Das kam gar nicht in Frage. Er würde Sontag nicht vom Haken lassen, dachte Trevor. Am liebsten wäre er ihm auf der Stelle nachgegangen, aber er beschloss, ihm ein paar Minuten Zeit zu lassen, um sich zu beruhigen. Er öffnete den Umschlag und entnahm ihm einen Stapel Papiere.
Als er das oberste Blatt überflog, pfiff er leise durch die Zähne. »O, là, là!«
»Wir haben ihn«, sagte Trevor, als Jane zwei Stunden später ans Telefon ging. »Und ich wette, er ist bereits hier in Herkulaneum.«
Sie erstarrte. »Wie bitte?«
»Sontag hat mich mitten in der Nacht angerufen und mir einen Umschlag entgegengeschleudert, als ich bei ihm ankam. Er enthielt ein komplettes Dossier über Eve Duncan. Die Informationen stammten offenbar aus dem Internet, und die erste Seite enthielt einen Bericht über ihre Rekonstruktion der ägyptischen Mumie.«
»Kein Brief dabei?«
»Nein, aber Sontag hat den Umschlag vor seiner Tür gefunden, nachdem jemand mitten in der Nacht angeklopft hatte. Er ist völlig in Panik geraten. Er dachte, der Brief käme von Carpenter, der ihm drohen wollte, den ganzen Schwindel auffliegen zu lassen. Aber er genießt die Aufmerksamkeit, die er derzeit bekommt, und er würde gern noch ein bisschen im Rampenlicht bleiben.«
»Sie glauben, der Brief stammt von Aldo?«
»Er könnte jemanden damit beauftragt haben, aber ich schätze, dass Aldo das ewige Warten satt hat und aktiv werden will.
Gott, ich hätte nie geglaubt, dass wir so viel Glück haben würden. Ich dachte, wir würden wochenlang auf heißen Kohlen sitzen und auf eine Reaktion von Aldo warten müssen, nachdem Sontag seine Entdeckung bekannt gegeben hatte.«
»Was glauben Sie, was Aldo zu diesem Schritt bewogen hat?«
»Seit einer Woche liest er immer wieder davon, dass Sontag sich den Kopf darüber zerbricht, welchen Gesichtsrekonstrukteur er mit der Aufgabe betrauen soll, und da ist ihm der Kragen geplatzt. Er hat die Gelegenheit beim Schopf gepackt und versucht nun, das Heft in die Hand zu nehmen.
Dieser arrogante Scheißkerl. Seit er mit den Morden angefangen hat, ist alles nach seinem Plan gelaufen, und er kann es nicht ertragen, die Kontrolle über sein Spiel zu verlieren.«
»Aber warum legt er Sontag den Brief mitten in der Nacht vor die Tür?«
»Warum nicht? Er will gefürchtet werden, und diese Genugtuung ist ihm in letzter Zeit kaum zuteil geworden. Wenn er hinter dem Skelett her ist, wollte er Sontag vielleicht zeigen, wie verwundbar er ist. Er konnte schließlich nicht wissen, dass Sontag mehr um seinen Ruhm als um sein Leben fürchtet.«
»Aber der Schuss hätte auch nach hinten losgehen können.
Sontag hätte jemand ganz anderen beauftragen können, weil er sich seine Entscheidungen nicht diktieren lassen will.«
»Stimmt. Ich vermute, dass Aldo sich nicht einmal ganz sicher ist, ob es sich bei der ganzen Sache um eine Falle handelt.
Trotzdem ist er bereit, das Risiko einzugehen, denn letztlich ist er davon überzeugt, dass er in der Lage ist, jedes Hindernis aus dem Weg zu räumen, das sich ihm in den Weg stellt.«
»Um Cira zu kriegen.« Dann fügte sie langsam hinzu: »Und mich will er auch immer noch.«
»Das scheint Sie ja regelrecht zu wundern. Das gehörte doch zu unserem Plan, oder? Er will unbedingt erreichen, dass Eve die Rekonstruktion übernimmt, weil er hofft, damit auch Sie nach Herkulaneum locken zu können.«
»Nein, es wundert mich nicht.« Aber das Ganze war ihr unheimlich, vor allem die Tatsache, dass Aldo den Köder so schnell geschluckt hatte. »Es kommt alles nur ein bisschen plötzlich, und ich versuche, es zu verarbeiten. Meinen Sie nicht, es könnte ihm logischer erscheinen, dass Eve und Joe mich unter Bewachung hier lassen würden?«
»Für ihn ist das eine Schicksalsfrage«, erwiderte Trevor. »Und selbst wenn Eve und Joe Sie in Atlanta zurückließen, dann würde Aldo sich schon was ausdenken, um zu erreichen, dass Sie herkommen.«
»Wann reisen wir also ab?«
»Aha, Sie sind ja schon wieder ganz die Alte. Voller Tatendrang, wie immer.«
»Es ist eine Erleichterung zu wissen, dass wir endlich etwas tun können.«
»Für mich nicht. Je näher wir der Endphase kommen, umso häufiger träume ich von gesichtslosen Frauenleichen, die um mich herumtanzen.«
»Dann passen Sie auf, dass Sie keine Dummheiten machen, die dazu führen könnten, dass ich eine davon werde.« Dann fragte sie noch einmal: »Wann reisen wir ab?«
»Ich werde Sontag morgen auf der Pressekonferenz verkünden lassen, dass er Eve angeheuert hat. Wir sollten zwei Tage verstreichen lassen, bevor Sie in Herkulaneum eintreffen. Sagen Sie Eve, dass im Flughafen von Neapel jede Menge Journalisten und Fernsehreporter auf sie warten werden.«
»Gott, so was kann sie nicht ausstehen.«
»Sie wird es überleben. Jeder weiß, dass sie öffentlichkeitsscheu ist, aber falls ich mich irre und Aldo noch nicht hier ist, dann darf ihm nicht entgehen, dass sie eingetroffen ist. Außerdem wird der Medienrummel Salz in Aldos Wunden sein. Ich werde dafür sorgen, dass sie hier in der Lokalzeitung noch ein Foto von der Cira-Büste bringen. Danach versuche ich Eve so weit wie möglich gegen die Medien abzuschotten, aber im Moment ist Publicity das A und O. Ich werde Sie in Rom treffen und mit Ihnen zusammen hierher fliegen.«
»Warum?«
»Aldo soll sehen, dass ich gleichzeitig mit Ihnen hier ankomme. Bis dahin werde ich mich bedeckt halten. Falls Aldo hier ist, soll er nicht sehen, dass ich an Sontag dran bin und hier die Fäden ziehe.«
»Haben Sie ihn noch immer unter Kontrolle? Sagten Sie nicht, er sei in Panik geraten?«
»Doch, aber er besitzt einen ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb, und ich brauchte ihm nur zu versichern, dass er sich noch eine ganze Weile im Rampenlicht sonnen kann. Sagen Sie Quinn, ich habe am Stadtrand von Herkulaneum eine Villa gefunden, die über ein paar interessante Merkmale verfügt, aber ich werde es ihm überlassen, einen Sicherheitsdienst mit Ihrem Schutz zu beauftragen. Er kann sich an die örtliche Polizei wenden und sich von denen beraten lassen. Die Sorte Leute, die ich anheuern würde, kämen für ihn sowieso nicht in Frage.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Nein, das können Sie nicht. Sie sind erst siebzehn.«
»Könnten Sie endlich mal aufhören, mir das unter die Nase zu reiben?«
»Nein, denn ich muss mich selbst immer wieder daran erinnern. Ich habe Bartlett angerufen und ihn gebeten, Ihren Toby nach Kalifornien fliegen zu lassen, damit Ihre Freundin Sarah ihn in ihre Obhut nehmen kann. Sie würden sowieso keine Ruhe geben, wenn nicht dafür gesorgt wäre, dass er in guten Händen ist. Ist das in Ordnung?«
»Solange ihm nichts passiert.«
»Es wird ihm nichts passieren. Ich sage Bartlett, er soll notfalls einen Privatjet für den Köter besorgen. Ich rufe Sie morgen Abend nach der Pressekonferenz wieder an.«
Er legte auf.
Jane blieb eine Weile auf der Schaukel sitzen. Sie fühlte sich wie gelähmt … und sie hatte Angst. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr das so zusetzen würde. Sie hatte geglaubt, auf alles vorbereitet zu sein.
Sie war vorbereitet, verdammt. Sie brauchte nur dieses merkwürdige Gefühl von böser Vorahnung abzuschütteln, das sie bei der Vorstellung befiel, in wenigen Tagen nach Herkulaneum zu reisen. Alles lief genau so, wie sie es geplant hatten, ja sogar noch besser. Sie müsste eigentlich glücklich sein.
Nein, sie war alles andere als glücklich, spürte aber einen ersten Anflug von Erregung und gespannter Erwartung. Sie stand auf und ging ins Haus. »Eve, Trevor hat angerufen. Pack deine Koffer. Wir fliegen nach Herkulaneum.«
Die zweistöckige, mit Stuck verzierte Villa auf der Via Spagnola, die Trevor gemietet hatte, war geräumig und freundlich. Sie war von einem verschnörkelten, gusseisernen Zaun umgeben, und vor den Fenstern im ersten Stock hingen Blumenkästen mit üppig blühenden Geranien.
Trevor schloss die Haustür auf und ging hinein. »Ich warte hier am Eingang mit Eve und Jane, Quinn, während Sie das Haus überprüfen. Ich würde das selbst übernehmen, aber ich schätze, dass Sie das als Ihre Aufgabe betrachten.«
»Ganz recht.« Joe machte sich auf den Weg. »Aber ich gehe davon aus, dass alles in Ordnung ist. Ich habe das Anwesen von zwei Sicherheitsleuten bewachen lassen, seit Sie mir gestern die Adresse durchgegeben haben. Bin gleich wieder da.«
»Ich hätte es wissen müssen«, murmelte Trevor.
»Ja«, sagte Eve, während sie sich in der mit Marmor ausgekleideten Eingangshalle umsah. »Schön. Wie viele Zimmer?«
»Vier Schlafzimmer, zwei Bäder, Wohnzimmer, Arbeitszimmer, Bibliothek. Die Küche ist ganz modern eingerichtet, was bei so alten Häusern nicht immer der Fall ist.«
»Wie alt ist es denn?«, wollte Jane wissen.
»Es wurde um 1850 erbaut. Es gehört Sontag, und ich habe ihn überredet, es mir zu leihen, nachdem ich festgestellt hatte, dass es für uns genau das Richtige ist.«
»Haben Sie ihm die Pistole auf die Brust gesetzt?«
»Das brauchte ich gar nicht. Der hat längst eingesehen, dass ich ihn in der Hand habe, und er tut alles, was ich ihm sage. Das heißt, seit dieser mitternächtliche Besucher ihn verschreckt hat, ist er ein bisschen störrisch geworden.«
»Alles klar«, sagte Joe, der gerade die Treppe herunterkam.
»Eve und ich nehmen das Zimmer am Ende des Flurs. Du nimmst das Zimmer in der Mitte, Jane. Trevor kann das Zimmer auf der anderen Seite nehmen, dann klemmst du zwischen uns wie in einem Doppelwhopper.«
»Doppelwhopper?«, bemerkte Trevor. »Interessante Vorstellung, Jane. Aber wenn man bedenkt, wie stachelig Sie sind, nicht sehr appetitlich.«
»Zügeln Sie sich, Trevor«, raunzte Joe. »Das war ziemlich daneben.«
»Ich weiß. Ist mir einfach so rausgerutscht.« Er ging in Richtung Küche. »Um es wieder gutzumachen, koche ich eine Kanne Kaffee und mache uns was zu essen, während Sie Ihre Koffer auspacken und sich ein bisschen frisch machen.«
»Sontag scheint ja sehr kooperativ zu sein«, sagte Jane, als Eve und Joe auf ihre Zimmer gegangen waren. »Ist er denn nicht mehr vergrätzt?«
»Doch. Am liebsten würde er den Schwanz einziehen und sich aus dem Staub machen. Doch letztlich geht es darum, wer das Sagen hat. Versuchen Sie, sich ein bisschen auszuruhen. Sie haben einen langen Flug hinter sich.« Er verschwand durch die Bogentür am Ende des Flurs.
Jane war nicht danach, auf ihr Zimmer zu gehen und sich auszuruhen. Sie war nicht müde. Sie war aufgeregt und kribbelig und überwältigt von all den neuen Eindrücken in Italien, den fremden Geräuschen und Gerüchen. Sie blieb noch einen Moment lang zögernd stehen, dann ging sie widerstrebend die Treppe hinauf.
»Wollen Sie mir Gesellschaft leisten?« Trevor war noch einmal zurückgekommen und stand lächelnd in der Tür. »Ich dachte mir schon, dass Sie keine Lust haben würden, sich brav ins Bettchen zu legen. Kommen Sie, helfen Sie mir ein bisschen in der Küche.«
Sie ging die Treppe wieder hinunter, doch auf der letzten Stufe blieb sie stehen. »Sie brauchen sich gar nicht so gönnerhaft zu geben. Eine Kanne Kaffee können Sie auch allein aufsetzen.«
»Gönnerhaft, Quatsch. Ich fühle mich einfach einsam.«
Er trat mit ausgestreckter Hand auf sie zu. »Na los, kommen Sie schon.«
Komm mit mir. Vertrau mir.
Nein, sie hatte keine Lust, sich verrückt zu machen, bloß weil sie in Herkulaneum war. Ihr Verhältnis zu Trevor hatte nichts gemein mit Ciras Verhältnis zu Antonio. Verdammt, sie hatten überhaupt kein Verhältnis, sie hatten nur ein gemeinsames Ziel.
Es war bestimmt in Ordnung, wenn sie jetzt mit ihm ging. Sie war ein bisschen durcheinander, und, ja, auch sie fühlte sich ein wenig einsam. Sie trat von der Treppe und nahm seine Hand.
Ihre Augen weiteten sich. Heißkalte Schauer jagten ihr über den Rücken. Irritiert versuchte sie, ihre Hand zurückzuziehen.
Aber seine Hand schloss sich um ihre, warm und stark und sicher, und plötzlich war die Irritation vorbei. »Sehen Sie? Es tut überhaupt nicht weh. Wollen Sie den Kaffee machen oder lieber die Sandwiches?«
Drei Wachen hinter dem Haus. Zwei vorn. Es würde schwierig werden, an Jane MacGuire heranzukommen, solange sie sich im Haus aufhielt.
Aldo sah, wie in der Villa auf der Via Spagnola die Lichter angingen. So gemütlich. Wahrscheinlich saßen sie alle zusammen um den Abendbrottisch, tranken Wein und plauderten über Cira und die Rekonstruktion.
Kannten Eve Duncan und Joe Quinn die Schlange, die sie an ihrem Busen nährten? Wussten sie, dass Jane MacGuire und Cira ein und dieselbe waren? Wahrscheinlich nicht. Zweifellos hatte sie sie mit ihrem Zauber verhext und sie glaubten das, was sie ihnen weismachte. Sie wollte ewig leben, und diese Rekonstruktion würde zumindest ihrem Gesicht Unsterblichkeit verleihen.
Aber dazu würde es nicht kommen. Das würde er nicht dulden.
Und je länger er sich hier in dieser Stadt aufhielt, umso mehr gelangte er zu der Überzeugung, dass er nicht grundlos hier war.
Seine Angst und seine Unsicherheit ließen immer mehr nach.
Früher oder später würde ihm der Weg durch die Armee von Wächtern, die sie umgab, gezeigt werden.
Oder sie würde zu ihm geführt werden wie ein Lamm zur Schlachtbank.
»Es ist wunderschön«, sagte Eve, als sie durch das Küchenfenster auf die gewundenen Straßen der Stadt hinausschaute. »Nein, das ist es nicht. Es zieht einen in seinen Bann. Man kann nicht umhin daran zu denken, was hier passiert ist.«
»Die Leute hier sorgen schon dafür, dass man es nicht vergisst«, sagte Joe trocken. »Ein Großteil von ihnen verdient seinen Lebensunterhalt damit. Ich kann es nicht erwarten, diese Sache hinter mich zu bringen und von hier wieder wegzukommen.« Er wandte sich an Trevor. »Dieser Zirkus am Flughafen hat mir gar nicht gefallen. Ich werde nicht zulassen, dass Eve das noch mal durchmachen muss.«
»Das wird auch nicht nötig sein«, sagte Trevor. »Es wird noch mindestens eine Pressekonferenz geben, aber ab übermorgen sollte sie sich so weit wie möglich im Hintergrund halten.«
Joe schaute ihn an. »Der Meinung bin ich auch.«
»Wann soll ich mit der Arbeit an der Rekonstruktion anfangen?«, fragte Eve. »Es wäre schön, wenn ich etwas mehr Informationen hätte. Als die Journalisten mich heute Nachmittag mit ihren Fragen bombardiert haben, bin ich ganz schön ins Schwimmen geraten.«
»Dafür haben Sie sich aber gut geschlagen.« Trevor lächelte.
»Ich war beeindruckt.«
»Sie brauchen nicht beeindruckt zu sein«, erwiderte Eve.
»Seien Sie lieber scharfsinnig und effizient, und sorgen Sie dafür, dass wir diesen Horror so bald wie möglich hinter uns bringen.« Sie schaute kurz zu Jane hinüber. »Und dass Aldo keine Gelegenheit bekommt, in ihre Nähe zu gelangen. Wir waren bereit herzukommen, weil es eine Möglichkeit ist, diesen Albtraum schnell zu beenden. Jetzt, wo ich hier bin, habe ich nicht vor, herumzusitzen und Däumchen zu drehen. Ihre Aufgabe war es, einen Ort ausfindig zu machen, wo wir Aldo eine Falle stellen können. Sie sagten, Sie hätten den passenden Ort gefunden. Ist er das?«
Trevor nickte.
»Was ist das Besondere an diesem Haus?«
»Der Tunnel.«
»Wie bitte?«
»Unter der Villa verläuft ein von Räubern gegrabener Tunnel, der das Netzwerk der archäologischen Tunnel unter dem Theater kreuzt. Niemand weiß genau, wie viele Tunnel im Lauf der Jahrhunderte von Räubern gegraben wurden. Auf diesen hier ist Sontag vor ein paar Jahren zufällig gestoßen, aber er hat seine Entdeckung geheim gehalten, weil der Tunnel ihm die Möglichkeit gab, unbemerkt hin und wieder private Grabungen durchzuführen.«
»Glauben Sie im Ernst, Aldo wird versuchen, durch diesen Tunnel in die Villa zu gelangen?«, fragte Joe. »Er kann sich doch denken, dass wir hier auf ihn warten. Der Typ mag vielleicht verrückt sein, aber er ist durchtrieben wie ein Fuchs.«
»Das ist richtig«, erwiderte Trevor. »Er wird sicherlich nicht versuchen, in die Villa einzudringen. Deswegen müssen wir ihn in den Tunnel locken und ihn dort unten schnappen. Die Tunnel auf der Via Spagnola sind ebenso verzweigt und gewunden wie Precebios Tunnel.«
»Sie haben mal gesagt, als Junge hätte Aldo die Tunnel gekannt wie seine Westentasche«, bemerkte Jane.
Trevor nickte. »Wir haben lediglich den Vorteil, dass Sontag der Einzige ist, der jemals eine Karte von diesem Tunnelsystem angefertigt hat. Und Aldo kennt sich in diesen Tunneln nicht aus.«
»Hoffen wir’s«, sagte Joe. »Wenn das Tunnelsystem so kompliziert ist, sind wir da unten womöglich genauso aufgeschmissen wie Aldo.«
»Ich habe Sontags Karten, und seit ich die Villa entdeckt habe, verbringe ich jede Nacht ein paar Stunden damit, die Tunnel zu erkunden. Außerdem brauchen wir uns mit ein wenig Glück gar nicht so besonders gut in den Tunneln auszukennen. Wir stellen die Falle auf und lassen Aldo zu uns kommen.«
»Ich nehme an, das haben Sie ebenfalls bereits erledigt«, sagte Eve trocken.
»Fehlt nur noch Ihre Zustimmung.« Er zog ein Notizheft aus seiner Gesäßtasche und klappte es auf. »Es gibt nur eine Stelle, die sich für einen Hinterhalt eignet.«
Er legte das Notizbuch auf den Tisch. »Das sieht zwar aus wie sinnloses Gekritzel, aber das hier ist der Tunnel, der zu den archäologischen Grabungsstätten führt. Sie nehmen diesen Abzweig.« Er zeichnete eine Kreuzung ein. »Dieser Gang führt ins Vomitorium, aber auf halber Strecke stoßen Sie auf einen Nebengang, der eine scharfe Biegung macht und an einer anderen Stelle in den anderen Tunnel zurückführt. In zehn Metern Höhe befindet sich ein Felsvorsprung, von dort haben Sie einen guten Überblick, Quinn.«
»Gibt es dort Deckung?«
Trevor nickte. »Kein Problem. Die Felswand sieht wie eine geschlossene Fläche aus. Es gibt nur eine schmale Öffnung, die auf den Felsvorsprung führt.«
»Vomitorium«, sagte Eve. »Was ist das?«
»So nannte man die Ausgänge an öffentlichen Gebäuden.
Früher wurde gutgläubigen Touristen erzählt, der Name käme daher, dass die Römer sich hemmungslos voll zu stopfen pflegten, um dann zum Ausgang zu laufen, sich zu erbrechen und weiter zu fressen.«
»Klingt ja sehr appetitlich. Und dieses Vomitorium war ein Ausgang aus dem Theater?«
»Möglich. Der Tunnel unter der Via Spagnola ist so stark gewunden, dass es sich ebenso gut um einen Ausgang aus einem anderen öffentlichen Gebäude gehandelt haben kann. Auf jeden Fall ist er für uns Gold wert.« Er wandte sich wieder an Joe.
»Von diesem Vomitorium gehen drei Tunnel ab. Wenn es uns gelingt, Aldo in die Falle zu locken, wird er sich wahrscheinlich in einem davon verstecken.«
»Und das Vomitorium ist der Zielbereich?«, wollte Joe wissen.
»Wo genau liegt die Stelle überhaupt?«
»Ein Stückchen weiter im Tunnel. Wenn man an dem Abzweig vorbeigeht, den Sie nehmen werden, gelangt man in einen Raum, offenbar die Schatzkammer, auf die die Diebe es abgesehen hatten, als sie den Tunnel gruben. Das Vomitorium enthielt wahrscheinlich mehrere Statuen, die gestohlen wurden.
