»Und zwar nur, weil Sie sich tollpatschig angestellt haben. Sie hätten vorsichtiger sein müssen.«

»Ich war vorsichtig. Ich habe keine Ahnung, wieso sie gemerkt hat, dass ich hinter ihr her war.«

»Instinkt. Etwas, woran es Ihnen mangelt, Pennig. Dafür haben Sie andere Talente, die ich bewundere. Allerdings war ich ein bisschen enttäuscht, dass Sie nach allem, was ich Ihnen beigebracht habe, bei Dr. Mulan keinen Erfolg hatten.«

»Ich hatte sie fast so weit«, erwiderte Pennig hastig.

»Und sie war eine harte Nuss. Manchmal sind gerade die Frauen viel zäher.«

»Aber Sie haben mir versichert, Sie hätten ihren Willen gebrochen, sonst hätte ich sie Melis Nemid niemals anrufen lassen. Da haben Sie sich ganz schön verschätzt. Das war ein großer Fehler.«

»Wird nicht wieder vorkommen.«

»Das weiß ich. Denn ich werde es nicht zulassen.«

Pennig verspürte einen Anflug von Panik, den er schnell unterdrückte. »Soll ich noch hier bleiben? Ich weiß nicht, wie nah ich an sie rankomme.«

»Bleiben Sie noch eine Weile. Man kann nie wissen, wann sich eine günstige Gelegenheit bietet. Außerdem möchte ich, dass Sie alles über Kelby und seine Freunde in Erfahrung bringen. Und zwar einschließlich seiner Telefonnummer und der Nummer seines Liegeplatzes.

Wenn Sie in Nassau nichts erreichen, kommen Sie in zwei Tagen zu mir nach Miami. Und sorgen Sie dafür, dass Sie niemand sieht, verdammt. Haben Ihre Kontaktleute die beiden Männer in Miami gefunden, die Sie rekrutieren sollten?«

»Ja, zwei Einheimische, Cobb und Dansk. Ziemliche Kleingauner, aber für die Überwachung der Insel wird’s reichen.«

»Ich hoffe, dass wir sie nicht brauchen werden. Ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie Melis Nemid in Nassau schnappen könnten.«

Pennig schwieg einen Moment. »Und was ist, wenn es mir nicht gelingt?«

»Dann werden wir Melis Nemid dort packen, wo es ihr am meisten wehtut«, sagte Archer ruhig. »Und ich verspreche Ihnen, dass ich nicht so stümperhaft vorgehen werde wie Sie bei Carolyn Mulan.«

So schnell, dachte Melis, als sie zusah, wie Carolyns Asche ins Meer rieselte. Innerhalb von Sekunden waren Carolyns sterbliche Überreste in den Wellen verschwunden.

In so kurzer Zeit waren die Spuren eines Lebens ausgelöscht.

Aber sie hatte so vieles zurückgelassen. Melis nahm die kleine silberne Trillerpfeife, die Carolyn ihr geschenkt hatte, küsste sie und warf sie ins Meer.

»Warum haben Sie das getan?«, fragte Kelby.

»Carolyn hat sie mir geschenkt, als ich die Delphine mitgebracht habe.« Sie schluckte. »Sie war viel zu hübsch, um sie zu benutzen, aber ich habe sie immer bei mir getragen.«

»Wollten Sie sie nicht behalten?«

Melis schüttelte den Kopf. »Carolyn soll sie haben. Sie weiß, was sie mir bedeutet hat.«

»Diese Scheißkerle.«

Als sie sich umdrehte, sah sie Ben Drake neben sich an der Reling stehen, Carolyns Exmann, der mit feuchten, geröteten Augen aufs Meer hinausschaute.

»Diese Scheißkerle. Wer hätte ihr etwas zuleide tun können

…« Er wandte sich ab und schob sich durch die Menge auf die andere Seite des Schiffes.

»Sie hatten Recht, es nimmt ihn fürchterlich mit.« Kelby ließ seinen Blick über die Trauergäste schweifen. »Sie hatte eine Menge Freunde.«

»Wenn man alle an Bord gelassen hätte, die mitkommen wollten, wäre das Schiff gesunken.« Melis blickte wieder aufs Wasser hinaus. »Sie war ein ganz besonderer Mensch.«

»Der Meinung ist offenbar jeder«, murmelte er vor sich hin und versank in Schweigen. Erst als das Schiff gewendet und wieder Kurs auf den Hafen genommen hatte, sagte er: »Und jetzt? Sie haben gesagt, bis zur Beerdigung Ihrer Freundin würden Sie nichts unternehmen. Hier können Sie nicht bleiben, das wäre zu gefährlich. Werden Sie auf die Insel zurückkehren.«

»Ja.«

»Darf ich Sie begleiten?«

Offenbar rechnete er damit, dass sie ihm die Bitte abschlagen würde. Sie schaute aufs Meer hinaus, in dem Carolyns Asche versunken war.

Leb wohl, meine Freundin. Danke für alles, was du für mich getan hast. Ich werde dich nie vergessen.

Ihre Lippen spannten sich, als sie sich ihm wieder zuwandte.

»Ja, ich bitte darum, Kelby. Begleiten Sie mich auf die Insel.«

»Sehr eindrucksvoll«, bemerkte Kelby, während sie das Netz hinunterließ. »Und Ihre Freunde, die Delphine, versuchen nie zu entkommen?«

»Nein, Pete und Susie fühlen sich hier wohl. Einmal habe ich sie mit einem Sender ausgestattet und freigelassen, aber sie sind immer wieder zum Netz zurückgekommen und haben mich angebettelt, dass ich sie wieder reinlasse.«

»Die große weite Welt hat ihnen nicht gefallen?«

»Sie wissen, dass es da draußen gefährlich sein kann.

Und sie hatten schon genug Abenteuer erlebt.« Sie befestigte das Netz, nachdem sie es passiert hatten. »Nicht jeder liebt Delphine.«

»Schwer vorstellbar. Pete und Susie sind wirklich äußerst sympathisch.« Grinsend sah er zu, wie die beiden Delphine aufgeregt das Boot umkreisten. »Und es sieht so aus, als würden sie Sie mögen.«

»Ja, das tun sie.« Melis lächelte. »Sie mögen mich. Ich gehöre sozusagen zur Familie.« Sie ließ den Motor an. »Und Familienbande sind für Delphine überaus wichtig.«

»Haben sie Ihre Freundin Carolyn auch adoptiert?«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie mochten sie. Vielleicht wären sie sich näher gekommen, wenn Carolyn mehr Zeit mit ihnen verbracht hätte. Aber sie hatte immer so viel mit ihrer Praxis um die Ohren.« Sie winkte. »Da auf dem Steg, das ist Cal. Er wird erleichtert sein, dass ich zurück bin. Pete und Susie machen ihn nervös. Das spüren sie natürlich und spielen ihm dauernd irgendwelche Streiche.« Sie lenkte das Boot an den Steg und schaltete den Motor aus. »Hallo, Cal. Alles in Ordnung?«

»Ja, alles in Ordnung.« Er half ihr aus dem Boot. »Die Delphine waren ausnahmsweise richtig brav, als du weg warst.«

»Ich hab dir doch gesagt, sie mögen dich.« Sie deutete auf Kelby. »Jed Kelby, das ist Cal Dugan, Ihr neuer Angestellter.

Sie haben miteinander telefoniert. Cal wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Ich gehe inzwischen duschen, dann haben Sie ein bisschen Zeit, sich kennen zu lernen. Wir sehen uns beim Abendessen.« Sie ging auf das Haus zu.

»So schnell kann man fallen gelassen werden«, murmelte Kelby vor sich hin, während er ihr nachschaute.

»Wahrscheinlich muss man ein Delphin sein, um hier von ihr wahrgenommen zu werden.«

»In etwa«, sagte Cal. »Aber immerhin hat sie Ihnen erlaubt, hierher zu kommen. In dieser Hinsicht ist sie nicht besonders großzügig.«

»Es sei denn, sie hat irgendwelche undurchsichtigen Pläne.«

»An Melis ist nichts undurchsichtig. Sie ist sehr offen und direkt«, widersprach Cal mit ernster Miene. »Sie nimmt kein Blatt vor den Mund.«

»Aber sie ist nicht bereit, mir zu sagen, warum ich ihr Gast bin.« Kelby blickte nachdenklich zum Haus hinüber. »Jedenfalls noch nicht.«

Die Sonne ging gerade unter, als Kelby auf die Veranda hinaustrat. Melis saß am Rand der hölzernen Plattform, ließ die Füße ins Wasser baumeln und redete leise mit Pete und Susie.

Kelby blieb stehen und schaute ihr eine Weile zu. Ihr Gesichtsausdruck war weich und ihre Augen strahlten.

Sie sah vollkommen anders aus als die Frau, die er in Athen kennen gelernt hatte.

Aber auch wenn sie, wie sie da mit ihren Delphinen sprach, wie ein junges Mädchen wirkte, durfte er nicht vergessen, dass sie mit allen Wassern gewaschen war.

Frauen waren immer dann besonders gefährlich, wenn sie völlig harmlos schienen. Dass er hier war, hatte einen ganz bestimmten Grund und davon durfte er sich nicht ablenken lassen.

Eine Menge Dinge waren ihm bereits in die Quere gekommen, aber das Schlamassel in Nassau hatten sie heil überstanden. Jetzt musste er sich wieder auf sein eigentliches Ziel konzentrieren.

Er schlenderte über die Veranda auf sie zu.

»Die Tiere reagieren, als würden sie Sie verstehen.«

Melis zuckte zusammen und drehte sich zu Kelby um. »Ich hatte Sie gar nicht bemerkt.«

»Sie waren vollkommen in Anspruch genommen. Kommen die beiden immer nach dem Abendessen zu Besuch?« Kelby setzte sich neben sie und sah zu, wie Pete und Susie davonschwammen, um im offenen Wasser zu spielen.

»Meistens. Gewöhnlich kommen sie, wenn die Sonne untergeht, um mir gute Nacht zu sagen.«

»Wie halten Sie sie im Wasser auseinander? Oder vielleicht frage ich besser, wie könnte ich sie im Wasser unterscheiden?

