Mittwoch, 6. Juli

16

Die meisten Staats- und Regierungschefs der G8 landeten auf dem Flughafen Prestwick südwestlich von Glasgow. Insgesamt würden im Lauf dieses Tages annähernd hundertfünfzig Flugzeuge dort landen. Die Staats- und Regierungschefs, ihre Gattinnen und engsten Mitarbeiter würden dann per Hubschrauber nach Gleneagles befördert, während andere Mitglieder der verschiedenen Delegationen von einer Wagenflotte mit Chauffeuren zu ihren eigentlichen Reisezielen gebracht wurden. George Bushs Spürhund hatte sein eigenes Auto. Heute war Bushs neunundfünfzigster Geburtstag. Jack McConnell, Erster Minister von Schottland, stand auf dem Rollfeld, um die Führer der Welt zu begrüßen. Es gab keine Anzeichen von Protesten oder Störungen.
Nicht am Flughafen.
Aber aus Stirling brachte das Morgenfernsehen Bilder von maskierten Demonstranten, die auf Autos und Lieferwagen einschlugen, die Fenster eines Burger King einwarfen, die A9 blockierten und Tankstellen angriffen. In Edinburgh brachten Demonstranten den ganzen Verkehr auf der Queensferry Road zum Erliegen. Die Lothian Road war von Einsatzwagen der Polizei gesäumt; ein Kordon uniformierter Polizisten stand schützend vor dem Sheraton Hotel und seinen mehreren hundert Delegierten. Polizeipferde patrouillierten in Straßen, durch die normalerweise der morgendliche Berufsverkehr rollte, die heute aber autofrei waren. Am Waterloo Place stand eine Schlange von Bussen bereit, um Demonstranten nach Auchterarder zu transportieren. Es gab jedoch unterschiedliche Signale; niemand wusste genau, ob die offizielle Route freigegeben war. Die Demonstration ging voran, stockte, ging wieder voran. Die Polizei wies die Busfahrer an, ihre Fahrzeuge nicht von der Stelle zu bewegen, bevor die Lage nicht auf die eine oder andere Weise geklärt war.
Und es regnete; wie es aussah, könnte das »Final Push«- Konzert am Abend buchstäblich ins Wasser fallen. Im Murrayfield-Stadion waren die Musiker und Stars eifrig mit Soundchecks und Proben beschäftigt. Bob Geldof hielt sich im Balmoral Hotel auf, war allerdings auf dem Sprung, mit seinem Freund Bono zusammen nach Gleneagles zu fahren – immer unter der Voraussetzung, dass die diversen Demonstrationszüge sie durchlassen würden. Auch die Königin war auf dem Weg nach Norden, wo sie ein Dinner für die Delegierten geben würde.
Die Nachrichtensprecher klangen atemlos, aufgeputscht durch zu viel Koffein. Siobhan, die die Nacht in ihrem Auto verbracht hatte, behalf sich mit dem wässrigen Kaffee von einem ortsansässigen Bäcker. Die anderen Kunden waren eher an den Szenen interessiert, die sich auf dem Bildschirm oben hinter der Theke abspielten.
»Das ist Bannockburn«, hatte eine von ihnen erklärt. »Und das da Springkerse. Sie sind überall!«
»Tut euch zusammen«, riet ihre Freundin, woraufhin einige lächelten. Die Demonstranten hatten Camp Horizon morgens um zwei verlassen und die Polizei buchstäblich im Schlaf überrascht.
»Ich verstehe nicht, weshalb uns diese verfluchten Politiker weismachen wollen, das wäre gut für Schottland«, murmelte ein Mann im Maleranzug, der auf sein Schinkenbrötchen wartete. »Ich hab heute in Dunblane und Crieff zu tun. Gott weiß, wie ich da hinkommen soll …«
Wieder im Auto, wärmte Siobhan sich an der Heizung auf, aber Wirbelsäule und Nacken blieben steif. Sie hatte in Stirling übernachtet, denn wenn sie nach Hause gefahren wäre, hätte sie morgens wiederkommen und dann das ganze Sicherheitsprozedere erneut über sich ergehen lassen müssen. Nachdem sie zwei Aspirin geschluckt hatte, machte sie sich auf den Weg zur A9. Sie war auf der Schnellstraße noch nicht weit gekommen, als die Warnblinkanlage eines Autos vor ihr signalisierte, dass der Verkehr auf beiden Fahrbahnen völlig zum Erliegen gekommen war. Fahrer waren aus ihren Autos gestiegen, um die Männer und Frauen anzubrüllen, die in Clownskostümen auf der Straße lagen, manche an die Leitplanken des Mittelstreifens gekettet. Polizisten jagten andere knallbunt gekleidete Gestalten über die angrenzenden Felder. Siobhan parkte auf dem befestigten Seitenstreifen und lief zur Spitze der Autoschlange, wo sie dem diensthabenden Beamten ihre Dienstmarke zeigte.
»Ich sollte jetzt eigentlich in Auchterarder sein«, erklärte sie dem Mann. Er deutete mit seinem kurzen Schlagstock auf ein Polizeimotorrad.
»Falls Archie einen Ersatzhelm hat, kann er Sie in zwei Sekunden hinbringen.«
Archie zauberte den benötigten Helm hervor. »Da hinten wird Ihnen allerdings höllisch kalt werden«, warnte er sie.
»Dann muss ich mich eben ankuscheln, oder?«
Als er jedoch Gas gab und losfuhr, fand sie das Wort »ankuscheln« völlig deplatziert. Um ihr nacktes Leben bangend, klammerte Siobhan sich an ihm fest. In ihrem Helm befand sich ein Hörer, über den sie Meldungen von Operation Sorbus mitverfolgen konnte. Rund fünftausend Demonstranten brachen über Auchterarder herein, bereit, die Tore des Hotels zu passieren. Sinnlos, wie Siobhan wusste: Sie wären immer noch mehrere hundert Meter vom Hauptgebäude entfernt, und ihre Parolen würden im Wind verwehen. Die hohen Tiere in Gleneagles würden nichts von Demonstrationen, nichts von massenhaftem Protest mitbekommen. Aus allen Richtungen strömten Demonstranten über die Felder herbei, aber die Polizisten jenseits des Sicherheitskordons waren vorbereitet. Als sie Stirling verließ, war Siobhan ein neues Graffito auf einer Fastfoodbude ins Auge gefallen: 10 000 Pharaos, sechs Milliarden Sklaven. Sie versuchte immer noch herauszufinden, wer wer sein sollte …
Als Archie plötzlich bremste, wurde sie nach vorn gedrückt, sodass sie über seine Schulter hinweg sehen konnte, was sich vor ihnen abspielte.
Schutzschilde, Hundeführer, berittene Polizei.
Ein zweimotoriger Transporthubschrauber durchpflügte die Luft über ihnen.
Flammen züngelten an einer amerikanischen Flagge.
Ein Sitzstreik, der sich über die ganze Breite der Fahrbahn erstreckte. Als Polizisten begannen, ihn zu durchbrechen, schoss Archie mit dem Motorrad auf die Lücke zu und quetschte sich hindurch. Wären Siobhans Finger nicht vor Kälte steif und taub gewesen, hätte sie ihm auf die Schulter geklopft. Durch den Kopfhörer erfuhr sie, dass der Bahnhof Stirling möglicherweise in Kürze wieder geöffnet würde, dass Anarchisten aber die Linie als Abkürzung nach Gleneagles verwenden könnten. Sie erinnerte sich, dass das Hotel sich mit seinem eigenen Bahnhof brüstete, zweifelte jedoch daran, dass irgendjemand ihn heute benutzen würde. Bessere Nachrichten kamen aus Edinburgh, wo sintflutartiger Regen die Begeisterung der Demonstranten gedämpft hatte.
Archie wandte den Kopf zu ihr um. »Schottisches Wetter!«, brüllte er. »Was würden wir bloß ohne es machen?«
Auf der Forth Road Bridge lief der Verkehr mit »minimalen Störungen«, und frühe Straßenblockaden auf der Quality Street und der Corstorphine Road waren aufgelöst worden. Archie fuhr langsamer, um eine weitere Blockade zu passieren, was Siobhan nutzte, um sich mit dem Jackenärmel den Nieselregen vom Visier zu wischen. Als sie blinkten, um von der Schnellstraße abzubiegen, schien ein anderer, kleinerer Hubschrauber sie zu begleiten. Archie hielt seine Maschine an.
»Endstation«, sagte er. Sie hatten noch nicht einmal die Stadtgrenze erreicht. Aber vor ihnen, jenseits eines Polizeikordons, wogte ein Meer von Fahnen und Transparenten. Sprechchöre, Pfiffe und Buhrufe.
Bush, Blair, CIA, how many kids did you kill today? Derselbe Sprechchor, den sie beim Verlesen der Toten gehört hatte.
George Bush, we know you, your daddy was a killer, too. Gut, das war jetzt ein neuer …
Siobhan ließ sich vom Soziussitz gleiten, gab Archie den Helm zurück und bedankte sich. Er grinste sie an.
»Werd wohl nicht allzu viele so aufregende Tage erleben«, sagte er, während er sein Motorrad umdrehte. Beim Losfahren winkte er ihr zu. Siobhan erwiderte den Gruß, wobei das Gefühl langsam in ihre Finger zurückkehrte. Ein rotgesichtiger Polizist stürzte auf sie zu. Sie hielt ihm bereits ihre Dienstmarke hin.
»Umso idiotischer von Ihnen«, blaffte er sie an. »Sie sehen aus wie eine von denen.« Er zeigte auf die in Schach gehaltenen Demonstranten. »Die sehen Sie hinter unseren Linien und meinen, da gehören sie auch hin. Und deshalb verschwinden Sie jetzt von hier oder besorgen sich eine Uniform.«
»Sie vergessen«, entgegnete Siobhan, »dass es noch einen dritten Weg gibt.« Und mit einem Lächeln ging sie bis zur Polizeilinie vor, drängte sich zwischen zwei schwarz gekleidete Gestalten und kroch geduckt unter ihren Schutzschilden hindurch. Nun stand sie in der ersten Reihe der Demonstranten. Der rotgesichtige Offizier starrte sie entgeistert an.
»Zeigt eure Dienstmarken!«, rief ein Demonstrant den Polizisten zu. Siobhans Blick fiel auf den Polizisten unmittelbar vor ihr. Er hatte so etwas Ähnliches wie einen Blaumann an. Auf seinem Helm über dem Visier prangten in Weiß die Buchstaben ZH. Sie versuchte sich zu erinnern, ob irgendeiner von dem Trupp aus den Princes Street Gardens die gleichen Abzeichen getragen hatte. Ihr fiel jedoch nur XS ein.
Polizeiexzess.
Das Gesicht des Beamten war schweißnass, aber er machte einen gelassenen Eindruck. Befehle und Aufmunterungen gingen durch die Reihen der Polizei: »Macht dicht!«
»Nur die Ruhe, Jungs.«
»Drängt sie zurück!«
Auf beiden Seiten gab es so etwas wie einen vereinbarten Katalog abgestufter Reaktionen auf das Geschiebe. Einer der Demonstranten, der das Ganze zu kontrollieren schien, rief, der Protestmarsch sei genehmigt und die Polizei setze sich jetzt über sämtliche Absprachen hinweg. Für die Konsequenzen könne er keine Verantwortung übernehmen. Die ganze Zeit hielt er sich ein Handy ans Ohr, während Pressefotografen mit hochgehaltenen Kameras auf Zehenspitzen standen, um etwas von dem Geschehen mitzubekommen.
Siobhahn begann, sich zuerst rückwärts, dann seitwärts zu bewegen, bis sie den Rand des Zugs erreicht hatte. Von diesem Punkt aus suchte sie die Menge nach Santal ab. Neben ihr stand ein Teenager mit schlechten Zähnen und kahlgeschorenem Kopf. Als er anfing, Beschimpfungen loszulassen, verriet sein Akzent den Einheimischen. Einmal klappte seine Jacke auf, und Siobhan erhaschte einen Blick auf etwas, was in seinem Hosenbund steckte und sehr nach einem Messer aussah.
Er hatte sein Handy in der Hand und nahm damit Videoschnipsel auf, die er anschließend seinen Kumpeln schickte. Siobhan sah sich um. Unmöglich, die Polizisten zu rufen. Wenn sie eine Bresche schlügen, um ihn festzunehmen, wäre hier die Hölle los. Also drängte sie sich hinter ihn und passte den geeigneten Moment ab. Als ein Sprechchor ertönte, flogen Hände in die Luft, und sie ergriff ihre Chance. Sie packte seinen Arm, drehte ihn dem Jungen auf den Rücken und drückte ihn so nach vorn, dass er auf die Knie fiel. Mit ihrer freien Hand griff sie nach dem Messer an seiner Taille, riss es heraus und schubste ihn so fest, dass er auf allen vieren landete. Danach warf sie das Messer über eine niedrige Mauer ins Gebüsch und bahnte sich rasch rückwärts einen Weg durchs Gewühl. Sie mischte sich unter die Demonstranten, riss die Arme hoch und klatschte im Rythmus mit den anderen mit. Währenddessen kämpfte sich der Junge auf der Suche nach seinem Angreifer mit vor Wut hochrotem Gesicht durch die Menschenmenge vor ihr.
Er würde sie nicht finden.
Siobhan konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, obwohl ihr klar war, dass ihre eigene Suche sich als ebenso erfolglos erweisen könnte. Und einstweilen befand sie sich mitten in einer Demonstration, die jeden Augenblick in Krawall ausarten konnte.
Ich würde alles für einen Starbucks Latte tun, dachte sie.
Falscher Ort und ganz eindeutig auch die falsche Zeit …
 
Mairie saß in der Halle des Balmoral Hotels. Die Aufzugtür öffnete sich, und sie sah den Mann im blauen Seidenanzug heraustreten. Sie erhob sich von ihrem Stuhl, während er mit ausgestreckter Hand auf sie zuging.
»Mr. Kamweze?«, fragte sie.
Er verneigte sich wie zur Bestätigung, worauf sie seine Hand ergriff.