Nur die Sockel sind noch vorhanden.«
»Wie sieht es mit Licht aus?«
»Am besten, Sie nehmen ein Nachtsichtgerät mit. Ich werde an vier Stellen Fackeln an den Wänden anbringen. Mehr kann ich Ihnen nicht versprechen. Wir müssen dafür sorgen, dass er Sie nicht sieht, aber Sie ihn.«
»Und wie wollen Sie ihn in diesen Raum locken?«
»Mit Jane.« Er wandte sich zu Jane um. »Und Cira.«
Joe schüttelte den Kopf. »Wollen Sie ihm eine offizielle Einladung zukommen lassen?«
»Ich hoffe, dass das nicht nötig sein wird. Falls er Jane wieder anruft, so wie er es in Georgia getan hat, dann kann sie ihn in die Falle locken. Ich halte es für durchaus möglich, dass das passiert.«
»Und wenn nicht?«
»Dann greifen wir auf Plan B zurück.« Er warf einen Blick in die Runde, dann fuhr er fort: »Wir werden ankündigen, dass der Sarg mit Ciras Überresten übermorgen aus dem Tunnel, wo das Skelett entdeckt wurde, hier in diese Villa transportiert werden wird, zur forensischen Untersuchung und zur Rekonstruktion.
Ich habe zwei international bekannte Forensiker ausgewählt, die nicht so einen zwielichtigen Ruf haben wie Sontag, deren Namen ich den Medien bekannt geben werde, damit sie sie überprüfen können.«
»Wie wollen Sie das denn anstellen?«
»Das überlasse ich Ihnen, Quinn. Es ist mir egal, ob Sie ihnen drohen oder sonst was. Hauptsache, Sie bringen sie dazu, den Journalisten einen vom Pferd zu erzählen und für die paar Tage, die sie sich angeblich in der Villa aufhalten werden, unterzutauchen.«
»Und wir warten einfach darauf, dass Aldo uns in die Villa folgt?«
»Ganz genau. Er wird uns durch den Theatertunnel in den Tunnel der Räuber folgen, der in die Villa führt.«
»Wie bitte?«
»Das ist die Art pompöse Schau, die Sontag abziehen würde.
Erst enthüllt er den Medien gegenüber, wo er das Skelett gefunden hat, dann führt er sie durch dunkle Tunnel an den Ort, wo Ciras Identität überprüft werden soll. Beziehungsweise an die Stelle, wo die Polizei auf unsere Bitte hin den Tunnel absperren wird, damit die Journalisten nicht weiter vordringen und herausfinden können, wo wir wieder rauskommen.«
»Aldo müsste verrückt sein, sich mitten unter die Meute der Journalisten zu begeben.«
»Er wird sich auch nicht unter die Journalisten mischen. Aber er wird sich irgendwo in dem Tunnelsystem versteckt halten und beobachten, was da unten vor sich geht«, sagte Trevor. »Später wird er dann noch einmal zurückkehren und die Lage genauer erkunden.« Dann fügte er an Joe gewandt hinzu: »Haben Sie sichergestellt, dass der Tunnel, in dem das Skelett gefunden wurde, von der Polizei abgesperrt und rund um die Uhr bewacht wird?«
»Selbstverständlich. Ich habe ihnen nahegelegt, das Gebiet vor Dieben zu schützen, die die Grabungsstätte beschädigen könnten. Sie waren sehr hilfsbereit. Eine Menge amerikanisches Geld wird in diese Ausgrabungsstätte gepumpt. Aber erklären Sie mir doch mal, was ihn ins Vomitorium locken soll, wenn die Rekonstruktion hier in der Villa durchgeführt wird?«
Trevor lächelte. »Wir werden Aldo weismachen, Sontag würde dort eine große Pressekonferenz abhalten, um die fertige Rekonstruktion vorzustellen.«
»Mein Gott«, flüsterte Jane.
»Auch das passt zu Sontags pompösem Stil. Die Journalisten durch dunkle Tunnel an einen geheimnisvollen Ort zu führen, ins Vomitorium.«
»Stattdessen locken wir Aldo dorthin. Natürlich wird er die Rekonstruktion zerstören wollen, bevor die Journalisten sie zu Gesicht bekommen«, sagte Jane nachdenklich. »Und wie werden wir vorgehen?«
»Sie fordern ihn heraus, provozieren ihn, machen ihm weis, Sie würden sich immer mehr auf ihn einlassen. Er ist nicht nur verrückt, sondern auch extrem egozentrisch. Diese Schwäche werden Sie sich schon zunutze zu machen wissen.«
Jane runzelte die Stirn. »Es könnte funktionieren.«
»Es muss funktionieren.« Trevor wandte sich an Eve.
»Alles klar?«
Eve überlegte. »Nein. Woher wird Aldo von dem Vomitorium erfahren?«
»Sobald er den Tunnel unter der Via Spagnola entdeckt, wird er das ganze Tunnelsystem auskundschaften, und das Vomitorium ist für jemanden, der sich in Tunneln auskennt, leicht zu finden. Sobald er es entdeckt hat, wird er nicht weitersuchen.«
»Warum nicht?«
»Er wird wissen, dass er am Ziel ist. Ich habe alles vorbereitet.
In dem Raum liegen Lampen, Batterien und Fotoausrüstungsgegenstände herum. Es ist nicht zu übersehen, was sich dort unten abspielt.«
»Wieso sind Sie sich so sicher, dass er den Raum überhaupt findet? Das ist eine ziemlich gewagte Annahme.«
»Da haben Sie Recht. Deswegen habe ich auf dem Felsvorsprung, auf dem Joe sich postieren wird, eine Videokamera angebracht. Sie ist direkt auf das Vomitorium gerichtet. Sobald Aldo dort anfängt herumzuschnüffeln, werden wir es wissen. Vertrauen Sie mir.«
»Wenn es um Janes Sicherheit geht, vertraue ich niemandem.
Und bei der Vorstellung, sie als Köder zu benutzen, dreht sich mir der Magen um.«
»Eve, du hast von Anfang an gewusst, dass das unsere einzige Chance ist«, sagte Jane ruhig. »Außerdem wird Joe da sein, um mich zu beschützen.«
»Und ich ebenfalls«, sagte Trevor. »Ich werde Jane an dem Abend ins Vomitorium bringen. Sie werden vorausgehen, Quinn. Ich werde den Tunnel überprüfen, bevor wir losgehen, und ich werde sie bis zu dem Abzweig begleiten. Dann komme ich rauf zu Ihnen auf den Felsvorsprung. Ich garantiere Ihnen, dass ihr auf dem Weg zum Vomitorium nichts zustoßen wird.
Und dass ihr auch dort nichts zustößt, dafür müssen wir alle gemeinsam sorgen.«
»Warum können wir nicht mehr Sicherheitsleute da unten in Stellung bringen?«
»Wenn Aldo auch nur einen einzigen von denen entdeckt, wird er sofort das Weite suchen. Solange wir ihn nicht in Janes Nähe lassen, wird sie in Sicherheit sein. Er benutzt nie Schusswaffen.
Er braucht sein Ritual. Das ist ihm außerordentlich wichtig. Uns dagegen interessiert kein Ritual, wir verlassen uns lieber auf eine Gewehrkugel.«
»Beten Sie, dass das funktioniert, Trevor«, murmelte Eve grimmig.
»Himmel, was soll ich denn noch machen? Ich bin für alle Vorschläge offen.«
»Die werden Sie bekommen, sobald das geringste Anzeichen darauf hindeutet, dass Ihr Plan in die Hose geht.« Sie drehte sich um und machte einige Schritte in Richtung Eingangshalle. »Ich gehe jetzt ins Bett, ich bin völlig erledigt. Joe?«
»Ich komme gleich.« Er trank seinen Kaffee aus. »Ich schaue noch kurz raus zu den Jungs vom Sicherheitsdienst, um zu hören, ob die irgendwas Verdächtiges bemerkt haben.«
»Es ist noch zu früh«, sagte Trevor. »Aldo wird jetzt noch nichts unternehmen.«
»Es muss wunderbar sein, die Zukunft in einer Kristallkugel sehen zu können«, bemerkte Joe sarkastisch, während er die Küchentür öffnete. »Ich persönlich ziehe es vor, mit dem Unvorhergesehenen zu rechnen.«
»Ich auch«, murmelte Trevor, als die Tür sich hinter Joe schloss. »In der Regel. Aber Aldo ist anders … Es ist, als könnte ich seine Gedanken lesen – es ist irgendwie anders.« Er räumte die Tassen und Teller vom Tisch und stellte sie in die Spüle.
»Vielleicht liege ich ja falsch, und Quinn hat Recht. Aber wenn wir zwei verschiedene Blickwinkel haben, macht das die Sache für Sie sicherer.«
Er drehte sich zu ihr um. »Sie waren sehr still, als ich Ihnen meinen Plan unterbreitet habe. Glauben Sie nicht, dass er funktionieren wird?«
»Keine Ahnung. Es fällt mir schwer, mir das alles vorzustellen
…« Sie befeuchtete ihre Lippen. »Sie sagten, der Tunnel verläuft direkt hier unter dem Haus?«
»Ja.« Er schaute sie durchdringend an. »Macht Sie das nervös?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht nervös.« Ihr Blick wanderte zum Fenster. »Es wird dunkel. Im Tunnel wird es noch viel dunkler sein, nicht wahr?«
»Ja. Was geht Ihnen durch den Kopf?«
Sie sah ihn an. »Ich möchte, dass Sie mich durch den Tunnel führen. Ich möchte das Vomitorium sehen, und ich möchte mit eigenen Augen sehen, wo Sontag den Vorraum verbarrikadiert hat, in dem Cira angeblich gefunden wurde.«
»Wir würden nicht mal in die Nähe gelangen. Quinn hat dafür gesorgt, dass der Tunnel bewacht wird. Außerdem werden Sie morgen alles zu sehen bekommen.«
Ungehalten schüttelte sie den Kopf. »Nicht mit einer Meute von Journalisten auf den Fersen. Heute Nacht.«
»Weil Sie sich vergewissern wollen, dass ich mich nicht irre?«
»Ich will diese Tunnel einfach sehen. Es interessiert mich nicht, ob ich mich von dort fern halten soll oder nicht. Sie haben gesagt, dass Aldo wahrscheinlich noch nicht in der Nähe ist.«
»Ich habe auch gesagt, dass ich mich irren könnte.«
»Aber den Tunnel unter der Via Spagnola kennt er nicht, da wären wir nicht in Gefahr. Was ist mit den Tunneln in der Nähe des Theaters?«
»Wenn er keinen triftigen Grund hätte, würde er wahrscheinlich nicht dorthin gehen. Es ist ziemlich ungemütlich da unten, außerdem sind die Tunnel elektrisch beleuchtet und von Sicherheitsleuten bewacht.«
»Würden die uns aufhalten, wenn sie uns entdeckten?«
»Ich vermute, ich könnte uns da rausreden.«
»Noch ein Schwindel?«
»Ist nicht das halbe Leben ein Schwindel?« Er musterte sie.
»Warum ist Ihnen das so wichtig?«
Sie antwortete nicht.
»Sie haben mir erzählt, dass Sie von Tunneln träumen.
Glauben Sie, Sie werden die Tunnel wiedererkennen?«
»Natürlich nicht. Das wäre doch ziemlich merkwürdig.«
Trevor schwieg einen Moment. »Quinn wird mich wahrscheinlich umbringen.«
Sie hatte ihn so weit! Er würde es tun! »Wann?«
»In einer Stunde. Zuerst muss ich Sontag anrufen und ihn für die morgige Pressekonferenz impfen.« Er schaute sie an.
»Werden Sie Eve einweihen?«
Sie überlegte. »Nein. Die beiden würden sich nur verpflichtet fühlen, uns zu begleiten, und ich will sie nicht durch diese dunklen Tunnel schleifen. Sie meinten doch, es sei ziemlich ungemütlich da unten.«
»Feucht und glitschig.« Dann fügte er hinzu: »Aber sie würden trotzdem darauf bestehen mitzugehen.«
»Ich werde Eve einen Zettel hinlegen für den Fall, dass sie aufwacht, bevor wir zurück sind. Ich möchte nicht, dass sie sich Sorgen macht.«
»Aber Sie wollen nicht, dass die beiden uns begleiten. Warum nicht?«
»Sie würden mich beobachten«, erwiderte sie offen. »Sie würden versuchen, mein Verhalten zu ergründen, und sich fragen, ob sie es hätten zulassen sollen, dass ich mir die Tunnel ansehe. So ist das mit Leuten, die einen lieben. Aber Ihnen ist das alles egal. Wenn Sie mich beobachten, dann höchstens aus Neugier. Sie werden mir nicht auf die Nerven gehen, denn Sie wollen Aldo nicht entwischen lassen, aber Sie werden sich nicht vor lauter Sorge um mich die Nägel abkauen.«
»Nein, das ist nicht meine Art.« Er lächelte schief. »Und, ja, ich bin neugierig auf alles, was Sie tun.« Er wandte sich ab.
»Wir sehen uns in einer Stunde. Nehmen Sie einen warmen Pullover mit.«
»Moment noch.« Als er sich umdrehte, fragte sie: »Wie kommt man in den Tunnel? Wo ist der Eingang?«
»Sie sitzen drauf.« Er deutete mit dem Kinn auf den Teppich, der den Steinboden unter ihrem Stuhl bedeckte.
»Es ist eine zwei Meter große Falltür, die Sontag offenbar brauchte, um größere Gegenstände herauszuschaffen. Eine Stahlleiter führt fünf Meter tief hinunter. Aber werden Sie nicht ungeduldig und starten Sie keinen Alleingang ohne mich.
Okay?«
Seine Befürchtung war überflüssig. Zu wissen, dass sie über dieser dunklen Leere saß, war zutiefst beunruhigend. Am liebsten wäre sie aufgestanden und herumgelaufen, doch sie zwang sich, sitzen zu bleiben. In einem beiläufigen Tonfall erwiderte sie: »Keine Sorge, ich werde auf Sie warten.«
16
Dunkelheit. Nur der Lichtstrahl aus Trevors Taschenlampe erhellte den finsteren Tunnel.
Die Kälte und die Feuchtigkeit krochen Jane in die Glieder, und das Atmen fiel ihr schwer.
Nacht ohne Luft.
Alles Einbildung. Wenn sie an Atemnot litt, dann lag das daran, dass sie Mühe hatte, mit Trevor Schritt zu halten. »Gehen wir als Erstes ins Vomitorium?«
»Nein, das wollte ich für den Rückweg aufheben. Ich dachte, das sei heute nicht das Wichtigste. Sie wollten doch das Theater sehen.«
Sie war viel zu aufgeregt, um sich auf Diskussionen einzulassen. »Gibt es hier unten Ratten?«
»Wahrscheinlich. Wo der Mensch sich nicht häuslich einrichtet, übernimmt die Natur.« Er drehte sich nach ihr um.
»Bleiben Sie dicht hinter mir. Ich möchte Sie nicht verlieren.«
»Aber Sie würden nicht zögern, mir einen Schrecken einzujagen.«
Er lachte. »Ich gebe zu, es würde mich reizen zu sehen, ob es mir gelingt.«
»Also mit der Aussicht auf Ratten könnten Sie mich nicht beeindrucken. An die hab ich mich bei einigen der Pflegefamilien gewöhnt, bei denen ich als Kind gelebt habe. Ich war nur neugierig.«
»In dem Waisenhaus, wo ich aufgewachsen bin, gab es auch Ratten.«
»In Johannesburg?«
»Richtig. Quinn hat offenbar gründlich in meiner finsteren Vergangenheit recherchiert.«
»So finster war die gar nicht. Zumindest fand ich das, was er herausgefunden hat, nicht weiter beunruhigend.«
»Sehr sauber war sie jedenfalls nicht. Vorsicht, da vorn ist eine Pfütze.«
»Warum ist es so feucht hier unten?«
»Risse, Spalten.« Er ging ein paar Schritte schweigend weiter.
»Sie haben mir mal erzählt, dass Sie von Tunneln träumen. Sieht es da so ähnlich aus wie hier?«
Sie antwortete nicht gleich. Sie hatte sich geschworen, ihm niemals etwas über diese Träume anzuvertrauen, aber jetzt, da sie allein mit ihm in der Dunkelheit war, fühlte sie sich ihm seltsam nahe. Und welche Rolle spielte es schon, was er über sie dachte? »Nein, anders. Nicht so feucht. Es war heiß und verraucht. Ich … Sie bekam keine Luft.«
»Der Vulkanausbruch?«
»Woher soll ich das wissen? Es war ein Traum. Sie rannte. Sie hatte Angst.« Sie überlegte. »Sie haben gesagt, Sie hätten von Cira geträumt.«
»O ja. Seit dem Tag, an dem wir die Schriftrollen entdeckt haben. Anfangs habe ich jede Nacht von ihr geträumt. Jetzt sind die Träume seltener.«
»Was kommt denn in diesen Träumen vor? Tunnel?
Vulkanausbrüche?«
»Nein.«
»Was denn?«
Er lachte. »Jane, ich bin ein Mann. Was glauben Sie wohl, wovon ich träume?«
»Ach, du lieber Himmel.«
»Sie haben mich gefragt. Ich würde Ihnen ja gern eine geheimnisvolle, romantische Geschichte erzählen, aber ich weiß, dass Sie lieber die Wahrheit hören.«
»Das hat sie nicht verdient.«
»Was soll ich dazu sagen? Es geht um Sex. Ich glaube nicht, dass es ihr etwas ausmachen würde zu wissen, dass sie in meinen Phantasien vorkommt. Cira kannte die Bedeutung von Sex. Sie hat sich dessen bedient, um zu überleben. Und die Vorstellung, dass sie mehr als zweitausend Jahre nach ihrem Tod noch so viel Macht über mich hat, hätte ihr sicherlich gefallen.«
»Ich glaube nicht, dass Sie … na ja, vielleicht haben Sie Recht, aber sie war mehr als nur ein Sexualobjekt.«
Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Und ich glaube auch nicht, dass sie für Sie nicht mehr ist als das. Sie haben ein Vermögen für die Büste ausgegeben, die Sie diesem Sammler abgekauft haben. Aus welchem Grund?«
»Es ist ein erlesenes Kunstwerk.« Er schwieg einen Moment.
»Und vielleicht fasziniert mich ihre Persönlichkeit ebenso wie ihr Körper. Sie war über das profane Leben erhaben.«
»Warum zum Teufel haben Sie das nicht gleich gesagt?«
»Sie sollten nicht merken, dass ich sensibel bin. Das hätte doch mein Image ruiniert.«
Sie schnaubte verächtlich. »Ich glaube kaum, dass Sie sich wegen Ihres Image –«
»Hier endet der Via-Spagnola-Tunnel und mündet in das Tunnelsystem rund um das Theater«, unterbrach er sie. »Ab hier wird es wegen der elektrischen Beleuchtung ein wenig heller, aber es ist immer noch ziemlich schummrig. Ich lasse die Taschenlampe lieber an. Diese Tunnel sind das reine Labyrinth, aber anders gelangt man nicht in das Theater, denn es ist noch nicht ausgegraben.«
»Warum nicht?«
»Geldmangel. Probleme. Interessenkonflikte. In letzter Zeit scheint sich wieder etwas zu tun. Aber es ist ein unglaublicher Aufwand, denn Teile des Theaters liegen unter einer mehr als zwanzig Meter dicken Schicht Vulkangestein begraben. Es ist eine Schande, denn das Theater ist ein Juwel. Zweieinhalb- bis dreitausend Zuschauer hatten darin Platz, und es gab alles, wovon man nur träumen konnte. Bronzene Trommeln, um Donnergrollen zu erzeugen, Kräne, um die Götter über die Bühne fliegen zu lassen, die Leute saßen auf Kissen, man servierte den Gästen Süßigkeiten und Nüsse und besprenkelte sie mit Safranwasser. Unglaublich.«
»Und aufregend. Das muss den Leuten wie Zauberei vorgekommen sein.«
»Gutes Theater ist auch heute noch wie Zauberei.«
»Und das haben Sie alles von diesem Zeitungsjournalisten erfahren?«
»Nein, ich habe auch selbst ein bisschen recherchiert. Sie wollten Informationen, und ich würde es nie wagen, mich Ihren Befehlen zu widersetzen.«
»Was für ein Blödsinn. Das hat Sie doch selbst genauso interessiert.«
»Touché.«
»Erstaunlich, dass das Theater nicht durch die Lava zerstört wurde.«
»Das gehört zu den rätselhaften Dingen, die an jenem Tag passiert sind. Der Lavastrom hat so viel Schlamm vor sich hergeschoben, dass das ganze Gebäude davon eingeschlossen und geschützt wurde. Wäre nicht die Gier der Kunsträuber gewesen, hätten die Archäologen es wahrscheinlich vollkommen intakt vorgefunden. König Ferdinand hat irgendwann unbezahlbare Bronzefragmente einschmelzen lassen, um Kerzenhalter daraus machen zu lassen.«
»Ich dachte, Sie hätten nichts übrig für den Erhalt von antiken Kunstgegenständen.«
»Ich habe Respekt vor den Gegenständen selbst. Und ich verabscheue Dummheit und Zerstörungswut.«
»Könnte es sein, dass Cira sich im Theater aufgehalten hat, als der Vulkan ausbrach?«
»Ja, man nimmt an, dass die Schauspieler gerade für eine Nachmittagsvorstellung probten.«
»Für welches Stück?«
»Das weiß niemand. Aber vielleicht finden die Archäologen es ja noch heraus.«
»Und vielleicht finden sie auch Ciras Überreste.«
»Das Märchen, das sich bewahrheitet? Durchaus möglich. Wer weiß? Die Archäologen entdecken ja immer wieder was Neues.«
»Neue Dinge aus einer toten Welt. Aber irgendwie kommt einem diese Welt gar nicht tot vor, stimmt’s? Auf der Fahrt vom Flughafen in Neapel hierher habe ich gedacht, wenn man die Augen schließt, kann man sich beinahe vorstellen, wie das Leben hier vor dem Vulkanausbruch ausgesehen hat. Wie mögen die Menschen wohl jenen Tag erlebt haben …«
»Das habe ich mich auch gefragt. Wollen Sie es wissen?«
»Noch mehr Ergebnisse Ihrer Recherchen?«
»Mit Recherchen hat es angefangen, aber es ist schwer, einen rein wissenschaftlichen Blickwinkel beizubehalten, wenn man so dicht an der Quelle ist.« In dem Halbdunkel konnte sie sein Gesicht kaum erkennen, nur seine leise Stimme hören. »Es war ein ganz normaler Tag, es herrschte sonniges Wetter. Die Erde hatte ein paarmal leicht gebebt, aber nicht besorgniserregend. Im Vesuv rumorte es damals ständig. Die Brunnen im ganzen Land waren ausgetrocknet, aber es war August, also ziemlich normal.