Sie scheinen ja einen siebten Sinn zu haben.«

»Pete ist größer und hat eine dunklere Zeichnung an der Schnauze. Susies Rückenflosse hat ein V in der Mitte. Übrigens, wo ist Cal?«

»Ich habe ihn nach Tobago geschickt, um Vorräte einzukaufen und Nicholas vom Flughafen abzuholen. Sie werden morgen wieder hier sein.«

»Nicholas Lyons kommt hierher?«

»Nur, wenn Sie es gestatten. Das ist Ihre Insel. Er kann auch in Tobago bleiben. Ich möchte ihn einfach in der Nähe haben.«

»Er soll ruhig herkommen. Das ist mir egal.«

»Da hat Cal aber was ganz anderes gesagt. Er meinte, Sie legten großen Wert auf Ihre Privatsphäre hier.«

»Ja, das stimmt. Aber manchmal geht es nicht danach, was einem am liebsten ist. Sie werden Lyons brauchen.«

»Ach ja?«

»Gute Nacht, Jungs«, rief sie den Delphinen zu. »Bis morgen früh.«

Die Delphine verabschiedeten sich mit lautem Geschnatter, dann verschwanden sie unter Wasser.

»Sie kommen nur wieder her, wenn ich sie rufe.«

»Warum nennen Sie sie Jungs, wo Susie doch ein Weibchen ist?«

»Als ich sie kennen lernte, haben sie mich nicht so nahe an sich rangelassen, dass ich ihr Geschlecht hätte erkennen können.

Delphine sind äußerst schnelle Schwimmer und ihre Geschlechtsteile sind gut verborgen, solange sie sie nicht benutzen. Damals hab ich mir angewöhnt, sie Jungs zu nennen.«

Sie stand auf. »Ich habe Kaffee aufgesetzt. Ich hole uns zwei Tassen.«

»Ich komme mit.«

»Nein, bleiben Sie hier.« Sie brauchte ein paar Minuten für sich allein. Gott, das alles widerstrebte ihr zutiefst.

Doch im Augenblick spielte das keine Rolle. Sie hatte eine Entscheidung getroffen und sie würde sich daran halten.

Als sie mit dem Kaffee auf einem Tablett zurückkam, stand er mit dem Rücken zu ihr und schaute in den Sonnenuntergang.

»Gott, ist das schön. Kein Wunder, dass Sie nicht von hier wegwollen.«

»Es gibt viele schöne Orte auf der Welt.« Sie stellte das Tablett auf den Tisch. »Und die meisten davon haben Sie wahrscheinlich schon gesehen.«

»Jedenfalls eine ganze Menge.« Er schenkte Kaffee ein und ging mit seiner Tasse an den Rand der Veranda.

»Aber manchmal wird auch ein schöner Ort hässlich. Kommt darauf an, was man dort erlebt. Ich hoffe, dass Ihre Insel immer so bleibt, wie sie ist.«

»Deswegen habe ich Phil gebeten, die Insel mit Sicherheitsanlagen zu schützen.«

»Cal sagt, Sie können die Stromspannung in dem Netz so hoch stellen, dass sie tödlich ist.« Er überlegte. »Und Sie haben diese Schutzvorrichtung schon angebracht, bevor diese hässlichen Dinge passiert sind. Offenbar haben Sie kein großes Vertrauen in die Polizei.«

»Die Küstenwache kommt immer erst, nachdem ein Verbrechen geschehen ist. Ich habe gelernt, dass man sich, wenn man unabhängig bleiben will, nur auf sich selbst verlassen kann.« Sie sah ihm in die Augen. »Haben Sie nicht dieselbe Erfahrung gemacht?«

»Doch.« Er hob seine Tasse an die Lippen. »Ich wollte Ihre Methoden nicht kritisieren. Es war nur eine Feststellung.« Er hielt ihrem Blick stand. »Also gut, wir haben über die landschaftliche Schönheit der Insel gesprochen, über Sicherheitsmaßnahmen und über Unabhängigkeit. Werden Sie mir jetzt sagen, warum ich hier bin?«

»Aber sicher. Ich werde Ihnen geben, was Sie haben wollen.

Was Sie alle haben wollen.« Sie holte tief Luft.

»Marinth.«

Er zuckte zusammen. »Wie bitte?«

»Sie haben mich richtig verstanden. Die antike Stadt, die Festung, den Schatz.« Ihre Mundwinkel zogen sich nach unten.

»Die Trophäe, die es wert war, Phils und Carolyns Leben zu opfern.«

»Sie wissen, wo Marinth liegt?«

»Ich weiß, in welcher Gegend es liegt. Bei den Kanarischen Inseln. Es gibt Hindernisse. Daher wird es nicht leicht werden.

Aber ich kann es finden.«

»Wie denn?«

»Das werde ich Ihnen nicht sagen. Es ist mir wichtig, dass Sie mich weiterhin brauchen.«

»Weil Sie mir nicht vertrauen.«

»Wenn es um Marinth geht, traue ich niemandem. Ich habe viele Jahre mit Phil zusammengelebt und die ganze Zeit hat er von Marinth geträumt. Er hat mir immer wieder die Legenden vorgelesen und mir von den Expeditionen erzählt, die unternommen wurden, um die untergegangene Stadt zu finden.

Er hat sein Schiff Last Home genannt, weil Hepsut auf den Wänden seines Mausoleums diese Bezeichnung für Marinth benutzt hat. Atlantis hat Phil längst nicht so sehr interessiert. Er war davon überzeugt, dass Marinth in technologischer und kultureller Hinsicht der Höhepunkt der damaligen Zivilisation war. Sein halbes Leben lang hat er damit zugebracht, die antike Stadt zu suchen.« Sie schaute aufs Meer hinaus. »Und dann, vor sechs Jahren, glaubte er die Stelle gefunden zu haben. Er hat seine Entdeckung geheim gehalten, weil er nicht wollte, dass andere Ozeanographen dort auftauchten. Er hat seine Crew in Athen zurückgelassen und nur mich mitgenommen, um mir die Stelle zu zeigen.«

»Er hat Marinth gefunden?«

»Er hat eine Möglichkeit gefunden, dorthin zu gelangen. Und den Beweis, dass die Stadt existiert hat. Er war überglücklich.«

»Und warum hat er sein Ziel nicht weiterverfolgt?«

»Es gab ein Problem. Er brauchte meine Hilfe und ich habe sie ihm verweigert.«

»Warum?«

»Wenn er die Stadt finden wollte, dann sollte er es selbst tun.

Vielleicht ist es besser, wenn manche Dinge im Meer verborgen bleiben.«

»Aber jetzt sind Sie bereit, Ihre Hilfe zur Verfügung zu stellen?«

»Es ist der Preis, den ich bezahlen muss. Sie sind ebenso wild darauf, Marinth zu finden, wie Phil es war.«

»Und welche Gegenleistung erwarten Sie von mir?«

»Ich will die Männer, die Phil und Carolyn getötet haben. Ich will, dass sie bestraft werden.«

»Sie wollen ihren Tod?«

Carolyn tot auf dem metallenen Tisch.

»Sehr richtig.«

»Und Sie glauben nicht, dass die Polizei die Männer dingfest machen wird?«

»Darauf kann ich mich nicht verlassen. Und der Versuch, sie auf eigene Faust zu finden, wäre wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt. Ich habe weder Einfluss noch Geld. Diese Insel ist das Einzige, was ich besitze.

Nein, Sie sind meine einzige Chance. Sie haben Geld wie Heu, bei den SEALs haben Sie das Handwerk des Tötens gelernt.

Und die Motivation habe ich Ihnen soeben geliefert.«

»Aber bevor ich meine Belohnung bekomme, muss ich Ihnen geben, was Sie haben wollen.«

»Ich bin nicht dumm, Kelby.«

»Ich auch nicht. Sie haben Lontana nicht geholfen, Marinth zu finden, obwohl Sie ihn mochten. Warum sollte ich Ihnen glauben, dass Sie mich bereitwillig dorthin führen werden?«

»Sie werden mir nicht glauben. Aber Sie sind ebenso besessen wie Phil, deswegen werden Sie das Risiko eingehen. Und ich werde mein Versprechen halten.«

»Sind Sie sich da ganz sicher?«

»Klar doch.«

»Beweisen Sie mir, dass Sie wissen, wo Marinth liegt.«

»Ich habe hier kein Beweisstück, das ich Ihnen zeigen könnte.

Sie werden mir einfach vertrauen müssen.«

»Wenn es nicht hier ist, wo ist es dann?«

»In der Nähe von Las Palmas.«

»Das ist ziemlich vage. Was halten Sie davon, wenn wir kurz hinfliegen, dann können Sie mir die Stelle zeigen.«

»Wenn ich das täte, könnten Sie zu dem Schluss kommen, dass Sie mich nicht mehr brauchen.«

»Dann würden Sie mir einfach vertrauen müssen, nicht wahr?«

Er schüttelte den Kopf. »Wir befinden uns in einer Sackgasse.

Ein Schiff für eine derartige Expedition auszurüsten kann sehr teuer sein. Erwarten Sie etwa von mir, dass ich auf die vage Hoffnung hin, dass Sie die Wahrheit sagen, solche Summen investiere? Wenn ich mich auf so ein Abenteuer einließe, würde ich ziemlichen Ärger mit Wilson bekommen.«

»Warum verwickeln Sie mich in diese Diskussion?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Seit wir uns begegnet sind, wollen Sie doch genau das von mir haben. Jetzt gebe ich es Ihnen.«

»Sie sagen zwar, dass Sie es mir geben werden. Aber haben Sie eine Ahnung, wie oft ich schon von Menschen hereingelegt worden bin, denen ich vertraut habe? Ich habe mir schon vor langer Zeit geschworen, dass mir das nie wieder passieren wird.

Zeigen Sie mir, warum ich glauben soll, dass Sie anders sind.

Bisher sehe ich noch keine Spur eines Beweises.« Er schwieg eine Weile.

