man
beobachten, wie Reporter Artikel in ihre Laptops hackten. Rebus
hatte sich eine Zigarette angezündet. Er hörte ein Geräusch. Als er
sich umdrehte, sah er ein Fahrrad um die Ecke des Hotels biegen,
dessen Fahrer sich nach vorn beugte, um Tempo zu gewinnen; ein
weiteres Fahrrad folgte unmittelbar hinter ihm. Der vordere
Radfahrer entdeckte sie, als er ungefähr zehn Meter von ihnen
entfernt war, und winkte ihnen zu. Rebus winkte mit einem Schnippen
seiner Zigarette zurück. Die Hände vom Lenker zu nehmen hatte den
Radfahrer jedoch aus dem Gleichgewicht gebracht. Sein Vorderrad
wackelte und rutschte auf dem Kies weg. Der andere Radfahrer
versuchte ihm auszuweichen, fiel aber schließlich über seinen
eigenen Lenker. Wie aus dem Nichts tauchten Männer in schwarzen
Anzügen auf, die sich rasch um die beiden auf dem Boden liegenden
Männer scharten.
»War das jetzt unsere Schuld?«, fragte Siobhan
sofort. Rebus schwieg, warf seine Zigarette weg und stieg wieder
ins Auto. Siobhan folgte seinem Beispiel, und durch die
Windschutzscheibe beobachteten sie, wie dem ersten Radfahrer
aufgeholfen wurde und er sich die aufgeschürften Knöchel rieb. Der
andere Radfahrer lag immer noch am Boden, aber ihn schien niemand
sonderlich zu beachten. Eine Frage des Protokolls, meinte
Rebus.
Die Bedürfnisse von Präsident George W. Bush
standen eben immer an erster Stelle.
»War das jetzt unsere Schuld?«, wiederholte Siobhan
mit leicht bebender Stimme.
Der Audifahrer kam vom Meetingpoint zurück, gefolgt
von einem Mann im grauen Anzug. Der Mann hatte zwei prall gefüllte
Aktentaschen bei sich. Wie der Fahrer blieb auch er einen Moment
stehen, um sich das Durcheinander anzuschauen. Der Fahrer hielt ihm
die Beifahrertür auf, und der Staatsbeamte stieg ein, ohne auch nur
grüßend in Richtung Rücksitz zu nicken. Der Fahrer setzte sich
hinters Steuer, wobei seine Mütze die Decke des Audi streifte, und
fragte, was da los sei.
»›Rad im Rad‹«, gab Rebus zur Antwort. Am Ende sah
der Staatsbeamte – vermutlich zu seinem Leidwesen – ein, dass er
nicht der einzige Fahrgast war.
»Ich heiße Dobbs«, stellte er sich vor.
»FCO.«
Außen- und Commonwealthministerium. Rebus streckte
ihm die Hand hin.
»Nennen Sie mich John«, sagte er. »Ich bin ein
Freund von Richard Pennen.«
Siobhan machte den Eindruck, als bekäme sie davon
gar nichts mit. Als das Auto losfuhr, war ihre Aufmerksamkeit ganz
auf die Szene gerichtet, die sich hinter ihnen abspielte.
Zwei Männer in grüner Sanitäteruniform konnten
nicht zum US-Präsidenten vordringen, weil seine Sicherheitsmänner
sie daran hinderten. Hotelangestellte hatten sich ebenso wie ein
paar Reporter aus dem Pressezentrum als Zuschauer
eingefunden.
»Happy Birthday, Mr. President«, sang Siobhan mit
heiserer Stimme.
»Freut mich«, sagte Dobbs zu Rebus.
»War Richard schon hier?«, fragte Rebus
beiläufig.
Der Staatsbeamte runzelte die Stirn. »Ich weiß gar
nicht, ob er auf der Liste steht.« Er schien sich besorgt zu
fragen, ob man ihn womöglich nicht auf dem Laufenden gehalten
hatte.
»Wie er mir erzählt hat, steht er drauf«, log Rebus
ungeniert. »Dachte, der Außenminister hätte eine Aufgabe für ihn
…«
»Mag sein«, meinte Dobbs und versuchte, überzeugter
zu klingen, als er aussah.
»George Bush ist gerade vom Fahrrad gefallen«, warf
Siobhan ein. Es war, als mussten die Worte ausgesprochen werden,
bevor sie zu einer Tatsache werden konnten.
»Ach ja?«, bemerkte Dobbs, ohne richtig zuzuhören.
Er öffnete eine der Aktentaschen, im Begriff, sich in eine Lektüre
zu vertiefen. Rebus schloss daraus, dass der Mann genug Smalltalk
ertragen hatte und sein Verstand nun zu Höherem strebte:
Statistiken, Budgets und Handelsziffern. Er startete einen letzten
Versuch.
»Waren Sie im Castle?«
»Nein«, antwortete Dobbs gedehnt. »Sie?«
»Ja, ich schon. Entsetzlich, das mit Ben Webster,
nicht wahr?«
»Schrecklich. Der beste PPS, den wir je
hatten.«
Siobhan schien plötzlich klar zu werden, was hier
vor sich ging. Rebus zwinkerte ihr zu.
»Richard ist nicht ganz davon überzeugt, dass er
gesprungen ist«, bemerkte Rebus.
»Sie meinen, ein Unfall?«, fragte Dobbs nach.
»Geschubst«, meinte Rebus. Der Staatsbeamte ließ
seinen Packen Papier sinken und drehte den Kopf nach hinten.
»Geschubst?« Er sah, wie Rebus nickte. »Wer um
alles in der Welt würde denn so was tun?«
Rebus zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat er
sich Feinde gemacht. Politiker tun das ja manchmal.«
»Fast so viele wie Ihr Busenfreund Pennen«,
konterte Dobbs.
»Was wollen Sie damit sagen?« Rebus versuchte,
stellvertretend für seinen Freund einen gekränkten Ton
anzuschlagen.
»Früher gehörte seine Firma dem Steuerzahler. Jetzt
verdient er ein Schweinegeld mit den Ergebnissen der Forschung und
Entwicklung, die wir bezahlt haben.«
»Geschieht uns recht, wenn wir sie ihm verkauft
haben«, schaltete Siobhan sich ein.
»Vielleicht hatte die Regierung schlechte Berater«,
scherzte Rebus.
»Die Regierung wusste genau, was sie tat.«
»Warum hat sie dann an Pennen verkauft?«, fragte
Siobhan, jetzt wirklich neugierig geworden. Dobbs blätterte erneut
seine Papiere durch. Der Fahrer telefonierte mit irgendjemandem und
erkundigte sich, welche Routen ihnen offen stünden.
»Forschung und Entwicklung sind kostspielige
Abteilungen«, erklärte Dobbs. »Wenn das Verteidigungsministerium
Einsparungen machen muss, hagelt es immer Kritik, wenn die
Hauptlast bei den Streitkräften liegt. Sägen sie aber ein paar
Forschungsfritzen ab, zuckt die Presse nicht mal mit der
Wimper.«
»Ich glaube, ich habe es immer noch nicht ganz
verstanden«, gab Siobhan zu.