Es war ein heißer Tag, doch hier in Herkulaneum war es etwas kühler, weil die Stadt an einem Kap am Meer liegt. Der Kaiser hatte Geburtstag, und viele Menschen strömten in die Stadt, um die Feierlichkeiten mitzuerleben. Im Forum wimmelte es nur so von Marktschreiern, Akrobaten und Jongleuren. Sklaven trugen vornehme Damen in Sänften durch die Straßen. In den öffentlichen Bädern waren Männer dabei, sich zu entkleiden, um sich von Dienerinnen waschen zu lassen. Zur Feier des Tages wurden sportliche Wettkämpfe ausgetragen, und die Sieger schickten sich gerade an, ihre Lorbeerkränze entgegenzunehmen. Die Sportler waren halbwüchsige Jungs, sie waren nackt und braun gebrannt und stolz auf ihre Leistungen.
Mosaikkünstler waren dabei, ihre bunten Steine zurechtzuschneiden, Bäcker bereiteten Brot und Kuchen zu, und Cira und ihre Schauspielerkollegen probten für ein Stück, das im prunkvollsten Theater der römischen Welt aufgeführt werden sollte.« Er ließ einen Augenblick verstreichen. »Ich kann Ihnen noch mehr erzählen. Wollen Sie es hören?«
»Nein.« Ihre Kehle war wie zugeschnürt, sie konnte die bittersüße Atmosphäre jenes späten Vormittags beinahe sehen und schmecken. »Nicht jetzt.«
»Sie sagten, Sie wollten einen Eindruck von Ciras Zeit bekommen.«
»Den haben Sie mir wahrhaftig vermittelt«, antwortete Jane mit zitternder Stimme. »Unvorstellbar, dass das alles mit einem Wimpernschlag untergegangen sein soll.«
»Nein, nicht unvorstellbar. Wir Menschen sind sehr effizient im Zerstören, auch ohne die Hilfe der Natur.
Denken Sie nur an Hiroshima. Außerdem war es eher ein Brüllen als ein Wimpernklimpern. In zeitgenössischen Berichten heißt es, es sei ein Brüllen wie von Stieren gewesen, das aus dem Innern der Erde zu kommen schien. Über allem lag ein beißender, schwefliger Rauch, und eine pilzförmige Wolke schoss aus dem Berg.«
»Und die Leute haben alles fallen lassen, was ihnen lieb und teuer war, und sind um ihr Leben gerannt.«
»Diejenigen, die konnten. Sie hatten nicht viel Zeit.«
Keine Luft.
Keine Zeit.
Plötzlich fiel ihr das Atmen wieder schwer. »Ich will hier raus.
Wie weit sind wir noch von dem Tunnel entfernt, wo sich angeblich der Vorraum befindet?«
»Er ist gleich da vorn.« Er leuchtete ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht. »Sie sehen gar nicht gut aus. Wollen Sie umkehren?«
»Nein, gehen wir. Zeigen Sie mir die Stelle. Deswegen sind wir hergekommen.«
»Nein, das ist nicht der Grund. Wir sind hier, weil Sie das Theater unbedingt sehen wollten. Es geht Ihnen nicht aus dem Kopf.«
»Es ist doch logisch, dass ich mir dieses Theater ansehen will, wenn die Frau, die aussieht wie ich –«
»Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen. Sie wollten herkommen, ich habe Sie hergeführt. Jetzt wollen Sie umkehren.
Ich bringe Sie zurück. Aber die wichtigste Ausgrabungsstätte haben Sie noch gar nicht gesehen. Durch den nächsten Tunnel gelangt man bis an die Bühne.«
Jane schaute ihn an und schluckte. »Nein. Ich will nur noch sehen, wo Sie und Sontag den Sarg deponiert haben, dann möchte ich zurück.«
Trevor schüttelte den Kopf. »Stur.« Er richtete den Lichtstrahl nach unten und nahm ihre Hand. »Kommen Sie. Wir werfen einen kurzen Blick darauf, dann machen wir, dass wir hier wegkommen. Aber es gibt gar nicht so viel zu sehen. Wir haben den Eingang zu dem Räubertunnel zugemauert, damit niemand zufällig darüber stolpert, bevor wir fertig sind.« Er führte sie den Tunnel entlang. »Ich könnte mir vorstellen, dass der heiße, verrauchte Tunnel in Ihren Träumen viel gemütlicher ist. Hier ist alles so ekelhaft feucht und glitschig.«
»Aber hier kennen Sie sich aus. Sie verirren sich nicht dauernd in Sackgassen.«
»Stimmt, hier kenne ich mich aus. Sie brauchen keine Angst zu haben.«
Sie hatte wirklich keine Angst, wurde ihr plötzlich klar. Seine Stimme vermittelte ihr ebenso ein Gefühl der Sicherheit wie seine Hand, die die ihre umschloss, und sie empfand die Dunkelheit nicht länger als erstickend, sondern … sie kam ihr vertraut vor. Es war ein ganz merkwürdiges Gefühl. Einerseits war ihr danach, ihre Hand wegzuziehen, gleichzeitig hatte sie das Bedürfnis, sich an ihn zu schmiegen. Sie tat weder das eine noch das andere und ließ sich schweigend von ihm in die Dunkelheit führen.
Sie würde das tun, was sie sich vorgenommen hatte. Sie würde sich den Tunnel ansehen und das Vomitorium, wo Trevor seine Falle aufstellen wollte, und dann würde sie möglichst schnell in die Villa an der Via Spagnola zurückkehren.
»Sind Sie sich immer noch sicher, dass Sie das Vomitorium wirklich sehen wollen?«, fragte Trevor, als sie durch den Tunnel gingen, der zur Villa zurückführte. »Ich meine, es reicht eigentlich für einen Abend.«
»Hören Sie auf, mich zu behandeln, als wäre ich irgendwie behindert. Natürlich will ich das Vomitorium sehen. Durch diese Tunnel hier zu laufen, hat keine besonders traumatischen Auswirkungen auf mich. Sie hatten Recht, wir sind noch nicht sehr nahe an den Tunnel zum Vorraum herangekommen.«
»Und im Vomitorium gibt es nichts Großartiges zu sehen.
Also lassen Sie uns das ein andermal machen.«
»Nein, ich muss wissen, was mich erwartet.« Gott, sie hatte diese überwältigende Dunkelheit satt. Was für ein Horror musste das für die Diebe gewesen sein, als sie in die Eingeweide der Erde vorgedrungen waren, ohne zu wissen, was sie erwartete.
»Sie sagten, einige dieser Tunnel sind im Lauf der Jahre eingestürzt. War das hier in der Nähe?«
»Ich bin auf meinen Erkundungsgängen auf ein paar Sackgassen gestoßen. Aber keine Sorge, die Wände um das Vomitorium herum wirken ziemlich stabil. Ich würde Sie nicht hierher bringen, wenn es gefährlich wäre.«
Er blieb stehen. »Hier müssen wir abbiegen. Wenn Sie wirklich unbedingt dahin wollen.«
Sie wollte nicht dorthin gehen. Am liebsten wäre sie auf der Stelle zurück in die Villa und ins Bett gegangen. Sie wollte zurück ins Licht, verdammt. Sie fühlte sich wie lebendig begraben.
So wie Cira unter den herabstürzenden Felsbrocken lebendig begraben worden war?
»Jane?«
»Ich will da hin.« Sie ging an ihm vorbei in den abzweigenden Tunnel. »Sie haben gesagt, es ist nicht weit vom Haupttunnel entfernt. Dann wird das ja nicht lange dauern, oder?«
Er überholte sie. »Kommt drauf an, was Sie unter ›lange‹
verstehen. Ich habe das Gefühl, dass Ihnen die Zeit im Moment ziemlich langsam vergeht.«
Sie versuchte, an etwas anderes als die verfluchte Dunkelheit zu denken. »Cira hat das Vomitorium wahrscheinlich gekannt.
Das war ihre Stadt, sie war hier zu Hause. Ich kann sie mir direkt vorstellen, wie sie hier rumgelaufen ist, wie sie mit Leuten geredet, wie sie gelacht hat, wie sie mit den Männern ihre Spielchen getrieben hat.«
»Ich auch. Es ist nicht schwer, sich das vorzustellen.«
»Nicht für jemanden wie Sie, dessen sexuelle Phantasien sich um Cira drehen. Sie hat getan, was sie tun musste, um zu überleben.«
»Sie war keine Märtyrerin. Sie hat ihr Leben genossen. Aus den Berichten auf Julius’ Schriftrollen geht hervor, dass sie einen ziemlich derben Humor gehabt hat, aber Julius hat ihr das nachgesehen, weil sie offenbar im Bett eine Göttin war.«
»Wie gönnerhaft. Sie muss wirklich einen ausgeprägten Sinn für Humor gehabt haben, wenn sie gezwungen war, mit ihm ins Bett zu gehen.«
»Kein Zwang. Freie Entscheidung. Es war Ciras Entscheidung, Jane.«
»Die Entscheidung wurde ihr durch ihre niedere Geburt und durch die widrigen Umstände aufgezwungen. Was stand noch über sie in den Schriftrollen?«
»Dass sie ihren Freunden gegenüber großzügig und ihren Feinden gegenüber skrupellos war, und dass es gefährlich war, sich mit ihr anzulegen.«
»Wer waren denn ihre Freunde?«
»Die Schauspieler am Theater. Außer denen hat sie niemandem vertraut.«
»Keine Familie?«
»Nein. Sie hat einen Straßenjungen bei sich aufgenommen, und es heißt, sie sei sehr liebevoll mit ihm umgegangen.«
»Und weiter wurde niemand erwähnt?«
»Nicht, soweit ich mich erinnere. Die Texte auf den Schriftrollen beschreiben in erster Linie ihre Schönheit und ihre sexuellen Fähigkeiten, nicht ihre Vorzüge als Stiefmutter.«
»Chauvinistisches Schwein.«
Trevor lachte in sich hinein. »Ich oder Julius?«
»Beide.«
»Chauvinist oder nicht, immerhin war er bereit, für sie zu töten. Auf einer Schriftrolle wird seine Überlegung beschrieben, seinen Rivalen umzubringen, der ihm Cira wegnehmen wollte.«
»Und wer war das?«
»Den Namen erwähnt er nicht. Es ging wohl um einen jungen Schauspieler, der erst kurze Zeit zuvor nach Herkulaneum gekommen war und die Stadt im Sturm erobert hatte. Offenbar hat er Ciras Herz ebenso mühelos erobert, und das hat Julius in Rage versetzt.«
»Und? Hat Julius ihn getötet?«
»Das weiß ich nicht.«
»Viel wahrscheinlicher hätte er versucht, Cira zu töten, sollte sie bei dem Entschluss geblieben sein, ihn zu verlassen.«
»Meinen Sie? Interessant.«
Überhaupt nicht interessant. Grauenhaft. Und nur ein kleiner Einblick in das schreckliche Leben, das Cira geführt hatte.
Trevor blieb stehen. »Hier muss Joe rauf, wenn er seinen Posten auf dem Felsvorsprung bezieht, von dem aus man das Vomitorium überblicken kann.« Er richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf die Felswand zu ihrer Linken, und sie entdeckte eine schmale, niedrige Öffnung gleich über dem Tunnelboden. »Die Öffnung ist ziemlich niedrig, und er wird sich auf allen vieren da reinzwängen müssen, aber nach knapp zwei Metern vergrößert sich der Spalt, da kann er sich aufrichten und auf den Vorsprung klettern.«
»Den Spalt hätte ich nie gesehen, wenn Sie mich nicht darauf aufmerksam gemacht hätten.«
»Ebenso wenig wird Aldo ihn entdecken«, sagte Trevor und ging weiter. »Es gibt so viele Abzweigungen von diesem Tunnel, dass er so eine kleine Öffnung gar nicht bemerken wird.
Da wird er mehr mit der Qual der Wahl beschäftigt sein.«
»Sind wir bald am Vomitorium?«
»Ja, noch ein paar Minuten.«
»Dann beeilen wir uns. Ich will hier raus.«
Es schien ihr viel länger als ein paar Minuten zu dauern, bis Trevor erneut stehen blieb und mit seiner Taschenlampe in die Dunkelheit vor ihnen leuchtete. »Da sind wir. Nicht unbedingt der vornehmste Raum aus Ciras Zeit. Aber auf diesen sechs marmornen Sockeln haben wahrscheinlich einmal Statuen von Göttern und Göttinnen gestanden, vielleicht auch eine des damaligen Kaisers.«
Von den Sockeln waren nur noch gezackte Reste übrig, die die Eingänge zu den drei Tunneln, die von dem Raum weg führten, wie abgebrochene Zahnstümpfe säumten. Neben den Sockeln standen drei Fotolampen und eine Batterie, die Jane jedoch nicht weiter beachtete. Sie machte einen Schritt in den Raum hinein, den Blick in die Mitte gerichtet. Auf dem felsigen Boden lag ein langes Stück roter Samt.
»Was ist das?«
»Das gehört zu meinen Requisiten. Ich wollte Aldo wissen lassen, dass er hier richtig ist.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass die Lampen ihn misstrauisch machen.«
»Ich gebe zu, es ist vielleicht ein bisschen sehr theatralisch.
Ich bin eben ein Amateur.«
Gebannt starrte Jane auf den roten Samt, der im Halbdunkel wie eine große Blutlache wirkte. »Da soll der Sarg hin?«
»Demnächst, ja. Aber wir wollen, dass Aldo weiß, was kommen wird. Wir werden ihn bis hierher locken, und dann soll er sich auf die Suche begeben. Wenn er diesen Raum erst einmal entdeckt hat, wird er anfangen, Pläne zu schmieden.« Er schaute sich um. »Die Fackeln habe ich schon angebracht.« Er zeigte auf eine Wand zur Linken. »Sehen Sie die kleine Öffnung im Felsen in etwa zehn Metern Höhe? Das ist das Ende des Spalts, den ich Ihnen eben gezeigt habe. Joe wird mit dem Gewehr im Anschlag da oben auf dem Vorsprung liegen. Übrigens werden wir jetzt gerade von der Videokamera, von der ich gesprochen habe, gefilmt.« Er wies auf einen großen, flachen Felsbrocken dicht über dem Boden. »Da werde ich mich verstecken, und falls irgendetwas schief geht, rolle ich den Felsen da beiseite und eile Ihnen zu Hilfe.«
Sie schaute nach rechts. »Zwei Tunnel führen von hier weg?«
»Mit dem, den Sie benutzen werden, sind es insgesamt drei.«
»Und in einem davon wird Aldo sich aufhalten?« Sie konnte ihren Blick kaum von den gähnenden, dunklen Schlünden abwenden. Es war, als versteckte er sich jetzt schon dort und beobachtete sie. »Gibt es denn keine Möglichkeit, ihn zu verfolgen und zu schnappen, wenn wir erst einmal wissen, dass er hier ist? Sie sagten doch, in diesem Tunnelsystem kennt er sich nicht aus.«
»Joe und ich haben über diese Möglichkeit gesprochen.« Er schüttelte den Kopf. »Jemanden hier in diesem unterirdischen Labyrinth zu verfolgen, könnte zu einem Albtraum ausarten. Es handelt sich um ein weit verzweigtes Tunnelsystem, das außer dem in der Via Spagnola mindestens zwei Ausgänge hat. Aldo könnte zufällig einen davon finden, und dann würden wir ihn verlieren.« Er überlegte. »Aber wenn Ihnen nicht wohl ist bei dem Gedanken, ihn hierher zu locken, sagen Sie es mir. Es ist Ihre Entscheidung, Jane.«
»War ja nur eine Frage. Ich werde es mir nicht anders überlegen.«
Seine Mundwinkel zuckten. »Ich hatte fast gehofft, dass Sie es sich anders überlegen würden.«
»Wie seltsam.« Sie machte noch einen Schritt auf das Stück Samt zu. »Es sieht aus wie …«
Blut. Schmerz.
Aldo, der dasteht und triumphierend auf den Samt hinunterblickt.
Pure Einbildung.
Die Angst unterdrücken.
Sie schluckte. »Wirkt sehr dramatisch.« Sie wandte sich ab und machte sich auf den Rückweg. »Das hätte Cira bestimmt gefallen.«
»Nur, wenn es sich um eine Komödie gehandelt hätte.
Tragödien waren nicht ihre Stärke.«
»Meine auch nicht.«
Sie spürte seine Hand an ihrem Ellbogen. Sicherheit. Trost.
»Und das soll auch so bleiben. Kommen Sie, machen wir, dass wir hier rauskommen.«
»Ich gehe voraus.« Trevor erklomm die Leiter und öffnete die Falltür, die in die Küche führte. »Falls Quinn wach ist, werde ich seinen Zorn als Erster zu spüren bekommen.« Er schaute sich um. Dann flüsterte er: »Die Luft ist rein.«
Sie hätte nicht gedacht, dass sie so erleichtert darüber sein würde, sich jetzt nicht mit Eve und Joe auseinander setzen zu müssen. Sie war schon durcheinander genug, auch ohne den zusätzlichen emotionalen Druck.
»Gehen Sie ins Bett«, sagte Trevor, während er die Falltür schloss. »Der morgige Tag wird sehr anstrengend werden.«
»Für Eve«, erwiderte Jane. »Nicht für mich. Für die Medien bin ich nur hier, weil Eve ihrer Tochter die europäische Kultur nahe bringen will.«
»Aber da es schwierig ist, an sie heranzukommen, könnten die Journalisten es über Sie versuchen. Und jedem, der den Artikel im Archaeology Journal gelesen hat, wird Ihre Ähnlichkeit mit der Büste auffallen.«
»Das Foto war doch viel zu unscharf. Das hat Sam gut hingekriegt.«
Trevor horchte auf. »Sam? Sie duzen sich mit ihm?«
»Er ist einfach so ein Typ. Und wir sind ganz gut miteinander klargekommen.«
»Davon bin ich überzeugt. Wahrscheinlich haben Sie ihn innerhalb kürzester Zeit um den kleinen Finger gewickelt.«
Sie zog die Brauen zusammen. »Nein, so war das gar nicht.«
»Wirklich nicht? Wie denn?«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, wie schwierig es –« Sie brach ab. »Ich bin Ihnen keine Erklärungen schuldig. Was ist eigentlich los mit Ihnen?«
»Gar nichts. Ich habe mich nur gefragt, was Sie getan haben, um –« Er wandte sich ab. »Sie haben Recht, es geht mich nichts an. Tut mir leid.«
»Die Entschuldigung nehme ich nicht an. Wenn Sie meinen, was ich glaube, dass Sie meinen.«
»Es war ein Fehler, okay?«
»Nein, es ist nicht okay. Sind Sie sexsüchtig, oder was? Erst dieser Schwachsinn mit Cira und jetzt das. Ich gehe nicht mit Männern ins Bett, um zu kriegen, was ich will. Ich besitze einen Verstand, und den benutze ich.«
»Ich habe gesagt, es tut mir leid.«
Sie war stinkwütend. »Kein Wunder, dass Sie solche ekelhaften Träume von Cira haben. Sie halten alle Frauen für Huren.« Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Es ist mein Gesicht.
Weil ich aussehe wie sie, glauben Sie, ich würde auch so handeln wie sie.«
»Ich weiß, dass Sie das nicht tun würden.«
»Ach ja? Irgendwo in ihrem chauvinistischen Erbsenhirn muss der Gedanke doch gelauert haben, sonst hätten Sie sich nicht aufgeführt wie ein Arschloch.«
»Ich glaube nicht, dass Sie wie Cira sind.«
»Das bin ich auch nicht. Aber ich wäre stolz darauf, wenn ich ihre Stärke und ihre Entschlossenheit besitzen würde, und es kotzt mich an, dass Sie ihr so wenig Respekt entgegenbringen.«
»Darf ich Sie darauf hinweisen, dass ich Sie noch nie mit Cira verglichen habe? Sie sind doch diejenige, die –«
Sie wandte sich zum Gehen.
»Nein.« Er packte sie an der Schulter und riss sie herum.
»Wenden Sie mir nicht den Rücken zu. Ich habe Ihnen zugehört und mir von Ihnen an den Kopf werfen lassen, ich sei ein sexsüchtiger Scheißkerl, aber ich werde Sie nicht gehen lassen, ohne etwas darauf zu erwidern.«
»Lassen Sie mich los.«
»Wenn ich fertig bin.« Seine Augen funkelten. »Erstens: Sie könnten Recht haben. Ich lebe schon so lange mit dem Bild von Cira, dass ich Sie womöglich unbewusst mit ihr verglichen habe.
Nicht bewusst. Die Unterschiede zwischen Ihnen und Cira sind mir völlig klar, und an einem davon meine ich jedes Mal fast zu ersticken, wenn ich Sie ansehe. Zweitens: Bloß weil ich ein gesundes Maß an Wollust empfinde, heißt das noch lange nicht, dass ich Cira weniger achte … oder Sie. Ich sagte Ihnen bereits, dass Cira über das profane Leben erhaben war. Sex ist ein Teil davon, aber eben nur ein Teil. Drittens: Wenn Sie älter wären und ein bisschen mehr Lebenserfahrung hätten, bräuchte ich Ihnen das alles nicht zu sagen. Dann könnte ich es Ihnen zeigen.«
Während sie ihn anschaute, ließ ihre Wut nach. Stattdessen empfand sie wieder diese seltsame Atemlosigkeit wie anfangs im Tunnel.
»Sehen Sie mich nicht so an«, sagte er mit belegter Stimme. Er streichelte ihre Wange. »Gott, Sie sind so schön. Und Sie haben so viele verschiedene Gesichter.«
Seine Berührung ließ sie erschauern, doch sie war unfähig, sich ihm zu entziehen. »Jeder hat mehrere Gesichter.«
»Nicht wie Sie. Sie lächeln, dann verdüstert sich Ihre Miene, mal strahlen Sie … Ich könnte Ihnen tausend Jahre lang zusehen, ohne mich zu –« Er holte tief Luft und ließ seine Hand sinken. »Gehen Sie ins Bett. Ich benehme mich daneben, und wenn das so weitergeht, kann ich für nichts garantieren.«
Sie rührte sich nicht.
»Gehen Sie ins Bett.«
Sie trat auf ihn zu und legte ihm zögernd eine Hand auf die Brust.