»Nett, dass Sie sich so kurzfristig mit mir treffen«, sagte Mairie und versuchte, nicht zu überschwänglich zu klingen. Ihr Anruf war nämlich genau das gewesen: die aufstrebende Reporterin, überwältigt von der Möglichkeit, mit einem so bedeutenden afrikanischen Politiker zu sprechen … und ob er möglicherweise fünf Minuten erübrigen könnte, um ihr bei einem Porträt zu helfen, an dem sie gerade arbeitete?
Die Pose war nicht mehr nötig: Er stand jetzt direkt vor ihr. Aber natürlich wollte sie nicht, dass er gleich Reißaus nahm.
»Tee?«, erkundigte er sich und ging voraus zum Palm Court.
»Ihr Anzug gefällt mir«, sagte sie, während er den Stuhl für sie zurückzog. Beim Setzen strich sie sich den Rock glatt. Joseph Kamweze schien den Anblick zu genießen.
»Danke«, erwiderte er und rutschte auf die gepolsterte Bank ihr gegenüber.
»Ist es ein Designermodell?«
»In Singapur gekauft, auf dem Heimweg von einer offiziellen Mission in Canberra. In Wirklichkeit eher günstig …« Er beugte sich verschwörerisch zu ihr vor. »Aber das bleibt unter uns.« Er grinste über das ganze Gesicht, wobei ein Goldzahn hinten in seinem Mund sichtbar wurde.
»Ich möchte Ihnen noch einmal danken, dass Sie gekommen sind.« Mairie holte Notizbuch und Stift aus ihrer Tasche. Außerdem hatte sie ein kleines digitales Aufnahmegerät und fragte ihn, ob es ihm etwas ausmachen würde.
»Das wird von Ihren Fragen abhängen«, sagte er, erneut grinsend. Die Kellnerin kam, und er bestellte Lapsang Souchong für sie beide. Mairie hasste das Zeug, ließ es sich jedoch nicht anmerken.
»Die Rechnung übernehme ich«, erklärte sie ihm. Er wischte das Angebot mit einer Handbewegung beiseite.
»Das spielt keine Rolle.«
Mairie hob eine Augenbraue. Sie war immer noch mit ihrem Handwerkszeug beschäftigt, als sie die nächste Frage stellte.
»Ihre Reise wurde von Pennen Industries finanziert?«
Das Grinsen verschwand; sein Blick verhärtete sich. »Wie bitte?«
Sie bemühte sich, einen Eindruck von Naivität zu erwecken. »Ich habe mich nur gefragt, wer Ihren Aufenthalt hier bezahlt.«
»Was wollen Sie eigentlich?« Die Stimme klang eiskalt. Seine Hände fuhren die Tischkante entlang.
Mairie tat, als läse sie in ihren Aufzeichnungen nach. »Sie gehören zur kenianischen Handelsdelegation, Mr. Kamweze. Was genau erwarten Sie vom G8-Gipfel?« Sie vergewisserte sich, dass das Aufnahmegerät funktionierte, und legte es auf den Tisch zwischen ihnen. Die völlige Normalität dieser Frage schien Joseph Kamweze aus dem Konzept gebracht zu haben.
»Schuldenerlass ist für Afrikas Wiedergeburt von eminenter Bedeutung«, zitierte er. »Finanzminister Brown hat darauf hingewiesen, dass einige von Kenias Nachbarn …« Unfähig weiterzureden, brach er ab. »Warum sind Sie hier? Ist Henderson überhaupt Ihr richtiger Name? Ich bin ein Idiot, dass ich Sie nicht nach Ihrem Ausweis gefragt habe.«
»Ich habe ihn hier.« Mairie schickte sich an, in ihrer Handtasche danach zu suchen.
»Warum haben Sie Richard Pennen erwähnt?«, unterbrach Kamweze.
Sie zwinkerte ihm zu. »Das habe ich nicht getan.«
»Lügnerin.«
»Ich habe von Pennen Industries gesprochen, und das ist eine Gesellschaft, kein Individuum.«
»Sie waren mit dem Polizisten in Prestonfield House.« Das klang wie eine Tatsache, obwohl es auch nur eine Vermutung sein konnte. So oder so, sie leugnete es nicht.
»Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen«, forderte er sie auf.
»Sind Sie da sicher?« Auch ihre Stimme war hart geworden, und sie hielt seinem Blick stand. »Wenn Sie nämlich jetzt weggehen, werde ich ein Foto von Ihnen groß auf der Titelseite meiner Zeitung bringen.«
»Sie machen sich ja lächerlich.«
»Das Bild ist etwas grobkörnig, und wir werden es vergrößern müssen, was bedeutet, dass es außerdem ein bisschen unscharf sein könnte. Aber es wird eine Striptänzerin zu sehen sein, die vor Ihnen herumturnt, Mr. Kamweze. Sie werden die Hände auf Ihren Knien und ein breites Lächeln im Gesicht haben, während Sie ihre nackte Brust anstarren. Sie heißt Molly und arbeitet im Nook in der Bread Street. Ich habe mir heute Morgen die Videos der Überwachungskameras besorgt.« Lügen, alles Lügen, aber sie genoss die Wirkung, die diese Worte auf ihn hatten. Seine Fingernägel bohrten sich in die Tischplatte. Sein kurzgeschnittenes Haar glänzte vor Schweiß.
»Dann wurden Sie auf einem Polizeirevier vernommen, Mr. Kamweze. Ich könnte mir denken, dass auch dieser kleine Ausflug im Film festgehalten ist.«
»Was wollen Sie eigentlich von mir?«, zischte er. Doch dann musste er sich zusammenreißen, denn gerade kam das Tablett mit dem Tee und ein paar Shortbread-Keksen. Mairie biss in einen hinein – morgens nicht gefrühstückt! Der Tee roch nach im Ofen gebackenem Seetang, und kaum dass die Kellnerin eingeschenkt hatte, schob sie ihre Tasse zur Seite. Der Kenianer tat es ihr gleich.
»Nicht durstig?«, fragte sie und musste unwillkürlich lächeln.
»Das hat der Detective Ihnen erzählt«, sagte Kamweze. »Er hat mir auf die gleiche Weise gedroht.«
»Die Sache ist nur die, dass er Sie nicht belangen kann. Ich dagegen … Nun, es sei denn, Sie geben mir einen guten Grund, eine exklusive Titelstory in der Schublade verschwinden zu lassen …« Sie sah, dass er noch nicht so ganz angebissen hatte. »Eine Titelstory, die man auf der ganzen Welt zu Gesicht bekommen wird. Wie lange kann es dauern, bis die Presse in Ihrem Land die Geschichte aufgreift und selbst veröffentlicht? Wie lange, bis Ihre Vorgesetzten in der Regierung davon erfahren? Ihre Nachbarn, Freunde …«
»Genug«, knurrte er. Sein Blick war starr auf den Tisch gerichtet. In dessen hochglanzpolierter Oberfläche erblickte er sein eigenes Spiegelbild. »Genug«, wiederholte er, und sein Ton verriet ihr, dass er sich geschlagen gab. Sie biss in einen weiteren Keks. »Was wollen Sie?«
»Eigentlich nicht viel«, beruhigte sie ihn. »Nur alles, was Sie mir über Mr. Richard Pennen erzählen können.«
»Soll ich Ihr Informant à la ›Deep Throat‹ sein, Miss Henderson?«
»Warum nicht, wenn der Gedanke Ihnen reizvoll erscheint«, antwortete sie.
Und dachte bei sich: In Wirklichkeit bist du noch so ein Betrogener, der erwischt wurde … noch so ein makelbehafteter Beamter …
Noch so ein Singvogel …
 
Seine zweite Beerdigung innerhalb einer Woche.
Er war aus der Stadt hinausgekrochen. An der Forth Bridge winkte die Fife Constabulary Lastwagen und Transporter heraus, um sie auf ihre Tauglichkeit als Barrikaden zu überprüfen. Jenseits der Brücke gab es dagegen keine Störungen, sodass er sogar zu früh ankam. Er fuhr ins Zentrum von Dundee, parkte am Hafen und rauchte eine Zigarette, während er im Radio die Nachrichten hörte. Komisch, die englischen Sender berichteten ständig über die Bewerbung Londons zu den Olympischen Spielen; kaum ein Wort über Edinburgh. Tony Blair jettete gerade von Singapur zurück. Rebus überlegte, ob er wohl Flugmeilen sammelte …
Die schottischen Nachrichtensendungen hatten Mairies Geschichte aufgegriffen: Alle nannten ihn den »G8-Mörder«. Chief Constable James Corbyn gab zu dem Thema keine offizielle Erklärung ab; SO12 betonte, dass für die Staats- und Regierungschefs, die in Gleneagles zusammenkamen, keinerlei Gefahr bestehe.
Zwei Beerdigungen innerhalb einer Woche. Rebus fragte sich, ob er unter anderem deshalb so viel arbeitete, weil er dann nicht allzu viel über Mickey nachdenken musste. Er hatte eine der beiden Quadrophenia-CDs dabei, von der er auf der Fahrt nach Norden ein paar Songs gehört hatte, auch den, wo Daltrey immer wieder mit krächzender Stimme fragt: Can you see the real me? Auf dem Beifahrersitz lagen die Fotos: Edinburgh Castle, Smokings und Fliegen. Ben Webster, dem noch zwei Stunden zu leben blieben, sah genauso aus wie die anderen. Aber Selbstmörder hatten ja keine Schilder um den Hals hängen. Ebenso wenig wie Serienmörder, Gangster, korrupte Politiker. Unter den ganzen offiziellen Porträtfotos lag Mungos Nahaufnahme von Santal und ihrer Kamera. Rebus studierte sie einen Augenblick, bevor er sie obenauf legte. Dann ließ er den Motor an und machte sich auf den Weg zum Krematorium.
Dort wimmelte es von Menschen. Familie und Freunde, dazu Vertreter aller politischen Parteien. Auch Labour-Abgeordnete. Die Presse hielt Abstand und drängte sich am Tor zum Krematorium. Vermutlich jüngere Mitarbeiter, die sich darüber ärgerten, dass ihre älteren und erfahreneren Kollegen sich unterdessen beim G8-Gipfel tummelten und die Schlagzeilen und Titelseiten der Donnerstagsausgaben für sich beanspruchten. Rebus verlangsamte seinen Schritt, als die eigentlichen Gäste hineingeleitet wurden. Manche von ihnen sahen ihn fragend an, konnten sich wohl nicht vorstellen, dass er irgendeine Verbindung zu dem Abgeordneten gehabt hatte; hielten ihn für eine Art Geier, der sich am Schmerz Fremder weidete.
Vielleicht hatten sie damit nicht einmal so unrecht, dachte Rebus.
Ein Hotel in Broughty Ferry hielt für danach Erfrischungen bereit. »Die Familie«, richtete der Geistliche sich an die Trauergemeinde, »hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass Sie alle herzlich eingeladen sind.« Aber sein Blick verriet etwas anderes: bitte nur engster Familien- und Freundeskreis. Auch das war richtig: Rebus bezweifelte, dass irgendein Hotel in »the Ferry« es mit einer solchen Menschenmenge würde aufnehmen können.
Er saß in der letzten Reihe. Der Geistliche hatte einen von Ben Websters Kollegen gebeten heraufzukommen und ein paar Worte zu sagen. Klang ganz ähnlich wie die Lobrede bei Mickeys Beerdigung: Ein guter Mann … fehlt denen, die ihn kannten, sehr, und das taten viele … seiner Familie eng verbunden … in der Gemeinde sehr beliebt. Rebus fand, dass er lange genug gewartet hatte. Von Stacey keine Spur. Seit jener Begegnung vor der Leichenhalle hatte er nicht mehr viel an sie gedacht. Er vermutete, dass sie nach London zurückgekehrt war oder sich um das Haus und den Nachlass ihres Bruders kümmerte.
Aber die Beerdigung zu verpassen …
Zwischen Mickeys Tod und seiner Einäscherung war mehr als eine Woche vergangen. Und bei Ben Webster? Nicht einmal ganze fünf Tage. Konnte man die Eile als ungebührlich bezeichnen? Stacey Websters Entscheidung oder die von jemand anderem? Draußen auf dem Parkplatz steckte er sich eine weitere Zigarette an und wartete noch fünf Minuten. Dann schloss er das Auto auf und stieg ein.
Can you see the real me …
»O ja«, sagte er ruhig und drehte den Zündschlüssel um.
 
Chaos in Auchterarder.
Das Gerücht hatte die Runde gemacht, Bushs Helikopter sei unterwegs. Siobhan warf einen prüfenden Blick auf die Uhr, denn sie wusste, dass er erst am späteren Nachmittag in Prestwick eintreffen sollte. Jeder Hubschrauber, der kam, wurde von der Menge mit Pfiffen und Buhrufen begrüßt. In Scharen waren sie kleine Straßen entlanggelaufen, hatten Felder überquert und waren über Mauern in private Gärten gestiegen. Ihr einziges Ziel: zu dem Polizeikordon vorzudringen. Nein, hinter den Polizeikordon. Das wäre der wahre Sieg: zwar immer noch achthundert Meter vom Hotel entfernt, aber auf dem Gleneagles-Gelände. Sie hätten die Polizei überlistet. Siobhan sah Mitglieder der Clowns-Armee und zwei Demonstranten in Knickerbockern mit Golftaschen über der Schulter: die People’s Golfing Association, deren Mission darin bestand, ein Loch auf dem heiligen Meisterschaftsplatz zu spielen. Sie hatte Stimmen mit amerikanischem, spanischem und deutschem Akzent gehört. Sie hatte beobachtet, wie eine Gruppe schwarz gekleideter Autonomer mit vermummten Gesichtern ihren nächsten Schritt plante. Über ihnen brummte ein Flugzeug, das Überwachungsdaten sammelte …
Aber keine Santal.
Auf der Hauptstraße von Auchterarder war die Nachricht eingetroffen, dass das Edinburgher Kontingent daran gehindert wurde, die Stadt zu verlassen.
»Also demonstrieren sie stattdessen dort«, erklärte jemand voller Schadenfreude. »Die Bullen werden an ihre Grenzen stoßen.«
Da hatte Siobhan so ihre Zweifel. Trotzdem versuchte sie es auf dem Handy ihrer Eltern. Ihr Vater ging dran und sagte, sie säßen schon seit Stunden im Bus und seien immer noch da.