»Eine private Firma«, führte Dobbs aus, »kann an so
ziemlich jeden verkaufen – sie hat weniger Auflagen als das
Verteidigungsministerium, das Außenministerium oder das Ministerium
für Industrie und Handel. Ergebnis? Schnellere Gewinne.«
»Gewinne aus Verkäufen an zwielichtige Diktatoren«,
fügte Rebus hinzu, »und bettelarme Staaten, die bis zum Hals in
Schulden stecken.«
»Ich dachte, er wäre Ihr …?« Dobbs zuckte zurück,
als ihm klar wurde, dass er sich nicht unbedingt unter Freunden
befand. »Wer sind Sie doch gleich?«
»John«, erinnerte ihn Rebus. »Und das ist meine
Kollegin.«
»Aber Sie arbeiten nicht für Pennen
Industries?«
»Das habe ich nie behauptet«, erwiderte Rebus. »Wir
sind von der Lothian and Borders Police, Mr. Dobbs. Und ich möchte
Ihnen für Ihre freimütigen Antworten auf unsere Fragen danken.«
Rebus starrte über den Sitz hinweg auf den Schoß des Staatsbeamten.
»Sie scheinen Ihre ganzen schönen Papiere zu zerknüllen. Wollen Sie
auf diese Weise einen Reißwolf sparen?«
Ellen Wylie war eifrig damit beschäftigt, die
Telefone zu bedienen, als sie zum Gayfield Square zurückkehrten.
Siobhan hatte ihre Eltern angerufen und erfahren, dass sie die
Fahrt nach Auchterarder aufgegeben und sich von der aufgeheizten
Demo in der Princes Street ferngehalten hatten. Vom Mound bis zur
Old Town hatte es Ausschreitungen gegeben – verärgerte
Demonstranten, die man am Verlassen der Stadt gehindert hatte und
die dann mit der Bereitschaftspolizei aneinandergerieten. Als Rebus
und Siobhan in die CID-Räume kamen, warf Wylie ihnen einen
vielsagenden Blick zu. Rebus vermutete, dass sie selbst kurz vor
einer Demo stand – den ganzen Tag auf dem Revier allein gelassen.
Doch dann tauchte eine Gestalt aus Derek Starrs Büro auf – nicht
Starr selbst, sondern Chief Constable James Corbyn. Er hatte die
Hände hinter dem Rücken verschränkt, und die Ungeduld war ihm
anzumerken. Rebus starrte Wylie an, die als Antwort mit den
Schultern zuckte und andeutete, dass Corbyn sie daran gehindert
hatte, eine SMS zur Warnung zu verschicken.
»Sie beide kommen hier herein«, befahl Corbyn,
während er sich in Starrs stickiges Reich zurückzog. »Schließen Sie
die Tür hinter sich«, fügte er hinzu. Er setzte sich; da es in dem
Raum keine weiteren Stühle gab, blieben Rebus und Siobhan
stehen.
»Schön, dass Sie sich die Zeit nehmen konnten,
Sir«, sagte Rebus, der als Erster seine Revanche anbrachte. »Ich
wollte Sie etwas über die Nacht fragen, in der Ben Webster
starb.«
Darauf war Corbyn nicht gefasst. »Was ist
damit?«
»Sie waren bei dem Dinner, Sir …, etwas, was Sie
vermutlich von Anfang an hätten aussagen müssen.«
»Wir sind nicht hier, um über mich zu sprechen, DI
Rebus. Wir sind hier, damit ich Sie beide offiziell mit sofortiger
Wirkung vom aktiven Dienst suspendieren kann.«
Rebus nickte langsam, als wäre das
selbstverständlich. »Trotzdem, Sir, jetzt sind Sie hier, und
es wäre das Beste, wir bekämen Ihre Aussage. Sieht sonst aus, als
hätten wir etwas zu verbergen. Die Zeitungen scharen sich um uns
wie die Geier. Es ist wohl kaum im Sinne unserer
Öffentlichkeitsarbeit, wenn der Chief Constable …«
Corbyn stand auf. »Sie haben vielleicht nicht
richtig zugehört, Inspector. Sie beteiligen sich an überhaupt
keiner Ermittlung mehr. Ich möchte, dass Sie beide innerhalb der
nächsten fünf Minuten das Gebäude verlassen. Sie werden nach Hause
gehen, neben dem Telefon sitzen und auf Neuigkeiten von meiner
Untersuchung über Ihr Verhalten warten. Ist das klar?«
»Ich brauche ein paar Minuten, um meine
Aufzeichnungen zu aktualisieren, Sir. Ich muss unsere Unterhaltung
schriftlich niederlegen.«
Corbyn deutete mit dem Finger auf Rebus. »Ich habe
alles über Sie gehört, Rebus.« Er ließ seinen Blick zu Siobhan
wandern. »Das erklärt vielleicht, warum es Ihnen so widerstrebte,
mir den Namen Ihres Kollegen zu nennen, als ich Ihnen die Leitung
übertrug.«
»Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sir, Sie
haben mich gar nicht danach gefragt«, erwiderte Siobhan
scharf.
»Aber Sie wussten ganz genau, dass der Ärger
programmiert war.« Sein Blick war wieder fest auf Rebus gerichtet.
»Mit Rebus in unmittelbarer Nähe.«
»Bei allem Respekt, Sir -«, begann Siobhan zu
argumentieren.
Corbyn schlug mit der Faust auf den Schreibtisch.
»Ich hatte Sie gebeten, die ganze Sache auf Eis zu legen!
Stattdessen füllt sie die Titelseiten, und dann tauchen Sie auch
noch in Gleneagles auf! Wenn ich Ihnen sage, dass Sie von dem Fall
abgezogen sind, ist das alles, was Sie wissen müssen. Ende der
Durchsage. Sayonara. Finito.«
»Sie haben wohl bei dem Dinner ein paar Wörter
aufgeschnappt, wie?«, erwiderte Rebus augenzwinkernd.
Corbyn traten fast die Augen aus dem Kopf. Fehlte
nur noch, dass er mit einem Aneurysma zusammenbrach. Dann
stolzierte er aus dem Raum und hätte im Vorbeigehen fast Siobhan
mitsamt einem Bücherregal umgerissen. Rebus atmete laut hörbar aus,
fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und kratzte sich an der
Nase.
»Und was wollen Sie jetzt machen?«, fragte
er.
Siobhan schaute ihn nur an. »Vielleicht mein Zeug
packen?«, schlug sie vor.
»Packen gehört sicher dazu«, antwortete Rebus. »Wir
packen alle Fallakten zusammen, bringen sie in meine Wohnung und
schlagen dort unser Lager auf.«
»John...«
»Sie haben recht«, sagte er, wobei er ihren Ton
absichtlich fehlinterpretierte. »Es wird auffallen, wenn sie
fehlen. Also müssen wir sie fotokopieren.«
Diesmal schenkte sie ihm ein Lächeln.
»Wenn Sie möchten, kann ich das machen«, fügte er
hinzu. »Ich weiß, dass Sie eine heiße Verabredung haben.«
»Im strömenden Regen.«
»Genau das, was Travis brauchen, um ihr grässliches
Stück zu singen.« Er verließ Starrs Büro. »Haben Sie irgendwas von
all dem mitbekommen, Ellen?«
Sie legte den Telefonhörer hin. »Ich konnte Sie
nicht warnen«, begann sie.