»O nein.« Er schloss die Augen. »Das darf nicht wahr sein.«
Sein Herz klopfte wie wild unter ihrer Hand …
Er öffnete die Augen und schaute sie an. »Nein.«
»Warum nicht?« Sie schob sich noch näher an ihn heran. »Ich glaube, ich möchte –«
»Ich weiß.« Er holte tief Luft und trat einen Schritt zurück.
»Und es bringt mich um.« Er drehte sich um und ging zur Tür.
»So sind Sexsüchtige nun mal.«
Sie konnte sich kaum erinnern, dass sie ihn so genannt hatte.
»Wo gehen Sie hin?«
»Ein bisschen frische Luft schnappen. Das brauche ich jetzt.«
»Sie laufen vor mir weg.«
»Da haben Sie verdammt Recht.«
»Warum?«
Er blieb an der Tür stehen und schaute sie an. »Weil ich keine Schulmädchen vögle, Jane.«
Sie spürte, wie sie rot wurde. »Ich habe nicht gesagt, dass ich mit Ihnen vögeln will. Außerdem ist das keine sehr nette Art, so was zu –«
»Es sollte auch nicht nett klingen. Ich versuche, Sie abzuwimmeln, Jane.«
»Sie tun ja gerade so, als wäre ich über Sie hergefallen. Ich habe Sie doch nur berührt.«
»Das reicht. Wenn Sie es tun.«
Sie reckte ihr Kinn vor. »Warum? Schließlich bin ich doch nur ein kleines Schulmädchen. Da gibt es doch nichts zu befürchten.«
»Genauso wenig wie vor der schwarzen Pest im Mittelalter.«
»Vergleichen Sie mich jetzt etwa schon mit der Pest?«
»Nur, was die Zerstörungskraft angeht.« Er musterte ihr Gesicht. »Habe ich Sie gekränkt? Gott, ich vergesse immer, dass Sie viel verletzlicher sind, als Sie vorgeben.«
»Sie können mich gar nicht verletzen.« Sie sah ihn trotzig an.
»Das würde ich nicht zulassen. Auch wenn Sie sich alle Mühe gegeben haben. Mal sehen. Sie haben mich schwarze Pest genannt und Schulmädchen und Cira.«
»Aha, ich habe Sie tatsächlich gekränkt.« Er schwieg einen Augenblick. Dann sagte er sanft: »Hören Sie. Sie zu verletzen ist das Letzte, was ich will. Ich möchte Ihr Freund sein.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das stimmt nicht. Vielleicht werden wir eines Tages Freunde sein, aber im Moment steht dem zu viel im Weg.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, mit Ihnen befreundet zu sein.«
»Dito. Das ist das Problem. Ach, was soll’s. Ich reite mich nur immer tiefer in den Schlamassel.« Er ging hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.
Sie zu verletzen ist das Letzte, was ich will.
Aber er hatte sie verletzt. Sie fühlte sich abgelehnt und verunsichert und verlassen. Sie hatte instinktiv und spontan gehandelt, und er hatte sie abgewiesen.
Es war nur ihr gekränkter Stolz, sagte sie sich. Sie war weiß Gott nicht naiv, aber was Sex anging, verfügte sie über keinerlei Erfahrung. Und offenbar wollte er mit einer Anfängerin nichts zu tun haben.
Na ja, sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Er war attraktiv, und sie hatte auf ihn reagiert. Und offenbar ging es nicht nur ihr so.
Er hatte seine Hand an ihre Wange gelegt, und seine Berührung hatte ihr heißkalte Schauer über den Rücken gejagt …
Und dann hatte der Scheißkerl sie behandelt wie eine kleine Lolita.
Sollte er sich doch zum Teufel scheren.
Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging die Treppe hinauf. Sie würde sich jetzt ins Bett legen und Trevor vergessen.
Den heutigen Abend als Erfahrung verbuchen. Schwärmten nicht die meisten Teenager irgendwann für einen älteren Mann?
Sie war aber nicht wie die meisten Teenager. Sie fühlte sich nicht jünger als Trevor, und er war ihr gegenüber nicht fair gewesen. Sie hatte das Recht, ihre eigene Entscheidung zu treffen, sie brauchte sich nicht mit einem Tätscheln auf den Kopf ins Bett schicken zu lassen. Sie hatte Freundinnen in ihrem Alter, die bereits sexuelle Erfahrungen gemacht hatten. Eine ihrer Klassenkameradinnen hatte sogar vor ein paar Monaten geheiratet und würde im August ein Baby bekommen.
Und sie hatte nur deswegen keine Erfahrung in sexuellen Dingen, weil das Thema sie bisher nie interessiert hatte. Die Jungs in der Schule waren … Jungs. Sie kam sich immer vor wie deren große Schwester. Sie hatte mehr gemeinsam mit Joe und seinen Kumpels von der Polizei als mit Gleichaltrigen.
Aber nicht mit Mark Trevor. Mit ihm hatte sie nichts gemeinsam, und es gab keinen Grund, sich ihm so nah zu fühlen.
Sie ging in ihr Zimmer und zog sich so leise wie möglich aus.
Ihr Gesicht und ihre Hände waren noch ganz verdreckt, aber sie würde nicht noch einmal nach unten ins Bad gehen, um sich zu waschen. Sie konnte von Glück reden, dass Eve und Joe von ihrem heimlichen Ausflug in das Tunnellabyrinth nichts bemerkt hatten, und sie würde nicht riskieren, sie jetzt zu wecken. Sie würde einfach früh aufstehen und duschen, bevor die beiden aus ihrem Zimmer kamen.
Sie trat ans Fenster und schaute auf die gewundene Straße hinunter. Ob Aldo im Schatten eines der Hauseingänge stand und sie beobachtete? In dem Tunnel, der zum Theater führte, hatte sie die ganze Zeit den Tod gespürt, aber nicht den Tod, den Aldo repräsentierte. Trevor hatte ihr das alte Herkulaneum in allzu leuchtenden Farben geschildert. Junge, sonnengebräunte Sportler, vornehme Damen in Sänften, Schauspieler bei der Probe. Alle in der Blüte ihres Lebens dahingerafft. Als ihr das Ausmaß der Katastrophe klar geworden war, hatte sie das ziemlich mitgenommen.
Und dennoch hatte sie sich noch nie so lebendig gefühlt wie in dem Augenblick, als Trevor ihre Wange berührt hatte. Vielleicht war sie deswegen so leicht zu irritieren gewesen.
Aber jetzt war sie zurück in der Realität.
Zurück in Aldos Welt.
Es wirkte tatsächlich wie ein Trauerzug, dachte Aldo. Der metallene Sarg wurde von vier Studenten Sontags getragen, gefolgt von den trauernden Hinterbliebenen in Gestalt von Joe Quinn, Eve Duncan und den Journalisten und Soldaten.
Der Sarg.
Begierig starrte Aldo auf die Kiste, die Ciras sterbliche Überreste enthielt. Solche speziell angefertigten Särge hatte er als Junge häufiger gesehen, wenn er auf den Ausgrabungsstätten seines Vaters gespielt hatte. Offenbar hatte Sontag alles in seiner Macht Stehende getan, um das Skelett vor dem Zerfall zu bewahren.
Es würde ihm nichts nützen. Er, Aldo, würde diese Knochen zerschlagen und zu Staub zermahlen. Er würde das Skelett schänden und …
Jane MacGuire und Mark Trevor waren gerade um die Ecke gebogen, sie bildeten das Schlusslicht des Trauerzugs. Im schwachen Schein der elektrischen Lampen, die die Grabesfinsternis erhellten, wirkte Jane blass und gefasst. Sie schaute starr geradeaus, aber nicht auf den Sarg. Was empfindest du? Erregung? Triumph? Oder tut es zu weh, du Miststück? Du weißt noch nicht, was Schmerz ist.
Spürst du, dass ich dich beobachte? Macht es dir Angst? Aber du magst es, wenn Männer dich anstarren, nicht wahr? Trevor verschlingt dich ja geradezu mit seinen Blicken. Wie lange hast du gebraucht, um ihn in dein Bett zu locken, du Hure?
Blanke Wut überkam ihn. Das hätte nicht passieren dürfen.
Trevor hatte kein Recht, sich zwischen sie und ihn zu stellen. Er, Aldo, hätte in ihrem Bett landen sollen. Aber das würde noch kommen. Bevor er ihr Gesicht zerstörte, würde er ihren Körper nehmen. Er würde sich in sie ergießen und das Böse namens Cira vernichten.
Aber womöglich würde das nicht ausreichen. Was, wenn ihm nur ein paar Augenblicke vergönnt waren, um diesen letzten Triumph auszukosten? Er brauchte mehr. Er brauchte wieder Kontakt zu ihr. Er brauchte ihre Stimme, er musste ihre Worte hören.
Der Trauerzug war um die Ecke und außer Sichtweite verschwunden. Er musste sich beeilen, um sich nicht abhängen zu lassen. Eilig lief er durch den Räubertunnel, der parallel zu dem Theatertunnel verlief. Eigentlich brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Sie würden ihm nicht entwischen. In diesen Tunneln kannte er sich aus, und die Dunkelheit war seine Verbündete. Das Blut pulsierte mit einem berauschenden Rhythmus durch seine Venen.
Seine Zeit war gekommen.
17
»Sie haben sich ja jede erdenkliche Mühe gegeben, um das alles echt wirken zu lassen«, sagte Eve zu Trevor, während sie zusah, wie die Studenten den Sarg in der weiträumigen, hohen Bibliothek vorsichtig abstellten. »Die jungen Leute hatten ja ziemliche Mühe, den Sarg die Leiter hochzuschaffen.«
»Sie hätten noch viel mehr Mühe gehabt, wenn Sontag die Öffnung nicht so groß angelegt hätte, dass große Gegenstände hindurchpassen.«
»Soweit ich das beurteilen kann, ist Ihnen nur ein einziger Fehler unterlaufen. Sie sagten doch, diese Tunnel unter der Villa seien ein großes Geheimnis, aber fürchten Sie nicht, dass die Studenten reden werden?«
»Nicht, wenn sie ihre Jobs bei Sontag behalten wollen. Sollten sie auch nur ein Wort darüber ausplaudern, kriegen sie ihre Papiere, und das wissen sie. Ich habe Ihnen ja erzählt, dass er kein besonders liebenswürdiger Charakter ist. In diesem Fall kommt uns das zugute.«
Er wandte sich an Jane. »Es geht los. Das ist Ihre letzte Chance auszusteigen.«
»Machen Sie sich nicht lächerlich.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Warum konnte sie ihren Blick nicht von dem Sarg abwenden? Es war doch bloß ein Schwindel. Es gab keinen Grund, beunruhigt zu sein.
»Was ist da eigentlich drin?«
»Ein Skelett.«
Sie fuhr zu Trevor herum. »Das soll wohl ein Witz sein?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie genau Aldo uns beobachtet, und ich wollte kein Risiko eingehen.«
»Wo haben Sie das Skelett denn her?«
»Ich habe es mir von einem kleinen Museum außerhalb von Neapel ausgeliehen. Es hat mich meine ganze Überredungskunst gekostet, und ich musste ihnen in Eves Namen einige Versprechungen machen, um es zu bekommen.« Er drehte sich zu Eve um. »Das Skelett der Frau gehört zu einer der Toten, die man im Hafen gefunden hat.«
»Ich soll also tatsächlich ein Gesicht rekonstruieren?«
Er nickte. »Alles muss absolut echt wirken. Sie haben mir mal gesagt, dass Sie es vermeiden, sich vor Beginn Ihrer Arbeit Fotos anzusehen, weil Sie fürchten, dass Ihre Hände und Ihr Gedächtnis Sie zu sehr beeinflussen könnten. Diesmal möchte ich, dass genau das passiert. Denken Sie an Cira. Oder an Jane.
Ich habe einen Sockel aufstellen lassen und Ihnen das nötige Material besorgt. Einverstanden?«
»Kommt drauf an, was für Versprechungen Sie in meinem Namen gemacht haben.«
»Ich habe dem Museumsleiter versprochen, dass Sie, wenn das alles vorbei ist, das Cira-Gesicht entfernen und eine echte Rekonstruktion anfertigen werden. Das Museum ist bettelarm, und Ihr Name wäre eine großartige Referenz. Das Angebot erschien mir nicht übertrieben. Werden Sie es machen?«
Eve nickte langsam, den Blick auf den Sarg geheftet.
»Was wissen Sie über die Frau?«
»Sie war jung, vielleicht sechzehn, siebzehn. Ihr Schienbein war gebrochen. Bei der Untersuchung ihrer Knochen wurden Zeichen von Mangelernährung festgestellt, was darauf schließen lässt, dass sie aus armen Verhältnissen stammt. Man hat ihr den Namen Giulia gegeben.«
Er lächelte. »Das ist alles, was ich weiß. Und auch, was die wissen.« Er schaute zu Joe und Sontag hinüber, die gerade die Studenten aus der Bibliothek schickten. »Am besten, ich gehe mal da rüber und passe auf, dass Sontag keinen Mist baut. Den darf man nicht aus den Augen lassen.«
»Na, dann walten Sie mal Ihres Amtes.« Eve ging zu dem Sarg hinüber. »Wo werde ich arbeiten?«
Eve wirkte ganz abwesend, und Joe spürte, dass sie bereits in Gedanken mit dem Projekt beschäftigt war, das vor ihr lag.
»Kannst du noch bis nach dem Abendessen warten?«, fragte er.
»In Sontags Arbeitszimmer«, sagte Trevor. »Ich bringe den Schädel und bereite alles vor, wenn ich mit Sontag geredet habe.«
»Ich möchte sie mir jetzt gleich ansehen.«
»Tun Sie sich keinen Zwang an. Der Sarg ist nicht versiegelt.«
Trevor trat auf Joe und Sontag zu.
Jane folgte Eve zu dem Sarg. »Warum hast du es so eilig? Sie ist doch keine von den Verlorenen, Eve.«
»Wenn ich sie rekonstruiere, wird sie eine sein. Und nicht nur das, ich werde mir die Freiheit nehmen, ihr dein Gesicht zu geben, und ich möchte sie kennenlernen.« Sie hob den Sargdeckel an.
Zärtlich berührte Eve den Schädel. »Hallo, Giulia«, sagte sie leise. »Wir werden einander sehr gut kennenlernen. Ich empfinde Respekt und Bewunderung für dich, und ich bin gespannt zu erfahren, wer du bist.«
Eine Weile betrachtete sie schweigend das Skelett, dann schloss sie den Sarg wieder. »Das reicht fürs Erste.« Sie wandte sich ab. »Ich könnte nicht an ihr arbeiten, ohne mich zuerst vorzustellen.«
Jane nickte. »Das weiß ich. Das machst du ja auch immer bei den Verlorenen. Glaubst du, sie können dich hören?«
»Ich habe keine Ahnung. Aber das gibt mir ein besseres Gefühl bei dem Eingriff.« Sie ging auf die Treppe zu.
»Zumindest wird die Arbeit an Giulia mich beschäftigen. Seit dem Tag, als du uns diesen Plan aufs Auge gedrückt hast, drehe ich nur noch Däumchen. Es wird eine Erleichterung sein, mich wieder meiner Arbeit widmen zu können. Giulia hat sehr kleine, interessante Gesichtsknochen …« Sie drehte sich zu Jane um, die am Fuß der Treppe stehen geblieben war. »Kommst du nicht mit rauf?«
»Nein. Ich gehe noch ein bisschen in den Garten. Ich bin zu unruhig.« Sie lächelte. »Ich habe keine Giulia, die mich ablenkt.
Wir sehen uns beim Abendessen.«
»Bleib in der Nähe«, sagte Eve. »Joe hat so viele Wachen überall verteilt, dass ich denke, im Garten bist du so sicher aufgehoben wie im Haus, aber es ist mir lieber, dich innerhalb von vier Wänden zu wissen.«
»Am See bin ich doch auch immer spazieren gegangen.«
»Hier ist es anders. Alles wirkt fremd.«
Ihr war hier nichts fremd, dachte Jane, als sie die Terrassentür öffnete, die in den Rosengarten führte. Seit dem Tag ihrer Ankunft in Herkulaneum kam ihr alles seltsam vertraut vor.
Auch jetzt empfand sie die Sonnenwärme auf den Wangen, den Rosenduft und das Plätschern des Springbrunnens als tröstlich und beruhigend.
»Sie wirken sehr zufrieden. Es widerstrebt mir beinahe, Sie zu stören.«
Sie zuckte zusammen und fuhr herum. Trevor trat aus dem Haus. »Dann lassen Sie es. Es sei denn, Sie haben einen guten Grund.«
»Den habe ich. Jetzt, nachdem der Startschuss gefallen ist, wollte ich Ihnen die Spielregeln erklären.« Er ließ seinen Blick über den Garten schweifen. »Schönes Plätzchen. Wie ein Garten aus einer längst vergangenen Zeit. Man kann sich direkt vorstellen, wie vornehme Damen in weißen Gewändern und Turnüren hier über die Pfade wandeln.«
»Zum Glück haben Sie nicht gesagt ›Damen in weißen Togen‹. Ich hab allmählich genug von all den Geschichten aus dem Altertum.«
Er musterte ihr Gesicht. »Sie wirken aber keineswegs gestresst.«
»Ich komme zurecht.« Sie wandte sich ab. »Mussten Sie Eve unbedingt mit diesem Skelett behelligen? Wie groß ist die Chance, dass Aldo nahe genug kommt, um sie bei der Arbeit zu sehen oder einen Blick auf die fertige Rekonstruktion zu werfen?«
»Groß genug. Man kann nie wissen, ob er es schafft, sich die Rekonstruktion im Sarg anzusehen. Sicher ist sicher. Außerdem fühlt Eve sich wesentlich wohler, wenn sie arbeiten kann.«
»Haben Sie es deshalb getan?«
»Ich mag Eve«, antwortete er ausweichend. »Einer Frau wie ihr fällt es schwer, über längere Zeit tatenlos herumzusitzen.«
»Ja, das stimmt.« Und er war so sensibel, dass er ihr Bedürfnis erkannt und Abhilfe geschaffen hatte. »Also gut. Wie lauten die Spielregeln? Darf ich nicht im Garten spazieren gehen?«
»Doch, aber halten Sie sich vom Tor fern. Und verlassen Sie die Villa nicht ohne Quinn oder mich.«
»Ich hatte nicht vor, wegzugehen. Dazu besteht kein Grund.«
Sie schaute zu dem gusseisernen Tor hinüber. »Er wird zu mir kommen.«
»Wahrscheinlich.« Trevors Blick folgte dem ihren. »Aber spielen Sie ihm nicht in die Hände.«
»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Ich mag vielleicht ein Schulmädchen sein, aber ich bin nicht blöd.«
Er verzog das Gesicht. »Das hat wirklich gesessen, stimmt’s?«
»Sie haben nur ausgesprochen, was Sie gedacht haben.« Sie schaute ihn kühl an. »Ich bin ein Schulmädchen, und ich schäme mich nicht dafür. Aber auch wenn ich ein Teenager bin und noch zur Schule gehe, heißt das noch lange nicht, dass ich hinterm Mond lebe. Seit ich fünf Jahre alt war, habe ich auf der Straße gelebt, und ich kannte jede Prostituierte und jeden Drogendealer im Süden von Atlanta. Im Alter von zehn Jahren wusste ich bestimmt mehr vom Leben, als Sie bei Ihrer Entlassung aus dem Waisenhaus. Ja, es hat gesessen, aber ich habe darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass Sie nicht die Bohne über mich wissen und dass das Ihr Pech ist.«
»Da haben Sie allerdings Recht.« Er lächelte. »Und das wird mir von Minute zu Minute klarer. Werden Sie mir vergeben?«
»Nein.« Sie schaute zum Springbrunnen hinüber. »Sie haben mich nicht als Individuum betrachtet. Das ist es, was ich Ihnen nicht verzeihen kann. Sie haben mich mit allen Teenagern in einen Topf geworfen und mich stehen lassen. Das ist nicht weiter schlimm. Ich brauche Sie nicht. Aber in gewisser Weise sind Sie genauso wie Aldo. Er hat mein Gesicht gesehen und weiter nichts.«
»Wenn man sich mit einer jungen Frau Ihres Alters einlässt, trägt man eine große Verantwortung«, erwiderte er ruhig. »Ich wollte Sie nicht verletzen.«
»Niemand außer mir selbst kann mich verletzen. Und Sie wollten die Verantwortung nicht übernehmen. Auch gut. Ich frage mich, warum wir überhaupt darüber reden. Es ist vorbei.«
Sie stand auf. »Und es ist ja sowieso gar nichts passiert.«
»Doch, es ist etwas passiert.«
Sie wusste, was er meinte, und sie hatte nicht vor, es zu leugnen. »Nichts, was ich nicht vergessen könnte.«
Er verzog das Gesicht. »Ich wünschte, ich könnte dasselbe von mir behaupten.«
»Sie sollten es nicht vergessen. Sie haben Mist gebaut.«
Sie musste von ihm weg. Sie fing an, ihren Ärger zu vergessen, und sich stattdessen daran zu erinnern, wie verletzt sie gewesen war. Sie wandte sich zum Gehen. »Vielleicht lernen Sie ja was draus.«
»Das habe ich bereits. Gehen Sie nicht zu weit weg, Jane«, rief er ihr nach.
Sie ging weiter in Richtung Gartenlaube, ohne ihm zu antworten, inständig hoffend, dass er verschwinden würde. Die friedliche Stimmung, die sie empfunden hatte, bevor er in den Garten gekommen war, war verflogen. Sie hatte angenommen, dass sie nach dem Ärger immun gegen ihn geworden war, stattdessen zitterte sie, verdammt. War es das, was Sex mit einem anstellte? Darauf konnte sie gut verzichten. Sie wollte ihren Körper völlig unter Kontrolle haben, und es gefiel ihr nicht, wie er sich dem widersetzte. Sie wollte nicht daran denken, wie Trevor ausgesehen hatte, als seine Haut im milden Sonnenlicht golden geschimmert hatte. Sie wollte sich nicht daran erinnern, wie es sich angefühlt hatte, ihn zu berühren.
Sie würde das alles vergessen. Auf jeden Fall hatte sie selbstbewusst und intelligent gehandelt, und diese Nachwirkungen würden schon bald verschwinden. Sie warf einen Blick über die Schulter und stellte erleichtert fest, dass Trevor zurück ins Haus gegangen war. Am besten, sie blieb noch ein Weilchen hier draußen, bis sie sich wieder gefangen hatte, dann würde sie auf ihr Zimmer gehen. Sie brauchte eine Dusche, und sie musste Eve sehen. Nicht, um zu reden. Es lag ihr nicht, jemandem ihr Herz auszuschütten, aber Eves Gegenwart wirkte immer beruhigend auf sie. Wenn sie traurig war oder – Ihr Handy klingelte.