»Versprich mir, dass ihr an keiner Demo teilnehmt«, beschwor Siobhan ihn.
»Versprochen«, sagte ihr Vater. Dann reichte er das Handy an seine Frau weiter, damit Siobhan ihr das gleiche Versprechen abnehmen konnte.
Als sie das Gespräch beendete, kam Siobhan sich plötzlich wie eine Vollidiotin vor. Was machte sie hier, wo sie doch genauso gut bei ihren Eltern hätte sein können? Eine weitere Demonstration bedeutete mehr Bereitschaftspolizisten; vielleicht würde ihre Mutter ja den Angreifer erkennen, oder irgendetwas würde die Erinnerung wecken.
Sie verfluchte sich im Stillen, dann drehte sie sich um und stand der Gesuchten gegenüber.
»Santal«, sagte sie. Die junge Frau senkte ihre Kamera.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte Santal.
»Überrascht?«
»Ein bisschen schon. Sind Ihre Eltern …?«
»Sie sitzen in Edinburgh fest. Ich merke, Ihr Lispeln hat sich gebessert.«
»Was?«
»Am Montag im Park«, fuhr Siobhan fort, »waren Sie mit Ihrer kleinen Kamera beschäftigt. Nur haben Sie sie nicht auf die Polizisten gerichtet. Warum das?«
»Ich weiß gar nicht, worauf Sie hinauswollen.« Dabei schaute Santal sich jedoch flüchtig nach allen Seiten um, als fürchtete sie, dass jemand mithörte.
»Der Grund dafür, dass Sie mir keins Ihrer Fotos zeigen wollten, ist, dass sie mir etwas verraten würden.«
»Nämlich?« Sie klang weder ängstlich noch misstrauisch, sondern wirklich neugierig.
»Sie würden mir verraten, dass Sie eher an Ihren Krawallbrüdern als an den Ordnungshütern interessiert waren.«
»Und?«
»Da habe ich mich gefragt, wie das wohl kommt. Hätte mir schon früher auffallen müssen. Schließlich haben es ja alle gesagt – im Camp in Niddrie und auch hinterher in Stirling.« Siobhan war bis auf wenige Zentimeter an Santal herangetreten. Sie beugte sich vor. »Sie arbeiten undercover«, flüsterte sie. Dann wich sie wieder einen Schritt zurück, so als bewunderte sie die Aufmachung der jungen Frau. »Die Ohrringe und Piercings … wahrscheinlich Imitationen«, mutmaßte sie.
»Vorübergehende Tätowierungen und …«, dabei starrte sie auf die Haare, »eine hübsch gemachte Perücke. Warum Sie sich solche Mühe mit dem Lispeln gegeben haben, ist mir allerdings schleierhaft – vielleicht, um wenigstens ein Gespür für Ihre eigene Identität zu behalten.« Sie machte eine Pause. »Bin ich nicht gut?«
Santal verdrehte die Augen. Ein Handy klingelte, worauf sie ihre Taschen durchwühlte und zwei herauszog. Bei einem leuchtete das Display. Sie schaute darauf, dann warf sie einen Blick über Siobhans rechte Schulter. »Jetzt ist die Clique beisammen«, sagte sie. Siobhan wusste nicht, was sie meinte. Der Trick war so alt wie die Welt, und trotzdem drehte sie sich neugierig um.
Da stand John Rebus, Handy in der einen und so etwas wie eine Visitenkarte in der anderen Hand.
»Mit den Etiketten kenne ich mich nicht so genau aus«, meinte er beim Näherkommen. »Wenn ich etwas anzünde, das zu hundert Prozent aus Tabak besteht, macht mich das zu einem Sklaven im Reich des Bösen?« Er zuckte die Achseln, holte aber auf alle Fälle die Zigarettenschachtel heraus.
»Santal hier ist ein Spitzel«, erklärte Siobhan ihm.
»Das ist vielleicht nicht der passende Ort, um diese Tatsache hinauszuposaunen«, zischte Santal.
»Erzählen Sie mir doch lieber was Neues«, schnaubte Siobhan.
»Ich glaube, den Gefallen kann ich Ihnen tun«, meinte Rebus, ohne den Blick von Santal abzuwenden. »Pflichterfüllung ist ja gut und schön«, sagte er zu ihr, »aber deswegen der Beerdigung Ihres eigenen Bruders fernzubleiben …«
Sie funkelte ihn an. »Waren Sie dort?«
Er nickte. »Ich muss allerdings zugeben, dass ich immer wieder das Foto von ›Santal‹ angestarrt habe und es trotzdem ewig gedauert hat, bis es mir endlich dämmerte.«
»Das verstehe ich als Kompliment.«
»Das sollten Sie auch.«
»Ich wäre wirklich gern gekommen.«
»Was haben Sie denn als Entschuldigung vorgebracht?«, fragte Rebus.
Erst jetzt mischte Siobhan sich ein. »Sie sind Ben Websters Schwester?«
»Jetzt ist der Groschen gefallen«, kommentierte Rebus. »DS Clarke, darf ich vorstellen, Stacey Webster.« Rebus’ Blick lag immer noch auf Stacey. »Aber vermutlich sollten wir Sie lieber Santal nennen?«
»Dazu ist es jetzt wohl ein bisschen zu spät«, antwortete Stacey. Wie auf ein Stichwort schlenderte ein junger Mann mit einem roten Tuch um die Stirn auf sie zu.
»Alles klar hier?«
»Haben nur eine alte Freundin wiedergetroffen«, warnte Rebus ihn.
»Ihr kommt mir vor wie Bullen.« Seine Augen bewegten sich zwischen Rebus und Siobhan hin und her.
»Hey, lass mich mal machen.« Santal war wieder in ihre Rolle geschlüpft: die starke Frau, die imstande war, ihre Kämpfe selbst auszufechten. Sie fixierte den jungen Mann, bis er den Blick abwandte.
»Wenn du meinst …« Und schon trat er den Rückzug an. Als sie sich zu Rebus und Siobhan umwandte, wurde sie wieder Stacey.
»Hier können Sie nicht bleiben«, erklärte sie. »Ich dürfte in einer Stunde abgelöst werden – dann können wir reden.«
»Wo?«
Sie überlegte einen Moment. »Innerhalb der Absperrung. Hinter dem Hotel liegt ein Feld, wo die Fahrer sich aufhalten. Warten Sie da auf mich.«
Siobhans Blick wanderte über die Menschenmenge. »Und wie kommen wir da hin
Stacey lächelte säuerlich. »Lassen Sie sich etwas einfallen.«
»Ich glaube«, erläuterte Rebus, »sie meint, wir sollten uns verhaften lassen.«

17

Rebus brauchte gute zehn Minuten, um sich, Siobhan im Schlepptau, an die Spitze des Gedränges vorzuarbeiten. Während er seinen Körper an einen zerkratzten und beschmierten Schild presste, drückte er in Augenhöhe des Polizisten mit der Handfläche seine Dienstmarke gegen das durchsichtige, verstärkte Plastik.
»Bringen Sie uns hier raus«, formte er mit den Lippen. Darauf fiel der Polizist nicht herein. Stattdessen rief er seinen Vorgesetzten, der entscheiden sollte. Der rotgesichtige Beamte erschien hinter dem Polizisten und erkannte Siobhan sofort. Sie bemühte sich, einigermaßen geläutert auszusehen.
Der Polizeibeamte gab ein Schniefen von sich und dann einen Befehl. Die Kette aus Schutzschilden öffnete sich einen winzigen Spalt, und Hände griffen nach Rebus und Siobhan. Auf der anderen Seite des Kordons stieg der Geräuschpegel merklich an.
»Zeigen Sie ihnen Ihre Dienstmarken«, befahl der Polizeibeamte. Rebus und Siobhan kamen seinem Wunsch nur allzu gern nach. Der Mann hielt ein Megafon vor sich und ließ die Menge wissen, dass es keine Festnahmen gegeben hatte. Als er Rebus und Siobhan als Kriminalbeamte zu erkennen gab, erhob sich ein gewaltiges Gejohle. Trotzdem schien die Situation sich zu entspannen.
»Für diese kleine Eskapade müsste ich Sie eigentlich melden«, erklärte er Siobhan.
»Wir sind vom Morddezernat«, log Rebus, ohne mit der Wimper zu zucken. »Da war jemand, mit dem wir reden mussten – was hätten wir sonst tun sollen?«
Der Polizeibeamte starrte ihn an, sah sich aber plötzlich mit drängenderen Aufgaben konfrontiert. Einer seiner Männer war gestürzt, und die Demonstranten hatten offensichtlich vor, diese Bresche in der Absperrung zu nutzen. Er bellte Befehle in sein Megafon, und Rebus gab Siobhan mit einer Geste zu verstehen, dass es wohl besser sei, das Weite zu suchen.
Einsatzwagentüren sprangen auf, weitere Polizisten quollen heraus, um ihre Kollegen in der vordersten Reihe zu unterstützen. Ein Sanitäter fragte Siobhan, ob ihr etwas fehle.
»Ich bin nicht verletzt«, antwortete sie. Ein kleiner Hubschrauber stand mit sich drehenden Rotorblättern auf der Straße. Rebus ging geduckt darauf zu, um mit dem Piloten zu sprechen, und winkte dann Siobhan herbei.
»Er kann uns zu dem Feld bringen.«
Der Pilot mit seiner verspiegelten Sonnenbrille nickte zur Bestätigung. »Kein Problem«, rief er mit amerikanischem Akzent. Dreißig Sekunden später saßen sie auf ihren Plätzen, und die Maschine erhob sich in die Luft, wobei sie unter sich Staub und Abfall aufwirbelte. Rebus pfiff ein paar Takte Wagner – eine Verneigung vor Apocalypse Now -, aber Siobhan ignorierte das. Man konnte kaum etwas hören, was sie jedoch nicht daran hinderte, Rebus zu fragen, was er dem Piloten erzählt habe. Sie las die Antwort von seinen Lippen ab: Morddezernat.
Das Hotel lag eine Meile südlich. Aus der Luft konnte man mühelos den Sicherheitszaun und die Wachtürme erkennen. Endlos weite verlassene Hänge und dann einzelne Nester von Demonstranten, die von Schwarzuniformierten eingekesselt waren.
»Direkt zum Hotel darf ich nicht fliegen«, rief der Pilot. »Da würde uns eine Rakete runterholen.«
Das schien er ernst zu meinen, denn er machte einen weiten Bogen um das Hotelgelände. Unten sahen sie eine Menge provisorischer Bauten, in denen vermutlich die Vertreter der internationalen Presse untergebracht werden sollten. Satellitenschüsseln auf anonym aussehenden Lieferwagen. Fernsehen oder vielleicht auch der Geheimdienst. Rebus konnte einen Pfad erkennen, der von einem großen weißen Baldachin zur Umzäunung führte. Das Feld war in einen Stoppelacker verwandelt worden, und jemand hatte mit Farbe ein riesiges H darauf gesprüht, damit die Hubschrauberpiloten wussten, wo sie landen sollten. Ihr Flug hatte nur ein paar Minuten gedauert. Rebus schüttelte dem Piloten die Hand und sprang hinaus, Siobhan hinterher.
»Für mich ist heute Tag des stilvollen Reisens«, sinnierte sie. »Zur A9 bin ich auf dem Motorrad gekommen.«
»Belagerungsmentalität«, erklärte Rebus. »Bei diesem Haufen hier geht es diese Woche nur um uns und sie.«
Ein Soldat im Kampfanzug und mit einer Maschinenpistole bewaffnet kam auf sie zu. Ihre Ankunft schien ihn ganz und gar nicht zu erfreuen. Beide zeigten ihre Dienstmarke, aber das genügte dem Soldaten nicht. Rebus bemerkte, dass er keine Abzeichen an der Uniform trug, nichts, woran man seine Nationalität oder die Abteilung der Armee, in der er diente, hätte erkennen können. Er bestand darauf, ihnen ihre Dienstausweise abzunehmen.
»Warten Sie genau hier!«, befahl er und zeigte auf die Stelle, an der sie standen. Als er sich umdrehte, deutete Rebus einen kleinen Stepptanz an und zwinkerte Siobhan zu. Der Soldat war in einem riesigen Wohnwagen verschwunden, dessen Tür von einem anderen bewaffneten Soldaten bewacht wurde.
»Es ist was faul im Staate Dänemark«, meinte Rebus.
»Bin ich deshalb jetzt Ophelia?«
»Lassen Sie uns mal schauen, was da drüben los ist«, schlug Rebus vor und war schon auf dem Weg zum Baldachin. Dessen Dach war eine feste Konstruktion aus Plastikteilen, die durch Pfosten gehalten wurde. Darunter standen mehrere Limousinen nebeneinander aufgereiht. Chauffeure in Livree tauschten Zigaretten und Geschichten aus. Das Merkwürdigste war jedoch ein Koch mit weißer Jacke, schwarz-weiß karierter Hose und Kochmütze auf dem Kopf, der so etwas wie Omeletts zubereitete. Er stand hinter einer Art niedrigem Gerüst, neben sich eine große rote Butangasflasche. Das Essen wurde auf richtigen Tellern und mit silbernem Besteck serviert. Für die Chauffeure hatte man Tische aufgestellt.
»Ich habe davon gehört, als ich mit dem DCI hier oben war«, erklärte Siobhan. »Die Hotelangestellten kommen von hinten auf das Gelände und lassen ihre Autos auf dem nächsten Feld stehen.«
»Ich nehme an, sie sind alle überprüft worden«, sagte Rebus, »was im Moment auch mit uns passiert.« Er warf einen Blick auf den Wohnwagen und nickte dann einer Gruppe von Fahrern zur Begrüßung zu. »Sind die Omeletts in Ordnung, Jungs?«, fragte er, worauf er bestätigende Antworten erhielt. Der Koch wartete auf neue Bestellungen.
»Eins mit allem«, sagte Rebus zu ihm und wandte den Kopf Siobhan zu.
»Das Gleiche«, meinte sie.
Der Koch begann, emsig mit seinen kleinen Plastikschüsseln voll Schinkenwürfeln, Pilzscheiben und klein geschnittenen Paprikaschoten zu hantieren. Rebus nahm sich, während er wartete, Messer und Gabel.