»Entschuldigen Sie sich nicht. Ich nehme an, Corbyn
weiß jetzt, wer Sie sind?« Er setzte sich auf die Ecke ihres
Schreibtischs.
»Sonderlich interessiert schien er nicht. Er hat
meinen Namen und meinen Dienstgrad erfahren, sich aber nicht danach
erkundigt, ob das hier meine Dienststelle ist.«
»Hervorragend«, meinte Rebus. »Das bedeutet, Sie
können hier als unsere Ohren und Augen fungieren.«
»Moment mal«, unterbrach Siobhan. »Die Entscheidung
habe ich zu treffen.«
»Jawohl, Ma’am.«
Siobhan ignorierte ihn und konzentrierte sich auf
Ellen Wylie. »Das hier ist meine Show, Ellen.
Verstanden?«
»Keine Sorge, Siobhan, ich weiß, wann ich
unerwünscht bin.«
»Ich sage nicht, dass Sie unerwünscht sind, aber
ich muss sicher sein, dass Sie auf unserer Seite stehen.«
Wylie hatte sichtlich zu kämpfen. »Statt auf
welcher?«
»Aber meine Damen«, sagte Rebus und trat wie ein
altmodischer Ringrichter zwischen sie. Er schaute Siobhan an. »Ein
zusätzliches Paar Hände wäre nicht verkehrt, Chef, das müssen Sie
zugeben.«
Sie lächelte schließlich – der »Chef« hatte seinen
Zweck erfüllt. Ihr Blick war jedoch noch immer auf Wylie geheftet.
»Trotzdem«, sagte sie, »können wir Sie nicht bitten, für uns zu
spionieren. Dass John und ich in der Klemme stecken, ist eine
Sache, aber es ist eine andere, Sie auch noch in Schwierigkeiten zu
bringen.«
»Das macht mir nichts aus«, erwiderte Wylie.
»Übrigens, hübsche Latzhose.«
Siobhan lächelte wieder. »Vielleicht sollte ich
mich vor dem Konzert noch umziehen.«
Rebus stieß geräuschvoll die Luft aus: Explosion
vermieden. »Und was war hier so los?«, fragte er Wylie.
»Hab versucht, alle auf Bestien-im-Visier
aufgelisteten Sexualstraftäter zu warnen, das heißt, ich habe die
verschiedenen Polizeidienststellen gebeten, ihnen zu sagen, dass
sie aufpassen sollen.«
»Und, haben sie begeistert geklungen?«
»Nicht direkt. Zwischendrin hatte ich noch eine
Menge Reporter an der Strippe, die wegen der Titelseite anriefen.«
Sie hatte die Zeitung neben sich liegen und tippte auf Mairies
Schlagzeile. »Erstaunlich, dass sie die Zeit dazu hat«, bemerkte
sie.
»Wieso denn das?«, wunderte sich Rebus.
Wylie schlug die Zeitung bei einer Doppelseite auf.
Verfasserin: Mairie Henderson. Ein Interview mit Stadtrat Gareth
Tench. Großformatiges Foto von ihm mitten in der Zeltstadt von
Niddrie.
»Ich war da, als sie es aufgenommen haben«, warf
Siobhan ein.
»Ich kenne ihn«, entfuhr es Wylie. Rebus richtete
den Blick auf sie.
»Wie das?«
Durch sein plötzliches Interesse misstrauisch
geworden, zuckte sie die Achseln. »Ich kenne ihn eben.«
»Ellen«, warnte er, indem er ihren Namen gedehnt
aussprach.
Sie seufzte. »Er war mit Denise befreundet.«
»Ihrer Schwester Denise?«, fragte Siobhan.
Wylie nickte. »Ich habe sie selbst miteinander
verkuppelt … mehr oder weniger.«
»Läuft da was zwischen ihnen?« Rebus hatte die Arme
wie eine Zwangsjacke um sich geschlungen.
»Sie gingen ein paarmal miteinander aus. Er war …«,
sie suchte nach den richtigen Worten, »… er hat ihr gutgetan, hat
ihr geholfen, aus sich herauszugehen.«
»Mithilfe eines Gläschens Wein?«, riet Rebus. »Aber
wie haben Sie ihn kennengelernt?«
»Bestien-im-Visier«, sagte sie ruhig, wich
aber seinem Blick aus.
»Wie bitte?«
»Er hat den Beitrag von mir gesehen. Hat mir eine
E-Mail voll des Lobes geschickt …«
Rebus war aufgesprungen und suchte den Schreibtisch
nach einem Blatt Papier ab – der Liste mit
Bestien-im-Visier-Abonnenten, die Bain ihm zusammengestellt
hatte.
»Welcher ist es?«, fragte er, nachdem er ihr die
Liste gegeben hatte.
»Der da«, antwortete sie.
»Ozyman?«, fragte Rebus nach, worauf sie nickte.
»Was, zum Teufel, ist denn das für ein Name? Er kommt doch nicht
aus Australien, oder?«
»Ozymandias vielleicht«, schlug Siobhan vor.
»Ozzy Osbourne wäre eher meine Richtung«, meinte
Rebus. Siobhan beugte sich über eine Tastatur und gab den Namen in
eine Suchmaschine ein. Wenige Mausklicks später erschien eine
Biografie auf dem Bildschirm.
»König der Könige«, erklärte Siobhan. »Hat sich
selbst ein riesiges Standbild errichtet.« Noch zwei Klicks, und
Rebus hatte ein Gedicht von Shelley vor sich.
»›Seht an meine Werke, ihr Mächtigen‹«, rezitierte
er, »›und verzagt!‹« Er wandte sich Wylie zu. »Eingebildet ist der
ja gar nicht …«
»Das kann ich nicht leugnen«, räumte sie ein. »Ich
habe ja auch nur gesagt, dass er Denise gutgetan hat.«
»Wir müssen mit ihm reden«, sagte Rebus, während er
die Namensliste durchging und sich fragte, wie viele noch in
Edinburgh lebten. »Und Sie, Ellen, hätten viel früher darüber
sprechen müssen.«
»Ich wusste nicht, dass Sie eine Liste haben«,
erwiderte sie abwehrend.
»Er ist durch die Website an Sie gekommen –
logisch, dass wir Fragen an ihn haben. Wir haben doch weiß Gott
nicht viele Spuren, denen wir nachgehen können.«
»Oder zu viele«, konterte Siobhan. »Opfer in drei
verschiedenen Regionen, Hinweise in einer anderen … Es ist alles so
verstreut.«
»Ich dachte, Sie müssten nach Hause, um sich fertig
zu machen?«
Sie nickte und schaute sich im Büro um. »Wollen Sie
das wirklich alles mitnehmen?«
»Warum nicht? Ich kann den Papierkram kopieren,
Ellen wird es sicher nichts ausmachen, länger zu bleiben und mir zu
helfen.« Er warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. »Hab ich
recht, Ellen?«
»Das ist meine Strafe, stimmt’s?«
»Ich kann ja verstehen, dass Sie Denise da
raushalten möchten«, sagte Rebus, »aber Tench hätten Sie trotzdem
erwähnen müssen.«
»Vergessen Sie aber nicht, John«, unterbrach
Siobhan ihn, »der Stadtrat hat mich an diesem Abend in Niddrie vor
Prügeln bewahrt.«
Rebus nickte. Er hätte hinzufügen können, dass er
eine andere Seite von Gareth Tench kennengelernt hatte, ließ es
aber bleiben.