Wahrscheinlich Eve, die sich Sorgen machte, dass sie so lange wegblieb.
»Ich komme gleich wieder rein, Eve. Du müsstest mal die Rosen riechen. Der Duft ist einfach –«
»Bist du im Garten?«
Aldo.
Sie erstarrte und brachte kein Wort mehr heraus.
»Du antwortest ja gar nicht.«
»Ja, ich bin im Garten.« Sie hatte Mühe, ihre zitternde Stimme unter Kontrolle zu bringen. »Wo sind Sie?«
»In der Nähe. Ich habe dich heute da unten im Tunnel beobachtet. Ich war so nah an dir dran, dass ich dich fast hätte berühren können. Schon bald werde ich dich berühren. Soll ich dir beschreiben, wie?«
»Ich bin nicht interessiert. Sie machen sich lächerlich. Sie können nicht …« Sie unterbrach sich. Am liebsten hätte sie sich mit ihm angelegt, aber wenn sie ihn tatsächlich davon überzeugte, dass sie nicht Cira war, konnte das ihren ganzen Plan zunichte machen. Sie musste sein Spiel mitspielen. Sie musste aufhören, ihm zu widersprechen und versuchen, ihn hinters Licht zu führen. »Angenommen, Sie haben Recht, und ich bin Cira. Sie können mich nicht mehr aufhalten, ich habe mein Ziel schon fast erreicht. Eve arbeitet bereits an der Rekonstruktion, und wenn sie fertig ist, werde ich berühmt sein.
Selbst nach meinem Tod werde ich ewig weiterleben. Poster mit meinem Gesicht werden auf Bussen zu sehen sein. Man wird Dokumentarfilme über mich drehen. Man wird Parfüms nach mir benennen. Sie können mich anrufen und Ihr Gift versprühen, so viel Sie wollen, aber es wird Ihnen alles nichts nützen. Am Ende werden Sie verlieren.«
»Miststück.« Offenbar hatte er Mühe, seine Wut in Zaum zu halten. »Du wähnst dich wohl vollkommen in Sicherheit, solange Duncan und Quinn und Trevor, dieser Scheißkerl, um dich herum sind. Aber keiner von denen kann dich schützen. Ich werde zuerst dich und dann die anderen töten.«
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und ihre Hand umklammerte das Telefon. »Warum wollen Sie sie töten? Sie wollen doch mich haben.«
»Du hast sie angesteckt. Die würden nie aufhören, mich zu jagen.« Er schwieg einen Moment. »Es beunruhigt dich, dass ich sie töten will.«
»Nein, ich finde es nur ziemlich dumm.«
»Du versuchst, mir etwas vorzumachen. Es beunruhigt dich doch. Vielleicht hast du, indem du sie zu dir gelockt hast, selbst Gefühle für sie entwickelt.«
»Wenn ich so kalt bin, wie Sie glauben, dann dürfte das ja wohl ziemlicher Blödsinn sein.«
»Aber du bist nicht immer kalt. Julius Precebio hat sich mit widerlicher Ausführlichkeit über deine Leidenschaftlichkeit ausgelassen. Du hast Gefühle. Für Trevor zum Beispiel hast du Gefühle, stimmt’s?«
»Nein.«
»Du lügst. Mir ist nicht entgangen, wie er dich angesehen hat.« Dann fügte er mit sanfter Stimme hinzu: »Und ich habe dich einmal mit Eve Duncan auf der Veranda beobachtet. Da warst du sehr gefühlvoll.«
Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. »Ich hab nur so getan.«
»Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht. In deiner Stimme schwingt etwas mit …«, flüsterte er boshaft. »Das ist zu vielversprechend, um es nicht zu erkunden. Soll ich dir sagen, was ich mit Eve Duncan vorhabe?«
»Nein.«
»Sie arbeitet hart daran, Mordopfern ihr Gesicht zurückzugeben, nicht wahr? Ich werde Eves Gesicht zerstören.
Ich habe mittlerweile viel Übung darin, dir dein verfluchtes Gesicht abzuziehen. Manche Frauen waren bis zum Ende bei Bewusstsein. Bei Eve Duncan werde ich ganz langsam vorgehen, um dafür zu sorgen, dass sie all die Qualen erleidet, die sie verdient hat.«
Jane gab sich alle Mühe, mit fester Stimme zu antworten. »Sie sind wirklich ein Monster.«
»O nein, ich bin das Schwert der Gerechtigkeit. Du bist das Monster. Du hast meinem Vater den Verstand geraubt, bis er nur noch Verachtung für mich übrig hatte, du hast Duncan und die anderen hierher gelockt, nachdem Sontag dein Skelett gefunden hatte. Du hast von Anfang an gewusst, dass ich sie töten würde, wenn sie sich mir in den Weg stellten.«
»Es war nicht die Rede davon, dass Sie sie töten wollen, wenn sie sich Ihnen in den Weg stellen. Sie sagten, Sie würden sie auf jeden Fall umbringen.«
»Mit deiner Entscheidung, sie zu benutzen, hast du automatisch ihr Todesurteil gefällt.« Er lachte in sich hinein.
»Und jetzt, wo ich weiß, dass ich dich damit treffen kann, werde ich es tun, solange du noch am Leben bist. Das wird mir eine zusätzliche Genugtuung sein.«
»Haben Sie nicht das Gefühl, dass Sie Ihr Ziel aus den Augen verlieren? Ich dachte, Sie hätten es auf mich abgesehen.«
»Ich könnte mein Ziel gar nicht besser im Auge haben. Es war mir ein Vergnügen, mit dir zu plaudern. Das werden wir bald wiederholen. Auf Wiederhören, Cira.« Er legte auf.
Großer Gott, sie zitterte am ganzen Leib.
Sie hielt sich an einem gusseisernen Pfosten der Gartenlaube fest. Entsetzen. Wahnsinn. Tod.
Panische Angst.
Ihr Herz raste.
Eve. Joe. Trevor.
Um Gottes willen, Eve …
»Jane?«
Als sie sich umdrehte, sah sie Trevor vom Haus aus auf sie zukommen.
»Was ist los?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Was ist los, verdammt?« Er packte sie an den Schultern. »Ich habe gerade einen Blick aus dem Fenster geworfen und gesehen, wie Sie sich an dem Zaun festgehalten haben, als würden Sie gleich umfallen.«
»Anruf«, murmelte sie benommen. »Mein Gott, Eve.«
»Hat Eve Sie angerufen?«
»Aldo.«
Er erstarrte. »Wie bitte?«
»Er hatte angekündigt, dass er mich anrufen würde. Wir haben doch damit gerechnet. Aber ich …« Sie versuchte, sich von ihm loszureißen. »Lassen Sie mich.«
»Sobald Sie mir erzählt haben, was passiert ist.«
»Aldo.«
»Was hat er gesagt?«
»Zu viel.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Der Typ ist wirklich vollkommen geisteskrank. Und ich bin noch schlimmer. Ich hab’s verbockt. Ich wollte ihn reinlegen, aber dann ist mir alles entglitten. Ich habe zugelassen, dass er … Ich hab’s vermasselt. Ich hatte plötzlich so schreckliche Angst, und er hat es gemerkt.« Sie ballte die Hände zu Fäusten, doch sie hörte nicht auf zu zittern. »Er hat es gemerkt, und jetzt wird er es tun. Aber das kann ich nicht zulassen. Es ist meine Schuld.
Ich werde ihn nicht in ihre Nähe lassen, nicht –«
»Jane, hören Sie auf. Oder muss ich Ihnen erst eine Ohrfeige verpassen?«
Sie blickte entsetzt zu ihm auf. »Wagen Sie es nicht, sonst trete ich Ihnen so fest in die Eier, dass Sie demnächst im Knabenchor singen können.«
»Okay, Sie beruhigen sich ja schon wieder.« Er lockerte seinen Griff. »Kommen Sie, setzen Sie sich auf die Bank und atmen Sie erst mal tief durch.«
Ihr Atem hatte sich schon wieder beruhigt, aber sie zitterte immer noch. Sie setzte sich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich beruhige mich überhaupt nicht. Ich habe Angst, und mir ist übel, und ich will allein sein. Gehen Sie weg.«
»Den Teufel werd ich tun. Ich werde hier bleiben, bis Sie mit mir reden.«
Also gut, sollte er bleiben. Es spielte keine Rolle. Am besten, sie gab ihm, was er wollte. Sie holte tief Luft. »Er wird sie töten.
Egal, ob er mich zuerst umbringt oder nicht. Er wird sie in jedem Fall töten.«
»Eve?«
»Eve und Joe und Sie. Aber er hat sich daran ergötzt, mir zu schildern, auf welche Weise er Eve töten wird.«
Ihre Nägel gruben sich in ihre Handflächen. »Das werde ich nicht zulassen. Ich werde sie beschützen.«
»Jane, Eve wusste, dass sie sich in Gefahr begeben würde, als sie sich entschieden hat, hierher zu kommen. Und Sie wussten das auch.«
»Aber ich wusste nicht, dass er versuchen würde, sie zu töten.
Ich dachte, er hätte es nur auf mich abgesehen. Alle anderen Frauen, die er ermordet hat, sahen mir ähnlich. Woher sollte ich wissen, dass er jeden töten will, der mir nahe steht? Selbst Sie will er umbringen.«
»Ich fühle mich geschmeichelt, dass er glaubt, das würde Ihnen etwas ausmachen, aber er hatte bereits seine Gründe, mir nach dem Leben zu trachten, bevor Sie auf den Plan getreten sind.«
»Aber er hatte keinen Grund, Eve und Joe an den Kragen zu wollen.«
»Aldos Anruf hat eigentlich nichts geändert, Jane. Er hat ein paar Drohungen ausgesprochen und versucht, Sie in Panik zu versetzen.«
»Das ist ihm auch gelungen.« Aber ihre Panik ließ allmählich nach, und sie konnte wieder klarer denken. »Und er hat es genossen. Er hat mich kalt erwischt und mich spüren lassen, wie sehr er mich treffen kann.«
»Also gut, aber Sie haben es nicht komplett vermasselt, stimmt’s? Sie haben ihn zwar nicht reingelegt, aber er wird wieder anrufen, nicht wahr?«
»Das hat er jedenfalls gesagt.« Grimmig fügte sie hinzu: »Es hat ihm so viel Spaß gemacht, dass er wahrscheinlich nicht allzu lange damit warten wird.«
»Was Ihnen zeigt, dass dieser Anruf eigentlich nichts geändert hat.«
»Sie irren sich. Mir ist erst jetzt klar geworden, in welche Gefahr ich Eve und Joe gebracht habe. Und ich mache die Situation noch schlimmer für sie, indem ich Aldo wissen lasse, wie viel die beiden mir bedeuten.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Und das ändert alles. Wir müssen Eve und Joe beschützen.«
»Wir werden unser Bestes tun.«
»Das reicht nicht.« Sie stand auf. »Sie hatten Recht, als Sie mich wie ein dummes Schulmädchen behandelt haben. Ich hätte in der Lage sein müssen, ihn zu täuschen, ihn in eine andere Richtung zu lenken. Aber das ist mir nicht gelungen. Ich hatte solche Angst, dass ich nicht schnell genug denken konnte. Ich werde nicht tatenlos abwarten, bis er sich Eve schnappt.«
»Eve wird nicht bei uns im Tunnel sein, und hier oben in der Villa sind genug Leute, die sie beschützen.«
Sie funkelte ihn wütend an. »Und was ist, wenn er mich tötet?
Können Sie garantieren, dass er nicht an den Wachen vorbeikommt und sie sich schnappt? Er wird Eve nichts antun?
Er wird nicht mal in ihre Nähe gelangen?«, fauchte sie. »Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie viel sie mir bedeutet?«
»Ich glaube schon«, erwiderte er leise.
»Dann müssten Sie wissen, dass ich dieses Stück Abschaum niemals an sie herankommen lassen würde. Wenn Sie also Aldo haben wollen, dann müssen Sie mir etwas versprechen. Egal, was passiert, Sie werden dafür sorgen, dass Eve und Joe nichts zustößt. Es ist mir egal, ob Aldo davonkommt. Es ist mir egal, ob Sie glauben, dass ich mich in Gefahr befinde. Den beiden darf kein Haar gekrümmt werden.«
»Es ist schwer, so etwas zu versprechen, aber ich werde mein Bestes tun.«
» Versprechen Sie es.«
»Ich verspreche es.« Er lächelte gequält. »Eigentlich sollte ich froh sein, dass ich Ihnen nicht so viel bedeute und Sie nicht dasselbe Versprechen bezüglich meiner eigenen Sicherheit von mir verlangen.«
»Sie können auf sich selbst aufpassen. Sie sind nicht wie Eve und Joe in diese Sache hineingezogen worden. Außerdem geht es Ihnen doch sowieso nur um Aldo.«
»Selbstverständlich. Was sonst? Es geht nur um Aldo.«
»Was ist los mit ihr?«, wollte Bartlett wissen, als Trevor ins Haus zurückkam. »Die hat ja ein Gesicht gemacht, als wäre sie Godzilla begegnet.«
»Nahe dran. Aldo hat sie angerufen.«
Bartletts Augen weiteten sich. »Sieh mal einer an.«
Trevor nickte. »Und er hat ihr einen gehörigen Schrecken eingejagt.«
»Erstaunlich«, bemerkte Bartlett. »Jane lässt sich nicht so leicht einen Schrecken einjagen.«
»Wenn es um Eve Duncan und Joe Quinn geht, schon.
Offenbar hat Aldo sehr konkrete und scheußliche Drohungen ausgesprochen.«
»Verstehe.« Bartlett nickte ernst. »Ja, ich kann mir vorstellen, dass sie das aus der Fassung bringt. Den meisten Menschen gegenüber ist sie sehr reserviert, aber Eve und Joe sind ihr Ein und Alles.«
»Sie hat mir das Versprechen abgerungen, für die Sicherheit der beiden zu sorgen. Wie zum Teufel soll ich das machen in einer solchen Situation?«
»Ich bin davon überzeugt, dass du eine Lösung finden wirst.
Seit wir uns kennen, schaffst du es immer wieder, Situationen so hinzubiegen, dass sie dir zum Vorteil gereichen. Das passiert bei dir ganz von allein.« Er lächelte. »Ich finde es ziemlich anstrengend, das zu beobachten, da ich deinen Gedankengängen nicht immer folgen kann. Zum Beispiel habe ich festgestellt, dass du mich bei der Planung dieser ganzen Operation außen vor gelassen hast. Das empfinde ich als kränkend.« Dann fügte er leise hinzu: »Ich werde dir nicht im Weg stehen, aber ich bin es leid, die Rolle des Zuschauers zu spielen. Ich möchte mich nützlich machen.«
»Ich brauche dich, um Eve zu beschützen.«
»Quinn hat Sicherheitsleute angeheuert, die dafür besser qualifiziert sind als ich.«
»Jane kann gar nicht genug Leute zu Eves Schutz im Haus haben.«
»Ich komme mit dir.«
»Bartlett, es fehlt mir noch, dass du jetzt –« Er brach ab und zuckte die Achseln. »Meinetwegen. Warum sollte ich nicht auch noch deinen Hals riskieren? Wo ich schon alle anderen Beteiligten in Lebensgefahr bringe.«
»Meine Güte, du wirst doch nicht etwa Schuldgefühle entwickeln? Darf ich dich daran erinnern, dass ich ein erwachsener Mann bin und frei entscheiden kann? Außerdem hast du mir erzählt, dass es Janes eigene Idee war, sich als Lockvogel zu betätigen.«
»Aber ich habe ihr ermöglicht, ihren Plan zu verwirklichen.«
Trevor wandte sich zum Gehen. »Hol’s der Teufel. Warum sollte ein Scheißkerl wie ich sich so viele Gedanken machen?
Tu doch, was du willst.«
Das rote Samttuch lag in der Dunkelheit auf dem felsigen Boden.
Es wartete auf sie.
Der Lichtstrahl aus Aldos Taschenlampe huschte über die glänzenden Marmorsockel, die Fotolampen und die Batterie, und dann in die Tunnel, die vom Vomitorium wegführten. Er war versucht, die Tunnel auszukundschaften, aber man konnte nie wissen, welche Fallen das Miststück für ihn aufgestellt hatte.
Schlimm genug, dass sie diesen Tunnel entdeckt hatte, der ihm gänzlich unbekannt war. Er war völlig verblüfft gewesen, als der Trauerzug plötzlich in einen ihm unbekannten Tunnel abgebogen war, und dann war er ihnen gefolgt bis zu der Leiter, die in die Villa führte. Erst später, nachdem er mit Jane MacGuire telefoniert hatte, war er wieder hier heruntergekommen, um sich genauer umzusehen.
Und dann hatte er dieses Tuch gefunden. Ein Tuch so rot wie Blut.
Es wartete auf den Sarg. Wartete auf sie.
Ich habe dich, du Miststück.
Hast du geglaubt, du könntest in dieser Stadt einen Ort finden, an dem du vor mir sicher bist? Er konnte in Erfahrung bringen, was er brauchte, ohne in eine ihrer Fallen zu tappen.
Als er sich bückte und das Tuch mit den Fingerspitzen berührte, lief ihm ein Schauer über den Rücken.
Weich. Glatt. Kalt.
Wie das Fleisch einer Toten.
»Du bist ja fast fertig.«
Eve schaute zur Tür des Arbeitszimmers hinüber, wo Joe stand. Sie nickte. »Beinahe. Ich habe soeben mit der endgültigen Modellierung begonnen.«
»Und du kannst es kaum erwarten, das Endergebnis zu sehen.
Du arbeitest wie besessen.« Er kam ins Zimmer und blieb vor dem Sockel stehen. »Warum? Wir bestimmen das Tempo. Aldo wird nichts unternehmen, bevor wir aktiv werden.«
»Ich möchte einfach fertig werden. Es ist ein komisches Gefühl, diesem Schädel Janes Gesichtszüge zu geben. Es kommt mir beinahe vor wie Verrat.« Sie glättete den Ton an den Schläfen. »Zum Glück werde ich das Giulia gegenüber wieder gutmachen können.«
»Wenn sie wüsste, was du da tust, würde sie sich vielleicht freuen, dass sie uns helfen kann, Jane das Leben zu retten«, sagte Joe und lächelte Eve an. »Aber ich hätte mir denken können, dass du eine Beziehung zu ihr entwickeln würdest.«
»Sie ist interessant. Die Leute vom Museum haben gesagt, sie stammt aus armen Verhältnissen. Ich wüsste gern, was sie für ein Leben geführt hat.« Sie legte den Kopf schief. »Und wie sie wirklich ausgesehen hat …«
»Du wirst es bald wissen.«
Sie nickte. »Darauf kannst du dich verlassen. Sobald das hier vorbei ist. Das ist alles so seltsam …« Sie strich sich die Haare aus der Stirn. »Erst die Rekonstruktion von Caroline Halliburton und jetzt diese hier. Beide haben Janes Gesichtszüge. Jane hat davon gesprochen, dass die Dinge einem wiederkehrenden Kreislauf unterworfen sind.«
»Du hast Ton im Gesicht.« Er nahm sein Taschentuch und säuberte vorsichtig ihre Stirn. »Wie oft hab ich das in all den Jahren schon gemacht?«
»Bestimmt oft genug, um ins Guinnessbuch der Rekorde aufgenommen zu werden. Vor allem, da es nicht viele Menschen auf der Welt gibt, die denselben Beruf ausüben wie ich.« Sie lächelte. »Und du machst das verdammt gut.«
»Es macht mir Spaß.« Zärtlich berührte er ihre Oberlippe mit einem Finger. »Immer. Mich um dich zu kümmern, erfüllt mich mit … es tut mir gut.«
»Ich weiß.« Sie wurde ernst. »Und deswegen versuchst du, mich von diesem Tunnel fern zu halten.«
»Ja, ich halte dich davon fern.« Er hauchte ihr einen Kuss auf die Nase. »Du hast deinen Teil erfüllt. Jetzt lass mich meinen erfüllen.«
»Ich habe dir nicht widersprochen, als du mir die Einzelheiten erklärt hast, weil ich wusste, dass es nichts nützen würde.« Sie schlang die Arme um seine Hüften und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. »Aber wenn du glaubst, ich lasse dich allein da runtergehen, musst du verrückt sein.«
»Dann bin ich eben verrückt.«
Sie schaute ihn an. »Nein«, sagte sie bestimmt. »Ich werde alles tun, was du verlangst, um mich nicht in Gefahr zu bringen, aber ich werde dich begleiten. Besorg mir eine Pistole. Du weißt, dass ich damit umgehen kann. Du hast es mir selbst beigebracht.«
Er schüttelte den Kopf.
»Du wirst in diese Hölle hinuntersteigen. Und Jane wird auch dort sein. Glaubst du im Ernst, du kannst mich davon abhalten, mit euch zu kommen? Entweder du nimmst mich mit, oder ich gehe allein.«
Er seufzte. »Ich nehme dich mit.« Er presste die Lippen zusammen. »Du kommst mit mir in den Felsspalt und verhältst dich mucksmäuschenstill. Du rührst dich nicht, egal, was passiert. Du lässt mich das machen. Verstanden?«
Sie antwortete nicht.
»Wenn nicht, werde ich dich bewusstlos schlagen, damit du dich nicht in Lebensgefahr bringst.«
»Das würde ich dir nie verzeihen.«
»Das Risiko würde ich eingehen. Die Alternative wäre unerträglich.« Er lächelte verwegen. »Du hast mir schon viel schlimmere Dinge verziehen. Na ja, vielleicht nicht ganz, aber du hast mich bei dir bleiben lassen. Und nach allem, was ich unternommen habe, um mir ein Zuhause zu schaffen, werde ich nicht zulassen, dass ich dich an diesen Scheißkerl verliere.«
»Du solltest dir lieber um Jane Sorgen machen.«
»Nein, ich sorge mich um dich. Du bist mein Ein und Alles.
Danach kommt Jane und dann der Rest der Welt.«
Er küsste sie leidenschaftlich. »Und das wird sich nie ändern.
Das müsstest du inzwischen wissen.«
Ja, sie wusste es, und dieses Wissen hatte sie all die Jahre über aufrecht gehalten und getragen. Gott, sie liebte ihn. Sie schmiegte sich noch fester an ihn. »Du auch, Joe. Du bist auch mein Ein und Alles.«
Er schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Eines Tages vielleicht.