»Ich werde drüber nachdenken.«

Ein leichtes Gefühl von Panik ergriff sie. Dass er zögern würde, hatte sie nicht erwartet. Phil hätte keinen Augenblick gezögert. Für seinen Traum hätte er alles riskiert.

»Was erwarten Sie von mir?«

»Ich sagte, ich würde darüber nachdenken.«

»Nein, ich muss mich darauf verlassen können, dass Sie das für mich tun. Carolyn war … Ich kann nicht zulassen, dass diese Leute ungeschoren davonkommen, nach allem, was sie ihr –«

Sie holte tief Luft. »Was wollen Sie von mir? Ich werde tun, was Sie verlangen. Wollen Sie, dass ich mit Ihnen ins Bett gehe?

Ich tu’s. Das wäre doch eine Art Schuldschein, oder? Ich würde alles tun, damit Sie –«

»Halten Sie die Klappe, Herrgott noch mal. Ich will Sie nicht vögeln.«

»Sie haben noch nie daran gedacht?« Ihre Mundwinkel zuckten. »Aber natürlich haben Sie das. Männer … mögen mich. Das war schon immer so. Es hat was mit meiner Ausstrahlung zu tun. Carolyn hat mal gesagt, ich würde den Erobererinstinkt in Männern wecken. Sie meinte, ich müsse das akzeptieren und damit leben. Also, ich komme damit zurecht, Kelby. Wollen Sie zusätzlich zu Marinth noch ein kleines Bonbon? Sie können es haben. Geben Sie mir einfach Ihr Versprechen.«

»Verflucht.«

»Nur Ihr Versprechen.«

»Ich gebe Ihnen überhaupt nichts.« Er tat einen Schritt auf sie zu, seine Augen funkelten in seinem angespannten Gesicht. »Ja, verdammt, ich will Sie vögeln. Ich will es seit dem Augenblick, als ich Sie in Athen zum ersten Mal gesehen habe. Aber man fällt nicht über eine Frau her, die vom Schicksal gebeutelt ist.

Verdammt noch mal, ich bin doch kein Tier. Ich werde Sie nicht wie eine Hure behandeln, auch wenn Sie es mir anbieten. Wenn ich mich dazu entschließe, Marinth zu suchen, dann werde ich das nicht tun, weil ich Sie besitzen will.«

»Soll ich Ihnen jetzt dankbar sein? Sie begreifen überhaupt nichts. Es ist mir egal, was Sie tun. Es bedeutet mir nicht das Geringste.«

Er fluchte leise vor sich hin. »Mein Gott, kein Wunder, dass alle Männer auf Sie fliegen. Ich kann mir keinen Mann vorstellen, der sich den Wunsch, mit Ihnen zu vögeln, verkneifen würde, nur um Ihnen das Gegenteil zu beweisen.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging auf das Haus zu. »Ich muss mich vor Ihnen in Sicherheit bringen. Wir sehen uns morgen früh.«

Sie hatte es vermasselt, dachte sie verzweifelt, als er im Haus verschwunden war. Sie hatte sich vorgenommen, sich kühl und geschäftsmäßig zu geben, aber beim ersten Anzeichen von Widerstand war sie in Panik geraten.

Sie hatte ihm die einzige Ware angeboten, von der sie wusste, dass sie akzeptabel war.

Aber für ihn war sie nicht akzeptabel gewesen. Aus irgendeinem Grund hatte sie mit ihrem Angebot nur Wut und Empörung bei ihm ausgelöst.

Nicht, dass er kein Interesse gehabt hätte. Sie kannte die Anzeichen nur zu gut. Sie hatte seine Anspannung gespürt, seine Begierde.

Und sie war nicht davor zurückgeschreckt.

Die Erkenntnis verblüffte sie. Sie hatte nicht wie üblich mit Widerwillen reagiert. Vielleicht lag es daran, dass sie sich immer noch in einem emotionalen Vakuum befand. Andererseits waren ihre Emotionen wach genug gewesen, um sie in Panik zu versetzen, als sie fürchten musste, dass er sich weigern würde, ihr zu helfen.

Egal. Sie würde es am Morgen noch einmal versuchen.

Jetzt hatte er erst mal die ganze Nacht Zeit, über Marinth nachzudenken und darüber, was es ihm bedeutete.

Für einen Mann war Sex ohnehin nur ein flüchtiger Anreiz.

Ehrgeiz und die Gier nach Reichtum waren ein starker und dauerhafter Antrieb und fegten alles beiseite, was sich ihnen in den Weg stellte. Wer wusste das besser als sie?

Der Mond ging auf und leuchtete klar und schön über dem Wasser. Sie würde noch ein bisschen draußen auf der Veranda bleiben, vielleicht konnte sie sich etwas beruhigen, bevor sie zu Bett ging. Im Augenblick fühlte sie sich, als würde sie nie wieder schlafen können. Ihr Blick wanderte zu dem Netz hinüber, das die Bucht vor Eindringlingen schützte. So viel Böses jenseits des Netzes.

Haie, Barrakudas und die Schweinehunde, die Carolyn getötet hatten. Hier auf der Insel hatte sie sich immer in Sicherheit gefühlt, aber das war vorbei.

Das war vorbei …

Verdammt, er war total geil.

Und ein Idiot, dachte Kelby wütend. Ein kompletter Idiot.

Warum hatte er ihr Angebot nicht angenommen? Normalerweise hatte er mit solcher Selbstkasteiung nichts am Hut. Wenn er Sex haben konnte, sagte er nicht nein.

Wahrscheinlich lag es daran, dass ihr Angebot so völlig aus heiterem Himmel gekommen war; das hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Sie hatte sich nie anmerken lassen, dass sie spürte, wie sehr er sie begehrte. Verflixt, seit dem Tag, an dem er ihr zum ersten Mal begegnet war, befand er sich auf einer emotionalen Achterbahnfahrt.

Und genau das war das Problem.

Am besten, er schlug sich den Gedanken an Sex aus dem Kopf und konzentrierte sich auf die wichtigen Dinge.

Konnte er ihr glauben, wenn sie behauptete, sie könne ihm zeigen, wo Marinth lag? Sie war besessen von dem Wunsch, die Männer zu finden, die ihre Freundin getötet hatten, und zwar so sehr, dass sie womöglich auch lügen und falsche Versprechungen machen würde, um ihn dazu zu bringen, dass er ihr half. Es war eine komplizierte Situation.

Eine, die er erst nach einer kalten Dusche würde sachlich durchdenken können.

Als Kelby auf dem Weg in sein Zimmer war, klingelte sein Handy.

»Ich habe rausgefunden, wer die Siren gechartert hat«, sagte Wilson, als Kelby sich meldete. »Hugh Archer. In seiner Begleitung war ein gewisser Joseph Pennig. Es war nicht leicht, das in Erfahrung zu bringen. Ich habe eine Menge von Ihrem Geld dafür ausgegeben. Spiro, der Besitzer der Chartergesellschaft, hat sich vor Angst fast in die Hose gemacht.«

»Wieso?«

»Ich nehme an, die haben ihn gehörig eingeschüchtert.

Spiro ist ein zäher alter Hase, der nicht davor zurückschreckt, seine Boote an die Drogenmafia von Algier zu vermieten. Die müssen also ziemlich überzeugend gewesen sein. Er meinte, Pennig hätte gedroht, ihm den Schwanz abzuschneiden, falls er nicht augenblicklich vergessen würde, dass er die beiden je gesehen hat.«

»Tja, damit kann man einem Mann sicherlich Angst einjagen.

Konnte Spiro Ihnen irgendwas Näheres über Archer erzählen?«

»Er hat darauf verzichtet, ihn bei der Vermietung einen Vordruck ausfüllen zu lassen«, erwiderte Wilson trocken. »Aber er hat Archer ein paar diskrete Fragen gestellt, nachdem er den Chartervertrag in bar bezahlt hat.«

»Drogenhändler?«

»Nein, zurzeit handelt er mit Waffen, und zwar in ziemlich großem Stil. Einem Gerücht zufolge hat er Bauteile für Nuklearanlagen in den Irak geschmuggelt.«

»Dann hätte er also problemlos an den Plastiksprengstoff rankommen können, mit dem die Last Home in die Luft gesprengt wurde.«

»Aber warum hätte er das tun sollen? Es sei denn, Lontana hat für ihn Ware transportiert.«

»Ich weiß nicht, warum. Marinth könnte als Grund genügen.

Vielleicht hat Lontana Archer erst geholfen und war ihm dann im Weg. Aber eine versunkene Stadt aufzuspüren ist nichts, wobei man schnell reich wird. Man muss eine Menge Zeit und Geld investieren, bis man auf die Goldader stößt. Aber ich tippe immer noch auf Marinth. Die haben Carolyn Mulan entführt, um Melis in die Hände zu kriegen. Und Melis weiß etwas über Marinth.«

»Und Lontana hat versucht, Sie zu kontaktieren, um mit Ihnen über Marinth zu reden. Soll ich Informationen über Archers Hintergrund zusammentragen und rausfinden, wo er herkommt?«

»Natürlich. Bringen Sie in Erfahrung, ob er letzte Woche auf den Bahamas war. Wie lange werden Sie dafür brauchen?«

»Woher zum Teufel soll ich das wissen? Ich habe schließlich keine Kontakte zu Interpol.«

»Dann beschaffen Sie sich welche. Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt.«

»Reden Sie mit Lyons«, erwiderte Wilson säuerlich. »Der ist bestimmt mit der Polizei auf mehreren Kontinenten vertraut.«

»Vertraut vielleicht. Aber nicht unbedingt auf freundschaftlicher Ebene.«

»Hat Melis Ihnen irgendwelche Hinweise in Bezug auf Marinth gegeben?«

»Ja, so könnte man es nennen.«

Archer. Jetzt hatte der Mann auf der Yacht einen Namen und eine Vergangenheit. Eine verdammt schmutzige Vergangenheit.

Aber wenn er für den Tod von Lontana, Maria Perez und Carolyn Mulan verantwortlich war, dann konnte er sich auf eine noch viel hässlichere Zukunft gefasst machen. Der Mann wäre kein Verlust für die Menschheit, falls er, Kelby, sich entschließen sollte, Jagd auf ihn zu machen.