»Viel Spaß bei Ihrem Konzert«, wünschte er ihr
stattdessen.
Siobhan richtete den Blick wieder auf Ellen Wylie.
»Mein Team, Ellen. Wenn ich das Gefühl habe, Sie verheimlichen uns
noch etwas …«
»Botschaft angekommen.«
Siobhan nickte, doch dann kam ihr ein Gedanke. »Hat
es schon einmal Treffen von Bestien-im-Visier-Abonnenten
gegeben?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Sie können aber Kontakt miteinander
aufnehmen?«
»Offensichtlich.«
»Wussten Sie, wer Gareth Tench ist, bevor Sie ihn
kennenlernten?«
»In seiner ersten E-Mail schrieb er, dass er in
Edinburgh lebt, und unterzeichnete mit seinem richtigen
Namen.«
»Und Sie haben ihm gesagt, dass Sie im CID
arbeiten?«
Wylie nickte.
»Was denken Sie?«, fragte Rebus Siobhan.
»Ich weiß es noch nicht genau.« Siobhan fing an,
ihre Sachen zusammenzusuchen. Rebus und Wylie beobachteten sie
dabei. Als sie fertig war, winkte sie kurz über die Schulter und
verschwand.
Ellen Wylie faltete die Zeitung zusammen und warf
sie in den Papierkorb. Rebus hatte den Wasserkocher gefüllt und
schaltete ihn an.
»Ich kann Ihnen genau sagen, was sie denkt«,
verriet Wylie ihm.
»Dann sind Sie schlauer als ich.«
»Sie weiß, dass Mörder nicht immer allein arbeiten.
Sie weiß auch, dass sie manchmal Bestätigung brauchen.«
»Das ist mir zu hoch, Ellen.«
»Das glaube ich nicht, John. Wie ich Sie kenne,
denken Sie genau das Gleiche. Einer beschließt, Perverse zu töten,
und möchte vielleicht mit jemand anderem darüber sprechen –
entweder vorher, als Bitte um Erlaubnis sozusagen, oder hinterher,
um es sich von der Seele zu reden.«
»Okay«, sagte Rebus, eifrig mit den Teebechern
beschäftigt.
»Ganz schön schwierig, in einem Team zu arbeiten,
wenn man eine der Verdächtigen ist …«
»Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, dass Sie uns
aushelfen, Ellen«, erklärte er und fügte nach einer kurzen Pause
hinzu: »Solange Sie genau das tun.«
Sie sprang vom Stuhl auf und stemmte die Hände in
die Hüften. Irgendjemand hatte Rebus einmal erzählt, warum die
Menschen das tun: um sich selbst größer, bedrohlicher, weniger
verletzlich erscheinen zu lassen …
»Glauben Sie denn«, sagte sie empört, »ich war den
halben Tag hier, nur um Denise zu schützen?«
»Nein, aber ich glaube, dass Leute einiges
unternehmen, um ihre Familie zu schützen.«
»Wie Siobhan und ihre Mum, meinen Sie?«
»Wir wollen doch nicht so tun, als würden wir es
nicht genauso machen.«
»John … Ich bin hier, weil Sie mich darum
gebeten haben.«
»Und ich habe gesagt, dass ich Ihnen dankbar bin,
aber die Sache ist die, Ellen – Siobhan und ich sind gerade aus dem
Verkehr gezogen worden. Wir brauchen jemanden, der für uns
aufpasst, jemanden, dem wir vertrauen können.« Er löffelte Kaffee
in die beiden angeschlagenen Becher. Roch an der Milch und
beschloss, dass sie noch gut war. Gab ihr Zeit zum
Nachdenken.
»In Ordnung«, sagte sie schließlich.
»Keine Geheimnisse mehr?«, fragte er. Sie
schüttelte den Kopf. »Nichts, was ich wissen müsste?« Schüttelte
ihn erneut. »Möchten Sie dabei sein, wenn ich Tench
vernehme?«
Ihr Augenbrauen hoben sich ein wenig. »Wie stellen
Sie sich das vor? Sie sind suspendiert, erinnern Sie sich?«
Rebus verzog das Gesicht und tippte sich an den
Kopf. »Verlust des Kurzzeitgedächtnisses«, erklärte er ihr. »Das
gehört einfach dazu.«
Nach dem Kaffee machten sie sich an die Arbeit:
Rebus füllte einen Packen mit fünfhundert Blatt Papier in den
Kopierer; Wylie wollte wissen, was er aus den verschiedenen
Datenbeständen des Computers kopiert haben wolle. Das Telefon
klingelte ein halbes Dutzend Mal, aber sie kümmerten sich nicht
darum.
»Übrigens«, sagte Wylie irgendwann, »haben Sie
gehört? London hat die Olympischen Spiele bekommen.«
»Juppidu!«
»Es war wirklich toll: Alles tanzte rund um den
Trafalgar Square. Das bedeutet, Paris hat den Kürzeren
gezogen.«
»Bin gespannt, wie Chirac das aufnimmt.« Rebus
schaute auf die Uhr. »Er dürfte jetzt gerade mit der Queen zu Abend
speisen.«
»Wo TB garantiert seine Grinsekatzen-Nummer
bringt.«
Rebus lächelte. Ja, und Gleneagles würde für den
französischen Präsidenten das Beste aus der kaledonischen Küche
auffahren. Er musste noch einmal an den vergangenen Nachmittag
denken … wie sie ein paar hundert Meter von all diesen mächtigen
Männern entfernt standen. Wie Bush vom Fahrrad fiel, ein
schmerzlicher Hinweis darauf, dass sie genauso Fehler machten wie
alle anderen auch. »Wofür steht das G?«, fragte er. Wylie schaute
ihn nur an. »Bei G8«, präzisierte er.
»Gruppe?«, riet sie achselzuckend. In dem Moment
klopfte es an der angelehnten Tür: einer der diensthabenden
Uniformierten aus dem Wachraum.
»Unten ist jemand für Sie, Sir.« Er deutete mit dem
Blick auf das am nächsten stehende Telefon.
»Wir haben nicht abgehoben«, erklärte Rebus. »Wer
ist es?«
»Eine Frau namens Webster … Eigentlich hätte sie
gern mit DS Clarke gesprochen, aber sie sagte, zur Not würde Sie
auch mit Ihnen vorliebnehmen.«
18
Hinterer Bühnenbereich beim »Final Push«.
Gerüchte, dass eine Art Rakete von den nahe
gelegenen Bahngleisen aus abgeschossen worden sei, ihr Ziel jedoch
verfehlt habe.