Ich warte noch auf meine Chance.« Er rieb sich langsam, genussvoll an ihr. »Aber bis dahin … Wir haben uns noch nie an einer antiken Stätte geliebt. Meinst du nicht, das sollten wir ändern?« Er warf einen Blick auf Giulias Schädel. »Da die erste Rekonstruktion dieser Dame keine Überraschungen bereithält, wird sie das bestimmt gutheißen.«
»Ich auch.« Sie begann, sein Hemd aufzuknöpfen.
»Außerdem will ich es dir beweisen. Joe, mein Ein und Alles
…«
18
20. Oktober 10:40 Uhr
»Er hat das Vomitorium entdeckt.« Trevor stürmte ins Wohnzimmer und schob das Band in den Videorekorder. »Und zwar um vier Uhr siebzehn heute Morgen. Ich liebe diese Kameras mit allem Schnickschnack.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Jane.
»Absolut.« Er drückte den Startknopf. »Es ist verdammt dunkel, aber die Kamera ist für schwache Lichtverhältnisse ausgelegt. Man kann ihn erkennen.«
Ja, sie konnte ihn erkennen, dachte Jane benommen, als sie sah, wie Aldo sich bückte und das rote Samttuch berührte.
Großer Gott, dieser Gesichtsausdruck …
»Böse«, flüsterte sie. »Wie kann ein Mensch so abgrundtief böse sein?«
Der Fernsehbildschirm wurde schwarz. »Das reicht«, sagte Trevor knapp. »Ich wollte Ihnen nur zeigen, dass wir diesen ganzen Aufwand nicht umsonst betreiben. Er hat den Köder gefunden, und jetzt müssen wir ihn dazu bringen, dass er anbeißt.«
»Nein, dafür muss ich sorgen.« Sie schluckte schwer. »Es dürfte eigentlich gar nicht so schwierig sein. Er will Cira und mich so sehr, dass ihm schon die Spucke im Mund zusammenläuft. Er ist … gierig. Als er sich nach dem Tuch bückte, hat er ausgesehen wie ein Kannibale.«
»Dann werden wir ihm gehörige Bauchschmerzen bereiten.«
Er ging zur Tür. »Ich zeige das Eve und Joe. Sie werden sich freuen, dass wir ihn im Visier haben.«
»Ist das die einzige Aufnahme, die wir von ihm haben?«
»Ja, die Kamera hat ihn nur einmal im Vomitorium erwischt.
Aber Sie können darauf wetten, dass er anschließend die Tunnel erkundet hat.«
Nachdem Trevor gegangen war, starrte sie noch eine ganze Weile auf den schwarzen Bildschirm. Sie sollte nicht so schockiert sein über Aldos Anblick. Sie wusste genau, was er für ein Monster war, sie brauchte diese Aufnahme nicht, um daran erinnert zu werden.
Aber dieser Gesichtsausdruck …
Um halb drei am nächsten Nachmittag saß Jane im Wohnzimmer, als ihr Handy klingelte.
Sie zuckte zusammen.
»Gehen Sie ran«, sagte Trevor. »Sie wissen, was Sie zu sagen haben.«
Ja, sie wusste es. Sie war es in Gedanken oft genug durchgegangen, seit sie sich beim letzten Mal so dumm angestellt hatte. Sie drückte die Sprechtaste. »Aldo?«
»Ah, du hast auf meinen Anruf gewartet? Sehr gut. So soll es sein. Ich warte schon seit Jahren auf dich.«
»Sie können bis in alle Ewigkeit warten, es wird Ihnen nichts nützen. Ich bin fast am Ziel. Noch zwei Tage, dann können Sie alle Frauen auf der Welt töten, die mir ähnlich sehen, und ich werde dennoch überleben. Mein Gesicht wird überall sein.«
Schweigen. »Zwei Tage? Das kann nicht stimmen. Vorgestern hast du mir noch gesagt, dass Eve gerade erst mit der Rekonstruktion angefangen hat und dass du –«
»Zwei Tage sind viel Zeit für Eve, wenn sie motiviert ist. Und ich habe sie motiviert, verlassen Sie sich drauf. Ich wollte Sie glauben lassen, dass Sie alle Zeit der Welt hätten, damit wir in Ruhe unsere Pläne verwirklichen konnten. Trevor hat Journalisten von allen großen Zeitungen der Welt eingeladen, bei der Enthüllung der fertigen Rekonstruktion dabei zu sein.
Eve ist im Begriff, ein Meisterwerk zu erschaffen. Das Gesicht der Rekonstruktion wirkt jung und lebendig, und wenn ich es anschaue, dann sehe ich mich selbst.«
»Dann siehst du den Teufel.«
»Nein, Sie sehen den Teufel. Ich sehe blühendes Leben und die Kraft, mich von Feinden wie Ihnen zu befreien.«
»Du wirst dich niemals von mir befreien. Ich bin deine Nemesis.«
»Sie sind ein armer, perverser Irrer, der sich hoffnungslos überschätzt.«
»Glaub ja nicht, dass ich mich von dir noch einmal provozieren lasse.« Er schwieg einen Moment. »Wo wird der Fototermin stattfinden?«
Nach kurzem Zögern antwortete sie: »Hier in der Bibliothek der Villa natürlich. Übermorgen Abend um einundzwanzig Uhr.« Dann fügte sie spöttisch hinzu: »Sie sind eingeladen.
Möchten Sie nicht miterleben, welchen Riesenwirbel die Rekonstruktion auslöst?«
»Du lügst. Die Enthüllung wird nicht in der Villa stattfinden.«
»Ach nein? Wo denn sonst?«
»Hast du wirklich geglaubt, ich würde all die Ausrüstung im Vomitorium nicht finden?«
»Oh, Sie haben spioniert. Also gut, Sie haben Recht. Wir haben uns gedacht, dass der Fototermin unten in den Tunneln viel effektvoller sein würde. Das würde Ihnen doch bestimmt entgegenkommen, falls Sie sich entschließen, an dem Ereignis teilzunehmen.«
»Glaubst du, ich weiß nicht, dass ihr alle da unten auf mich warten werdet?«
»Wir alle? Ich brauche keine Hilfe, um mich von Abschaum wie Ihnen zu befreien. Aber ich werde auf Sie warten. Ich werde Sie zerstören, bevor Sie mich zerstören.«
»Ich werde nicht kommen. Ich bin kein Narr.«
»Aber Sie sind ein Feigling.« Sie ließ einen Augenblick verstreichen. »Also gut, dann kommen Sie eben nicht zu der Pressekonferenz. Ich erwarte Sie morgen Abend um neun im Vomitorium. Ich werde Trevor bitten, den Sarg mit der Rekonstruktion in den Tunnel zu schaffen und dann zu verschwinden. Sie werden uns beide bekommen, wenn Sie Manns genug sind, um mich zu töten und das Skelett zu vernichten.«
»Morgen Abend.«
»Na, klingt das nicht verlockend? Kein Skelett für die Pressekonferenz übermorgen, und gleichzeitig können Sie sich mich vom Hals schaffen.«
»Das ist ein Trick.«
»Wenn es einer ist, sind Sie clever genug, um ihn gegen mich zu wenden? Ich glaube nicht. Sie werden nicht kommen. Sie haben zu viel Angst. Sie wissen genau, dass ich Sie Ihr Leben lang schon immer besiegt habe. Ich habe Ihnen Ihren Vater geraubt. Ich habe Ihnen Ihre Kindheit geraubt, und jetzt werde ich Ihnen beweisen, was für ein erbärmlicher Versager Sie –«
»Halt den Mund.«
»Warum sollte ich? Sie sind ein Nichts. Ein Schwächling. Ich brauche niemandes Hilfe, um Sie zu vernichten.«
»Ha, du bist ja mächtig stolz«, höhnte er. »Du bist auf alles vorbereitet. Hast du immer noch die Zweiunddreißiger, die Quinn dir gegeben hat?«
Sie schwieg verblüfft.
»Siehst du? Ich weiß alles über dich. Ich weiß, dass du mit Schusswaffen umgehen kannst und dass du mit sechzehn eine Jagdlizenz erworben hast. Das Internet ist eine phantastische Informationsquelle. Ich weiß sogar, auf welchem Schießplatz Joe Quinn dir das Schießen beigebracht hat.«
»Wenn Sie so sehr davon überzeugt sind, dass das Glück auf Ihrer Seite ist, dürfte Ihnen das alles schnurz sein. Glauben Sie nicht, dass Sie schlau genug sind, um rauszufinden, ob ich da unten allein bin oder nicht?«
»Natürlich kriege ich das raus.«
»Hat das gesessen? Sehr gut. Das geschieht Ihnen recht.
Armer kleiner Aldo, er fürchtet sich vor einer Siebzehnjährigen.«
»Ich fürchte mich nicht.«
»Geben Sie’s doch zu. Das ist eine Nummer zu groß für Sie.
Ich werde morgen Abend dort sein. Kommen Sie oder lassen Sie’s bleiben. Mir ist es egal. Ich werde eine andere Gelegenheit finden, Sie zu töten. Aber das ist Ihre letzte Chance. Nach der Pressekonferenz wird es keine Rolle mehr spielen, ob Sie die Rekonstruktion zerstören. Ich werde ewig leben.«
»Nein! Das wird nie passieren, und ich lasse mich nicht von dir provozieren.«
»Dann kommen Sie eben nicht. Lesen Sie in der Zeitung über das Ereignis.« Sie schaltete ihr Handy ab, holte tief Luft und schaute Trevor an. »Wie war ich?«
»Umwerfend«, sagte Trevor.
Sie schüttelte den Kopf. »Er war extrem argwöhnisch.«
Sie überlegte. »Ich muss immer wieder an die Videoaufnahme von ihm im Vomitorium denken. Er wirkte so triumphierend in dem Tunnel, als würde er sich dort wie zu Hause fühlen.« Sie schüttelte sich. »Ich habe da unten nur Atemnot und Beklemmungen bekommen. Außerdem haben Sie doch gesagt, dass die Tunnel ein regelrechtes Labyrinth bilden.«
»Aber Sie brauchen sich um diese Tunnel gar nicht zu kümmern. Und denken Sie daran, Aldo sitzt im selben Boot wie Sie. In dem Tunnelsystem unter der Via Spagnola kennt er sich nicht aus. Selbst wenn er sich ein bisschen umgesehen hat, würde er Monate brauchen, um sich ohne Karte zurechtzufinden.«
»Glauben Sie, er wird kommen?«
»Wenn er sich etwas davon verspricht, wenn er eine Möglichkeit sieht, Sie zu töten und anschließend zu entkommen, dann ja.«
»Es wird nicht leicht werden. Er wird sehr misstrauisch sein, denn er weiß, dass Sie und Joe versuchen werden, ihn in eine Falle zu locken.«
»Aber Sie haben ihn definitiv herausgefordert, und er ist verrückt genug, es zu versuchen. Darauf zählen Sie doch auch, oder?«
Wahnsinn und diese kranke Mordlust. »Ja.«
»Er wird noch einmal da runtergehen und die Umgebung des Vomitoriums auskundschaften, aber er wird nur das finden, was wir dort für ihn bereithalten. Unser großer Vorteil ist die Versuchung, die Sie für ihn darstellen, und seine panische Angst davor, dass Cira zu einem Markenartikel werden könnte. Wenn es irgendetwas gibt, das ihn aus seiner Deckung locken kann, dann das.«
Sie versuchte, sich das Gespräch mit Aldo Wort für Wort ins Gedächtnis zu rufen. »Ich muss verwundbar wirken. Er wird sich nicht blicken lassen, wenn ich bis an die Zähne bewaffnet bin.«
Trevors Lippen spannten sich. »Sie gehen auf keinen Fall ohne Waffe da runter.«
»Halten Sie mich für verrückt? Aber keine Jacke mit Taschen, in der ich eine Waffe verbergen könnte. Ich muss verwundbar wirken«, wiederholte sie. »Sie werden die Pistole irgendwo verstecken müssen, wo ich sie leicht erreichen kann.«
Er überlegte. »Unter dem roten Tuch. Und zwar unter der unteren rechten Ecke vom Tunnel aus gesehen, durch den sie das Vomitorium betreten werden. Und wir werden noch eine zweite im Sarg deponieren. Für alle Fälle.«
Für den Fall, dass etwas schief ging. Über diese Möglichkeit wollte sie lieber gar nicht nachdenken. »Morgen Abend.« Sie bemühte sich um eine feste Stimme. »Nach all dem Warten kann ich kaum glauben, dass es endlich –«
»Hören Sie auf, sich das Hirn zu zermartern«, unterbrach er sie schroff. »Wenn Sie aussteigen wollen, jetzt haben Sie noch Gelegenheit dazu. Ich habe mein Bestes getan, und trotzdem gefällt mir die Sache nicht. Sie werden viel Glück brauchen, um da lebend rauszukommen.«
»Es braucht Ihnen nicht zu gefallen. Sie brauchen nur Joe und Eve zu beschützen.« Sie überlegte. »Sie versuchen immer wieder, mir das auszureden, als wären Sie … hin- und hergerissen. Vielleicht war es nicht nur das Geld. Vielleicht hat dieser Pietro Ihnen wirklich etwas bedeutet.«
»Wie großzügig von Ihnen, mir menschliche Gefühle zu unterstellen.«
»Woher soll ich wissen, was Sie für Gefühle haben, wenn Sie sie nicht zeigen? War es das Gold, oder war es Pietro Tatligno?«
»Das Gold natürlich.«
»Reden Sie mit mir, verdammt.«
»Was wollen Sie von mir hören?« Seine Mundwinkel zuckten.
»Dass Pietro mir in Kolumbien das Leben gerettet hat? Dass er der einzige Mensch war, dem ich je in meinem Leben vertraut habe? Dass er mir näher stand als ein Bruder?«
»Stimmt das?«, flüsterte sie.
»Nein, alles erstunken und erlogen. Es ging mir nur um das Gold.« Er stand auf und ging zur Tür. »Kommen Sie, wir sagen Eve und Quinn, dass die Sache läuft.«
21. Oktober 19:37 Uhr
Es wurde dunkel.
»Es ist so weit«, sagte Trevor ruhig von der Tür aus. »Sie hatten mich gebeten, Ihnen Bescheid zu geben, wenn Quinn in den Tunnel geht. Er ist gerade auf dem Weg in die Küche.«
Jane wandte sich vom Wohnzimmerfenster ab und ging in die Diele. »Haben Sie den Felsspalt noch mal überprüft?«
»Ja, gerade eben.« Er lächelte. »Sieht man das nicht? Ich sehe doch aus, als wäre ich durch ein Abwasserrohr gekrochen. Er ist sicher. Zuerst habe ich mit Bartlett zusammen den Sarg runtergetragen und aufgestellt, dann habe ich den Felsspalt überprüft. Und ich habe Bartlett im Tunnel gelassen, der dort Wache steht, bis Quinn seinen Posten auf dem Felsvorsprung bezogen hat.«
Sie blieb stehen. »Bartlett?«
»Keine Sorge. Ich habe ihm eine Schrotflinte in die Hand gedrückt und ihm befohlen, auf jeden außer mir und Quinn zu schießen. Um mit einer Schrotflinte umzugehen, braucht man kein geübter Schütze zu sein. Wenn wir alle unten sind, wird Bartlett sich an der Leiter postieren und den Eingang zur Villa bewachen. Es ist besser, wenn jemand außerhalb des Tunnelsystems aufpasst, um Alarm zu schlagen, falls irgendetwas schief geht.«
Falls etwas schief geht. Die Vorstellung versetzte sie in Panik.
»Ich dachte, Bartlett würde hier oben bei Eve bleiben.«
»Das dachte ich auch. Aber er hat es sich anders überlegt. Ich habe stattdessen vier Sicherheitsleute zu ihrem Schutz abgestellt. Der Himmel weiß, welche zusätzlichen Schutzmaßnahmen Quinn getroffen hat.«
»Sie haben mir ein Versprechen gegeben.«
»Und ich werde es halten. Aldo wird nicht an mir vorbeikommen, um über die Leiter in die Villa zu gelangen.«
Er bugsierte sie in Richtung Küche. »Wenn Sie Quinn sehen wollen, bevor er in den Tunnel hinuntersteigt, müssen Sie sich beeilen. Er war eben schon dabei, die Falltür zu öffnen.«
»Wir geben Joe fünfzehn Minuten, und dann folgen wir ihm?«
Trevor nickte. »Das dürfte ihm genügend Zeit verschaffen, um sich auf dem Felsvorsprung zu postieren. Ich werde da sein, um ihm Feuerschutz zu geben, falls –«
» Eve! « Jane rannte zu der Falltür hinüber. »Was machst du da?«
Eve war dabei, die Leiter hinunterzuklettern. »Was glaubst du denn, was ich hier mache?« Sie nahm die nächste Sprosse.
»Wirklich, Jane, was hast du denn erwartet? Ich lasse Joe nicht allein da hinuntergehen.«
»Du solltest doch …« Sie fuhr zu Joe herum. »Sag ihr, sie soll
… Halt sie zurück!«
»Glaubst du etwa, das hätte ich nicht versucht? Nichts zu machen. Du kennst sie ja. Wir können nur auf Schadensbegrenzung hoffen.«
»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«, fragte Jane verzweifelt. »Warum hast du nicht –«
»Weil ich wusste, dass du dich aufregen würdest.«
Eve verzog das Gesicht. »Und offenbar habe ich richtig gelegen. Aber du brauchst deswegen nicht tagelang zu schmollen. Komm, Joe, machen wir uns auf den Weg.«
»Tu’s nicht, Eve«, flehte Jane. »Bitte.«
Eve schüttelte den Kopf. »Wir sind eine Familie, Jane. Wir packen unsere Probleme gemeinsam an.« Sie kletterte in den Tunnel hinunter.
»Nein!«
Joe begann den Abstieg. »Du kannst es ihr nicht ausreden. Ich werde schon auf sie aufpassen, Jane.«
»Pass auf dich selbst auf, Joe«, flüsterte sie. Eine böse Vorahnung überkam sie. Es hatte kaum begonnen, und schon lief alles aus dem Ruder.
Joe war in der Dunkelheit des Tunnels verschwunden.
»Davon habe ich nichts gewusst«, sagte Trevor. »Gott ist mein Zeuge. Ich dachte, Eve würde hier oben in der Villa bleiben.«
»Das weiß ich«, erwiderte Jane mit zitternder Stimme. »Man könnte fast an Schicksal glauben, nicht wahr?« Sie schüttelte den Kopf, um einen klaren Gedanken fassen zu können. »Aber nicht an Aldos Version von Schicksal. Das dürfen wir nicht zulassen.«
»Sie wird bei Quinn und mir sein. Ich werde mein Versprechen halten.«
»Das kann ich Ihnen nur raten.« Am liebsten wäre sie die Leiter hinuntergeklettert und hinter Eve und Joe hergelaufen.
Aber das ging nicht. Sie musste warten, bis sie ihren Posten auf dem Felsvorsprung bezogen hatten.
Fünfzehn Minuten.
21. Oktober 20:02 Uhr
»Ich lasse Sie jetzt allein«, sagte Trevor leise, als er sich auf den Boden kniete, um in den Felsspalt zu kriechen. »Ich klettere zu Eve und Joe hinauf. Das Vomitorium ist gleich da vorn.« Er reichte ihr eine Taschenlampe. »Unter dem roten Tuch liegt eine zweiunddreißiger Smith and Wesson und noch eine im Sarg. Joe sagt, Sie können damit umgehen, aber benutzen Sie sie nur, wenn es unbedingt nötig ist. Wenn Aldo Sie mit einer Pistole in der Hand sieht, sagt er sich womöglich, dass es sicherer ist, Sie von weitem zu erschießen. Die Fackeln im Vomitorium brennen. Aber halten Sie sich lieber im Schatten.«
Sie schluckte. »Wie soll er mich dann sehen?«
»Er wird Sie schon sehen. Machen Sie es ihm nicht zu leicht.«
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Keine Sorge. Das ist keinesfalls meine Absicht. Aber mich im Schatten zu verstecken, wird mir nicht viel nützen. Sie haben gesagt, er würde mich nicht erschießen, und es geht doch darum, ihn in meine Nähe zu locken, damit Joe ihn erwischen kann.«
Trevor fluchte vor sich hin und leuchtete ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht. »Sie haben Angst. Wir können das Ganze immer noch abblasen. Noch ist es nicht zu spät.«
»Nein, wie können es nicht abblasen.« Sie hielt sich eine Hand schützend vor die Augen. »Und natürlich habe ich Angst. Ich bin doch kein Idiot. Los, beeilen Sie sich. Ich will, dass Sie da sind, um Eve und Joe zu beschützen.«
Nach kurzem Zögern kroch er durch die Öffnung.
Er war verschwunden.
Stille.
Dunkelheit.
Allein.
War sie wirklich allein? Oder lauerte Aldo irgendwo in der Dunkelheit hinter ihr?
Nein, Trevor hatte Bartlett außerhalb des Tunnelsystems postiert, um Wache zu halten. Wenn Aldo sich im Tunnel befand, dann vor ihr im Vomitorium. Dann wartete er dort auf sie.
Ihr Herz schlug so heftig, dass sie das Gefühl hatte, es würde durch den ganzen Tunnel dröhnen.
Alles würde gut werden. Joe würde sie warnen, wenn Aldo schon im Vomitorium auf sie wartete. Er würde Aldo entweder erschießen oder, wenn das nicht ging, würde er einen Warnschuss abfeuern.
Sie holte tief Luft und ging los. Einfach geradeaus, hatte Trevor gesagt. Sie setzte einen entschlossenen Blick auf. Die Sache einfach hinter sich bringen.
Gott, wie die Dunkelheit ihr zusetzte.
Hast du dich auch so gefühlt, Cira?
»Mist, Mist, Mist.« Wie ein Mantra stieß Trevor Flüche aus, während er durch den Spalt rannte, die Taschenlampe in der Hand. Sie hatte Angst. Natürlich hatte sie Angst. Sie war noch ein halbes Kind.
Aber Aldo betrachtete sie nicht als Kind. Für ihn war sie ein Dämon. Für ihn war sie dem Tod geweiht. Verfluchter Dreckskerl.
Warum verfluchte er Aldo? Er selbst hatte sie schließlich allein in diesen dunklen Tunnel geschickt.
Eigentlich müsste alles gut gehen. Er hatte getan, was er konnte, hatte alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen.