Falls? Die Entscheidung war bereits gefallen. Warum zögerte er noch? Seit er Melis zum ersten Mal gesehen hatte, war er butterweich und dieser Zustand hing ihm zum Hals heraus. Er hatte einen Hinweis auf Archer.

Er konnte Möglichkeiten finden, Druck auf Melis auszuüben, damit sie ihr Versprechen hielt. Marinth war am Horizont aufgetaucht und wartete auf ihn.

Also sollte er tun, was er wollte. Marinth finden. Sich auf den Deal einlassen.

Und den angebotenen Sex gleich mitnehmen.

6

Um halb eins in der Nacht klingelte Melis’ Telefon.

Carolyn.

Obwohl sie nicht geschlafen hatte, fuhr sie vor Schreck aus dem Bett hoch. Zu sehr fühlte sie sich an die Nacht erinnert, als Carolyn sie angerufen hatte. Schmerz. Tod … Das Telefon klingelte erneut.

Cal, der aus Tobago anrief? Sie nahm ab.

Die männliche Stimme klang weich, sanft. »Melis Nemid?«

Es war nicht Cal. »Ja. Wer sind Sie?«

»Spezieller Lieferservice.«

»Wie bitte?«

»Ich habe ein Päckchen für Sie.«

»Soll das ein Witz sein?«

»O nein, das ist sehr ernst. Ich habe das Geschenk für Sie ans Netz gebunden. Ich hab mir einen üblen Stromschlag eingefangen und bin ziemlich sauer auf Sie.«

»Was zum Teufel soll das alles?«

»Wissen Sie, Sie hätten, was Marinth angeht, wirklich nicht so stur sein sollen. Es ist gut für mich, aber die Konsequenzen werden Ihnen nicht gefallen.«

»Wer sind Sie?«

»Wir werden uns später noch unterhalten. Holen Sie sich erst mal Ihr Geschenk.«

»Ich gehe nirgend wohin.«

»Ich denke doch. Die Neugier wird Sie schon hintreiben.

Diese quiekenden Delphine haben mich übrigens ziemlich genervt.«

Sie zuckte zusammen. »Wenn Sie ihnen etwas zuleide getan haben, bringe ich Sie um.«

»Gott, sind Sie blutrünstig. Sie haben eine Menge gemein mit einem meiner Mitarbeiter. Sie müssen ihn unbedingt kennen lernen.« Er ließ einen Augenblick verstreichen. »Es war mir ein Vergnügen, direkt mit Ihnen zu plaudern. Wesentlich erfreulicher, als nur ein Gespräch mitzuhören.« Er legte auf.

Wie erstarrt saß sie in ihrem Bett. Der letzte Satz, den der Mann gesagt hatte, konnte nur eines bedeuten.

Carolyn. Er war derjenige, der ihr Gespräch mitgehört hatte, der Carolyn gezwungen hatte, sie anzulügen.

»Mein Gott.« Sie sprang aus dem Bett, zog Shorts und T-Shirt über und lief aus dem Zimmer. Im Flur riss sie den Sicherungskasten auf und erhöhte die Stromspannung. Die Haustür schlug hinter ihr zu, als sie aus dem Haus rannte.

»Wo zum Teufel wollen Sie denn hin?«

Sie drehte sich auf dem Steg um und sah Kelby in der Tür stehen.

»Susie und Pete. Dieser Scheißkerl will meinen Jungs was antun.« Sie machte das Motorboot los. »Das lasse ich nicht –«

»Welcher Scheißkerl?« Kelby sprang zu ihr ins Boot.

»Und warum sollte er den Delphinen etwas tun wollen?«

»Weil er pervers ist.« Sie ließ den Motor an. »Weil das sein Charakter ist. Er quält gern. Er zerfleischt Menschen und Tiere und –«

»Würden Sie mir bitte sagen, was zum Teufel hier vor sich geht?«

»Ich habe einen Anruf von dem Scheißkerl gekriegt, der Carolyn umgebracht hat. Er hat mir gesagt, er hätte ein Geschenk für mich. Und dann hat er angefangen von Pete und Susie zu reden und wie –« Sie holte tief Luft.

»Ich bringe ihn um, wenn er ihnen was getan hat.«

»Das hatten Sie doch sowieso vor. Hat er Ihnen seinen Namen genannt?«

»Nein, aber er hat mir zu verstehen gegeben, dass er derjenige war, der im Hintergrund zugehört hat, als Carolyn mich angerufen hat.« Sie reichte ihm zwei wattstarke Taschenlampen.

»Machen Sie sich nützlich. Leuchten Sie das Wasser hinter dem Netz ab. Womöglich wartet er da draußen auf mich, ein Gewehr im Anschlag.«

»Das wäre unlogisch.« Er schaltete die Lampen an und richtete die Lichtkegel auf das Meer jenseits des Netzes.

»Nichts. Ich glaube nicht, dass er Sie töten will.«

»Verschonen Sie mich mit Ihrer Logik.« Langsam ließ sie das Boot auf das Netz zugleiten. »O Gott, ich höre Pete und Susie nicht.«

»Vielleicht sind sie unter Wasser.«

»Nicht, wenn sich jemand am Netz zu schaffen gemacht hat.

Sie sind wie Wachhunde.« Nemid blies in die Trillerpfeife, die sie um den Hals hängen hatte. Immer noch kein Zeichen von den Delphinen. Panik ergriff sie. »Vielleicht sind sie verletzt.

Warum kommen sie nicht –«

»Immer mit der Ruhe. Ich höre sie.«

Jetzt hörte sie die beiden auch, stellte sie erleichtert fest.

Ein hohes, leises Klicken am südlichen Ufer der Bucht.

Sie wendete das Boot. »Richten Sie den Lichtstrahl auf sie. Ich muss mich vergewissern, dass ihnen nichts passiert ist.«

Zwei glänzende graue Köpfe tauchten aus den Wellen auf, als sie sich näherten. Die Tiere schienen nicht verletzt zu sein, aber sie waren unruhig. »Alles in Ordnung, Jungs«, rief Nemid ihnen zu. »Ich bin da. Euch wird nichts geschehen.«

Aufgeregt schnatternd schwamm Susie auf das Boot zu.

Pete jedoch blieb, wo er war, und schwamm vor dem Netz hin und her, als müsste er es bewachen.

»Fahren Sie näher ran. Dort am Netz hängt irgendwas.«

Kelby richtete den Lichtstrahl auf eine Stelle hinter Pete.

»Ich sehe etwas im Wasser glitzern.«

»Glitzern?« Jetzt sah sie es auch. Es sah aus wie ein Stück Maschendraht, vielleicht einen halben Meter breit und einen halben Meter lang. »Was zum Teufel ist das?«

»Was auch immer es sein mag, es ist am Netz befestigt«, sagte Kelby. »Und wir können es erst holen, wenn Sie das Netz runterlassen und den Strom abschalten.«

Sie leckte sich nervös die Lippen. »Mein Geschenk.«

»Sieht nicht besonders gefährlich aus. Aber Sie haben hier das Sagen.«

»Ich will wissen, was es ist. Leuchten Sie mir.« Sie fuhr hinüber zur Netzaufhängung. Innerhalb von drei Minuten hatte sie das Netz heruntergelassen und den Strom abgeschaltet und war auf dem Weg zurück zu Pete.

Der Delphin machte keine Anstalten, ins offene Meer hinauszuschwimmen. Lautlos glitt er vor dem Gegenstand im Wasser hin und her.

»Er ist beunruhigt«, sagte Melis. »Er spürt, dass irgendwas …

nicht stimmt. Er war schon immer sensibler als Susie.« Sie betrachtete den Gegenstand, der direkt unter der Wasseroberfläche trieb. Am liebsten hätte sie sich abgewandt.

Ebenso wie Pete empfand sie eine böse Vorahnung.

»Wir müssen es ja nicht sofort aus dem Wasser holen«, sagte Kelby leise. »Ich kann später noch mal herkommen und es rausziehen.«

»Nein.« Vorsichtig manövrierte sie das Boot näher heran.

»Sie haben ja selbst gesagt, dass es unlogisch wäre, wenn er mich jetzt in die Luft sprengen würde oder irgendwas in der Art.

Ich werde so nah wie möglich ranfahren, dann können Sie das Ding vom Netz lösen.«

»Wie Sie wollen.« Er beugte sich über den Bootsrand und griff mit beiden Händen ins Wasser. »Es ist mit einem Seil befestigt.

Ich werde einen Moment brauchen …«

Es war ihr egal, selbst wenn er zehn Jahre brauchte. Von ihr aus konnte das verdammte Ding auf den Meeresboden sinken.

Kelby hatte die Lampen auf dem Boden des Boots abgestellt, aber in dem schwachen Licht, das auf das Wasser fiel, konnte sie ein seltsames Glitzern erkennen. Sie begann zu zittern.

Gold. Es sah aus wie Gold.

»Ich hab’s.« Er zog das Stück Holz ins Boot und betrachtete es. »Aber was zum Teufel ist das? Hübsche Schnitzerei. Sieht aus wie vergoldet, aber es steht keine Nachricht darauf.«

Fein vergoldetes Schnitzwerk.

»Sie irren sich. Es enthält eine Nachricht«, erwiderte sie tonlos.

Fein vergoldetes Schnitzwerk.

»Ich kann nicht sehen, was –« Er brach ab, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. »Sie wissen, was das ist.«

»Ja, ich weiß es.« Sie schluckte. Bloß nicht kotzen. »Werfen Sie es wieder ins Meer.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja, verdammt. Werfen Sie es weg.«

»Ist ja gut.« Mit aller Kraft schleuderte Kelby das Stück Holz ins Meer.

Sie wendete das Boot und fuhr zurück zum Ufer.

»Melis, Sie müssen das Netz wieder hochfahren«, sagte Kelby ruhig.

Gott, das hatte sie ganz vergessen. Seit sie auf der Insel war, hatte sie noch nie vergessen, die Bucht zu sichern.