»Mit roter Farbe gefüllt«, hatte Bobby Greig
Siobhan erzählt. Er war in Zivil: verblichene Jeans und eine
abgewetzte Jeansjacke. Sah im Nieselregen feucht, aber glücklich
aus. Siobhan hatte eine schwarze Kordhose und ein hellgrünes
T-Shirt angezogen und darüber eine Bikerjacke, die sie secondhand
in einem Oxfam-Laden erstanden hatte. Greig hatte sie angelächelt.
»Wie kommt’s«, hatte er gesagt, »dass Sie, egal, was Sie tragen,
immer nach CID aussehen?«
Sie hatte sich eine Antwort geschenkt. Jetzt
fingerte sie an dem laminierten Ausweis herum, der um ihren Hals
hing. Darauf war der Umriss von Afrika und die Aufschrift
»Backstage Access« zu lesen. Klang großartig, aber Greig machte ihr
bald ihren Platz in der Nahrungskette klar. Auf seinem eigenen
Ausweis stand »Access All Areas«; und darüber hinaus gab es noch
zwei weitere Ebenen – VIP und VVIP. Sie hatte schon Midge Ure und
Claudia Schiffer gesehen, beide VVIPs. Greig hatte sie den
Konzertveranstaltern Steve Daws und Emma Diprose vorgestellt, die
trotz des Wetters fantastisch aussahen.
»Tolle Besetzung«, hatte Siobhan zu ihnen
gesagt.
»Danke«, hatte Daws geantwortet. Dann hatte Diprose
gefragt, ob Siobhan eine Lieblingsgruppe habe, was sie
verneinte.
Die ganze Zeit über hatte Greig gar nicht erst
erwähnt, dass sie Polizistin war.
Außerhalb des Murrayfield-Stadions hatten Fans ohne
Karten gestanden, die darauf hofften, noch welche ergattern zu
können, und ein paar Schwarzhändler, deren Preise alle außer den
Reichsten und Verzweifeltsten abschreckten. Dank ihres Ausweises
hatte Siobhan unten um die Bühne herum und auf das Spielfeld gehen
können, wo sie sich zu sechzigtausend durchnässten Fans gesellte.
Doch die sehnsüchtigen Blicke, die ihrem kleinen Plastikkärtchen
galten, ließen ein ungutes Gefühl in ihr aufkommen, und sie zog
sich bald wieder hinter den Sicherheitszaun zurück. Greig hatte
eine halbleere Flasche Continental Lager in der Hand und stopfte
sich mit kostenlosem Essen voll. Die Proclaimers hatten das Konzert
mit »500 Miles« zum Mitsingen eröffnet. Es hieß, Eddie Izzard würde
Midge Ure bei seiner Version von »Vienna« auf dem Klavier
begleiten.Texas, Snow Patrol und Travis waren für später angesagt,
Bono sollte bei The Corrs aushelfen und James Brown die
Schlussnummer übernehmen.
Doch inmitten der hektischen Aktivität hinter der
Bühne fühlte Siobhan sich alt. Die Hälfte der auftretenden Künstler
kannte sie nicht. Sie sahen wichtig aus, wie sie mit ihrem
jeweiligen Gefolge geschäftig hin und her eilten, aber ihre
Gesichter sagten ihr gar nichts. Plötzlich ging ihr auf, dass ihre
Eltern vielleicht am Freitag abreisten, was bedeutete, dass ihr nur
noch ein Tag mit ihnen blieb. Kurz zuvor hatte sie sie angerufen:
Sie befanden sich wieder in ihrer Wohnung, hatten unterwegs
eingekauft und wollten abends vielleicht essen gehen. Nur sie
beide, hatte ihr Dad gesagt und es so klingen lassen, als wäre es
genau das, was er sich wünschte.
Vielleicht auch, um ihr kein schlechtes Gewissen zu
machen, weil sie woanders hingegangen war.
Sie versuchte, sich zu entspannen, in Stimmung zu
kommen, aber die Arbeit ließ sie nicht los. Rebus, das wusste sie,
würde immer noch an der Sache dran sein. Er würde nicht ruhen, bis
seine Dämonen bezwungen waren. Doch jeder Sieg war flüchtig, und
jeder Kampf zehrte etwas mehr an ihm. Jetzt, wo es langsam dunkel
wurde, war das Stadion mit den Blitzen von Handykameras
gesprenkelt. Phosphoreszierende Leuchtstäbe wurden über den Köpfen
geschwenkt. Greig trieb irgendwo einen Regenschirm auf, den er ihr
in die Hand drückte, als der Regen stärker wurde.
»Gab es in Niddrie noch mal Ärger?«, fragte sie
ihn.
Er schüttelte den Kopf. »Sie haben ihren Standpunkt
klargemacht«, erklärte er. »Und im Übrigen denken sie
wahrscheinlich, dass ihre Chancen auf eine kleine Schlägerei größer
sind, wenn sie in die Stadt fahren.« Er warf seine leere
Bierflasche in eine Recyclingtonne. »Haben Sie das heute
gesehen?«
»Ich war in Auchterarder«, antwortete sie.
Er sah beeindruckt aus. »Nach dem wenigen, was ich
im Fernsehen gesehen habe, kam es mir vor wie ein
Kriegsgebiet.«
»So schlimm war es auch wieder nicht. Und
hier?«
»Kleine Proteste, als die Busse am Abfahren
gehindert wurden. Aber nichts im Vergleich zu Montag.« Er deutete
mit dem Kopf über ihre Schulter. »Annie Lennox«, sagte er. Und
tatsächlich, keine drei Meter entfernt schenkte sie ihnen auf dem
Weg in ihre Garderobe ein Lächeln. »Im Hyde Park haben Sie toll
gesungen!«, rief Greig ihr zu. Sie lächelte immer noch, in Gedanken
bei dem vor ihr liegenden Auftritt.
Greig ging noch einmal Bier holen. Die meisten
Leute in Siobhans Umgebung hingen einfach herum und sahen
gelangweilt aus. Techniker, die erst wieder etwas zu tun hatten,
wenn alles vorüber war und die Bühne abgebaut werden musste.
Persönliche Assistenten und Angestellte der Plattenfirmen –
Letztere uniform in schwarzen Anzügen und dazu passenden Pullovern
mit V-Ausschnitt, Sonnenbrillen auf der Nase und Handys am Ohr.
Gastronomen und Veranstalter samt Anhang. Sie wusste, dass sie zur
letzten Kategorie gehörte. Niemand hatte sie gefragt, welche Rolle
sie spiele, weil niemand sie für eine Akteurin hielt.
Auf die Stehplätze, da gehöre ich hin, dachte
sie.
Oder ins CID-Büro.
Sie fühlte sich so ganz anders als das Mädchen im
Teenageralter damals, das per Anhalter nach Greenham Common
gefahren war und »We Shall Overcome« gesungen hatte, während es
Hand in Hand mit den anderen Frauen in der Menschenkette rund um
den Luftwaffenstützpunkt stand. Ihr kam es sogar so vor, als wäre
der Make-Poverty-History-Marsch vom Samstag auch schon Geschichte.