Nein, es gab noch etwas, das er hätte tun können. Er hätte eine andere Möglichkeit finden können, als Jane den Lockvogel spielen zu lassen. Er hätte Pietro vergessen und sich sagen können, dass sie es verdient hatte, ein langes, glückliches Leben zu – Rot.
Er blieb wie angewurzelt stehen.
Im Lichtkegel seiner Taschenlampe hatte er weiter vorn auf dem Boden vor einem Felsbrocken etwas Rotes aufleuchten sehen. Es war nur ein schwacher Schimmer gewesen, den er beinahe übersehen hatte.
Blut?
Er hob die Taschenlampe und leuchtete in die Dunkelheit hinein.
Nichts.
Langsam ging er auf den Felsbrocken zu. Als er näher kam, sah er eine rote Flüssigkeit auf dem Boden. Er bückte sich und berührte sie mit dem Finger.
Ja, es war Blut.
Er zog seine Pistole und näherte sich vorsichtig dem Felsbrocken. Erst im letzten Augenblick sah er den Mann dahinter liegen.
Blut überall. Blut in seinem Gesicht. Blut auf seinem Hemd.
Seine Kehle war von einem Ohr zum anderen durchgeschnitten.
Quinn?
Großer Gott, es sah aus wie eine Szene aus einem Horrorfilm, dachte Jane.
Fasziniert und entsetzt zugleich betrachtete sie den Sarg, der auf dem roten Tuch stand, und schaute dann zu dem Felsvorsprung hinauf, wo Joe mit seinem Gewehr auf der Lauer lag.
Nein, sie durfte nicht nach oben sehen. Sie konnte nicht wissen, ob Aldo sie beobachtete. Sie richtete ihren Blick wieder auf den Sarg.
Warum ließ Aldo sie da stehen? Warum rührte er sich nicht?
Sie musste den ersten Schritt tun. Stark sein. Mutig sein. Sie trat aus dem Schatten heraus. »Hier bin ich, Aldo.«
Ihr Ton klang herausfordernd. Das hoffte sie zumindest. »Sind Sie da? Haben Sie genug Mut aufgebracht, mir entgegenzutreten?«
Keine Antwort.
»Ich spüre Ihren Blick. Sie Feigling.« Sie machte noch einen Schritt vorwärts. »Genau, wie ich es mir gedacht hatte. Sie haben Angst vor mir. Ihr Vater hatte auch Angst vor mir. Aber er hat mich trotzdem geliebt. Mehr als alles andere auf der Welt.
Viel mehr als Sie. Sie haben ihm überhaupt nichts bedeutet.«
Keine Antwort.
»Nicht, dass mich das wundert. Er wollte einen Sohn, auf den er stolz sein konnte, nicht so einen feigen Versager, wie Sie es sind.« Sie ging auf den Sarg zu. »Also gut, wenn Sie sich nicht zeigen wollen, werde ich einfach mal einen Blick auf die Rekonstruktion werfen, um mich davon zu überzeugen, dass sie beim Transport hierher keinen Schaden genommen hat. Eve hat ihr Meisterwerk ge–«
»Hände weg von dem Sarg. Sie gehört jetzt mir. Und bald wird es sie nicht mehr geben.«
Sie fuhr zu dem Tunnel zu ihrer Rechten herum, aus dem die Stimme gekommen war. Es war nichts als Dunkelheit zu sehen.
»Aldo?«
»Weg von dem Sarg.«
»Warum sollte ich?« Sie befeuchtete sich die Lippen.
»Kommen Sie doch unter Ihrem Felsen hervor und halten Sie mich auf.«
Er lachte. »Unter meinem Felsen hervor? Sehr treffend.
Zufällig habe ich gerade eben ein hässliches Bündel unter einem Felsen deponiert. Na ja, er liegt weniger unter dem Felsen, eher dahinter. Ich musste nehmen, was ich kriegen konnte. Es ist nicht leicht, hier unten lose Felsbrocken zu finden. Die Diebe, die die Tunnel gegraben haben, haben saubere Arbeit geleistet.«
Sie erstarrte. »Er?«
»Es war nicht deine geliebte Eve. Noch nicht. Aber sie kommt schon noch an die Reihe, und zwar ziemlich bald. Mal sehen, vielleicht noch ein paar Minuten …«
Es konnte ein Bluff sein. »Ich glaube Ihnen kein Wort.«
»Dein Pech. Es wird ein schrecklicher Schock für dich sein …«
Großer Gott.
Trevor rannte durch den Felsspalt, der zu dem Vorsprung führte.
Er hatte Jane versprochen, für Eves Sicherheit zu sorgen.
Blut.
Die Kehle von einem Ohr zum anderen aufgeschlitzt.
Schneller.
Die nächste Biegung.
Schneller.
19
»Noch eine Minute«, sagte Aldo. »Ich hoffe, du hast dich von ihr verabschiedet.«
Panik überkam sie. Wahrscheinlich bluffte er nur, aber allein die Vorstellung versetzte sie in Angst und Schrecken. Sie musste ihn zwingen, aus dem Schatten herauszutreten. Sie machte einen Schritt auf den Sarg zu.
»Keine Bewegung.«
Sie machte noch einen Schritt.
»Keinen Schritt weiter. Ich muss nicht warten. Ich kann es jetzt gleich tun.«
Noch eine Minute.
Ich kann es jetzt gleich tun.
Was konnte Aldo tun?
Dann begriff sie.
Großer Gott.
»Eve! Joe!«, schrie sie. »Bringt euch in –«
Die Erde brüllte und bebte, als der Tunnel um sie herum explodierte!
Sie fiel zu Boden.
Herabstürzende Felsbrocken.
Blut auf ihrer Wange.
Dunkelheit.
Bei der Explosion waren drei der Fackeln von den Wänden gefallen.
O Gott, die Felswand und der Vorsprung, hinter dem Joe und Eve sich versteckt hatten, waren nicht mehr da. Nur noch ein Haufen Geröll und Schotter.
Sie musste aufstehen.
Er würde gleich kommen.
Da war er schon. Sie sah einen Schatten, der sich in dem Tunnel bewegte, in dem er gestanden hatte.
Die Pistolen.
Eine unter dem Tuch. Eine im Sarg.
O nein. Tuch und Sarg waren unter einem Berg Felsbrocken begraben. Unmöglich, rechtzeitig an eine der Pistolen zu gelangen.
Sie hörte seine Schritte. »Jetzt sind wir allein, Cira. Ich habe das Dynamit so nah an der Öffnung angebracht, dass sie das nicht überlebt haben können.«
Sie war aufgesprungen und rannte in Richtung Haupttunnel.
Schmerz.
An der Wange. Im Nacken. An der Schulter.
Nicht daran denken. Sie musste in den Haupttunnel gelangen.
Die Leiter erreichen, die in die Villa führte.
Joe. Eve.
Nicht an die beiden denken. Unerträglich.
Trevor. Trevor war auch bei ihnen gewesen …
Tod.
Nicht weinen. Sie musste schneller laufen. Einen Ausweg finden, damit sie diesen Scheißkerl töten konnte.
»Wo ist denn dein Mut geblieben?«, höhnte Aldo. »Lauf, du kleiner Angsthase.«
Gleich würde sie den Felsspalt erreichen, in den Trevor gekrochen war. Von da aus war es nicht mehr weit bis zum Haupttunnel.
Ja, da war die Öffnung. Schneller. Nur noch ein kleines Stück und dann – Ein lautes Grollen dröhnte durch den Tunnel.
Felsbrocken stürzten herab.
Die Erde bebte unter ihren Füßen.
Noch eine Explosion!
»Das dürfte reichen, um den Haupteingang zu verschließen«, sagte Aldo spöttisch. »Hast du etwa geglaubt, ich würde dich in die Villa entkommen lassen? Ich habe von Anfang an damit gerechnet, dass du versuchen würdest, mich in eine Falle zu locken. Aber mich führst du nicht so leicht hinters Licht.«
Er war immer noch ziemlich weit weg. Er ließ sie seine Verachtung spüren, indem er ganz langsam hinter ihr her schlenderte.
Der Felsspalt. Sie ließ sich auf die Knie fallen und kroch hinein. Aldo hatte gesagt, er hätte die Sprengladung ganz in der Nähe des Felsvorsprungs im Vomitorium angebracht. Lieber Gott, mach, dass dieser Spalt nicht eingestürzt ist. Mach, dass ich – Sie konnte sich aufrichten. Sie konnte laufen!
»Und wie willst du da wieder rauskommen?«, höhnte Aldo, der ihr in den Spalt gefolgt war. »Das andere Ende ist durch Felsbrocken blockiert – und durch Leichen. Willst du über die hinwegkriechen?«
»Und wie wollen Sie wieder hier rauskommen?«, rief sie zurück. »Die Sprengung hat auch Ihnen den Ausweg versperrt.
Trevor hat gesagt, das Tunnelsystem ist wie ein Labyrinth. Sie werden sich verirren und sterben.«
»Es gibt noch andere Ausgänge. Ich werde mich nicht verirren. Ich weiß alles über diese Tunnel, was ich wissen muss.«
»Sie lügen. Sie hätten Wochen gebraucht, um sich mit dem Tunnelsystem vertraut zu machen.«
»Hat Trevor das behauptet?« Er war jetzt dichter hinter ihr. Er bewegte sich schneller. »Falsch. Du wirst bald sehen, warum.«
Sie stolperte über etwas Weiches.
Eine Leiche!
Blut. Die Kehle durchgeschnitten.
Sie schnappte vernehmlich nach Luft.
»Oh, du hast ihn gefunden«, sagte Aldo. »Ich hatte schon befürchtet, ich müsste ihn dir zeigen. Ich hatte ihn hinter dem Felsen versteckt. Irgendjemand muss ihn da rausgezogen haben.
Ich fürchte, ich werde mich ein bisschen beeilen müssen.«
Sie zwang sich, an der blutigen Leiche vorbeizugehen.
»Wer ist es?«
»Quinn natürlich.«
Ihre Gedanken rasten. Dann atmete sie erleichtert auf.
»Nein, das ist nicht Joe. Joe ist viel dünner und muskulöser.
Und Trevor auch.«
Aldo lachte in sich hinein. »Du hast Recht. War nur ein kleiner Scherz.«
»Sie sadistischer Scheißkerl.«
»Gönn mir doch ein bisschen Vergnügen. Ich habe so lange darauf gewartet.«
»Wer ist es?«
»Sontag. Ich habe im Internet die Grundbucheintragungen studiert und dabei festgestellt, dass die Villa Sontag gehört. Und wenn ihm die Villa gehörte, musste er über die Tunnel Bescheid wissen. Mein Vater hat mir damals gesagt, dass Sontag ein Verbrecher war, und zweifellos hatte er die Tunnel für seine kriminellen Machenschaften benutzt. Aber als ich hörte, dass du das Vomitorium für die verdammte Pressekonferenz benutzen würdest, war mir klar, dass ich keine Zeit haben würde, mich mit dem Tunnelsystem vertraut zu machen. Also habe ich mich direkt an die Quelle gewandt.«
Er kam näher. Sie musste eine Waffe finden. Irgendeine Waffe.
»Ich habe ihm einen Besuch abgestattet«, fuhr Aldo fort, »und ihn überredet, mir eine kleine Führung durch seine Tunnel zu geben. Er war sehr kooperativ. Er hat mich sogar auf den kleinen Felsspalt und den Vorsprung aufmerksam gemacht, den er Trevor gezeigt hatte. Nachdem er mir eine Kopie seiner Tunnelkarte überlassen hatte, war er mir nicht länger nützlich.«
»Also haben Sie ihn getötet.«
»Ich konnte schließlich nicht riskieren, dass er zu Trevor rennt und alles ausplaudert. Der hatte ihn ganz schön eingeschüchtert.«
Eine weitere Biegung. Wahrscheinlich war das Ende des Spalts nicht mehr weit, und sie würde schon bald auf die zugeschüttete Öffnung stoßen. »Sie hätten ihn doch in jedem Fall umgebracht.«
»Stimmt. Ich gebe zu, es hat mir gut getan. In letzter Zeit war ich ziemlich frustriert. Aber das hat ja jetzt ein Ende.«
»Sie können mich vielleicht töten, aber der Sarg liegt unter einem Geröllhaufen vergraben. Das Skelett können Sie nicht zerstören.«
»Ich hab’s nicht eilig. Es wird eine Weile dauern, bis die Felsbrocken, die den Eingang zum Tunnel blockieren, weggeräumt sind. Ich werde Zeit genug haben. Ich höre dich atmen. Du keuchst ja. Hast du nicht gesagt, du wärst stark? Wie stark bist du wirklich, Cira?«
»Stark genug.« Steinsplitter knirschten unter ihren Füßen. Es konnte nicht mehr weit sein bis zu der Stelle, wo die Explosion stattgefunden hatte.
Sie saß in der Falle. Sie brauchte unbedingt eine Waffe.
Sie musste raus aus seinem Blickfeld.
Sie fiel in Laufschritt und rannte um die nächste Biegung.
Panisch sah sie sich um.
Da!
Sie hob einen zwanzig Zentimeter langen Steinsplitter auf und steckte ihn sich in den Gürtel. Ob er scharfkantig genug war?
Flucht.
Hitze. Rauch.
Nacht ohne Luft.
»Du hast fast das Ende erreicht«, sagte Aldo. »Ich habe mein Messer in der Hand. Ein Chirurgenmesser. Schön. Scharf.
Effizient. Nur noch ein Gesicht. Hast du eine Ahnung, wie weh das tut?«
»Es wird nicht das Letzte sein. Sie reden, als wären Sie auf einer Mission, aber Sie sind nichts als ein Mörder. Sie finden zu viel Gefallen daran.«
»Du hast Recht, es ist mir nicht nur Pflicht, sondern auch Vergnügen, dein Gesicht vom Angesicht der Erde zu tilgen.«
»Sehen Sie? Aber mich zu töten, wird Ihnen nichts nützen.
Das Skelett in dem Sarg ist nicht Cira. Die Frau heißt Giulia.«
Schweigen. »Du lügst.«
»Das Ganze ist ein einziger großer Bluff.«
»Miststück«, fauchte er. »Du lügst. Meine Zeit ist gekommen.
Mein Schicksal.«
»Sie sind ein Versager. Trevor hat das Skelett aus einem Museum in Neapel besorgt. Das können Sie ganz einfach nachprüfen.«
Der Gang wurde immer enger.
Keine Luft.
Antonio …
Immer mehr und immer größere Steinbrocken bedeckten den Boden.
Er war direkt hinter ihr.
O Gott. Vor ihr erhob sich eine Wand aus Felsbrocken.
Nicht weitergehen. Lieber hier stehen bleiben, wo sie mehr Bewegungsfreiheit hatte.
»Sie sind ein Trottel. Es war so leicht, Sie zum Narren zu halten. Sie haben kein bisschen –« Sie stieß einen Schrei aus, als sie stolperte und stürzte.
Aldo gab ein triumphierendes Grunzen von sich. »Wer ist hier der Trottel?« Er packte sie an der Schulter und riss sie herum.
»Selbst wenn ich dir glaubte, wäre ich immer noch –«
Sie rammte ihm den Steinsplitter mit aller Kraft in die Brust.
Er schrie auf.
Sie rollte sich auf die Seite und versuchte, ihn von sich wegzuschieben. Gott, war er schwer, so schwer wie ein Toter.
Aber er war nicht tot. Er bewegte sich, das Messer in seiner Hand schimmerte im fahlen Licht der Taschenlampe, die sie hatte fallen lassen.
Auf allen vieren kroch sie von ihm weg und suchte verzweifelt nach einem weiteren scharfkantigen Stein, den sie als Waffe benutzen konnte.
»Ich sterbe nicht«, flüsterte er. »Ich darf nicht sterben. Das ist mir nicht … bestimmt. Du bist diejenige, die sterben muss.«
»Den Teufel werde ich tun.«
Da, ein spitzer Steinsplitter. Sie kroch darauf zu.
Schmerz.
Sein Messer war in ihre Wade eingedrungen.
Nicht darum kümmern.
Sie bekam den Stein zu fassen und rollte sich auf die Seite.
Schlag zu. Schlag zu. Schlag zu.
Er war ganz nah, ganz dicht über ihr. Der erste Schlag, den sie auf seine Stirn zielte, streifte ihn jedoch nur.
Er hob sein Messer.
Sie schlug mit dem Stein nach seinem Arm. Zu schwach. Zwar war es ihr gelungen, seinen Angriff abzuwehren, aber das Messer hielt er immer noch in der Hand. Sie musste es noch einmal versuchen.
»Du wirst ja immer schwächer«, murmelte er. »Wo ist deine Kraft geblieben, Cira?« Wieder hob er das Messer. »Fahr zur Hölle, du Miststück. Ich bin derjenige, der –«
Ein Schuss.
Sein Kopf flog nach hinten, als die Kugel ihn zwischen die Augen traf. Dann stürzte er leblos auf sie.
Woher kam die Kugel?, fragte sie sich benommen. Sie spürte das kalte Metall von Aldos Messer an der Brust. Beinahe rechnete sie damit, dass er sich bewegte und sie erneut angriff.
Dann war er plötzlich weg. Jemand hatte ihn von ihr weggezogen und zur Seite geschleudert. »Sind Sie verletzt?«
Trevor.
»Antworten Sie mir. Sind Sie verletzt?« Sein Hemd war völlig zerrissen, sein Gesicht verdreckt.
»Sie leben ja noch.«
»Aber nicht mehr lange, wenn Ihnen etwas fehlt. Quinn wird mir den Hals umdrehen. Wo tut es weh? Antworten Sie mir.«
Sie versuchte zu denken. »An der Schulter. Die Felsbrocken.«
Er richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf ihre Schulter.
»Blaue Flecken. Sieht nicht so aus, als wäre etwas gebrochen.
Sonst noch was?«
»Das rechte Bein. Aldo …« Sie schüttelte den Kopf gegen ihre Benommenheit. »Wo kommen Sie überhaupt her?«
»Ich habe mich durch das Geröll gebuddelt. Auf einmal hörte ich Ihre Stimme.« Er begann, ihre Khakihose zu zerreißen. »Es hat mich fast verrückt gemacht. Ich konnte Sie hören, aber ich konnte nicht zu Ihnen gelangen. Ich hatte Angst, ich würde zu spät kommen.« Er untersuchte die Wunde. »Zum Glück hat er die Arterie nicht getroffen. Es blutet nicht sehr stark. Trotzdem muss das genäht werden.« Er riss sein Hemd in Streifen und legte einen Druckverband an. »Aber vielleicht bin ich vor Eves Zorn in Sicherheit.«
»Eve?« Sie hielt den Atem an. »Eve lebt?«
Er nickte. »Wir konnten nicht zu ihr gelangen, aber sie sagte, sie sei unverletzt.«
»Und Joe?«
»Ein paar kleine Schnittwunden, glaube ich. Ich habe mir nicht die Zeit genommen, genau nachzusehen.«
»Warum nicht?«
»Der Eingang zum Vomitorium ist durch die Explosion verschüttet worden. Ich musste außen herumgehen, um ihnen zu Hilfe zu eilen. Joe war damit beschäftigt, Eve auszugraben, und ich habe ihm gesagt, ich würde losgehen, um Ihnen beizustehen.«
»Aldo hat gesagt … Sie müssten eigentlich tot sein. Eigentlich kann da keiner überlebt haben. Aldo hat gesagt, er hätte die Sprengladung direkt unter dem Felsvorsprung angebracht.«
»Hat er auch, aber wir waren nicht da, als die Ladung explodiert ist. Ich war rechtzeitig bei Eve und Joe, um sie von der Stelle wegzuholen. Ich hatte den Vorsprung noch am frühen Abend überprüft, verdammt, und Joe auch. Er muss Plastiksprengstoff in einen Felsspalt geklemmt und ihn dann getarnt haben. Es ist so dunkel da, dass wir ohne Instrumente –«
»Das interessiert mich nicht. Eve und Joe sind also unversehrt geblieben?«
»Nicht ganz.« Er befestigte den Verband und setzte sich neben sie. »Wir sind zwar von der Explosionsstelle weggekommen, aber nicht weit genug. Eve war vor uns und wurde von Felsbrocken eingeklemmt.«
»Dann ist sie bestimmt verletzt. Wir müssen unbedingt zu ihr.«
»Sie gehen nirgendwo hin. Joe ist dabei, sie auszugraben.«
»Wir müssen ihm helfen.«
»Es ist nicht so schlimm. Ich gehe zum Haupteingang, hole ein paar Männer und –«
»Den Eingang zur Villa hat Aldo auch gesprengt.«
»Bartlett ist wahrscheinlich schon dabei, eine Rettungsmannschaft zu organisieren. Wenn die den Haupteingang nicht freilegen können, werde ich mir wohl einen Weg durch das Labyrinth suchen müssen. Bestimmt gibt es noch andere Ausgänge.«
»Genau das hatte Aldo auch vor. Er hat gesagt, er wüsste den Weg. Und zwar von Sontag.« Ein Schauer lief ihr über den Rücken. »Sontag ist tot. Seine Kehle …«
»Ich weiß. Ich habe seine Leiche gefunden und bin fast in Panik geraten. Wenn Aldo Sontag erwischt hatte, dann musste der ihm alles erzählt haben, was er wusste. Und da ich Sontag in diesem Felsspalt gefunden habe, war mir sofort klar, dass Aldo es auch auf Eve und Joe abgesehen hatte. Ich wusste nicht, was er vorhatte, nur, dass ich die beiden schnellstens von hier wegbringen musste.« Er stand auf. »Bleiben Sie hier und versuchen Sie, sich nicht zu bewegen, damit die Wunde nicht wieder anfängt zu bluten.« Er wandte sich zum Gehen. »Ich bringe so bald wie möglich Hilfe.«
Sie hörte, wie seine Schritte sich entfernten.
Hier bleiben?
Sie warf einen Blick auf Aldos Leiche gleich neben ihr und schüttelte sich angewidert.
Eve und Joe.
Plötzlich erlosch ihre Taschenlampe, und sie war von tiefer Dunkelheit umgeben.
Jetzt reichte es ihr.
Vorsichtig kroch sie auf die Felsbrocken zu, durch die Trevor sich gebuddelt hatte. Wenn er es geschafft hatte, zu ihr zu gelangen, dann würde sie es auch schaffen, zu Eve und Joe zu gelangen.
Nachdem sie durch die Öffnung gekrochen und kaum fünfzig Meter weit gegangen war, hörte sie Joe, der mit Eve redete, während er Geröll beiseite schob.