»Danke.« Sie wendete erneut und fuhr zurück zum Netz.

Kurz bevor sie den Steg erreichten, sagte Kelby: »Wollen Sie mir nicht sagen, welche Nachricht Archer Ihnen geschickt hat?«

»Archer?«

»Wilson sagt, der Typ heißt Hugh Archer. Wenn es sich um denselben Mann handelt, der dieses Boot in Griechenland gechartert hat.«

»Warum haben Sie mir das nicht gesagt?«

»Ich bin noch gar nicht dazu gekommen. Ich habe es erst heute Abend erfahren und Sie waren nicht in der Stimmung, mir zuzuhören.«

Sie hatte immer noch Angst. So viel Gewalt und Kaltblütigkeit. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie viel Bosheit in Archer stecken musste, dass er ihr dieses Stück Holz schickte.

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Werden Sie mir sagen, was das Stück Holz Ihnen bedeutet?«

»Nein.«

»Kurz und bündig. Könnten Sie mir dann vielleicht verraten, ob es sich um eine einmalige Botschaft handelt oder um Vorgeplänkel?«

»Es wird weitere Botschaften geben.« Sie waren am Steg angekommen und sie schaltete den Motor aus. »Und zwar schon bald. Er wird wieder versuchen, mich zu verletzen.«

»Warum?«

»Manche Männer sind einfach so.« Redete sie von der Vergangenheit oder von der Gegenwart? Beides schien ineinander überzugehen. »Wahrscheinlich hat er es genossen, Carolyn zu quälen. Macht. Solche Männer lieben Macht …« Sie ging auf das Haus zu.

»Melis, ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie mich im Dunkeln lassen.«

»Und ich kann im Moment nicht mit Ihnen reden. Lassen Sie mich allein.« Sie ging ins Haus. In ihrem Zimmer schaltete sie alle Lampen an, wickelte sich auf ihrem Sessel in eine Decke ein und starrte ihr Telefon an, das auf ihrem Nachttisch lag. Sie musste aufhören zu zittern. Er würde sie sehr bald anrufen und sie musste gewappnet sein.

Gott, wenn sie doch nur aufhören könnte zu zittern.

Er rief nicht an.

Als der erste Streifen Dämmerung sich am Horizont zeigte, gab sie es schließlich auf und ging in die Dusche. Das heiße Wasser tat ihrem ausgekühlten Körper gut, reichte jedoch nicht, um ihre Muskeln zu entspannen. Dafür musste das Warten vorüber sein. Sie hätte sich denken können, dass er sie auf diese Weise quälen würde.

Warten hatte sie schon immer als eine Form der Folter empfunden. Wahrscheinlich wusste er das. Wahrscheinlich wusste er alles.

Kelby saß in einem Liegestuhl und deutete mit dem Kinn auf die Kaffeekanne auf dem Tisch, als sie auf die Veranda trat.

»Ich habe frischen Kaffee gemacht, als ich gehört habe, dass Sie aufgestanden sind.« Er musterte ihr Gesicht. »Sie sehen schrecklich aus.«

»Danke.« Sie füllte eine Tasse. »Sie sehen auch nicht gerade blendend aus. Haben Sie die ganze Nacht hier draußen verbracht?«

»Ja. Was hatten Sie denn erwartet? Als Sie in Ihr Zimmer gerannt sind, haben Sie ausgesehen wie eine Holocaustüberlebende, die gerade zurück nach Auschwitz geschickt wurde.«

»Und das hat Ihre Neugier geweckt.«

»Ja, so könnte man auch sagen. Wenn Sie mir nicht zutrauen, dass ich mir Sorgen mache. Werden Sie mit mir reden?«

»Noch nicht.« Sie legte ihr Telefon auf den Tisch, bevor sie es sich in einem Liegestuhl bequem machte, den Blick aufs Meer gerichtet. »Er … hat meine Patientenakte. Ich habe Carolyn Dinge offenbart, über die ich noch nie mit jemandem gesprochen habe. Er weiß genau, wo er mich treffen kann. Er will mich manipulieren.«

»Hurensohn.«

»Sind Sie mir nicht aus demselben Grund aus Athen hierher gefolgt? Sie wollten rausfinden, wie Sie mich dazu bringen können, Ihnen von Marinth zu erzählen. Er will dasselbe wie Sie.«

»Ich glaube, es behagt mir nicht besonders, wenn Sie mich mit ihm vergleichen.«

»Das tue ich auch nicht. Kein Mensch auf der Welt ist so niederträchtig wie er.«

»Wie tröstlich.«

Vielleicht sollte sie sich entschuldigen. Sie war so erschöpft, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. »Ich wollte Sie nicht – Ich sitze einfach in der Falle und versuche mich freizukämpfen. Ich weiß nicht, wohin oder an wen ich mich –

Glauben Sie mir, ich hätte Sie nicht um Ihre Hilfe gebeten, wenn ich der Meinung wäre, dass Sie so sind wie er.«

»Das Angebot steht also noch?«

»Natürlich. Hatten Sie geglaubt, er könnte mich einschüchtern?« Ihre Lippen spannten sich. »Ich werde ihm niemals geben, was er haben will.«

»Wir wissen doch noch gar nicht, was er will.«

»Marinth. Er hat’s mir gesagt.«

»Archer handelt im großen Stil mit Waffen. Ich verstehe gar nicht, was der überhaupt mit dieser Geschichte zu tun hat. Ich kann mir vorstellen, dass er scharf darauf ist, von einem wertvollen Fund was abzusahnen, aber er –«

»Er ist Waffenhändler?«

»Ja.« Er sah sie durchdringend an. »Das scheint Sie auf eine Idee zu bringen.«

»Vielleicht weiß ich, wie er an die Sache geraten ist. Phil brauchte dringend Geld für die Expedition. Ich bin mir sicher, dass er deswegen versucht hat, Kontakt zu Ihnen aufzunehmen.

Aber Archer könnte von Phil gehört und sich mit ihm in Verbindung gesetzt haben.«

»Und was könnte er gehört haben?«

Sie antwortete nicht gleich. Nachdem sie es so lange gewohnt gewesen war, Phil zu schützen, fiel es ihr schwer, jemandem zu vertrauen. Aber Phil war tot. Sie brauchte ihn nicht mehr zu schützen. »Wir … haben Schrifttafeln gefunden. Aus Bronze. In zwei kleinen metallenen Truhen, bis obenhin voll mit Schrifttafeln.«

»In Marinth.«

»Nicht in den Ruinen. Die haben wir nicht gefunden. Phil meinte, die Truhen seien wahrscheinlich durch die Wucht, die die Stadt zerstört hat, weggeschleudert worden. Vielleicht waren die Tafeln auch schon vor der Katastrophe versteckt worden.

Aber das war unerheblich. Phil war völlig aus dem Häuschen.«

»Das kann ich verstehen.«

»Sie waren mit Hieroglyphen beschrieben, die sich aber etwas von denen unterschieden, die man aus Ägypten kennt. Phil musste sehr vorsichtig sein bei der Suche nach einem Übersetzer, dem er vertrauen konnte, und es hat über ein Jahr gedauert, bis er jemanden gefunden hat, der sie entziffern konnte.«

»Heiliger Strohsack.«

»Ja, das fasziniert Sie, was? Phil hat es auch fasziniert.«

Sie schaute aufs Meer hinaus. »Mich anfangs auch. Es war, als würde man eine ganz neue Welt des Wissens und der Erfahrungen entdecken.«

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Aber irgendwas hat Sie dann abgeschreckt. Was war es?«

»Manchmal sind neue Welten nicht das, was man in ihnen sehen will. Aber Phil war glücklich. Er hatte sich mit thermischen Kanälen am Meeresboden beschäftigt und glaubte, auf einer der Schrifttafeln etwas entdeckt zu haben, das seiner Meinung nach die Welt verändern würde. Eine Formel, mit der sich ein Schallapparat konstruieren ließe, mit dem man die Kanäle und vielleicht sogar die Energie des Magmas im Erdinnern anzapfen könnte. Eine Möglichkeit, geothermische Energie zu gewinnen, die sowohl billig als auch sauber wäre. Er glaubte, er könnte die Welt retten.«

»Und er hat diesen Apparat entwickelt?«

»Ja. Er hat lange dafür gebraucht, aber er hat es geschafft.«

»Und das Gerät hat funktioniert?«

»Es hätte funktionieren können. Wenn man es so eingesetzt hätte, wie Phil es sich vorgestellt hatte. Er hat sich an einen amerikanischen Senator gewandt, der sich für den Umweltschutz stark machte. Man hat ihm ein Labor und ein Team zur Verfügung gestellt, damit er seine Arbeit beenden konnte.« Sie befeuchtete ihre Lippen.

»Aber was sich da abspielte, hat ihm überhaupt nicht gefallen.

Es gab zu viel Gerede von vulkanischen Effekten und zu wenig Interesse an geothermischer Energie. Er hatte den Eindruck, dass diese Leute seine Erfindung als Waffe einsetzen wollten.«

»Eine Schallkanone?« Kelby pfiff leise durch die Zähne.

»Das wäre eine teuflische Waffe. Erdbeben?«

Sie nickte. »Ganz genau.«

»Sie scheinen sich ja ganz sicher zu sein.«

»Es gab einen … Vorfall. Eine Tragödie. Es war nicht Phils Schuld. Er hatte sich längst mit seinen Aufzeichnungen und den Prototypen abgesetzt. Er hat mir versprochen, nicht weiter an dem Gerät zu arbeiten.« Sie verzog das Gesicht. »Aber Marinth hatte er nicht aufgegeben. Er hatte wieder angefangen, danach zu suchen.«

»Und Sie glauben, dass Archer von den Experimenten Wind bekommen hat und ein Stück vom Kuchen abhaben wollte?«

Sie zuckte die Achseln. »Für das Projekt waren einige ziemlich zwielichtige Typen angeheuert worden. Unmöglich ist es nicht.«

»Dann ist Archer also womöglich gar nicht auf Marinth aus.