Aber immerhin … Bono und Geldof war es gelungen, die
G8-Sicherheitszone zu durchbrechen, um den verschiedenen Staats-
und Regierungschefs ihr Anliegen zu unterbreiten. Sie hatten mit
allem Nachdruck dafür gesorgt, dass diese Männer wussten, was auf
dem Spiel stand, und dass Millionen Menschen Großes von ihnen
erwarteten. Morgen könnten Entscheidungen getroffen werden. Der
morgige Tag würde ausschlaggebend sein.
Sie war im Begriff, Rebus anzurufen. Aber sie
wusste, er würde nur lachen und ihr sagen, sie solle es ausschalten
und sich amüsieren. Ihr kamen plötzlich Zweifel, dass sie, trotz
der Eintrittskarte, die, von einem Magneten gehalten, an ihrem
Kühlschrank hing, zu T in the Park gehen würde. Zweifel, dass die
Morde bis dahin gelöst sein könnten, vor allem jetzt, wo sie
offiziell von dem Fall entbunden war. Ihrem Fall. Nur hatte
Rebus jetzt Ellen Wylie ins Spiel gebracht … Es wurmte sie, dass er
sie nicht gefragt – und dass er recht gehabt hatte: Sie brauchten
Hilfe. Aber jetzt stellte sich heraus, dass Wylie Gareth Tench
kannte und Tench wiederum Wylies Schwester …
Bobby Greig war mit dem Bier zurückgekommen. »Und
was meinen Sie?«, fragte er.
»Ich finde, sie sind alle außergewöhnlich klein«,
war ihr Kommentar. Er nickte zustimmend.
»Popstars«, erklärte er, »müssen in der Schule die
Zwerge gewesen sein. Und so nehmen sie Rache. Sie werden aber
bemerkt haben, dass ihr Ego groß genug ist …« Er sah, dass sie mit
ihrer Aufmerksamkeit woanders war.
»Was macht der denn hier?«, fragte Siobhan.
Greig erkannte die Gestalt und winkte. Stadtrat
Gareth Tench winkte zurück. Er sprach gerade mit Daws und Diprose,
brach das Gespräch jedoch ab – ein Schulterklopfen für den einen,
ein Küsschen auf beide Wangen für die andere – und kam auf sie
zu.
»Er ist der Kulturbeauftragte des Stadtrats«,
erklärte Greig und streckte Tench die Hand hin.
»Wie geht’s, mein Junge?«, fragte Tench.
»Prima.«
»Und Sie gehen Ärger aus dem Weg?« Diese Frage war
an Siobhan gerichtet. Sie nahm die ausgestreckte Hand und erwiderte
deren festen Griff.
»Ich versuch’s.«
Tench wandte sich wieder Greig zu. »Helfen Sie mir
auf die Sprünge, woher kenne ich Sie doch gleich?«
»Vom Camp. Bobby Greig mein Name.«
Tench schüttelte den Kopf über seine eigene
Unfähigkeit. »Ach ja, natürlich. Ist das nicht großartig?« Er
klatschte in die Hände und schaute sich um. »Die ganze verdammte
Welt blickt auf Edinburgh.«
»Beziehungsweise auf das Konzert«, berichtigte ihn
Siobhan.
Tench verdrehte die Augen. »Manchen Leuten kann man
es einfach nicht recht machen. Sagen Sie, hat Bobby Sie umsonst
hier reingeschmuggelt?«
Siobhan fühlte sich verpflichtet zu nicken.
»Und dann beschweren Sie sich noch?« Er lachte
leise auf. »Vergessen Sie nicht, etwas zu spenden, bevor Sie gehen,
ja? Könnte sonst nach Bestechung aussehen.«
»Das ist ein bisschen unfair«, versuchte Greig zu
protestieren, aber Tench wischte den Einwand beiseite. »Und wie
geht es Ihrem Kollegen?«, fragte er Siobhan.
»Sie meinen DI Rebus?«
»Genau den. Scheint mir etwas zu sehr mit der
kriminellen Szene verbandelt, wenn Sie mich fragen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, Sie arbeiten zusammen … Ich bin sicher,
dass er Ihnen vertraut. Gestern Abend?« Als wollte er ihrem
Gedächtnis nachhelfen. »Craigmillar Faith Centre? Ich hielt gerade
eine Rede, als Ihr Mr. Rebus zusammen mit einem Monster namens
Cafferty auftauchte.« Er machte eine Pause. »Ich nehme an, Sie
kennen ihn?«
»Ich kenne ihn«, bestätigte Siobhan.
»Kommt mir merkwürdig vor, dass die Ordnungskräfte
es nötig haben, zu …« Er schien nach dem richtigen Wort zu suchen
und entschied sich für: »fraternisieren«. Dann hielt er
inne, den Blick unverwandt auf Siobhan gerichtet. »Ich gehe davon
aus, dass DI Rebus Ihnen nichts von all dem verheimlicht hat … ich
meine, ich erzähle Ihnen doch da nichts, was Sie nicht schon
wissen?«
Siobhan fühlte sich wie ein Fisch, der von einem
Angelhaken bedrängt wurde.
»Wir haben alle unser Privatleben, Mr. Tench«, war
die einzige Antwort, die ihr einfiel. Tench wirkte enttäuscht. »Und
wie ist es mit Ihnen?«, fuhr sie fort. »Hoffen Sie, ein paar Bands
zu einem Auftritt im Jack Kane Centre überreden zu können?«
Er rieb sich wieder die Hände. »Wenn sich die
Gelegenheit bietet …« Seine Stimme erstarb, als er ein ihm
bekanntes Gesicht entdeckte. Siobhan kannte es auch: Marti Pellow
von Wet Wet Wet. Der Name gab den Ausschlag, ihren Schirm
aufzuspannen. Der Regen trommelte darauf, als Tench sein nächstes
Ziel ansteuerte.
»Worum ging es da eben?«, fragte Greig. Sie
schüttelte lediglich den Kopf. »Warum werde ich das Gefühl nicht
los, dass Sie eigentlich lieber woanders wären?«
»Tut mir leid«, sagte sie.
Greig beobachtete Tench und den Sänger. »Arbeitet
schnell, wie? Und schüchtern ist er auch nicht … Ich glaube, dass
die Leute ihm deshalb zuhören. Haben Sie ihn je eine Rede halten
hören? Da bekommen Sie eine Gänsehaut.«
Siobhan nickte langsam. Sie dachte über Rebus und
Cafferty nach. Es überraschte sie nicht, dass Rebus nichts gesagt
hatte. Ihr Blick fiel wieder auf das Handy. Jetzt hatte sie einen
Vorwand, ihn anzurufen, zögerte aber immer noch.
Mir steht ein Privatleben zu, ein freier
Abend.
Andernfalls würde sie wie Rebus werden – besessen
und an den Rand gedrängt, übellaunig und argwöhnisch beäugt. Er war
fast zwei Jahrzehnte lang auf der Stufe des Inspektors stecken
geblieben. Sie wollte mehr. Wollte ihren Job gut machen, aber auch
in der Lage sein, hin und wieder abzuschalten. Wollte lieber ein
Leben außerhalb ihres Berufs als einen Beruf, der zu ihrem Leben
würde. Rebus hatte Familie und Freunde verloren, hatte sie für
Leichen und Betrüger, Mörder, kleine Diebe, Vergewaltiger,
Schläger, Gangster und Rassisten beiseitegeschoben. Wenn er einen
trinken ging, tat er das allein, stand wortlos an der Bar, die
Reihe der Dosierer vor sich. Er hatte keine Hobbys, trieb keinerlei
Sport, nahm nie Urlaub. Wenn er eine oder zwei Wochen frei hatte,
konnte sie ihn normalerweise in der Oxford Bar finden, wo er so
tat, als läse er in einer Ecke Zeitung, oder lustlos auf das
Tagesfernsehprogramm starrte.