»Kleine Abwechslung für Sie«, sagte er zu dem Koch. Der Mann lächelte. »Aber mit allen Schikanen«, fuhr Rebus in beeindrucktem Ton fort. »Chemietoilette, warme Mahlzeit, ein Unterstand, wenn’s regnet …«
»Die Hälfte der Autos haben Fernseher«, fügte einer der Fahrer hinzu. »Allerdings ist der Empfang nicht besonders.«
»Das Leben ist schon hart«, äußerte Rebus mitfühlend. »Durften Sie mal in den Wohnwagen?«
Die Fahrer schüttelten die Köpfe. »Der ist gerammelt voll mit Zeug«, antwortete einer. »Ich hab mal einen Blick riskiert. Computer und so was.«
»Diese Antenne auf dem Dach ist dann wohl nicht für Coronation Street gedacht«, sagte Rebus, mit dem Finger darauf deutend. Die Fahrer lachten. Im selben Moment öffnete sich die Tür des Wohnwagens, und der Soldat kam wieder heraus. Er schien verblüfft darüber, dass Rebus und Siobhan den ihnen zugewiesenen Platz verlassen hatten. Während er auf sie zuging, nahm Rebus sein Omelett in Empfang und aß einen Bissen davon. Er machte dem Koch gerade ein Kompliment, als der Soldat vor ihm stehen blieb.
»Möchten Sie was davon?«, fragte Rebus und hielt ihm die Gabel hin.
»Sie werden gleich was kriegen, und zwar auf die Ohren«, entgegnete der Soldat. Rebus drehte sich zu Siobhan um.
»Ziemlich gute Reaktion«, sagte sie, während sie von dem Koch ihren Teller entgegennahm.
»DS Clarke ist nämlich Expertin«, informierte Rebus den Soldaten. »Wir futtern nur schnell auf und steigen dann mal kurz in einen Benz, um Columbo zu schauen …«
»Ich behalte vorerst Ihre Dienstausweise«, sagte der Soldat. »Zu Prüfungszwecken.«
»Sieht aus, als säßen wir hier jetzt fest.«
»Auf welchem Kanal kommt denn Columbo?«, fragte einer der Chauffeure. »Die Sendung gefällt mir.«
»Steht doch sicher in der Programmzeitschrift«, meinte ein Kollege.
Der Soldat riss den Kopf hoch und beobachtete mit vorgestrecktem Kinn, wie ein Hubschrauber näher kam. Der flog niedrig und machte einen ohrenbetäubenden Lärm. Um ihn besser sehen zu können, trat der Soldat unter dem Baldachin hervor.
»Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst!«, entfuhr es Rebus, als der Mann steif vor der Unterseite des Hubschraubers salutierte.
»Das macht er jedes Mal!«, brüllte einer der Fahrer. Ein anderer fragte, ob es Bush sein könnte. Uhren wurden abgeglichen. Der Koch bedeckte seine Zutaten, für den Fall, dass der Abwind herumliegendes Kleinzeug aufwirbelte.
»Er muss demnächst kommen«, mutmaßte jemand.
»Ich habe Boki von Prestwick hergefahren«, fügte ein anderer hinzu und schob die Erklärung nach, dass es sich dabei um den Spürhund des Präsidenten handelte.
Der Hubschrauber war über einer Baumreihe verschwunden. Sie konnten hören, wie er zum Landen ansetzte.
»Was machen eigentlich die Ehefrauen«, fragte Siobhan, »während die Männer mit Armdrücken beschäftigt sind?«
»Wir können sie auf eine Besichtigungsfahrt mitnehmen …«
»Oder zum Einkaufsbummel.«
»Oder in Museen und Galerien.«
»Sie bekommen haargenau das, was sie wollen. Selbst wenn dafür Straßen gesperrt oder Kunden aus den Geschäften hinauskomplimentiert werden müssen. Um sich die Zeit zu vertreiben, lassen sie aber auch so Künstlertypen – Schriftsteller und Maler – aus Edinburgh herbringen.«
»Und Bono natürlich«, fügte ein anderer hinzu. »Er und Geldof gehen nachher hier auf Shake-hands-Tour.«
»Apropos …« Siobhan warf einen Blick auf die Zeitangabe ihres Handys. »Ich kann eine Karte fürs ›Final Push‹-Konzert bekommen.«
»Von wem?«, fragte Rebus, der wusste, dass sie bei der öffentlichen Kartenverlosung kein Glück gehabt hatte.
»Von einem der Sicherheitskräfte in Niddrie. Glauben Sie, wir sind rechtzeitig zu Hause?«
Er zuckte nur die Achseln. »Ach«, bemerkte er dann, »was ich Ihnen noch sagen wollte …«
»Was?«
»Ich habe Ellen Wylie in unser Team kooptiert.«
Siobhans Blick wurde starr.
»Sie hat mehr Einblick in Sexbestien-im-Visier als wir«, fuhr Rebus fort, ohne ihr in die Augen zu schauen.
»Ja«, erwiderte Siobhan, »etwas zu viel Einblick.«
»Was bedeutet?«
»Was bedeutet, dass sie zu nah dran ist, John. Überlegen Sie mal, was ein Verteidiger vor Gericht mit ihr machen würde!« Siobhan hatte ihre Stimme nicht mehr unter Kontrolle. »Ist Ihnen nicht vielleicht der Gedanke gekommen, mich zu fragen? Ich bin diejenige, die den Kopf hinhält, wenn das hier alles schiefgeht!«
»Sie macht doch nur Verwaltungskram«, entgegnete Rebus, dem klar war, wie erbärmlich das klang. Seine Rettung nahte in Form des Soldaten, der in langen Schritten wieder auf sie zukam.
»Ich brauche Angaben über den Bereich, in dem Sie tätig sind«, verkündete der Mann.
»Also, ich bin im CID-Bereich tätig«, antwortete Rebus, »und meine Kollegin hier ebenso. Wir sollten uns mit jemandem treffen, wurde uns gesagt … und zwar genau hier.«
»Welche Person? Auf wessen Befehl?«
Rebus tippte sich seitlich an die Nase. »Pssst«, sagte er mit gedämpfter Stimme. Die Fahrer unterhielten sich wieder miteinander und debattierten darüber, welche Stars sie am Samstag zu den Scottish Open chauffieren würden.
»Ich keinen«, prahlte einer von ihnen. »Ich fahre zwischen Glasgow und T in the Park...«
»Ihre Dienststelle ist in Edinburgh, Inspector«, stellte der Soldat fest. »Hier befinden wir uns weit außerhalb Ihres Zuständigkeitsbereichs.«
»Wir ermitteln in einem Mordfall«, gab Rebus zurück.
»Eigentlich in drei Mordfällen«, setzte Siobhan noch eins drauf.
»Und das bedeutet keine Grenzen«, schloss Rebus.
»Es sei denn«, konterte der Soldat und ging auf die Zehenspitzen, »Sie haben die Order, Ihre Ermittlungen auf Eis zu legen.« Er schien die Wirkung zu genießen, die seine Worte vor allem auf Siobhan hatten.
»Aha, Sie haben also telefoniert«, sagte Rebus, ohne sich sonderlich beeindruckt zu zeigen.
»Ihr Chief Constable war nicht besonders glücklich.« Der Soldat lächelte. »Und er ebenso wenig …« Rebus folgte der Richtung seines Blicks. Ein Landrover holperte auf sie zu. Das Beifahrerfenster war offen, und Steelforths Kopf schaute heraus, als zerrte er an irgendeiner Leine.
»Ach du Scheiße«, murmelte Siobhan.
»Kopf hoch, Schultern zurück!«, empfahl Rebus ihr, wofür er wieder einen vernichtenden Blick erntete.
Das Fahrzeug hatte mit quietschenden Bremsen angehalten, und Steelforth war herausgesprungen. »Wissen Sie eigentlich«, schrie er, »wie viele Monate Training und Vorbereitung, wie viele Wochen verdeckter Ermittlung … wissen Sie, wie viel davon Sie gerade in tausend Stücke zerschlagen haben?«
»Ich glaube, ich kann Ihnen nicht recht folgen«, antwortete Rebus unbekümmert, während er dem Koch seinen leeren Teller zurückgab.
»Wahrscheinlich meint er Santal«, sagte Siobhan.
Steelforth funkelte sie wütend an. »Natürlich meine ich sie!«
»Sie ist eine von Ihnen?«, fragte Rebus und nickte dann, sich selbst zustimmend. »Logisch. Sie haben sie in die Zeltstadt in Niddrie geschickt. Dort sollte sie Fotos von all den Demonstranten machen und sie zu einer netten kleinen Mappe für den späteren Gebrauch zusammenstellen … Nicht einmal für die Beerdigung ihres Bruders konnten Sie sie entbehren, so wertvoll war sie für Sie.«
»Ihre eigene Entscheidung, Rebus«, fauchte Steelforth.
»Columbo hat um zwei angefangen«, meldete einer der Fahrer.
Steelforth ließ sich nicht beirren. »Bei so einer verdeckten Ermittlung fliegt die Tarnung oft auf, bevor der Ermittler überhaupt richtig loslegt. Ihr Einsatz hatte schon vor Monaten begonnen.«
Rebus hakte beim Gebrauch der Vergangenheitsform ein, und Steelforth nickte bestätigend.
»Was glauben Sie«, fragte er, »wie viele Leute Sie heute mit ihr gesehen haben? Wie viele Sie als einen vom CID erkannt haben? Die werden jetzt anfangen, ihr entweder zu misstrauen oder sie in der Hoffnung, dass wir anbeißen, mit Blödsinn füttern.«
»Wenn sie uns gleich vertraut hätte -« Siobhan wurde durch ein schroffes Auflachen von Steelforth unterbrochen.
»Ihnen vertrauen?« Er lachte wieder. »Großer Gott, der ist wirklich gut.«
»Sie hätten vorhin hier sein sollen«, sagte Siobhan. »Die Retourkutsche unseres Soldatenfreunds war besser.«
»Ach übrigens«, warf Rebus ein, »ich wollte mich noch bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie mich über Nacht in eine Zelle gesperrt haben.«
»Ich kann nichts dafür, wenn Polizeibeamte beschließen, auf eigene Faust zu handeln – oder wenn Ihr eigener Chef nicht ans Telefon geht.«
»Es waren also echte Polizisten?«, fragte Rebus. Steelforth stemmte die Hände in die Hüften. Er richtete den Blick zu Boden, dann wieder auf Rebus und Siobhan.
»Sie werden natürlich vorübergehend suspendiert.«
»Wir arbeiten nicht für Sie.«
»Diese Woche arbeitet jeder für mich.« Er wandte seine Aufmerksamkeit Siobhan zu. »Und Sie werden DS Webster nicht wiedersehen.«
»Sie hat Beweise …«
»Beweise wofür? Dass Ihre Mutter bei Ausschreitungen von einem Schlagstock getroffen wurde? Sie muss entscheiden, ob sie Anzeige erstatten will – haben Sie sie überhaupt gefragt?«
»Ich …«, stammelte Siobhan.
»Nein, Sie mussten gleich auf Ihren kleinen Kreuzzug gehen. DS Webster ist nach Hause geschickt worden – Ihre Schuld, nicht meine.«
»Apropos Beweise«, schaltete Rebus sich ein, »was ist eigentlich mit diesen Überwachungsvideos passiert?«
Steelforth runzelte die Stirn. »Videos?«, echote er.
»Der Kontrollraum im Edinburgh Castle … Kameras, die auf die Zinnen gerichtet sind …«
»Die haben wir ein Dutzendmal durchgesehen«, brummte Steelforth. »Niemand hat irgendetwas gesehen.«
»Dann ist es also in Ordnung, wenn ich einen Blick auf die Bänder werfe?«
»Wenn Sie welche finden, nur zu!«
»Sie sind gelöscht worden?«, fragte Rebus. Steelforth antwortete gar nicht erst. »Bei unserer Suspendierung vorhin«, fuhr Rebus fort, »haben Sie vergessen, ›vorbehaltlich einer Untersuchung‹ hinzuzufügen. Deshalb vermute ich, dass es keine geben wird.«
Steelforth zuckte die Achseln. »Hängt von Ihnen beiden ab.«
»Von unserem Verhalten? Dass wir zum Beispiel nicht darauf drängen, die Überwachungsvideos ausgehändigt zu bekommen?«
Erneut zuckte Steelforth die Achseln. »Sie können das hier überleben – aber nur knapp. Ich kann dafür sorgen, dass Sie als Helden oder als Bösewichte daraus hervorgehen …« Das Funkgerät an Steelforths Gürtel ging knackend an. Meldung von einem der Wachtürme: Sicherheitszaun durchbrochen. Steelforth hielt sich das Gerät an den Mund, forderte eine komplette Chinook-Hubschraubermannschaft als Verstärkung an und eilte dann wieder zurück zum Landrover. Einer der Chauffeure fing ihn ab.
»Ich wollte mich Ihnen vorstellen, Commander. Ich heiße Steve und werde Sie zu den Open -«
Steelforth knurrte irgendeinen Fluch, was Steve verstummen ließ. Die anderen Fahrer begannen zu spotten, dass er am Wochenende wohl kein großes Trinkgeld zu erwarten hätte. Dann heulte der Motor von Steelforths Landrover auf.
»Nicht einmal ein Abschiedsküsschen?«, rief Rebus und winkte hinter ihm her. Siobhan starrte ihn an.
»Sie können sich auf Ihre Pensionierung freuen – manche von uns hatten auf eine Karriere gehofft.«
»Sie sehen doch, wie er ist, Shiv: Wenn das hier erst mal vorbei ist, wird er uns gar nicht mehr auf dem Radar haben.« Rebus winkte dem Fahrzeug nach. Der Soldat stand vor ihnen und hielt ihnen ihre Dienstausweise hin.
»Und jetzt hauen Sie ab«, fauchte er.
»Wohin genau?«, fragte Siobhan.
»Und, wichtiger noch, wie?«, fügte Rebus hinzu.
Einer der Fahrer räusperte sich und lenkte mit einem ausgestreckten Arm die Aufmerksamkeit auf eine Ansammlung von Luxuslimousinen. »Ich habe gerade eine SMS bekommen – eins der hohen Tiere muss zurück nach Glasgow. Ich könnte Sie irgendwo absetzen …«
Siobhan und Rebus schauten sich an. Dann lächelte Siobhan den Fahrer an und deutete mit einem Nicken auf die Autos.