Haben Sie Lontanas Aufzeichnungen?«

»Keine Prototypen.« Sie überlegte. »Aber ich habe die Schrifttafeln, die Transskripte und die Aufzeichnungen über die Arbeiten, die er für die Regierung durchgeführt hat.«

»Verdammt. Wo haben Sie das Zeug?«

»Nicht hier. Glauben Sie etwa, ich würde Ihnen sagen, wo es sich befindet?«

»Nein, wahrscheinlich nicht. Aber es wäre vielleicht sicherer für Sie, wenn noch jemand außer Ihnen wüsste, wo sich das alles befindet.«

Sie schwieg.

»Also gut, sagen Sie’s mir nicht. Ich bin ohnehin nicht an Schallbomben interessiert.«

»Ach nein? Die meisten Männer interessieren sich für Kriegsspielzeug. Ihnen gefällt die Vorstellung, über genug Feuerkraft zu verfügen, um den Planeten ins Wanken zu bringen.«

»Sie scheren schon wieder alle über einen Kamm. Und allmählich geht es mir auf die Nerven, dass –«

»Da kommt jemand.« Sie sprang auf und ging zum Haus.

»Hören Sie Pete und Susie nicht?«

»Nein. Sie müssen einen siebten Sinn haben.« Er stand auf und folgte ihr. »Und es müssen ja keine Besucher sein, oder?«

»Nein, aber ich weiß, dass jemand gekommen ist.« Als sie aus der Haustür trat, atmete sie erleichtert auf. »Ach, es sind Cal und Nicholas. Ich hatte ganz vergessen, dass sie sich angemeldet hatten.«

»Sie waren ganz offensichtlich mit anderen Dingen beschäftigt«, sagte Kelby. Sie standen auf dem Steg und sahen zu, wie Cal das Netz herunterließ. »Sie sind ein bisschen früh dran. Sie müssen vor dem Morgengrauen aufgebrochen sein.«

Melis zuckte zusammen. »Aus welchem Grund denn?«

»Keine Ahnung.« Er beobachtete das Boot. »Aber machen Sie sich keine Sorgen, Melis. Über Cal weiß ich nichts, aber Nicholas ist in Ordnung. Er hat mir mehr als einmal das Leben gerettet.«

»Ich kenne Cal seit Jahren. Er würde bestimmt nie – Aber jetzt ist alles anders. Ich weiß überhaupt nicht mehr, womit ich rechnen soll.«

Cal winkte ihr zu, während er das Netz wieder befestigte.

Sie winkte zurück und entspannte sich. Sie machte sich selbst verrückt. Cal wirkte vollkommen normal und entspannt.

»Alles klar?«, fragte Kelby. »Pete und Susie kommen zurückgeschwommen. Ihre kleine Inselwelt scheint noch in Ordnung zu sein. Kommen Sie, gehen wir in die Küche, dann mache ich Rührei für alle.«

»Das übernehme ich. Ich muss mich beschäftigen.«

Cal und Nicholas näherten sich dem Steg. »Habt ihr Hunger?«, rief Melis. »So früh, wie ihr aufgebrochen seid, habt ihr bestimmt keine Zeit zum Frühstücken gehabt.«

»Ja, ich bin halb verhungert«, knurrte Cal, als sie am Steg anlegten. »Ich wollte mit Lyons in dem kleinen Restaurant am Strand frühstücken gehen, aber er wollte unbedingt auf schnellsten Weg herkommen. Ich hab ihm gleich gesagt, dass es keine Bedeutung hat.«

»Was hat keine Bedeutung?«, wollte Kelby wissen.

»Das hier lag heute Morgen vor Cals Tür«, sagte Lyons und nahm etwas aus dem Boot. »Mit einem Zettel, auf dem Melis’

Name stand.«

»Bloß ein leerer Vogelkäfig«, sagte Cal. »Ich könnte die Aufregung verstehen, wenn ein toter Vogel dringelegen hätte oder sonst was. Eigentlich ein ganz hübsches Stück. Ich hab noch nie einen vergoldeten Vogelkäfig gesehen.«

Kafas.

Sie spürte, wie der Steg unter ihren Füßen schwankte.

Nicht in Ohnmacht fallen. Nicht kotzen. Das würde ihm nur Genugtuung verschaffen. Macht. Solche Menschen berauschten sich an Macht.

»Melis?«, sagte Kelby.

»Das … war Archer. Das kann nur er gewesen sein.«

»Was soll ich damit tun?«

»Das ist mir egal. Ich will das Ding nie wieder sehen.«

Sie drehte sich auf dem Absatz um. »Ich gehe schwimmen.

Füttern Sie die Delphine, Kelby.«

»Sicher. Mach ich.«

Wie sollte sie sich um irgendetwas kümmern, wenn sie an nichts anderes denken konnte als an diesen verdammten goldenen Vogelkäfig? Kafas.

Nicholas pfiff leise durch die Zähne, als Melis im Haus verschwand. »Gibt’s Ärger?«

Kelby nickte. »Und der Vogelkäfig ist nur die Spitze des hässlichen Eisbergs.« Er wandte sich an Cal. »Machen Sie Kleinholz aus dem verdammten Ding und sehen Sie zu, dass sie es nie wieder zu Gesicht bekommt.«

Cal zog die Brauen zusammen. »Ich wollte nicht – Ich hätte nie gedacht, dass sie so darauf reagieren würde.«

Er nahm den Vogelkäfig und ging ans Ende des Stegs.

»Er ist doch eigentlich ganz hübsch.«

»Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass nicht alles Gold ist, was glänzt«, sagte Nicholas. »Was bringt sie so aus der Fassung?«

»Ein Waffenhändler namens Hugh Archer, der wahrscheinlich Lontana, Carolyn Mulan und ihre Sekretärin umgebracht hat. Er ist gestern Abend draußen am Netz gewesen und hat ihr Ärger gemacht.«

Nicholas schaute zum Netz hinüber. »Dann beobachtet er wahrscheinlich die Insel. Soll ich mir ein Boot nehmen und mich mal umsehen?«

»Genau das wollte ich dir gerade vorschlagen.«

»Dachte ich’s mir. Darf ich zuerst frühstücken?«

»Aber gern. Melis hat mich angewiesen, dich zu verpflegen.«

»Sie hat dich angewiesen? Wirklich?« Nicholas grinste.

»Ich glaube, diese Insel könnte mir gefallen.«

7

An jenem Abend rief Archer um neun Uhr an.

»Tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen, Melis. Das muss Ihnen ziemlich zugesetzt haben. Aber ich wollte die volle Schockwirkung abwarten. Hat Ihnen der Vogelkäfig gefallen?

Es war ziemlich viel Arbeit, ihn mit Goldbronze zu besprühen.

Ich bin eben ein Perfektionist.«

»Das war sadistisch und dumm. Und Ihr Katz-und-Maus-Spiel hat mich nicht im Geringsten schockiert.«

»Sie lügen. Sie können es nicht ertragen zu warten. Es löst zu viele Erinnerungen aus. Das haben Sie schließlich selbst gesagt.

Ich glaube, auf Band drei.«

»Ich bin drüber weg. Ich habe eine Menge Traumata überwunden, an denen Sie sich einen runterholen.«

»Sie haben tatsächlich Recht. Die Bänder haben mich angenehm erregt. Ich stehe auf kleine Mädchen. Aber ich denke, ich würde Sie jetzt ebenso anziehend finden.

Ich wäre wirklich sehr enttäuscht, wenn Sie mir diese Forschungsunterlagen allzu bereitwillig aushändigen würden.«

»Ich werde Ihnen überhaupt nichts aushändigen.«

»Das hat Ihre Freundin Carolyn auch gesagt. Wollen Sie etwa wie sie enden?«

»Sie Scheißkerl.«

»Nein, ich würde es nicht genauso machen. Eine Strafe muss ganz persönlich auf einen Menschen zugeschnitten sein. Wie gesagt, ich bin ein Perfektionist. Ich glaube, Sie sehnen sich immer noch nach Istanbul. Ich denke, ich sollte versuchen, einen passenden Ort für Sie zu finden. Ich bin noch nie in einem Kafas in Istanbul gewesen, aber die gibt es auch an anderen Orten auf der Welt. In Albanien zum Beispiel, in Kuwait, in Buenos Aires.

Ich bin schon in vielen Kafas Stammkunde gewesen.«

»Davon bin ich überzeugt.« Sie hatte Mühe, mit fester Stimme zu sprechen. »Etwas anderes hätte ich auch nicht von Ihnen erwartet.«

»Und Ihr besonderer Spielplatz gefällt mir am allerbesten.«

Der Käfig. Das goldene Schnitzwerk. Das Dröhnen der Trommeln.

»Ah, Sie können im Moment nicht reden? Ich merke schon, dass das sehr schwierig für Sie ist. Wussten Sie, dass Dr. Mulan wegen Ihrer Prognose sehr besorgt war? Sie haben sich zu sehr unter Kontrolle. Sie fürchtete, dass es nur einer Kleinigkeit bedürfte, um Sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie haben ein so angenehmes Leben. Es würde mir das Herz brechen, wenn das durcheinander geriete. Eine Irrenanstalt ist auch ein Käfig.«

»Drohen Sie mir etwa damit, dass Sie mich in den Wahnsinn treiben wollen?«

»Aber ja doch. In den Therapiesitzungen bei Dr. Mulan haben Sie sich auf einem schmalen Grat bewegt, das war die Hölle für Sie. Ich könnte mir vorstellen, dass ich Sie dahin zurückschicken kann, wenn ich alte Erinnerungen in Ihnen wachrufe. Regelmäßige Anrufe, die die Vergangenheit wiederaufleben lassen. Aber dieser Art von Folter bedarf es bei Ihnen nicht.« Er lachte in sich hinein. »Ich ziehe es natürlich vor, Sie das ganz real spüren zu lassen, und das wird mir sicherlich viel Vergnügen bereiten.«

»Hören Sie. Ich lasse mich von Ihnen nicht in den Wahnsinn treiben. Und Sie werden es auch nicht schaffen, mich zu töten.«

Sie holte tief Luft. »Und Kafas ist meine Vergangenheit, nicht meine Zukunft. Carolyn hat mich den Unterschied gelehrt.«

»Das werden wir ja sehen«, sagte Archer. »Ich glaube nicht, dass Sie so stark sind, wie Sie es sich einbilden. Es hat Zeiten gegeben, da haben Sie sich nicht getraut einzuschlafen, vor lauter Angst, dass Sie träumen würden. Haben Sie letzte Nacht geschlafen, Melis?«

»Wie ein Stein.«

»Das stimmt nicht. Und es wird noch schlimmer kommen.