Sie wollte mehr.
Diesmal rief sie an. Am anderen Ende knackte es;
sie begann zu lächeln. »Dad?«, sagte sie. »Seid ihr noch im
Restaurant? Sag ihnen, sie sollen noch ein Extragedeck fürs Dessert
auflegen …«
Stacey Webster war wieder sie selbst.
Ganz ähnlich angezogen wie an dem Tag, als Rebus
sie vor der Leichenhalle traf. Er deutete auf die langen Ärmel
ihres T-Shirts.
»Soll das die Tätowierungen verbergen?«, fragte
er.
»Es sind vorübergehende«, erklärte sie. »Mit der
Zeit werden sie verblassen.«
»Wie die meisten Dinge.« Er sah den Koffer, der mit
versenktem Griff hochkant neben ihr stand. »Zurück nach
London?«
»Schlafwagen«, nickte sie.
»Sehen Sie, es tut mir leid, wenn wir …« Rebus ließ
seinen Blick durch den Wachraum schweifen, als widerstrebte es ihm,
ihr in die Augen zu schauen.
»Das passiert«, sagte sie. »Vielleicht war meine
Tarnung noch intakt, aber Commander Steelforth setzt seine Leute
nicht gern einer Gefahr aus.« Sie erschien ihm verlegen und
unsicher, von Kopf und Gefühl her noch im Niemandsland zwischen
zwei unterschiedlichen Identitäten.
»Noch Zeit für einen Drink?«, fragte er.
»Ich wollte eigentlich Siobhan treffen.« Sie fuhr
mit einer Hand in ihre Tasche. »Geht es ihrer Mutter gut?«
»Auf dem Weg der Besserung«, antwortete Rebus. »Sie
halten sich in Siobhans Wohnung auf.«
»Santal hatte nicht mehr die Möglichkeit, sich zu
verabschieden.« Sie streckte Rebus eine transparente Plastikhülle
hin, in der eine silberne Scheibe steckte. »Eine CD-ROM«, erklärte
sie. »Die Kopie eines Films aus meiner Kamera, von dem Tag in der
Princes Street.«
Rebus nickte. »Ich sorge dafür, dass sie sie
bekommt.«
»Der Commander würde mich umbringen, wenn …«
»Unser Geheimnis«, versicherte Rebus ihr und ließ
die CD in seine Brusttasche gleiten. »Jetzt wird’s aber Zeit, dass
Sie zu Ihrem Drink kommen.«
Im Leith Walk gab es jede Menge Pubs, die geöffnet
hatten. Aber der erste, auf den sie stießen, sah voll aus; dort
dröhnte das Murrayfield-Konzert aus dem Fernseher. Weiter den Hügel
hinunter fanden sie, was sie suchten – ein ruhiges, traditionelles
Lokal mit Musik aus der Musikbox und einem Münzspielautomaten.
Stacey hatte ihren Koffer am Gayfield Square hinter dem Tresen
stehen lassen. Sie meinte, sie wolle ein paar schottische
Geldscheine loswerden – ein Vorwand, die Runde zu bezahlen. Sie
ließen sich an einem Ecktisch nieder.
»Sind Sie vorher schon mal Schlafwagen gefahren?«,
wollte Rebus wissen.
»Deshalb trinke ich Wodka Tonic – die einzige
Möglichkeit, in diesem verdammten Zug zu schlafen.«
»Ist Santal endgültig passé?«
»Kommt drauf an.«
»Steelforth sagte, Sie seien schon Monate
undercover gewesen.«
»Monate«, bestätigte sie.
»Dürfte nicht einfach gewesen sein in London …
immer mit der Möglichkeit, dass jemand Sie erkennt.«
»Einmal bin ich an Ben vorbeigelaufen.«
»Als Santal?«
»Er hat es nie erfahren.« Sie lehnte sich zurück.
»Deshalb habe ich Santal nah an Siobhan herankommen lassen. Ihre
Eltern hatten mir erzählt, dass sie im CID ist.«
»Sie wollten herausfinden, ob Ihre Tarnung
hielt?«
Sie nickte. Rebus glaubte jetzt, etwas zu
verstehen. Stacey wäre vom Tod ihres Bruders erschüttert gewesen,
aber Santal dürfte er herzlich wenig ausgemacht haben. Das Problem
war nur, dass der ganze Schmerz immer noch eingesperrt war – etwas,
das er nur allzu gut kannte.
»London war aber gar nicht mein Hauptstandort«,
erklärte Stacey. »Viele der Gruppen sind weggezogen – dort konnten
sie zu leicht von uns überwacht werden. Manchester, Bradford, Leeds
… da habe ich die meiste Zeit verbracht.«
»Glauben Sie, dass Sie etwas bewirkt haben?«
Sie dachte einen Moment darüber nach. »Wir hoffen
doch alle, dass wir das tun, oder?«
Er nickte zustimmend, nippte an seinem Glas und
stellte es dann ab. »Ich untersuche immer noch Bens Tod.«
»Ich weiß.«
»Hat der Commander es Ihnen gesagt?« Sie nickte.
»Er hat mir einige Knüppel zwischen die Beine geworfen.«
»Das betrachtet er vermutlich als seinen Job,
Inspector. Sie dürfen es nicht persönlich nehmen.«
»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen,
er versuchte, einen Mann namens Richard Pennen zu schützen.«
»Pennen Industries?«
Jetzt war es an Rebus zu nicken. »Pennen kam für
die Hotelrechnung Ihres Bruders auf.«
»Merkwürdig«, sagte sie. »Die beiden mochten sich
nicht mehr besonders.«
»Ach?«
Sie starrte ihn an. »Ben hatte viele Kriegsgebiete
besucht. Er wusste, welche Gräuel der Waffenhandel mit sich
brachte.«
»Nach der Version, die ich ständig zu hören
bekomme, verkauft Pennen keine Kanonen, sondern Technologie.«
Sie schnaubte. »Nur eine Frage der Zeit. Ben wollte
die Dinge so schwierig wie möglich machen. Sie sollten sich mal den
Hansard anschauen – Reden, die er im Unterhaus hielt und in
denen er alle möglichen unbequemen Fragen stellte.«
»Trotzdem hat Pennen seine Hotelrechnung bezahlt
…«
»Und Ben wird das genossen haben. Er hätte sie sich
auch von einem Diktator zahlen lassen und den ganzen Aufenthalt
dazu genutzt, ihn aufs Schärfste zu kritisieren.« Sie machte eine
Pause, in der sie den Drink in ihrem Glas schwenkte. Dann fuhr sie
fort: »Sie dachten, es wäre Bestechung, nicht wahr? Ben wird von
Pennen gekauft?« Sein Schweigen kam einer Antwort gleich. »Mein
Bruder war ein guter Mensch, Inspector.« Nun stiegen ihr Tränen in
die Augen. »Und ich konnte nicht einmal zu seiner verdammten
Beerdigung gehen.«
»Er hätte es verstanden«, meinte Rebus. »Mein
eigener …« Er musste innehalten und sich räuspern. »Mein eigener
Bruder ist letzte Woche gestorben. Wir haben ihn am Freitag
eingeäschert.«
»Das tut mir leid.«
Er hob das Glas an den Mund. »Er war in den
Fünfzigern. Die Ärzte sagten, es sei ein Schlaganfall
gewesen.«
»Haben Sie einander nahegestanden?«
»Hauptsächlich telefoniert.« Er hielt wieder inne.