»Dürfen wir wählen?«, fragte sie.
Schließlich saßen sie im Fond eines Sechs-Liter-Audi A8, Tachostand sechshundertfünfzig Kilometer, von denen die meisten seit dem frühen Morgen zurückgelegt worden waren. Durchdringender Geruch von neuem Leder und der strahlende Glanz von Chrom. Siobhan erkundigte sich, ob der Fernseher funktioniere. Rebus warf ihr einen Blick zu.
»Hab mich gefragt, ob London den Olympiazuschlag bekommen hat«, erklärte sie.
Ihre Dienstmarken wurden an drei verschiedenen Kontrollpunkten zwischen dem Feld und dem Hotelgelände geprüft.
»Wir fahren nicht bis zum Hotel«, erklärte der Fahrer. »Ich werde den Herrn am Meetingpoint neben dem Pressezentrum abholen.« Beide grenzten an den Hauptparkplatz des Hotels. Rebus sah, dass niemand Golf spielte. Rasen für Pitch & Putt und Krocket – beide leer, abgesehen von gepflegten, gemächlich dahinschlendernden Sicherheitskräften.
»Kaum zu glauben, dass da überhaupt was passiert«, bemerkte Siobhan flüsternd. Der Ort hatte etwas an sich, das einen davon abhielt, Aufmerksamkeit zu erregen. Rebus empfand das genauso.
»Nur eine Sekunde«, sagte der Fahrer und hielt an. Beim Aussteigen setzte er seine Chauffeursmütze auf. Rebus beschloss, auch auszusteigen. Auf den Dächern konnte er keine Scharfschützen entdecken, ging aber davon aus, dass es welche gab. Sie hatten auf einer Seite des Hauptgebäudes im Baronial Style geparkt, in der Nähe eines Wintergartens, in dem Rebus ein Restaurant vermutete.
»Ein Wochenende hier würde mir guttun«, vertraute er Siobhan an, die ebenfalls ausstieg.
»Ihrem Konto aber sicher nicht«, entgegnete sie. Im Pressezentrum – einer soliden Zeltkonstruktion – konnte man beobachten, wie Reporter Artikel in ihre Laptops hackten. Rebus hatte sich eine Zigarette angezündet. Er hörte ein Geräusch. Als er sich umdrehte, sah er ein Fahrrad um die Ecke des Hotels biegen, dessen Fahrer sich nach vorn beugte, um Tempo zu gewinnen; ein weiteres Fahrrad folgte unmittelbar hinter ihm. Der vordere Radfahrer entdeckte sie, als er ungefähr zehn Meter von ihnen entfernt war, und winkte ihnen zu. Rebus winkte mit einem Schnippen seiner Zigarette zurück. Die Hände vom Lenker zu nehmen hatte den Radfahrer jedoch aus dem Gleichgewicht gebracht. Sein Vorderrad wackelte und rutschte auf dem Kies weg. Der andere Radfahrer versuchte ihm auszuweichen, fiel aber schließlich über seinen eigenen Lenker. Wie aus dem Nichts tauchten Männer in schwarzen Anzügen auf, die sich rasch um die beiden auf dem Boden liegenden Männer scharten.
»War das jetzt unsere Schuld?«, fragte Siobhan sofort. Rebus schwieg, warf seine Zigarette weg und stieg wieder ins Auto. Siobhan folgte seinem Beispiel, und durch die Windschutzscheibe beobachteten sie, wie dem ersten Radfahrer aufgeholfen wurde und er sich die aufgeschürften Knöchel rieb. Der andere Radfahrer lag immer noch am Boden, aber ihn schien niemand sonderlich zu beachten. Eine Frage des Protokolls, meinte Rebus.
Die Bedürfnisse von Präsident George W. Bush standen eben immer an erster Stelle.
»War das jetzt unsere Schuld?«, wiederholte Siobhan mit leicht bebender Stimme.
Der Audifahrer kam vom Meetingpoint zurück, gefolgt von einem Mann im grauen Anzug. Der Mann hatte zwei prall gefüllte Aktentaschen bei sich. Wie der Fahrer blieb auch er einen Moment stehen, um sich das Durcheinander anzuschauen. Der Fahrer hielt ihm die Beifahrertür auf, und der Staatsbeamte stieg ein, ohne auch nur grüßend in Richtung Rücksitz zu nicken. Der Fahrer setzte sich hinters Steuer, wobei seine Mütze die Decke des Audi streifte, und fragte, was da los sei.
»›Rad im Rad‹«, gab Rebus zur Antwort. Am Ende sah der Staatsbeamte – vermutlich zu seinem Leidwesen – ein, dass er nicht der einzige Fahrgast war.
»Ich heiße Dobbs«, stellte er sich vor. »FCO.«
Außen- und Commonwealthministerium. Rebus streckte ihm die Hand hin.
»Nennen Sie mich John«, sagte er. »Ich bin ein Freund von Richard Pennen.«
Siobhan machte den Eindruck, als bekäme sie davon gar nichts mit. Als das Auto losfuhr, war ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Szene gerichtet, die sich hinter ihnen abspielte.
Zwei Männer in grüner Sanitäteruniform konnten nicht zum US-Präsidenten vordringen, weil seine Sicherheitsmänner sie daran hinderten. Hotelangestellte hatten sich ebenso wie ein paar Reporter aus dem Pressezentrum als Zuschauer eingefunden.
»Happy Birthday, Mr. President«, sang Siobhan mit heiserer Stimme.
»Freut mich«, sagte Dobbs zu Rebus.
»War Richard schon hier?«, fragte Rebus beiläufig.
Der Staatsbeamte runzelte die Stirn. »Ich weiß gar nicht, ob er auf der Liste steht.« Er schien sich besorgt zu fragen, ob man ihn womöglich nicht auf dem Laufenden gehalten hatte.
»Wie er mir erzählt hat, steht er drauf«, log Rebus ungeniert. »Dachte, der Außenminister hätte eine Aufgabe für ihn …«
»Mag sein«, meinte Dobbs und versuchte, überzeugter zu klingen, als er aussah.
»George Bush ist gerade vom Fahrrad gefallen«, warf Siobhan ein. Es war, als mussten die Worte ausgesprochen werden, bevor sie zu einer Tatsache werden konnten.
»Ach ja?«, bemerkte Dobbs, ohne richtig zuzuhören. Er öffnete eine der Aktentaschen, im Begriff, sich in eine Lektüre zu vertiefen. Rebus schloss daraus, dass der Mann genug Smalltalk ertragen hatte und sein Verstand nun zu Höherem strebte: Statistiken, Budgets und Handelsziffern. Er startete einen letzten Versuch.
»Waren Sie im Castle?«
»Nein«, antwortete Dobbs gedehnt. »Sie?«
»Ja, ich schon. Entsetzlich, das mit Ben Webster, nicht wahr?«
»Schrecklich. Der beste PPS, den wir je hatten.«
Siobhan schien plötzlich klar zu werden, was hier vor sich ging. Rebus zwinkerte ihr zu.
»Richard ist nicht ganz davon überzeugt, dass er gesprungen ist«, bemerkte Rebus.
»Sie meinen, ein Unfall?«, fragte Dobbs nach.
»Geschubst«, meinte Rebus. Der Staatsbeamte ließ seinen Packen Papier sinken und drehte den Kopf nach hinten.
»Geschubst?« Er sah, wie Rebus nickte. »Wer um alles in der Welt würde denn so was tun?«
Rebus zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat er sich Feinde gemacht. Politiker tun das ja manchmal.«
»Fast so viele wie Ihr Busenfreund Pennen«, konterte Dobbs.
»Was wollen Sie damit sagen?« Rebus versuchte, stellvertretend für seinen Freund einen gekränkten Ton anzuschlagen.
»Früher gehörte seine Firma dem Steuerzahler. Jetzt verdient er ein Schweinegeld mit den Ergebnissen der Forschung und Entwicklung, die wir bezahlt haben.«
»Geschieht uns recht, wenn wir sie ihm verkauft haben«, schaltete Siobhan sich ein.
»Vielleicht hatte die Regierung schlechte Berater«, scherzte Rebus.
»Die Regierung wusste genau, was sie tat.«
»Warum hat sie dann an Pennen verkauft?«, fragte Siobhan, jetzt wirklich neugierig geworden. Dobbs blätterte erneut seine Papiere durch. Der Fahrer telefonierte mit irgendjemandem und erkundigte sich, welche Routen ihnen offen stünden.
»Forschung und Entwicklung sind kostspielige Abteilungen«, erklärte Dobbs. »Wenn das Verteidigungsministerium Einsparungen machen muss, hagelt es immer Kritik, wenn die Hauptlast bei den Streitkräften liegt. Sägen sie aber ein paar Forschungsfritzen ab, zuckt die Presse nicht mal mit der Wimper.«
»Ich glaube, ich habe es immer noch nicht ganz verstanden«, gab Siobhan zu.
»Eine private Firma«, führte Dobbs aus, »kann an so ziemlich jeden verkaufen – sie hat weniger Auflagen als das Verteidigungsministerium, das Außenministerium oder das Ministerium für Industrie und Handel. Ergebnis? Schnellere Gewinne.«
»Gewinne aus Verkäufen an zwielichtige Diktatoren«, fügte Rebus hinzu, »und bettelarme Staaten, die bis zum Hals in Schulden stecken.«
»Ich dachte, er wäre Ihr …?« Dobbs zuckte zurück, als ihm klar wurde, dass er sich nicht unbedingt unter Freunden befand. »Wer sind Sie doch gleich?«
»John«, erinnerte ihn Rebus. »Und das ist meine Kollegin.«
»Aber Sie arbeiten nicht für Pennen Industries?«
»Das habe ich nie behauptet«, erwiderte Rebus. »Wir sind von der Lothian and Borders Police, Mr. Dobbs. Und ich möchte Ihnen für Ihre freimütigen Antworten auf unsere Fragen danken.« Rebus starrte über den Sitz hinweg auf den Schoß des Staatsbeamten. »Sie scheinen Ihre ganzen schönen Papiere zu zerknüllen. Wollen Sie auf diese Weise einen Reißwolf sparen?«
 
Ellen Wylie war eifrig damit beschäftigt, die Telefone zu bedienen, als sie zum Gayfield Square zurückkehrten. Siobhan hatte ihre Eltern angerufen und erfahren, dass sie die Fahrt nach Auchterarder aufgegeben und sich von der aufgeheizten Demo in der Princes Street ferngehalten hatten. Vom Mound bis zur Old Town hatte es Ausschreitungen gegeben – verärgerte Demonstranten, die man am Verlassen der Stadt gehindert hatte und die dann mit der Bereitschaftspolizei aneinandergerieten. Als Rebus und Siobhan in die CID-Räume kamen, warf Wylie ihnen einen vielsagenden Blick zu. Rebus vermutete, dass sie selbst kurz vor einer Demo stand – den ganzen Tag auf dem Revier allein gelassen. Doch dann tauchte eine Gestalt aus Derek Starrs Büro auf – nicht Starr selbst, sondern Chief Constable James Corbyn. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und die Ungeduld war ihm anzumerken. Rebus starrte Wylie an, die als Antwort mit den Schultern zuckte und andeutete, dass Corbyn sie daran gehindert hatte, eine SMS zur Warnung zu verschicken.
»Sie beide kommen hier herein«, befahl Corbyn, während er sich in Starrs stickiges Reich zurückzog. »Schließen Sie die Tür hinter sich«, fügte er hinzu. Er setzte sich; da es in dem Raum keine weiteren Stühle gab, blieben Rebus und Siobhan stehen.
»Schön, dass Sie sich die Zeit nehmen konnten, Sir«, sagte Rebus, der als Erster seine Revanche anbrachte. »Ich wollte Sie etwas über die Nacht fragen, in der Ben Webster starb.«
Darauf war Corbyn nicht gefasst. »Was ist damit?«
»Sie waren bei dem Dinner, Sir …, etwas, was Sie vermutlich von Anfang an hätten aussagen müssen.«
»Wir sind nicht hier, um über mich zu sprechen, DI Rebus. Wir sind hier, damit ich Sie beide offiziell mit sofortiger Wirkung vom aktiven Dienst suspendieren kann.«
Rebus nickte langsam, als wäre das selbstverständlich. »Trotzdem, Sir, jetzt sind Sie hier, und es wäre das Beste, wir bekämen Ihre Aussage. Sieht sonst aus, als hätten wir etwas zu verbergen. Die Zeitungen scharen sich um uns wie die Geier. Es ist wohl kaum im Sinne unserer Öffentlichkeitsarbeit, wenn der Chief Constable …«
Corbyn stand auf. »Sie haben vielleicht nicht richtig zugehört, Inspector. Sie beteiligen sich an überhaupt keiner Ermittlung mehr. Ich möchte, dass Sie beide innerhalb der nächsten fünf Minuten das Gebäude verlassen. Sie werden nach Hause gehen, neben dem Telefon sitzen und auf Neuigkeiten von meiner Untersuchung über Ihr Verhalten warten. Ist das klar?«
»Ich brauche ein paar Minuten, um meine Aufzeichnungen zu aktualisieren, Sir. Ich muss unsere Unterhaltung schriftlich niederlegen.«
Corbyn deutete mit dem Finger auf Rebus. »Ich habe alles über Sie gehört, Rebus.« Er ließ seinen Blick zu Siobhan wandern. »Das erklärt vielleicht, warum es Ihnen so widerstrebte, mir den Namen Ihres Kollegen zu nennen, als ich Ihnen die Leitung übertrug.«
»Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sir, Sie haben mich gar nicht danach gefragt«, erwiderte Siobhan scharf.
»Aber Sie wussten ganz genau, dass der Ärger programmiert war.« Sein Blick war wieder fest auf Rebus gerichtet. »Mit Rebus in unmittelbarer Nähe.«
»Bei allem Respekt, Sir -«, begann Siobhan zu argumentieren.