Weil ich Sie an sämtliche Einzelheiten erinnern werde. Ich schätze, dass Sie spätestens in einer Woche zusammenbrechen.

Dann werden Sie mich anflehen, die Schrifttafeln zu nehmen und Sie in Frieden zu lassen. Und ich werde zu Ihnen eilen und Sie von den Tafeln befreien. Ich hoffe bloß, dass es dann nicht zu spät für Sie ist.«

»Sie können mich mal.«

»Übrigens, weiß Kelby über Kafas Bescheid?«

»Was wissen Sie denn über Kelby?«

»Dass Sie ihn mit Marinth geködert und in Nassau zwei miteinander verbundene Hotelzimmer bewohnt haben. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie ihn nach Strich und Faden verwöhnen. Ich glaube, es würde mir viel Vergnügen bereiten, mit ihm über Kafas zu plaudern.«

»Warum?«

»Nach dem Ruf zu urteilen, der ihm vorauseilt, nehme ich an, dass er ein erfahrener Mann ist. Ich könnte mir vorstellen, dass er ähnliche Vorlieben hat wie ich. Was meinen Sie?«

»Ich meine, dass Sie vollkommen krank im Kopf sind.«

Sie legte auf.

So viel Bosheit. Sie fühlte sich, als hätte sie etwas Schleimiges angefasst. Sie fühlte sich schmutzig … verängstigt. Gott, hatte sie eine Angst! Ihr Magen verkrampfte sich und Ihre Brust war so eingeschnürt, dass Sie kaum atmen konnte.

Es gibt noch andere Kafas auf der Welt.

Nicht für sie. Nie wieder für sie.

Sie musste vergessen, was er gesagt hatte. Er versuchte nur, sie einzuschüchtern. Wenn sie das zuließ, gab sie ihm Macht über ihr Leben.

Verdammt, sie konnte es nicht vergessen. Er würde dafür sorgen, dass sie nichts von dem vergaß, was sie Carolyn anvertraut hatte.

Sie musste damit umgehen. Das hätte Carolyn ihr geraten.

Wieder klingelte ihr Telefon. Sie würde nicht rangehen.

Nicht jetzt. Sie musste erst wieder Kraft sammeln. Als sie aus dem Haus und auf die Veranda rannte, klingelte das Telefon noch immer.

Sie stand vor der Verandatür und atmete die feuchte Luft ein.

Sie musste das Telefon einfach ignorieren. Solange sie auf der Insel war, konnte er nicht an sie herankommen. Hier war sie in Sicherheit.

Aber sie machte sich etwas vor. Sie würde nie in Sicherheit sein. Nicht, solange es Männer wie Archer gab. Es würde immer Gefahren geben und solche schrecklichen Augenblicke wie gerade eben. Das musste sie akzeptieren und damit umgehen, so wie Carolyn es ihr beigebracht hatte. Sie musste die Kraft dazu aus sich selbst schöpfen. Es war die einzige – »Wollen Sie noch mal mit Ihren Delphinen schwimmen?«

Als sie erschrocken herumfuhr, sah sie Kelby auf sich zukommen.

»Nein.«

»Das wundert mich ja direkt. Ich dachte, das wäre ihr Lieblingsfluchtweg.« Sein Blick wanderte zu der Terrassentür hinüber, die in ihr Zimmer führte. »Ihr Telefon klingelt. Wollen Sie nicht rangehen?«

»Nein. Es ist Archer. Ich habe bereits mit ihm gesprochen.«

»Soll ich das Gespräch annehmen?« Seine Lippen spannten sich. »Ich versichere Ihnen, es wäre mir ein Vergnügen.«

»Es hat keinen Zweck.« Sie schloss die Tür, damit das Klingeln nicht mehr so laut zu hören war. »Ich bin diejenige, die er verletzen will.«

»Nun, das scheint ihm offenbar gut zu gelingen. Er setzt Ihnen gehörig zu.«

»Ich werde es überstehen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Wenn das Klingeln nur endlich aufhören würde.

Vielleicht sollte sie reingehen und den Klingelton leiser stellen.

Nein, dann würde sie nicht mitbekommen, wann er es aufgab.

Dann würde sie sich dauernd einbilden, dass das Telefon klingelte …

»Was bezweckt Archer eigentlich damit, dass er Sie so quält?«

»Er will mich in den Wahnsinn treiben. Er denkt, ich gebe ihm die Schrifttafeln, wenn er mir nur lange genug zusetzt«, erwiderte sie mit zitternder Stimme. »Er will mich quälen, bis ich verblute. Wie Carolyn. Sie ist verblutet. Aber ich werde nicht zulassen, dass er mir das antut. Ich werde nie wieder hilflos sein. Genau das will er nämlich erreichen. Das wollen sie alle erreichen. Ich werde nicht wahnsinnig werden und auch nicht –«

»Um Himmels willen, seien Sie still.« Er legte einen Arm um sie. »Und machen Sie sich nicht so steif. Ich werde Ihnen nichts tun. Ich ertrage es einfach nicht, Sie so leiden zu sehen.«

»Es ist schon gut. Er hat mir nicht wehgetan. Das würde ich nicht zulassen.«

»Von wegen.« Er legte eine Hand an ihren Hinterkopf und begann, sie sanft zu wiegen. »Schsch, es wird alles gut. Sie sind in Sicherheit. Ich werde dafür sorgen, dass Ihnen nichts geschieht.«

»Sie sind nicht für meine Sicherheit verantwortlich. Ich muss damit umgehen. Carolyn hat gesagt, dass ich lernen muss, damit umzugehen.«

»Mit was umgehen?«

» Kafas. «

»Was ist Kafas? «

»Der Käfig. Der goldene Käfig. Er weiß davon. Deswegen hat er mir den Vogelkäfig geschickt. Er weiß alles über mich. Es ist, als würde er mit seinen schmutzigen Fingern meine Seele berühren. Obwohl er bestimmt lieber seine Hände auf meinem Körper hätte. Er ist einer von denen. Ich spüre es ganz genau.

Ich spüre es immer, wenn sie –«

»Melis, Sie sind außer sich. Später werden Sie es bereuen –«

»Nein! Ich habe nicht die Kontrolle verloren. Es geht mir gut.«

»Herrgott, ich wollte damit nicht sagen, dass Sie durchgedreht sind.« Er schob sie von sich und schaute sie an.

»Es ist Ihr gutes Recht, aufgebracht zu sein. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich nichts hören wollte, was Sie später bereuen würden. Ich möchte nicht, dass Sie mich so sehen wie diesen Scheißkerl Archer.«

»Sie sind nicht wie er. Das hätte ich längst gemerkt. Ich würde es nicht ertragen, mich von Ihnen berühren zu lassen, wenn Sie wie er wären. Und warum sollte ich Ihnen irgendwas erzählen?

Es geht Sie überhaupt nichts an.« Sie trat einen Schritt zurück.

»Tut mir leid. Sie meinen es gut. Ich war – Ich muss damit zurechtkommen.

Es hat mich einfach wie ein Schlag getroffen und kurzfristig aus dem Gleichgewicht gebracht.«

»Sie haben sich immer noch nicht wieder gefangen.« Er wandte sich ab. »Archer glaubt etwas über Ihre Vergangenheit zu wissen, womit er Sie verletzen kann. Könnte er versuchen, Sie zu erpressen?«

Sie wunderte sich über den Unterton in seiner Stimme.

»Und was würden Sie tun, wenn ich ja sagte?«

»Ich würde vielleicht unseren Deal kündigen und Archer auf eigene Rechnung jagen.« Er schenkte ihr ein kühles Lächeln.

»Ich hab was gegen Erpresser.«

Sie schaute ihn verblüfft an. »Er kann mich nicht erpressen.

Ich habe schon lange aufgehört, mich darum zu kümmern, was die Leute von mir denken.«

»Schade. Ich würde zu gern jemandem den Hals umdrehen.«

Ihre Blicke begegneten sich. »Und erzählen Sie mir nicht, das wäre typisch männlich. Ich bin gerade nicht in der Stimmung.«

»Das wollte ich gar nicht sagen. Ich hätte nichts dagegen, wenn Sie Archer den Hals umdrehen. Wenn ich ihn nicht vor Ihnen erwische.« Sie presste die Lippen zusammen. »Er weiß über Sie Bescheid. Er glaubt, wir wären ein Liebespaar.

Womöglich wird er versuchen, über Sie an mich heranzukommen. Anscheinend denkt er, es würde Ihnen zu schaffen machen, wenn Sie von Kafas erführen.«

»Da wir kein Liebespaar sind, hat er leider Pech, nicht wahr?«

»Ja, und es interessiert mich nicht, was er denkt oder was Sie denken. Es ist mir egal.«

»Dann wünschte ich, Sie würden endlich aufhören zu zittern.«

»Das werde ich.« Hastig wandte sie sich zum Gehen.