»Einmal hab ich ihn wegen Drogenhandels ins Gefängnis gesteckt.« Er
musterte sie, um ihre Reaktion abzuschätzen.
»Ist es das, was Sie plagt?«, fragte sie.
»Was?«
»Dass Sie ihm nie gesagt haben …« Ihr Gesicht
verzerrte sich, als die Tränen zu laufen begannen, und sie hatte
alle Mühe, sich die Wörter abzuringen. »... ihm nie gesagt haben,
dass es Ihnen leidtut.« Sie sprang auf und rannte zur Toilette –
jetzt ganz und gar Stacey Webster. Er hatte das Gefühl, dass er ihr
vielleicht folgen oder wenigstens die Kellnerin hinter ihr
herschicken sollte. Stattdessen blieb er einfach sitzen, schwenkte
sein Glas, bis sich oben auf dem Bier frischer Schaum bildete, und
dachte über Familien nach. Ellen Wylie und ihre Schwester, die
Jensens und ihre Tochter Vicky, Stacey Webster und ihr Bruder Ben
…
»Mickey«, sagte er im Flüsterton. Die Namen der
Toten nennen, damit sie wissen, dass sie nicht vergessen
sind.
Ben Webster.
Cyril Colliar.
Edward Isley.
Trevor Guest.
»Michael Rebus«, sagte er laut und hob sein Glas.
Dann stand er auf und besorgte Nachschub – IPA, Wodka und Tonic.
Stand an der Bar, während er auf sein Wechselgeld wartete. Zwei
Stammgäste diskutierten höchst erregt über die Chancen des Team
Britain bei den Olympischen Spielen 2012.
»Wie kommt es, dass London immer alles kriegt?«,
beschwerte sich der eine.
»Komisch, dass sie den G8-Gipfel nicht wollten«,
fügte sein Nachbar hinzu.
»Die wussten genau, was auf sie zugekommen
wäre.«
Rebus musste einen Moment überlegen. Heute war
Mittwoch … am Freitag würde alles wieder zusammengepackt. Noch ein
ganzer Tag, dann konnte die Stadt wieder aufatmen und zur
Normalität zurückkehren. Steelforth und Pennen und all die anderen
Eindringlinge würden sich Richtung Süden aufmachen.
Die beiden mochten sich nicht mehr besonders
…
Zwischen ihrem Bruder und Richard Pennen, hatte sie
gemeint … Der Abgeordnete, der versuchte, Pennens Expansionspläne
zu durchkreuzen. Rebus hatte Ben Webster völlig zu Unrecht als
Lakai eingeschätzt. Und Steelforth, der Rebus nicht in die Nähe des
Hotelzimmers gelassen hatte. Nicht weil er jedes Aufsehen
vermeiden, die verschiedenen hohen Tiere nicht mit Fragen und
Theorien belästigt sehen wollte, sondern um Richard Pennen zu
schützen.
Mochten sich nicht mehr besonders.
Was Richard Pennen zu einem Verdächtigen machte –
oder ihm wenigstens ein Motiv gab. Jede derWachen auf dem Schloss
hätte den Abgeordneten über die Zinnen hieven können. Sicher hatten
sich Bodyguards unter die Gäste gemischt … und Leute vom
Geheimdienst – zumindest je ein Sonderkommando zum Schutz des
Außen- und Verteidigungsministers. Steelforth war SO12, das Beste
nach den Spionen vom MI5 und MI6. Aber warum sollte man, um
jemanden loszuwerden, zu einer solchen Methode greifen? Sie war zu
öffentlich, zu auffällig. Rebus wusste aus Erfahrung: Die
gelungenen Morde waren die, bei denen es keinen Mord gab. Im
Schlaf erstickt, mit Drogen vollgepumpt und dann in einem Auto über
eine Klippe befördert oder einfach anderweitig entsorgt.
»Herrgott, John«, schimpfte er sich selbst. »Als
Nächstes sind es dann kleine grüne Männchen.« Die Umstände waren
schuld: In einer G8-Woche konnte man sich mühelos jedes
Verschwörungsszenario vorstellen. Er stellte die Getränke auf dem
Tisch ab, ein wenig beunruhigt darüber, dass Stacey immer noch
nicht wieder aufgetaucht war. Plötzlich ging ihm auf, dass er,
während er auf die Getränke wartete, eine Weile mit dem Rücken zum
Gastraum an der Bar gestanden hatte. Er gab noch fünf Minuten zu,
dann bat er die Kellnerin nachzusehen. Kopfschüttelnd kam sie aus
der Damentoilette zurück.
»Drei Eier verschwendet«, sagte sie zu ihm und
deutete auf Staceys Getränke. »Außerdem sowieso zu jung für Sie,
wenn Sie mir die Bemerkung erlauben.«
Am Gayfield Square hatte sie ihren Koffer abgeholt,
ihm aber einen Brief hinterlassen.
Viel Glück, aber denken Sie daran – Ben war
mein Bruder, nicht Ihrer. Sehen Sie zu, dass Sie auch Ihre eigene
Trauerarbeit leisten.
Noch Stunden bis zur Abfahrt des Schlafwagens. Er
konnte zur Waverley Station fahren, entschied sich aber dagegen; er
wusste nicht, ob es überhaupt noch viel zu sagen gab. Vielleicht
hatte sie sogar recht. Indem er Bens Tod untersuchte, hielt er die
Erinnerung an Mickey wach. Plötzlich schoss ihm eine Frage durch
den Kopf, die er ihr gern gestellt hätte:
Was glauben Sie, was Ihrem Bruder
passiert ist?
Na, irgendwo hatte er ihre Visitenkarte, die sie
ihm vor der Leichenhalle gegeben hatte.Vielleicht würde er sie
morgen anrufen, fragen, ob sie im Zug nach London hatte schlafen
können. Er hatte ihr gesagt, dass er noch an dem Fall dran sei, und
alles, was sie dazu gesagt hatte, war: »Ich weiß.« Keine Fragen,
keine eigenen Theorien. Von Steelforth gewarnt? Ein guter Soldat
befolgte immer die Befehle. Aber sie musste doch darüber
nachgedacht und die verschiedenen Möglichkeiten erwogen
haben.
Ein Sturz.
Ein Sprung.
Ein Schubs.
»Morgen«, sagte er sich, während er zum CID-Büro
zurückging, vor sich eine lange Nacht des heimlichen
Fotokopierens.