Corbyn schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Ich hatte Sie gebeten, die ganze Sache auf Eis zu legen! Stattdessen füllt sie die Titelseiten, und dann tauchen Sie auch noch in Gleneagles auf! Wenn ich Ihnen sage, dass Sie von dem Fall abgezogen sind, ist das alles, was Sie wissen müssen. Ende der Durchsage. Sayonara. Finito.«
»Sie haben wohl bei dem Dinner ein paar Wörter aufgeschnappt, wie?«, erwiderte Rebus augenzwinkernd.
Corbyn traten fast die Augen aus dem Kopf. Fehlte nur noch, dass er mit einem Aneurysma zusammenbrach. Dann stolzierte er aus dem Raum und hätte im Vorbeigehen fast Siobhan mitsamt einem Bücherregal umgerissen. Rebus atmete laut hörbar aus, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und kratzte sich an der Nase.
»Und was wollen Sie jetzt machen?«, fragte er.
Siobhan schaute ihn nur an. »Vielleicht mein Zeug packen?«, schlug sie vor.
»Packen gehört sicher dazu«, antwortete Rebus. »Wir packen alle Fallakten zusammen, bringen sie in meine Wohnung und schlagen dort unser Lager auf.«
»John...«
»Sie haben recht«, sagte er, wobei er ihren Ton absichtlich fehlinterpretierte. »Es wird auffallen, wenn sie fehlen. Also müssen wir sie fotokopieren.«
Diesmal schenkte sie ihm ein Lächeln.
»Wenn Sie möchten, kann ich das machen«, fügte er hinzu. »Ich weiß, dass Sie eine heiße Verabredung haben.«
»Im strömenden Regen.«
»Genau das, was Travis brauchen, um ihr grässliches Stück zu singen.« Er verließ Starrs Büro. »Haben Sie irgendwas von all dem mitbekommen, Ellen?«
Sie legte den Telefonhörer hin. »Ich konnte Sie nicht warnen«, begann sie.
»Entschuldigen Sie sich nicht. Ich nehme an, Corbyn weiß jetzt, wer Sie sind?« Er setzte sich auf die Ecke ihres Schreibtischs.
»Sonderlich interessiert schien er nicht. Er hat meinen Namen und meinen Dienstgrad erfahren, sich aber nicht danach erkundigt, ob das hier meine Dienststelle ist.«
»Hervorragend«, meinte Rebus. »Das bedeutet, Sie können hier als unsere Ohren und Augen fungieren.«
»Moment mal«, unterbrach Siobhan. »Die Entscheidung habe ich zu treffen.«
»Jawohl, Ma’am.«
Siobhan ignorierte ihn und konzentrierte sich auf Ellen Wylie. »Das hier ist meine Show, Ellen. Verstanden?«
»Keine Sorge, Siobhan, ich weiß, wann ich unerwünscht bin.«
»Ich sage nicht, dass Sie unerwünscht sind, aber ich muss sicher sein, dass Sie auf unserer Seite stehen.«
Wylie hatte sichtlich zu kämpfen. »Statt auf welcher?«
»Aber meine Damen«, sagte Rebus und trat wie ein altmodischer Ringrichter zwischen sie. Er schaute Siobhan an. »Ein zusätzliches Paar Hände wäre nicht verkehrt, Chef, das müssen Sie zugeben.«
Sie lächelte schließlich – der »Chef« hatte seinen Zweck erfüllt. Ihr Blick war jedoch noch immer auf Wylie geheftet. »Trotzdem«, sagte sie, »können wir Sie nicht bitten, für uns zu spionieren. Dass John und ich in der Klemme stecken, ist eine Sache, aber es ist eine andere, Sie auch noch in Schwierigkeiten zu bringen.«
»Das macht mir nichts aus«, erwiderte Wylie. »Übrigens, hübsche Latzhose.«
Siobhan lächelte wieder. »Vielleicht sollte ich mich vor dem Konzert noch umziehen.«
Rebus stieß geräuschvoll die Luft aus: Explosion vermieden. »Und was war hier so los?«, fragte er Wylie.
»Hab versucht, alle auf Bestien-im-Visier aufgelisteten Sexualstraftäter zu warnen, das heißt, ich habe die verschiedenen Polizeidienststellen gebeten, ihnen zu sagen, dass sie aufpassen sollen.«
»Und, haben sie begeistert geklungen?«
»Nicht direkt. Zwischendrin hatte ich noch eine Menge Reporter an der Strippe, die wegen der Titelseite anriefen.« Sie hatte die Zeitung neben sich liegen und tippte auf Mairies Schlagzeile. »Erstaunlich, dass sie die Zeit dazu hat«, bemerkte sie.
»Wieso denn das?«, wunderte sich Rebus.
Wylie schlug die Zeitung bei einer Doppelseite auf. Verfasserin: Mairie Henderson. Ein Interview mit Stadtrat Gareth Tench. Großformatiges Foto von ihm mitten in der Zeltstadt von Niddrie.
»Ich war da, als sie es aufgenommen haben«, warf Siobhan ein.
»Ich kenne ihn«, entfuhr es Wylie. Rebus richtete den Blick auf sie.
»Wie das?«
Durch sein plötzliches Interesse misstrauisch geworden, zuckte sie die Achseln. »Ich kenne ihn eben.«
»Ellen«, warnte er, indem er ihren Namen gedehnt aussprach.
Sie seufzte. »Er war mit Denise befreundet.«
»Ihrer Schwester Denise?«, fragte Siobhan.
Wylie nickte. »Ich habe sie selbst miteinander verkuppelt … mehr oder weniger.«
»Läuft da was zwischen ihnen?« Rebus hatte die Arme wie eine Zwangsjacke um sich geschlungen.
»Sie gingen ein paarmal miteinander aus. Er war …«, sie suchte nach den richtigen Worten, »… er hat ihr gutgetan, hat ihr geholfen, aus sich herauszugehen.«
»Mithilfe eines Gläschens Wein?«, riet Rebus. »Aber wie haben Sie ihn kennengelernt?«
»Bestien-im-Visier«, sagte sie ruhig, wich aber seinem Blick aus.
»Wie bitte?«
»Er hat den Beitrag von mir gesehen. Hat mir eine E-Mail voll des Lobes geschickt …«
Rebus war aufgesprungen und suchte den Schreibtisch nach einem Blatt Papier ab – der Liste mit Bestien-im-Visier-Abonnenten, die Bain ihm zusammengestellt hatte.
»Welcher ist es?«, fragte er, nachdem er ihr die Liste gegeben hatte.
»Der da«, antwortete sie.
»Ozyman?«, fragte Rebus nach, worauf sie nickte. »Was, zum Teufel, ist denn das für ein Name? Er kommt doch nicht aus Australien, oder?«
»Ozymandias vielleicht«, schlug Siobhan vor.
»Ozzy Osbourne wäre eher meine Richtung«, meinte Rebus. Siobhan beugte sich über eine Tastatur und gab den Namen in eine Suchmaschine ein. Wenige Mausklicks später erschien eine Biografie auf dem Bildschirm.
»König der Könige«, erklärte Siobhan. »Hat sich selbst ein riesiges Standbild errichtet.« Noch zwei Klicks, und Rebus hatte ein Gedicht von Shelley vor sich.
»›Seht an meine Werke, ihr Mächtigen‹«, rezitierte er, »›und verzagt!‹« Er wandte sich Wylie zu. »Eingebildet ist der ja gar nicht …«
»Das kann ich nicht leugnen«, räumte sie ein. »Ich habe ja auch nur gesagt, dass er Denise gutgetan hat.«
»Wir müssen mit ihm reden«, sagte Rebus, während er die Namensliste durchging und sich fragte, wie viele noch in Edinburgh lebten. »Und Sie, Ellen, hätten viel früher darüber sprechen müssen.«
»Ich wusste nicht, dass Sie eine Liste haben«, erwiderte sie abwehrend.
»Er ist durch die Website an Sie gekommen – logisch, dass wir Fragen an ihn haben. Wir haben doch weiß Gott nicht viele Spuren, denen wir nachgehen können.«
»Oder zu viele«, konterte Siobhan. »Opfer in drei verschiedenen Regionen, Hinweise in einer anderen … Es ist alles so verstreut.«
»Ich dachte, Sie müssten nach Hause, um sich fertig zu machen?«
Sie nickte und schaute sich im Büro um. »Wollen Sie das wirklich alles mitnehmen?«
»Warum nicht? Ich kann den Papierkram kopieren, Ellen wird es sicher nichts ausmachen, länger zu bleiben und mir zu helfen.« Er warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. »Hab ich recht, Ellen?«
»Das ist meine Strafe, stimmt’s?«
»Ich kann ja verstehen, dass Sie Denise da raushalten möchten«, sagte Rebus, »aber Tench hätten Sie trotzdem erwähnen müssen.«
»Vergessen Sie aber nicht, John«, unterbrach Siobhan ihn, »der Stadtrat hat mich an diesem Abend in Niddrie vor Prügeln bewahrt.«
Rebus nickte. Er hätte hinzufügen können, dass er eine andere Seite von Gareth Tench kennengelernt hatte, ließ es aber bleiben.
»Viel Spaß bei Ihrem Konzert«, wünschte er ihr stattdessen.
Siobhan richtete den Blick wieder auf Ellen Wylie. »Mein Team, Ellen. Wenn ich das Gefühl habe, Sie verheimlichen uns noch etwas …«
»Botschaft angekommen.«
Siobhan nickte, doch dann kam ihr ein Gedanke. »Hat es schon einmal Treffen von Bestien-im-Visier-Abonnenten gegeben?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Sie können aber Kontakt miteinander aufnehmen?«
»Offensichtlich.«
»Wussten Sie, wer Gareth Tench ist, bevor Sie ihn kennenlernten?«
»In seiner ersten E-Mail schrieb er, dass er in Edinburgh lebt, und unterzeichnete mit seinem richtigen Namen.«
»Und Sie haben ihm gesagt, dass Sie im CID arbeiten?«
Wylie nickte.
»Was denken Sie?«, fragte Rebus Siobhan.
»Ich weiß es noch nicht genau.« Siobhan fing an, ihre Sachen zusammenzusuchen. Rebus und Wylie beobachteten sie dabei. Als sie fertig war, winkte sie kurz über die Schulter und verschwand.
Ellen Wylie faltete die Zeitung zusammen und warf sie in den Papierkorb. Rebus hatte den Wasserkocher gefüllt und schaltete ihn an.
»Ich kann Ihnen genau sagen, was sie denkt«, verriet Wylie ihm.
»Dann sind Sie schlauer als ich.«
»Sie weiß, dass Mörder nicht immer allein arbeiten. Sie weiß auch, dass sie manchmal Bestätigung brauchen.«
»Das ist mir zu hoch, Ellen.«
»Das glaube ich nicht, John. Wie ich Sie kenne, denken Sie genau das Gleiche. Einer beschließt, Perverse zu töten, und möchte vielleicht mit jemand anderem darüber sprechen – entweder vorher, als Bitte um Erlaubnis sozusagen, oder hinterher, um es sich von der Seele zu reden.«
»Okay«, sagte Rebus, eifrig mit den Teebechern beschäftigt.
»Ganz schön schwierig, in einem Team zu arbeiten, wenn man eine der Verdächtigen ist …«
»Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, dass Sie uns aushelfen, Ellen«, erklärte er und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Solange Sie genau das tun.«
Sie sprang vom Stuhl auf und stemmte die Hände in die Hüften. Irgendjemand hatte Rebus einmal erzählt, warum die Menschen das tun: um sich selbst größer, bedrohlicher, weniger verletzlich erscheinen zu lassen …
»Glauben Sie denn«, sagte sie empört, »ich war den halben Tag hier, nur um Denise zu schützen?«
»Nein, aber ich glaube, dass Leute einiges unternehmen, um ihre Familie zu schützen.«
»Wie Siobhan und ihre Mum, meinen Sie?«
»Wir wollen doch nicht so tun, als würden wir es nicht genauso machen.«
»John … Ich bin hier, weil Sie mich darum gebeten haben.«
»Und ich habe gesagt, dass ich Ihnen dankbar bin, aber die Sache ist die, Ellen – Siobhan und ich sind gerade aus dem Verkehr gezogen worden. Wir brauchen jemanden, der für uns aufpasst, jemanden, dem wir vertrauen können.« Er löffelte Kaffee in die beiden angeschlagenen Becher. Roch an der Milch und beschloss, dass sie noch gut war. Gab ihr Zeit zum Nachdenken.
»In Ordnung«, sagte sie schließlich.
»Keine Geheimnisse mehr?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Nichts, was ich wissen müsste?« Schüttelte ihn erneut. »Möchten Sie dabei sein, wenn ich Tench vernehme?«
Ihr Augenbrauen hoben sich ein wenig. »Wie stellen Sie sich das vor? Sie sind suspendiert, erinnern Sie sich?«
Rebus verzog das Gesicht und tippte sich an den Kopf. »Verlust des Kurzzeitgedächtnisses«, erklärte er ihr. »Das gehört einfach dazu.«
Nach dem Kaffee machten sie sich an die Arbeit: Rebus füllte einen Packen mit fünfhundert Blatt Papier in den Kopierer; Wylie wollte wissen, was er aus den verschiedenen Datenbeständen des Computers kopiert haben wolle. Das Telefon klingelte ein halbes Dutzend Mal, aber sie kümmerten sich nicht darum.
»Übrigens«, sagte Wylie irgendwann, »haben Sie gehört? London hat die Olympischen Spiele bekommen.«
»Juppidu!«
»Es war wirklich toll: Alles tanzte rund um den Trafalgar Square. Das bedeutet, Paris hat den Kürzeren gezogen.«
»Bin gespannt, wie Chirac das aufnimmt.« Rebus schaute auf die Uhr. »Er dürfte jetzt gerade mit der Queen zu Abend speisen.«
»Wo TB garantiert seine Grinsekatzen-Nummer bringt.«
Rebus lächelte. Ja, und Gleneagles würde für den französischen Präsidenten das Beste aus der kaledonischen Küche auffahren. Er musste noch einmal an den vergangenen Nachmittag denken … wie sie ein paar hundert Meter von all diesen mächtigen Männern entfernt standen. Wie Bush vom Fahrrad fiel, ein schmerzlicher Hinweis darauf, dass sie genauso Fehler machten wie alle anderen auch. »Wofür steht das G?«, fragte er. Wylie schaute ihn nur an. »Bei G8«, präzisierte er.