»Joe?«, rief sie. »Meine Taschenlampe ist aus. Red weiter.«
Stille. »Jane? Gott sei Dank.«
»Trevor hat mir gesagt, dass Eve verschüttet, aber unverletzt ist. Ist sie –«
»Alles in Ordnung«, hörte sie Eve rufen. »Bist du verletzt?«
»Nur ein bisschen.« Jane atmete erleichtert auf. Eve hörte sich an, als würde es ihr tatsächlich gut gehen.
»Was zum Teufel soll das denn heißen?«
»Also, jedenfalls bin ich nicht verschüttet worden.«
»Und was ist mit Aldo?«
»Aldo ist tot.« Jetzt sah sie den Schein von Joes Taschenlampe. »Trevor ist los, um Hilfe zu holen.«
»Warum bist du nicht mit ihm gegangen?«
»Er hat mich nicht darum gebeten. Und wenn er es getan hätte, dann hätte ich mich geweigert. Ich kann euch doch nicht allein hier unten lassen.« Sie setzte sich neben Joe, nahm einen Stein und warf ihn fort. »Joe, wie lange dauert es noch, bis wir sie da raus haben?«
»Nicht mehr lange.« Er lächelte sie an. »Jedenfalls nicht so lange, wie es gedauert hätte, wenn ich es allein machen müsste.«
Sie nickte und warf den nächsten Stein hinter sich.
»Ganz bestimmt nicht. Allein arbeiten ist Mist. Zu zweit geht es viel besser.«
»Wie geht es Jane?«, fragte Joe, als Eve aus der Notaufnahme kam.
»Sie ist nicht gerade begeistert.« Sie verzog das Gesicht. »Sie haben die Wunde genäht, wollen sie aber zur Beobachtung über Nacht hier behalten. Sie war äußerst empört darüber, dass sie nicht stattdessen mich dabehalten haben.«
»Das wäre keine schlechte Idee.«
»Doch, das wäre es. Es geht mir gut. Ich habe nur ein paar Prellungen.«
»Dann lass uns zurück in die Villa fahren, damit du dich ins Bett legen kannst.« Er wandte sich zum Gehen. »Du musst dich ausruhen und –«
»Nein.«
»Nein?« Er drehte sich zu ihr um. »Willst du bei Jane bleiben?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie braucht mich nicht, aber ich habe etwas zu erledigen.« Sie drückte den Fahrstuhlknopf. »Und du auch.«
»Du bist vollkommen verrückt, Eve.« Joe stellte Giulias Schädel auf den Sockel. »Du solltest dich ins Bett legen und dich ausruhen, anstatt zu arbeiten.«
»Ich muss das tun.« Sie richtete einen Strahler auf den Schädel. »Hat die Polizei dir keinen Ärger gemacht, weil du ihn aus dem Sarg genommen hast?«
»Die haben das gar nicht mitgekriegt. Ich habe einfach das Geröll von dem Sarg entfernt und den Schädel an mich genommen. Da unten herrscht ein heilloses Durcheinander. Da treten sich so viele Rettungsleute, Archäologen und Polizisten gegenseitig auf die Füße, dass mich keiner beachtet hat. Bei uns wäre das unmöglich. Gott, ich kann es kaum erwarten, zurück nach Atlanta zu kommen.«
»Ich auch nicht.« Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie die Rekonstruktion betrachtete. Janes Gesicht auf diesem antiken Schädel zu sehen, hatte etwas Makabres. Sie schüttelte den Gedanken ab. Das war ihre eigene Arbeit, und Jane lebte.
»Ich habe dieses Chaos gründlich satt. Als ich unter dem Geröll gelegen habe, konnte ich an nichts anderes denken als an Jane und diesen Mörder. Ich bin fast verrückt geworden.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Gar nicht auszudenken, welchen Schaden der Kontakt mit diesem Monster bei ihr angerichtet hat.
Wenn sie ein normaler Teenager wäre, hätte sie diese Erfahrung für ihr Leben traumatisiert.«
»Sie ist aber kein normaler Teenager. Sie wird damit klarkommen.«
»Ich hoffe es. Aber es hat alles viel zu lange gedauert und ihr Schmerzen zugefügt, und das kann ich nicht ertragen. Ich möchte, dass sie nach Hause kommt und wieder ein normales Leben führt.«
»Die paar Tage werden ihr nichts ausmachen.«
»Aber mir.« Sie nahm die Glasaugen aus dem Schädel. »Ich will hier weg, und das hier ist das Letzte, was ich tun muss, um diese Geschichte abzuschließen. Ich muss Giulia ihr wahres Gesicht verleihen und sie Trevor übergeben, damit er sie ins Museum zurückbringen kann.« Vorsichtig begann sie, das Gesicht zu entfernen, das sie geschaffen hatte. Die Gewebetiefe stimmte, und sie brauchte daran nichts zu ändern, als sie die abschließende Modellierung vornahm. »Also lass mich allein, damit ich in Ruhe arbeiten kann. Das wird eine lange Nacht.«
»Ich werde dir Gesellschaft leisten.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann häng dich ans Telefon und besorge uns Flugtickets für morgen Abend. Und dann kannst du mit den italienischen Behörden verhandeln, damit sie uns ohne Schwierigkeiten ausreisen lassen.«
»Die Polizei hat unsere Aussagen aufgenommen. Ich habe meine Beziehungen spielen lassen und dafür gesorgt, dass sie sich vorerst damit zufrieden geben.«
»Vergewissere dich, dass das auch wirklich klappt. Ich will, dass dieser Albtraum ein Ende hat.« Dann fügte sie müde hinzu:
»Und für meine kleine Jane muss es auch ein Ende haben.«
Er nickte. »Bin schon unterwegs.«
Glätten.
Schnell arbeiten. Nicht nachdenken. Giulias Gesicht erspüren.
Die Oberlippe ein bisschen geschwungener.
Glätten.
Die Wangenknochen ein bisschen ausgeprägter.
Glätten.
Ihre Hände bewegten sich schnell und geschickt über Giulias Gesicht.
Nicht denken.
Die Nase etwas kürzer? Ja, das passte.
Wir sind gleich so weit. Die Stirn noch ein bisschen höher.
Nein, das war es nicht.
»Hilf mir, Giulia. Du warst so lange verloren.«
Glätten.
Eves Fingerspitzen fühlten sich trotz des kalten Tons heiß an.
Glätten.
Hilf mir. Es heißt, du stammst aus einer armen Familie. Aber das reicht nicht. Du brauchst ein Gesicht, damit wir erfahren, wer du bist.
Glätten.
Ja, gut, hilf mir.
Noch ein bisschen.
Fertig!
Sie holte tief Luft und trat einen Schritt zurück. »Ich habe mein Bestes getan, Giulia. Ich hoffe, ich … O Gott.«
Sie schloss die Augen und flüsterte: »Gütiger Gott im Himmel.«
»Ich will hier raus, Eve.« Jane schmollte. »Die hätten mich gestern Abend schon nach Hause gehen lassen sollen. Mir fehlt doch überhaupt nichts. Du bist diejenige, die im Tunnel verschüttet wurde.«
»Aber ich bin mit ein paar Prellungen davongekommen.« Eve füllte ein Glas mit Wasser und reichte es Jane. »Du hast eine Schnittverletzung und eine verrenkte Schulter, außerdem hast du Blut verloren. Der Arzt hat übrigens gesagt, dass das mit deiner Schulter noch schlimmer geworden ist, weil du diese Felsbrocken durch die Gegend gewuchtet hast, um mich zu befreien.«
»Es hat aber nicht wehgetan.« Als sie Eves skeptischen Blick sah, räumte sie ein: »Jedenfalls nicht sehr.« Sie trank einen Schluck Wasser, dann stellte sie das Glas ab. »Wann darf ich raus?«
»Heute Nachmittag. Und Joe hat uns für heute um Mitternacht Flugtickets gebucht. Wir fliegen zurück nach Hause.«
»Super. Bist du sicher, dass es dir gut geht?«
»Ja, Jane, es geht mir gut, und Joe ebenfalls. Das ist jetzt das dritte Mal, dass du mich das heute fragst. Jetzt hör auf, dir Sorgen zu machen. Das passt gar nicht zu dir.«
»Ihr seid auch noch nie durch meine Schuld beinahe getötet worden.« Sie nahm Eves Hand. »Es tut mir leid. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn euch etwas zugestoßen wäre.«
»Es war unsere Entscheidung. Wir würden jederzeit wieder so handeln.« Lächelnd drückte sie Janes Hand. »Wir könnten nicht ohne dich leben. Wie gesagt, die Familie geht über alles.«
»Nicht, wenn einer die anderen in –« Sie brach ab, als Eve ihr eine Hand auf den Mund legte.
»Schsch«, sagte sie. »Es war nicht leicht für dich, durch den Felsspalt zu kriechen, um zu mir zu gelangen. Warum hast du das getan?«
»Du hast mich gebraucht.«
»Aha.« Sie stand auf. »Und ab jetzt will ich nichts mehr davon hören. Okay?«
Jane schluckte. »Okay. Aber das Denken kannst du mir nicht verbieten.« Sie holte tief Luft. »Wo ist Trevor? Seit er und Bartlett uns aus dem Tunnel befreit haben, habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
»Ich habe ihn heute Morgen getroffen, bevor ich ins Krankenhaus gekommen bin. Er hat Giulia abgeholt, um sie zurück ins Museum zu bringen.«
»Aber sie war doch noch gar nicht fertig.«
»Doch. Ich habe die ganze Nacht gearbeitet, um sie fertig zu bekommen. Es war nicht schwer. Die grundlegenden Messungen hatte ich ja alle schon durchgeführt. Ich brauchte nur noch die abschließenden Arbeiten auszuführen.«
Jane schüttelte lächelnd den Kopf. »Nur du würdest auf die Idee kommen, an einer Rekonstruktion zu arbeiten, nachdem du gerade aus einem eingestürzten Tunnel befreit worden bist.«
»Es war mir wichtig.« Sie drückte Janes Hand. »Ich wollte, dass dieser Albtraum endlich aufhört. Ich musste einen Schlusspunkt setzen.«
»Das verstehe ich. Mir geht es genauso. Wenn ich Sam Drake angerufen und ihm seine Exklusivgeschichte gegeben habe, kann ich auch aufatmen. Wie hat sie denn ausgesehen? War sie hübsch?«
Eve wandte sich ab. »Nicht wirklich hübsch. Aber sie hatte ein ausdrucksstarkes Gesicht.«
»Und Trevor hat sie schon weggebracht?« Sie überlegte. »Er hat mich überhaupt nicht besucht. Nicht, dass ich damit gerechnet hätte.«
»Ich schätze, er bemüht sich, Joe aus dem Weg zu gehen.«
»Er glaubt, Joe wird ihn verhaften? Er hat euch das Leben gerettet. Und mir wahrscheinlich auch.«
»Ich schätze, Joe wäre es ganz recht, wenn er einfach verschwinden würde. Dann bräuchte er keine Entscheidung zu treffen.«
»Er wird bestimmt nicht mehr lange bleiben. Schließlich hat er bekommen, was er wollte.« Dann fügte sie hinzu: »Aber er hätte sich auch keinen abgebrochen, wenn er sich verabschiedet hätte.«
»Manchmal tut Abschiednehmen weh«, sagte Bartlett, der plötzlich in der Tür stand. »Mir zum Beispiel fällt es schwer, Ihnen Lebewohl zu sagen, Jane.« Er trat auf sie zu und reichte ihr die Hand. »Aber gute Freunde sagen nie für immer Adieu, nicht wahr?«
»Werden Sie nach London zurückkehren?«, erkundigte sich Eve.
»Ich ziehe es in Erwägung.« Er lächelte. »Vielleicht schließe ich mich aber auch Trevor noch eine Weile an. Mit ihm wird das Leben nie langweilig.«
»Wo geht er denn hin?«, wollte Jane wissen.
»Keine Ahnung. Das werden Sie ihn schon selbst fragen müssen.« Er wandte sich an Eve. »Auf Wiedersehen. Ich danke Ihnen für all Ihre Freundlichkeit.«
Eve umarmte ihn kurz. »Passen Sie auf sich auf. Rufen Sie mich an, falls Sie meine Hilfe brauchen.« Sie hauchte Jane einen Kuss auf die Stirn. »Ich hole dich um zwei Uhr ab.«
»Alles klar. Bis später.« Als Eve das Zimmer verlassen hatte, fragte Jane: »Ich werde keine Gelegenheit mehr haben, Trevor etwas zu fragen, nicht wahr?«
»Vielleicht doch. Auch wenn er besser daran täte, einfach in den Sonnenuntergang zu reiten.«
»Wo ist er denn?«
»Er sagte, er würde das Skelett in das Museum in Neapel zurückbringen. Von dort aus fliegt er mit der Achtzehn-Uhr-Maschine nach Rom. Was er danach vorhat, kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Warum erzählen Sie mir das, wenn Sie meinen, er täte besser daran, in den Sonnenuntergang zu reiten?«
Bartlett zuckte die Achseln. »Bestimmte Ereignisse haben mich kürzlich darauf aufmerksam gemacht, dass das Leben sehr kurz ist, und kluge Entscheidungen sind vielleicht nicht alles.
Als ich mit Trevor und den Rettungsleuten das Geröll beiseite geräumt habe, um Sie aus dem Tunnel zu befreien, musste ich die ganze Zeit daran denken, wie schön das Leben sein kann, und was für eine Schande es ist, auch nur eine Minute davon zu verpassen.« Er wandte sich zum Gehen. »Deswegen werde ich wahrscheinlich bei Trevor bleiben und nicht nach London und zu meinem Job als Buchhalter zurückkehren. Ich werde mit Ihnen in Kontakt bleiben, Jane.«
Nachdem er gegangen war, betrachtete sie die beruhigende Meerlandschaft an der Wand gegenüber ihrem Bett. Alles in diesem Zimmer war hell und beruhigend, dazu gedacht, den Heilungsprozess zu unterstützen. So anders als die erdrückende Dunkelheit in dem Tunnel. Aber das alles schien ganz weit weg.
Atemnot.
Hitze. Ranch.
Nacht ohne Luft.
Würde der Traum von Cira auch verschwinden?
Es wäre zweifellos besser, wenn er nicht wiederkäme. Sie hatte viel zu viel Zeit damit verbracht, sich das Hirn zu zermartern, um eine logische Erklärung für eine vollkommen unlogische Erfahrung zu finden. Sie würde die Träume von Cira als eins der großen Geheimnisse des Lebens verbuchen und sich der Wirklichkeit zuwenden. Ja, das war vernünftig.
Und ebenso aus Vernunftgründen sollte sie sich Mark Trevor aus dem Kopf schlagen. Ihn kennenzulernen, war eine interessante Erfahrung gewesen, aus der sie etwas über sich selbst gelernt hatte. Aber in einem halben Jahr würde sie ihn wahrscheinlich vergessen haben. Sie würde ihr Leben leben und nicht zurückblicken.
Es war vorbei.
Neapel lag im Zwielicht, betriebsam, voller Leben, alt und immer noch damit beschäftigt, sich in seine Geschichte zu fügen und dennoch auf die Zukunft zu konzentrieren.
Anders als Herkulaneum, dachte Trevor, als er am Flughafen zum Fenster hinausschaute. Herkulaneum lebte in der Vergangenheit und war damit zufrieden. Warum auch nicht?
Ciras Stadt besaß eine ruhmreiche Geschichte, die zu ihr – »Sie sind sehr unhöflich.«
Er zuckte zusammen und drehte sich langsam um. Hinter ihm stand Jane. »Na, das ist ja eine Überraschung.«
Sie trug eine Khakihose und ein weites, weißes T-Shirt. Ihre Wange war aufgeschürft, sie war blass, und ihr Gesichtsausdruck war ernst.
Und sie war unglaublich schön.
»Für mich auch.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu. »Weil ich sauer darüber bin, dass Sie so dumm und unhöflich sind. Sie hätten ins Krankenhaus kommen und sich verabschieden können. Eigentlich sollte ich meine Zeit gar nicht mit Ihnen verschwenden.«
»Da stimme ich Ihnen zu. Sie hätten nicht herkommen sollen.
Was macht die Wunde an Ihrem Bein?«
»Tut weh. Aber ich werd’s überleben. Bartlett hat Ihnen bestimmt gesagt, dass es mir gut geht. Wo ist er? Hat er sich entschlossen, mit Ihnen zu gehen?«
Trevor nickte. »Er ist im Café.«
»Und wo soll die Reise hingehen?«
»Zunächst in die Schweiz.«
»Aber dort werden Sie nicht bleiben. Sie werden weiter nach Precebios Gold suchen.«
Er lächelte. »Es ist Ciras Gold. Irgendwann werde ich vielleicht noch einmal danach suchen. Im Moment ist der Boden hier zu heiß für mich.«
»Ich glaube nicht, dass Joe Ihnen die Polizei auf den Hals hetzen wird.«
»Ich vermute, die Leute von Scotland Yard treffen ihre eigenen Entscheidungen. Die mögen es nicht, wenn man in ihrer Website herumpfuscht oder sich in ihre Fälle einmischt.« Er zuckte die Achseln. »Jedenfalls ziehe ich es immer vor, Ärger aus dem Weg zu gehen.«
»Lügner.«
Er lachte in sich hinein. »Na ja, es sei denn, es besteht eine Fifty-fifty-Chance, dass ich mit heiler Haut davonkomme.«
Sie nickte. »Bartlett meinte, Sie seien süchtig nach Gefahr.
Das ist ziemlich dumm und kindisch. Sie sollten allmählich erwachsen werden.«
»Ich arbeite dran.«
»Nein, Sie werden so weitermachen, bis Sie eines Tages dabei draufgehen. Deswegen wundere ich mich über mich selbst, dass ich mir die Zeit genommen habe, hierher zu kommen.«
»Warum haben Sie es denn getan?«
»Sie haben mir das Leben gerettet. Und Eve und Joe ebenfalls.«
»Ich habe Sie auch alle einem Risiko ausgesetzt.« Er musterte ihr Gesicht. »Nein, das ist nicht der Grund.«
»Stimmt.« Sie trat noch näher auf ihn zu. »Ich bin gekommen, weil es noch nicht vorbei ist. Als ich im Krankenhaus im Bett lag, habe ich mir eingeredet, ich würde die Träume von Cira einfach vergessen und nie wieder an Sie denken. Ich wollte einen Strich unter die ganze Geschichte ziehen.«
»Sehr klug.«
»Aber leider ist es noch nicht vorbei, und ich habe keine Lust, mich für den Rest meines Lebens mit einem schlechten Gefühl daran zu erinnern. Das liegt mir nicht. Niemand ist realistischer als ich, und es macht mich verrückt, dass ich den Zusammenhang mit Cira nicht durchschaue. Soll ich Ihnen sagen, was ich vorhabe?«
»Ich kann es kaum erwarten.«
»Seien Sie nicht so sarkastisch. Sie wollen es doch bestimmt wissen.«
»Sarkasmus ist manchmal die einfachste Verteidigung.
Verdammt, ja, ich will alles über Sie wissen. Das wollte ich von Anfang an.« Und das werde ich auch immer wollen.
Ich darf es nicht aussprechen. Distanz wahren. Es ist bald vorbei.
»Gut. Dann werden Sie sich freuen zu hören, dass ich, wenn ich die Schule hinter mir habe, nach Harvard gehen werde.
Danach werde ich herausfinden, was mit Cira passiert ist.
Vielleicht warte ich damit, bis ich mein Studium beendet habe, vielleicht auch nicht. Das werde ich später entscheiden.«
»Sie wollen hierher zurückkommen?«
»Ich werde dorthin gehen, wo ich die Antworten finde. Ihr Gold interessiert mich einen Scheißdreck, aber ich muss diese Schriftrollen lesen. Wie gesagt, es ist noch nicht vorbei. Ich muss herausfinden, ob Cira bei dem Vulkanausbruch ums Leben gekommen ist. Wenn nicht, will ich wissen, was mit ihr passiert ist. Und ich muss ergründen, woher ich von ihr wusste, warum ich diesen Traum immer wieder hatte. Das ist mir wichtig.«
»Ich habe die Ausgrabungsstätte gesehen. Es könnte Jahre dauern, bis Sie die Antworten finden.«
»Ich habe noch viele Jahre Zeit. Schließlich bin ich erst siebzehn.« Sie schaute ihm in die Augen. »Egal, was Sie denken, das ist ein Vorteil. Ich werde nach Hause zurückkehren und jede Minute meines Lebens genießen. Ich werde lernen und Erfahrungen sammeln. Vielleicht finde ich ja eines Tages einen Mann, neben dem Sie wie ein Langweiler dastehen. Das dürfte nicht allzu schwierig sein. Und mit Ihnen und Ihren antiquierten Ansichten möchte ich nichts mehr zu tun haben. Ich begreife nicht, wie ein Mann, der zugibt, ein Krimineller und Betrüger zu sein, so ein idiotisches Zeug von sich geben kann. Irgendwann werden Sie es bereuen, dass Sie sich von mir abgewandt haben.«
»Das tue ich bereits.«
»Tja, zu spät. Sie hatten Ihre Chance.« Sie wandte sich zum Gehen. Plötzlich fuhr sie noch einmal zu ihm herum.
»Aber vielleicht gebe ich Ihnen eine zweite Chance, falls ich zu dem Schluss komme, dass Sie es wert sind, und falls ich keinen Besseren finde. Also fangen Sie am besten schon mal damit an, sich Ihre Cira aus dem Kopf zu schlagen. Ich kann Konkurrenz nicht ausstehen. Sie ist tot, und ich lebe, wenn ich erst einmal die Person geworden bin, die ich sein will, dann wird es keine Ähnlichkeit mehr zwischen ihr und mir geben.«
Sie wartete nicht auf eine Antwort. Trevor schaute ihr nach, als sie mit hoch erhobenem Kopf und stolzer Haltung die Eingangshalle durchquerte.
»Ich hatte fast damit gerechnet, dass sie kommen würde, um sich zu verabschieden.« Bartlett stand plötzlich neben ihm.
»Oder um au revoir zu sagen?«
Au revoir. Auf Wiedersehen.
»Ich bin mir nicht sicher.« Sie war fast aus seinem Blickfeld verschwunden, aber er konnte die Kraft und die Entschlossenheit, die jede ihrer Bewegungen ausstrahlten, immer noch erkennen. Plötzlich überkam ihn eine freudige Erregung. »Ich glaube, es war ein Au Revoir. « Er lachte. »Und wenn ich Recht behalte, dann gnade mir Gott.«