»Gruppe?«, riet sie achselzuckend. In dem Moment klopfte es an der angelehnten Tür: einer der diensthabenden Uniformierten aus dem Wachraum.
»Unten ist jemand für Sie, Sir.« Er deutete mit dem Blick auf das am nächsten stehende Telefon.
»Wir haben nicht abgehoben«, erklärte Rebus. »Wer ist es?«
»Eine Frau namens Webster … Eigentlich hätte sie gern mit DS Clarke gesprochen, aber sie sagte, zur Not würde Sie auch mit Ihnen vorliebnehmen.«

18

Hinterer Bühnenbereich beim »Final Push«.
Gerüchte, dass eine Art Rakete von den nahe gelegenen Bahngleisen aus abgeschossen worden sei, ihr Ziel jedoch verfehlt habe.
»Mit roter Farbe gefüllt«, hatte Bobby Greig Siobhan erzählt. Er war in Zivil: verblichene Jeans und eine abgewetzte Jeansjacke. Sah im Nieselregen feucht, aber glücklich aus. Siobhan hatte eine schwarze Kordhose und ein hellgrünes T-Shirt angezogen und darüber eine Bikerjacke, die sie secondhand in einem Oxfam-Laden erstanden hatte. Greig hatte sie angelächelt. »Wie kommt’s«, hatte er gesagt, »dass Sie, egal, was Sie tragen, immer nach CID aussehen?«
Sie hatte sich eine Antwort geschenkt. Jetzt fingerte sie an dem laminierten Ausweis herum, der um ihren Hals hing. Darauf war der Umriss von Afrika und die Aufschrift »Backstage Access« zu lesen. Klang großartig, aber Greig machte ihr bald ihren Platz in der Nahrungskette klar. Auf seinem eigenen Ausweis stand »Access All Areas«; und darüber hinaus gab es noch zwei weitere Ebenen – VIP und VVIP. Sie hatte schon Midge Ure und Claudia Schiffer gesehen, beide VVIPs. Greig hatte sie den Konzertveranstaltern Steve Daws und Emma Diprose vorgestellt, die trotz des Wetters fantastisch aussahen.
»Tolle Besetzung«, hatte Siobhan zu ihnen gesagt.
»Danke«, hatte Daws geantwortet. Dann hatte Diprose gefragt, ob Siobhan eine Lieblingsgruppe habe, was sie verneinte.
Die ganze Zeit über hatte Greig gar nicht erst erwähnt, dass sie Polizistin war.
Außerhalb des Murrayfield-Stadions hatten Fans ohne Karten gestanden, die darauf hofften, noch welche ergattern zu können, und ein paar Schwarzhändler, deren Preise alle außer den Reichsten und Verzweifeltsten abschreckten. Dank ihres Ausweises hatte Siobhan unten um die Bühne herum und auf das Spielfeld gehen können, wo sie sich zu sechzigtausend durchnässten Fans gesellte. Doch die sehnsüchtigen Blicke, die ihrem kleinen Plastikkärtchen galten, ließen ein ungutes Gefühl in ihr aufkommen, und sie zog sich bald wieder hinter den Sicherheitszaun zurück. Greig hatte eine halbleere Flasche Continental Lager in der Hand und stopfte sich mit kostenlosem Essen voll. Die Proclaimers hatten das Konzert mit »500 Miles« zum Mitsingen eröffnet. Es hieß, Eddie Izzard würde Midge Ure bei seiner Version von »Vienna« auf dem Klavier begleiten.Texas, Snow Patrol und Travis waren für später angesagt, Bono sollte bei The Corrs aushelfen und James Brown die Schlussnummer übernehmen.
Doch inmitten der hektischen Aktivität hinter der Bühne fühlte Siobhan sich alt. Die Hälfte der auftretenden Künstler kannte sie nicht. Sie sahen wichtig aus, wie sie mit ihrem jeweiligen Gefolge geschäftig hin und her eilten, aber ihre Gesichter sagten ihr gar nichts. Plötzlich ging ihr auf, dass ihre Eltern vielleicht am Freitag abreisten, was bedeutete, dass ihr nur noch ein Tag mit ihnen blieb. Kurz zuvor hatte sie sie angerufen: Sie befanden sich wieder in ihrer Wohnung, hatten unterwegs eingekauft und wollten abends vielleicht essen gehen. Nur sie beide, hatte ihr Dad gesagt und es so klingen lassen, als wäre es genau das, was er sich wünschte.
Vielleicht auch, um ihr kein schlechtes Gewissen zu machen, weil sie woanders hingegangen war.
Sie versuchte, sich zu entspannen, in Stimmung zu kommen, aber die Arbeit ließ sie nicht los. Rebus, das wusste sie, würde immer noch an der Sache dran sein. Er würde nicht ruhen, bis seine Dämonen bezwungen waren. Doch jeder Sieg war flüchtig, und jeder Kampf zehrte etwas mehr an ihm. Jetzt, wo es langsam dunkel wurde, war das Stadion mit den Blitzen von Handykameras gesprenkelt. Phosphoreszierende Leuchtstäbe wurden über den Köpfen geschwenkt. Greig trieb irgendwo einen Regenschirm auf, den er ihr in die Hand drückte, als der Regen stärker wurde.
»Gab es in Niddrie noch mal Ärger?«, fragte sie ihn.
Er schüttelte den Kopf. »Sie haben ihren Standpunkt klargemacht«, erklärte er. »Und im Übrigen denken sie wahrscheinlich, dass ihre Chancen auf eine kleine Schlägerei größer sind, wenn sie in die Stadt fahren.« Er warf seine leere Bierflasche in eine Recyclingtonne. »Haben Sie das heute gesehen?«
»Ich war in Auchterarder«, antwortete sie.
Er sah beeindruckt aus. »Nach dem wenigen, was ich im Fernsehen gesehen habe, kam es mir vor wie ein Kriegsgebiet.«
»So schlimm war es auch wieder nicht. Und hier?«
»Kleine Proteste, als die Busse am Abfahren gehindert wurden. Aber nichts im Vergleich zu Montag.« Er deutete mit dem Kopf über ihre Schulter. »Annie Lennox«, sagte er. Und tatsächlich, keine drei Meter entfernt schenkte sie ihnen auf dem Weg in ihre Garderobe ein Lächeln. »Im Hyde Park haben Sie toll gesungen!«, rief Greig ihr zu. Sie lächelte immer noch, in Gedanken bei dem vor ihr liegenden Auftritt.
Greig ging noch einmal Bier holen. Die meisten Leute in Siobhans Umgebung hingen einfach herum und sahen gelangweilt aus. Techniker, die erst wieder etwas zu tun hatten, wenn alles vorüber war und die Bühne abgebaut werden musste. Persönliche Assistenten und Angestellte der Plattenfirmen – Letztere uniform in schwarzen Anzügen und dazu passenden Pullovern mit V-Ausschnitt, Sonnenbrillen auf der Nase und Handys am Ohr. Gastronomen und Veranstalter samt Anhang. Sie wusste, dass sie zur letzten Kategorie gehörte. Niemand hatte sie gefragt, welche Rolle sie spiele, weil niemand sie für eine Akteurin hielt.
Auf die Stehplätze, da gehöre ich hin, dachte sie.
Oder ins CID-Büro.
Sie fühlte sich so ganz anders als das Mädchen im Teenageralter damals, das per Anhalter nach Greenham Common gefahren war und »We Shall Overcome« gesungen hatte, während es Hand in Hand mit den anderen Frauen in der Menschenkette rund um den Luftwaffenstützpunkt stand. Ihr kam es sogar so vor, als wäre der Make-Poverty-History-Marsch vom Samstag auch schon Geschichte. Aber immerhin … Bono und Geldof war es gelungen, die G8-Sicherheitszone zu durchbrechen, um den verschiedenen Staats- und Regierungschefs ihr Anliegen zu unterbreiten. Sie hatten mit allem Nachdruck dafür gesorgt, dass diese Männer wussten, was auf dem Spiel stand, und dass Millionen Menschen Großes von ihnen erwarteten. Morgen könnten Entscheidungen getroffen werden. Der morgige Tag würde ausschlaggebend sein.
Sie war im Begriff, Rebus anzurufen. Aber sie wusste, er würde nur lachen und ihr sagen, sie solle es ausschalten und sich amüsieren. Ihr kamen plötzlich Zweifel, dass sie, trotz der Eintrittskarte, die, von einem Magneten gehalten, an ihrem Kühlschrank hing, zu T in the Park gehen würde. Zweifel, dass die Morde bis dahin gelöst sein könnten, vor allem jetzt, wo sie offiziell von dem Fall entbunden war. Ihrem Fall. Nur hatte Rebus jetzt Ellen Wylie ins Spiel gebracht … Es wurmte sie, dass er sie nicht gefragt – und dass er recht gehabt hatte: Sie brauchten Hilfe. Aber jetzt stellte sich heraus, dass Wylie Gareth Tench kannte und Tench wiederum Wylies Schwester …
Bobby Greig war mit dem Bier zurückgekommen. »Und was meinen Sie?«, fragte er.
»Ich finde, sie sind alle außergewöhnlich klein«, war ihr Kommentar. Er nickte zustimmend.
»Popstars«, erklärte er, »müssen in der Schule die Zwerge gewesen sein. Und so nehmen sie Rache. Sie werden aber bemerkt haben, dass ihr Ego groß genug ist …« Er sah, dass sie mit ihrer Aufmerksamkeit woanders war.
»Was macht der denn hier?«, fragte Siobhan.
Greig erkannte die Gestalt und winkte. Stadtrat Gareth Tench winkte zurück. Er sprach gerade mit Daws und Diprose, brach das Gespräch jedoch ab – ein Schulterklopfen für den einen, ein Küsschen auf beide Wangen für die andere – und kam auf sie zu.
»Er ist der Kulturbeauftragte des Stadtrats«, erklärte Greig und streckte Tench die Hand hin.
»Wie geht’s, mein Junge?«, fragte Tench.
»Prima.«
»Und Sie gehen Ärger aus dem Weg?« Diese Frage war an Siobhan gerichtet. Sie nahm die ausgestreckte Hand und erwiderte deren festen Griff.
»Ich versuch’s.«
Tench wandte sich wieder Greig zu. »Helfen Sie mir auf die Sprünge, woher kenne ich Sie doch gleich?«
»Vom Camp. Bobby Greig mein Name.«
Tench schüttelte den Kopf über seine eigene Unfähigkeit. »Ach ja, natürlich. Ist das nicht großartig?« Er klatschte in die Hände und schaute sich um. »Die ganze verdammte Welt blickt auf Edinburgh.«
»Beziehungsweise auf das Konzert«, berichtigte ihn Siobhan.
Tench verdrehte die Augen. »Manchen Leuten kann man es einfach nicht recht machen. Sagen Sie, hat Bobby Sie umsonst hier reingeschmuggelt?«
Siobhan fühlte sich verpflichtet zu nicken.
»Und dann beschweren Sie sich noch?« Er lachte leise auf. »Vergessen Sie nicht, etwas zu spenden, bevor Sie gehen, ja? Könnte sonst nach Bestechung aussehen.«
»Das ist ein bisschen unfair«, versuchte Greig zu protestieren, aber Tench wischte den Einwand beiseite. »Und wie geht es Ihrem Kollegen?«, fragte er Siobhan.
»Sie meinen DI Rebus?«
»Genau den. Scheint mir etwas zu sehr mit der kriminellen Szene verbandelt, wenn Sie mich fragen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, Sie arbeiten zusammen … Ich bin sicher, dass er Ihnen vertraut. Gestern Abend?« Als wollte er ihrem Gedächtnis nachhelfen. »Craigmillar Faith Centre? Ich hielt gerade eine Rede, als Ihr Mr. Rebus zusammen mit einem Monster namens Cafferty auftauchte.« Er machte eine Pause. »Ich nehme an, Sie kennen ihn?«
»Ich kenne ihn«, bestätigte Siobhan.
»Kommt mir merkwürdig vor, dass die Ordnungskräfte es nötig haben, zu …« Er schien nach dem richtigen Wort zu suchen und entschied sich für: »fraternisieren«. Dann hielt er inne, den Blick unverwandt auf Siobhan gerichtet. »Ich gehe davon aus, dass DI Rebus Ihnen nichts von all dem verheimlicht hat … ich meine, ich erzähle Ihnen doch da nichts, was Sie nicht schon wissen?«
Siobhan fühlte sich wie ein Fisch, der von einem Angelhaken bedrängt wurde.
»Wir haben alle unser Privatleben, Mr. Tench«, war die einzige Antwort, die ihr einfiel. Tench wirkte enttäuscht. »Und wie ist es mit Ihnen?«, fuhr sie fort. »Hoffen Sie, ein paar Bands zu einem Auftritt im Jack Kane Centre überreden zu können?«
Er rieb sich wieder die Hände. »Wenn sich die Gelegenheit bietet …« Seine Stimme erstarb, als er ein ihm bekanntes Gesicht entdeckte. Siobhan kannte es auch: Marti Pellow von Wet Wet Wet. Der Name gab den Ausschlag, ihren Schirm aufzuspannen. Der Regen trommelte darauf, als Tench sein nächstes Ziel ansteuerte.
»Worum ging es da eben?«, fragte Greig. Sie schüttelte lediglich den Kopf. »Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass Sie eigentlich lieber woanders wären?«
»Tut mir leid«, sagte sie.
Greig beobachtete Tench und den Sänger. »Arbeitet schnell, wie? Und schüchtern ist er auch nicht … Ich glaube, dass die Leute ihm deshalb zuhören. Haben Sie ihn je eine Rede halten hören? Da bekommen Sie eine Gänsehaut.«
Siobhan nickte langsam. Sie dachte über Rebus und Cafferty nach. Es überraschte sie nicht, dass Rebus nichts gesagt hatte. Ihr Blick fiel wieder auf das Handy. Jetzt hatte sie einen Vorwand, ihn anzurufen, zögerte aber immer noch.
Mir steht ein Privatleben zu, ein freier Abend.
Andernfalls würde sie wie Rebus werden – besessen und an den Rand gedrängt, übellaunig und argwöhnisch beäugt. Er war fast zwei Jahrzehnte lang auf der Stufe des Inspektors stecken geblieben. Sie wollte mehr. Wollte ihren Job gut machen, aber auch in der Lage sein, hin und wieder abzuschalten. Wollte lieber ein Leben außerhalb ihres Berufs als einen Beruf, der zu ihrem Leben würde. Rebus hatte Familie und Freunde verloren, hatte sie für Leichen und Betrüger, Mörder, kleine Diebe, Vergewaltiger, Schläger, Gangster und Rassisten beiseitegeschoben. Wenn er einen trinken ging, tat er das allein, stand wortlos an der Bar, die Reihe der Dosierer vor sich. Er hatte keine Hobbys, trieb keinerlei Sport, nahm nie Urlaub. Wenn er eine oder zwei Wochen frei hatte, konnte sie ihn normalerweise in der Oxford Bar finden, wo er so tat, als läse er in einer Ecke Zeitung, oder lustlos auf das Tagesfernsehprogramm starrte.
Sie wollte mehr.
Diesmal rief sie an. Am anderen Ende knackte es; sie begann zu lächeln. »Dad?«, sagte sie. »Seid ihr noch im Restaurant? Sag ihnen, sie sollen noch ein Extragedeck fürs Dessert auflegen …«
 
Stacey Webster war wieder sie selbst.
Ganz ähnlich angezogen wie an dem Tag, als Rebus sie vor der Leichenhalle traf. Er deutete auf die langen Ärmel ihres T-Shirts.
»Soll das die Tätowierungen verbergen?«, fragte er.
»Es sind vorübergehende«, erklärte sie. »Mit der Zeit werden sie verblassen.«
»Wie die meisten Dinge.« Er sah den Koffer, der mit versenktem Griff hochkant neben ihr stand. »Zurück nach London?«
»Schlafwagen«, nickte sie.
»Sehen Sie, es tut mir leid, wenn wir …« Rebus ließ seinen Blick durch den Wachraum schweifen, als widerstrebte es ihm, ihr in die Augen zu schauen.
»Das passiert«, sagte sie. »Vielleicht war meine Tarnung noch intakt, aber Commander Steelforth setzt seine Leute nicht gern einer Gefahr aus.« Sie erschien ihm verlegen und unsicher, von Kopf und Gefühl her noch im Niemandsland zwischen zwei unterschiedlichen Identitäten.
»Noch Zeit für einen Drink?«, fragte er.
»Ich wollte eigentlich Siobhan treffen.« Sie fuhr mit einer Hand in ihre Tasche. »Geht es ihrer Mutter gut?«
»Auf dem Weg der Besserung«, antwortete Rebus. »Sie halten sich in Siobhans Wohnung auf.«
»Santal hatte nicht mehr die Möglichkeit, sich zu verabschieden.« Sie streckte Rebus eine transparente Plastikhülle hin, in der eine silberne Scheibe steckte. »Eine CD-ROM«, erklärte sie. »Die Kopie eines Films aus meiner Kamera, von dem Tag in der Princes Street.«
Rebus nickte. »Ich sorge dafür, dass sie sie bekommt.«
»Der Commander würde mich umbringen, wenn …«
»Unser Geheimnis«, versicherte Rebus ihr und ließ die CD in seine Brusttasche gleiten. »Jetzt wird’s aber Zeit, dass Sie zu Ihrem Drink kommen.«
Im Leith Walk gab es jede Menge Pubs, die geöffnet hatten. Aber der erste, auf den sie stießen, sah voll aus; dort dröhnte das Murrayfield-Konzert aus dem Fernseher. Weiter den Hügel hinunter fanden sie, was sie suchten – ein ruhiges, traditionelles Lokal mit Musik aus der Musikbox und einem Münzspielautomaten. Stacey hatte ihren Koffer am Gayfield Square hinter dem Tresen stehen lassen. Sie meinte, sie wolle ein paar schottische Geldscheine loswerden – ein Vorwand, die Runde zu bezahlen. Sie ließen sich an einem Ecktisch nieder.
»Sind Sie vorher schon mal Schlafwagen gefahren?«, wollte Rebus wissen.
»Deshalb trinke ich Wodka Tonic – die einzige Möglichkeit, in diesem verdammten Zug zu schlafen.«
»Ist Santal endgültig passé?«
»Kommt drauf an.«
»Steelforth sagte, Sie seien schon Monate undercover gewesen.«
»Monate«, bestätigte sie.
»Dürfte nicht einfach gewesen sein in London … immer mit der Möglichkeit, dass jemand Sie erkennt.«
»Einmal bin ich an Ben vorbeigelaufen.«
»Als Santal?«
»Er hat es nie erfahren.« Sie lehnte sich zurück. »Deshalb habe ich Santal nah an Siobhan herankommen lassen. Ihre Eltern hatten mir erzählt, dass sie im CID ist.«
»Sie wollten herausfinden, ob Ihre Tarnung hielt?«
Sie nickte. Rebus glaubte jetzt, etwas zu verstehen. Stacey wäre vom Tod ihres Bruders erschüttert gewesen, aber Santal dürfte er herzlich wenig ausgemacht haben. Das Problem war nur, dass der ganze Schmerz immer noch eingesperrt war – etwas, das er nur allzu gut kannte.
»London war aber gar nicht mein Hauptstandort«, erklärte Stacey. »Viele der Gruppen sind weggezogen – dort konnten sie zu leicht von uns überwacht werden. Manchester, Bradford, Leeds … da habe ich die meiste Zeit verbracht.«
»Glauben Sie, dass Sie etwas bewirkt haben?«
Sie dachte einen Moment darüber nach. »Wir hoffen doch alle, dass wir das tun, oder?«
Er nickte zustimmend, nippte an seinem Glas und stellte es dann ab. »Ich untersuche immer noch Bens Tod.«
»Ich weiß.«
»Hat der Commander es Ihnen gesagt?« Sie nickte. »Er hat mir einige Knüppel zwischen die Beine geworfen.«
»Das betrachtet er vermutlich als seinen Job, Inspector. Sie dürfen es nicht persönlich nehmen.«
»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, er versuchte, einen Mann namens Richard Pennen zu schützen.«
»Pennen Industries?«
Jetzt war es an Rebus zu nicken. »Pennen kam für die Hotelrechnung Ihres Bruders auf.«
»Merkwürdig«, sagte sie. »Die beiden mochten sich nicht mehr besonders.«
»Ach?«
Sie starrte ihn an. »Ben hatte viele Kriegsgebiete besucht. Er wusste, welche Gräuel der Waffenhandel mit sich brachte.«
»Nach der Version, die ich ständig zu hören bekomme, verkauft Pennen keine Kanonen, sondern Technologie.«
Sie schnaubte. »Nur eine Frage der Zeit. Ben wollte die Dinge so schwierig wie möglich machen. Sie sollten sich mal den Hansard anschauen – Reden, die er im Unterhaus hielt und in denen er alle möglichen unbequemen Fragen stellte.«
»Trotzdem hat Pennen seine Hotelrechnung bezahlt …«
»Und Ben wird das genossen haben. Er hätte sie sich auch von einem Diktator zahlen lassen und den ganzen Aufenthalt dazu genutzt, ihn aufs Schärfste zu kritisieren.« Sie machte eine Pause, in der sie den Drink in ihrem Glas schwenkte. Dann fuhr sie fort: »Sie dachten, es wäre Bestechung, nicht wahr? Ben wird von Pennen gekauft?« Sein Schweigen kam einer Antwort gleich. »Mein Bruder war ein guter Mensch, Inspector.« Nun stiegen ihr Tränen in die Augen. »Und ich konnte nicht einmal zu seiner verdammten Beerdigung gehen.«
»Er hätte es verstanden«, meinte Rebus. »Mein eigener …« Er musste innehalten und sich räuspern. »Mein eigener Bruder ist letzte Woche gestorben. Wir haben ihn am Freitag eingeäschert.«
»Das tut mir leid.«
Er hob das Glas an den Mund. »Er war in den Fünfzigern. Die Ärzte sagten, es sei ein Schlaganfall gewesen.«
»Haben Sie einander nahegestanden?«
»Hauptsächlich telefoniert.« Er hielt wieder inne. »Einmal hab ich ihn wegen Drogenhandels ins Gefängnis gesteckt.« Er musterte sie, um ihre Reaktion abzuschätzen.
»Ist es das, was Sie plagt?«, fragte sie.
»Was?«
»Dass Sie ihm nie gesagt haben …« Ihr Gesicht verzerrte sich, als die Tränen zu laufen begannen, und sie hatte alle Mühe, sich die Wörter abzuringen. »... ihm nie gesagt haben, dass es Ihnen leidtut.« Sie sprang auf und rannte zur Toilette – jetzt ganz und gar Stacey Webster. Er hatte das Gefühl, dass er ihr vielleicht folgen oder wenigstens die Kellnerin hinter ihr herschicken sollte. Stattdessen blieb er einfach sitzen, schwenkte sein Glas, bis sich oben auf dem Bier frischer Schaum bildete, und dachte über Familien nach. Ellen Wylie und ihre Schwester, die Jensens und ihre Tochter Vicky, Stacey Webster und ihr Bruder Ben …
»Mickey«, sagte er im Flüsterton. Die Namen der Toten nennen, damit sie wissen, dass sie nicht vergessen sind.
Ben Webster.
Cyril Colliar.
Edward Isley.
Trevor Guest.
»Michael Rebus«, sagte er laut und hob sein Glas. Dann stand er auf und besorgte Nachschub – IPA, Wodka und Tonic. Stand an der Bar, während er auf sein Wechselgeld wartete. Zwei Stammgäste diskutierten höchst erregt über die Chancen des Team Britain bei den Olympischen Spielen 2012.
»Wie kommt es, dass London immer alles kriegt?«, beschwerte sich der eine.
»Komisch, dass sie den G8-Gipfel nicht wollten«, fügte sein Nachbar hinzu.
»Die wussten genau, was auf sie zugekommen wäre.«
Rebus musste einen Moment überlegen. Heute war Mittwoch … am Freitag würde alles wieder zusammengepackt. Noch ein ganzer Tag, dann konnte die Stadt wieder aufatmen und zur Normalität zurückkehren. Steelforth und Pennen und all die anderen Eindringlinge würden sich Richtung Süden aufmachen.
Die beiden mochten sich nicht mehr besonders
Zwischen ihrem Bruder und Richard Pennen, hatte sie gemeint … Der Abgeordnete, der versuchte, Pennens Expansionspläne zu durchkreuzen. Rebus hatte Ben Webster völlig zu Unrecht als Lakai eingeschätzt. Und Steelforth, der Rebus nicht in die Nähe des Hotelzimmers gelassen hatte. Nicht weil er jedes Aufsehen vermeiden, die verschiedenen hohen Tiere nicht mit Fragen und Theorien belästigt sehen wollte, sondern um Richard Pennen zu schützen.
Mochten sich nicht mehr besonders.
Was Richard Pennen zu einem Verdächtigen machte – oder ihm wenigstens ein Motiv gab. Jede derWachen auf dem Schloss hätte den Abgeordneten über die Zinnen hieven können. Sicher hatten sich Bodyguards unter die Gäste gemischt … und Leute vom Geheimdienst – zumindest je ein Sonderkommando zum Schutz des Außen- und Verteidigungsministers. Steelforth war SO12, das Beste nach den Spionen vom MI5 und MI6. Aber warum sollte man, um jemanden loszuwerden, zu einer solchen Methode greifen? Sie war zu öffentlich, zu auffällig. Rebus wusste aus Erfahrung: Die gelungenen Morde waren die, bei denen es keinen Mord gab. Im Schlaf erstickt, mit Drogen vollgepumpt und dann in einem Auto über eine Klippe befördert oder einfach anderweitig entsorgt.
»Herrgott, John«, schimpfte er sich selbst. »Als Nächstes sind es dann kleine grüne Männchen.« Die Umstände waren schuld: In einer G8-Woche konnte man sich mühelos jedes Verschwörungsszenario vorstellen. Er stellte die Getränke auf dem Tisch ab, ein wenig beunruhigt darüber, dass Stacey immer noch nicht wieder aufgetaucht war. Plötzlich ging ihm auf, dass er, während er auf die Getränke wartete, eine Weile mit dem Rücken zum Gastraum an der Bar gestanden hatte. Er gab noch fünf Minuten zu, dann bat er die Kellnerin nachzusehen. Kopfschüttelnd kam sie aus der Damentoilette zurück.
»Drei Eier verschwendet«, sagte sie zu ihm und deutete auf Staceys Getränke. »Außerdem sowieso zu jung für Sie, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben.«
Am Gayfield Square hatte sie ihren Koffer abgeholt, ihm aber einen Brief hinterlassen.
Viel Glück, aber denken Sie daran – Ben war mein Bruder, nicht Ihrer. Sehen Sie zu, dass Sie auch Ihre eigene Trauerarbeit leisten.
Noch Stunden bis zur Abfahrt des Schlafwagens. Er konnte zur Waverley Station fahren, entschied sich aber dagegen; er wusste nicht, ob es überhaupt noch viel zu sagen gab. Vielleicht hatte sie sogar recht. Indem er Bens Tod untersuchte, hielt er die Erinnerung an Mickey wach. Plötzlich schoss ihm eine Frage durch den Kopf, die er ihr gern gestellt hätte:
Was glauben Sie, was Ihrem Bruder passiert ist?
Na, irgendwo hatte er ihre Visitenkarte, die sie ihm vor der Leichenhalle gegeben hatte.Vielleicht würde er sie morgen anrufen, fragen, ob sie im Zug nach London hatte schlafen können. Er hatte ihr gesagt, dass er noch an dem Fall dran sei, und alles, was sie dazu gesagt hatte, war: »Ich weiß.« Keine Fragen, keine eigenen Theorien. Von Steelforth gewarnt? Ein guter Soldat befolgte immer die Befehle. Aber sie musste doch darüber nachgedacht und die verschiedenen Möglichkeiten erwogen haben.
Ein Sturz.
Ein Sprung.
Ein Schubs.
»Morgen«, sagte er sich, während er zum CID-Büro zurückging, vor sich eine lange Nacht des heimlichen Fotokopierens.