»Tut mir leid, dass ich Sie beunruhigt habe. Es wird nicht wieder –«

»Himmelherrgott, so hab ich das nicht gemeint.«

»Es ist mein Problem. Ich muss damit umgehen.« Sie holte tief Luft. »Aber dieser Dreck, mit dem er mich bewirft, könnte auch sein Gutes haben. Wenn ich ihm vorspiele, dass es ihm gelingt, mich zu zermürben, können wir den Spieß vielleicht umdrehen.«

»Und ich soll Ihnen dabei helfen, ihm diese Falle zu stellen?«

»Ja, es wird vielleicht gar nicht so schwer sein. Er will mit mir reden.« Sie lächelte freudlos. »Er will mein bester Freund werden. Bei der Vorstellung läuft ihm jetzt schon das Wasser im Mund zusammen.«

»Verdammt, Sie werden sich doch nicht noch mal seine Gemeinheiten anhören und zulassen, dass er Ihnen wieder wehtut?«

»O doch, denn solange er davon überzeugt ist, dass er mich tatsächlich in den Wahnsinn treiben kann, bin ich diejenige, die ihn in der Hand hat. Ich darf nur nicht zu schnell zusammenbrechen, sonst schöpft er Verdacht. Ich muss warten, bis er glaubt, er hätte gewonnen.«

»Wenn Sie das durchhalten.« Sein Blick wanderte zu der Tür, die in ihr Zimmer führte. »Im Moment scheint es Ihnen nicht allzu gut zu gehen.«

»Ich muss mich dagegen abhärten. Es ist … schwierig.«

»Wirklich? Wer hätte das gedacht?«, sagte er heiser. »Es muss sich etwa so anfühlen, als würde man gevierteilt.

Aber ich bin sicher, Sie werden sich mit der Zeit daran gewöhnen. Sie werden das schon machen.«

»Ja, das werde ich.« Sie sah ihn direkt an. »Aber Sie helfen mir nicht, wenn Sie so wütend und sarkastisch sind.«

»Im Augenblick sind das meine einzigen Waffen«, erwiderte er barsch. »Was zum Teufel erwarten Sie denn? Ich fühle mich verflucht hilflos, und wenn ich mich hilflos fühle, werde ich wütend.« Er wandte sich zum Gehen und schaute sie über die Schulter hinweg an. »Aber tun Sie mir einen Gefallen, verdammt. Gehen Sie heute nicht noch mal ans Telefon, wenn er wieder anruft. Das würde ich nicht verkraften.«

Sie schwieg einen Moment. »Also gut, ich werde nicht rangehen. Wer weiß? Vielleicht brennt er dann umso mehr darauf, morgen früh mit mir zu sprechen.«

Er fluchte leise vor sich hin und verschwand im Haus.

Als er weg war, lag immer noch eine Spannung in der Luft wie der scharfe Geruch nach einem Blitzschlag.

Seine Reaktion hatte sie beinahe ebenso mitgenommen wie Archers Anruf.

Klingelte das Telefon immer noch? Sie atmete tief durch und öffnete die Terrassentür. Das Telefon war stumm, aber über kurz oder lang würde es wieder anfangen zu läuten. Archer betrachtete sie immer noch als Opfer. Er wollte sie bezwingen, alles zerstören, was sie sich aus den Ruinen ihres Lebens aufgebaut hatte. Er würde jede Waffe benutzen, die die Patientenakte und die Bänder ihm geliefert hatten.

Aber sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Sie war stark genug, um sich gegen ihn zur Wehr zu setzen und ihn zu besiegen. Sie würde sich seinen Schmutz anhören und ihn in dem Glauben lassen, er könnte sie kleinkriegen.

Und dann, wenn die Zeit reif war, würde sie ihn vernichten.

Lyons pfiff leise durch die Zähne, als Kelby das Wohnzimmer betrat. »Du siehst aus, als wär dir eine Laus über die Leber gelaufen. Könnte das irgendwas mit Melis und dem Vogelkäfig zu tun haben?«

»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen.« Er hatte sie mit Samthandschuhen angepackt, dachte Kelby frustriert. Er hätte sie anschreien, seinem Ärger Luft machen und sie stehen lassen sollen. »Und es hat mit diesem Dreckskerl von Archer zu tun. Er versucht, sie in den Wahnsinn zu treiben. Entzückend. Wirklich entzückend.«

»Wird es ihm gelingen?«

»Nein, sie ist zäh. Aber er kann ihr das Leben zur Hölle machen und sie wird es zulassen. Sie glaubt, sie könnte ihn in eine Falle locken.«

»Keine schlechte Idee.«

»Eine beschissene Idee. Die ganze Situation ist beschissen.«

»Und was hast du jetzt vor?«

»Ich werde Marinth finden. Mich zur Legende machen.

Und dann werde ich in den Sonnenuntergang segeln.«

Er nahm sein Handy aus der Tasche. »Aber zuerst brauche ich ein Schiff. Ich rufe auf der Trina an und lasse sie nach Las Palmas segeln.«

»Ist das da, wo Marinth liegt?«

»Woher zum Teufel soll ich das wissen? Sie behauptet, es liegt irgendwo dort in der Gegend. Natürlich kann es sein, dass sie lügt. Sie hat nicht das geringste Vertrauen zu mir. Aber wer sollte es ihr verdenken? Ich habe das Gefühl, dass es in ihrem Leben nicht viele Männer gegeben hat, denen sie vertrauen konnte.«

»Brauchst du mich trotzdem?«

»Allerdings. Zuerst rufe ich auf der Trina an und dann rufe ich Wilson an, um zu hören, was wir über Archer wissen.« Er wählte die Nummer. »Ich werde klar Schiff machen, bevor ich abtrete. Und Archer wird der Erste sein, der über Bord geht.«

Die Sonne schien hell und das Wasser fühlte sich seidenweich an ihrem Körper an, als sie durch die Wellen schwamm. Wie immer waren Pete und Susie ein Stück voraus, aber sie kamen immer wieder zurück, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Sie hatte sich schon oft gefragt, ob die sie wohl für leicht behindert hielten. Es musste ihnen seltsam vorkommen, dass sie so langsam war, während sie mit ihren schlanken Körpern pfeilschnell durchs Wasser gleiten konnten.

Zeit, umzukehren. Sie sah Kelby am Rand der Veranda stehen, von wo aus er sie beobachtete. Er trug eine Khakihose, Segeltuchschuhe und ein weißes Polohemd und er wirkte muskulös, kraftvoll und hellwach. Sie hatte ihn seit dem Abend zuvor nicht mehr gesehen und plötzlich fühlte sie sich verwirrt.

Sie hatte nicht damit gerechnet, sich ihm … so verbunden zu fühlen.

Es war, als hätte der kurze Moment eines vertraulichen Gesprächs eine Verbindung zwischen ihnen entstehen lassen.

Verrückt. Wahrscheinlich war sie die Einzige, die so empfand.

Kelby wirkte völlig entspannt und sogar ein bisschen distanziert.

»Sie tragen ja einen Bikini.« Er beugte sich vor und zog sie auf die Veranda. »Was für eine Enttäuschung. Cal meinte, Sie würden meistens nackt schwimmen.«

»Nicht, wenn Gäste auf der Insel sind.« Sie nahm das Handtuch entgegen, das er ihr reichte, und trocknete sich ab.

»Und in letzter Zeit scheint der Strom der Gäste hier nicht abzureißen.«

»Wenn ich mich recht erinnere, wurde ich eingeladen.

Allerdings bin ich mir darüber im Klaren, dass Sie dafür gewisse Gründe hatten.« Er setzte sich in einen Liegestuhl. »Haben Sie schon mit Archer gesprochen?«

»Nein, ich habe Ihnen doch versprochen, es nicht zu tun. Ich habe mein Handy ausgeschaltet. Sobald ich angezogen bin, schalte ich es wieder ein.«

»Ich habe gestern mit Wilson telefoniert und einige Informationen über Archer erhalten. Möchten Sie wissen, mit was für einer Art Monster Sie es da aufnehmen?«

»Ein Monster ist ein Monster. Aber es kann nicht schaden, so viel wie möglich über ihn zu wissen.«

»Nein, Archer ist ein Spezialfall. Er ist in den Slums von Albuquerque, New Mexico, aufgewachsen. Im Alter von neun Jahren handelte er schon mit Drogen und mit dreizehn wurde er wegen Mordes an einem Klassenkameraden festgenommen. Es war ein besonders grausamer Mord. Er hat den Jungen zuerst lange und ausgiebig gefoltert.

Aber die Staatsanwaltschaft konnte ihm den Mord nicht einwandfrei nachweisen, daher mussten sie ihn wieder laufen lassen. Am nächsten Tag war er verschwunden, wahrscheinlich nach Mexiko. Sein Strafregister liest sich wie eine Enzyklopädie des Verbrechens. Er ist vom Drogen- auf den Waffenhandel umgestiegen, auf den er sich seitdem spezialisiert hat. Mit zweiundzwanzig hat er eine eigene Bande um sich geschart und angefangen, auf internationaler Ebene zu operieren. Im Lauf der letzten zwanzig Jahre ist er sehr erfolgreich gewesen.

Er besitzt Immobilien in der Schweiz und ein eigenes Schiff, die Jolie Fille, von der aus er seine Geschäfte tätigt. Meist liegt das Schiff im Hafen von Marseille, aber er benutzt es auch, um Waffen in den Nahen Osten zu transportieren. Der Dreckskerl ist geld- und machtgeil und ein ausgesprochener Sadist. Beim Lesen der Berichte über das, was er mit rivalisierenden Bandenführern und anderen Opfern gemacht hat, läuft es einem eiskalt den Rücken runter. Was ihm natürlich zum Vorteil gereicht, weil niemand es wagt, ihm in die Quere zu kommen.«

»Das wundert mich alles überhaupt nicht«, sagte Melis.

»Ich wusste, wie er ist. Schließlich habe ich gesehen, was er Carolyn angetan hat. Kriegen wir ein Foto von Archer?«

»Sobald Wilson eins in die Finger bekommt.« Kelby schaute sie nachdenklich an. »Sie müssen das nicht tun, wissen Sie.

Nehmen Sie seine Anrufe nicht mehr entgegen. Ersparen Sie sich diese Quälerei. Archer wird uns ohnehin folgen, wenn wir nach Las Palmas aufbrechen.«

Sie zuckte zusammen. »Wir fahren nach Las Palmas?«

»Sobald ich die Nachricht erhalte, dass die Trina im Hafen liegt und bereit ist.«

»Sie wollen mir wirklich helfen? Wollten Sie nicht einen Beweis dafür, dass ich mein Versprechen halten werde?«

»Manchmal muss man sein Schicksal herausfordern.«

Er machte ein ernstes Gesicht. »Allerdings schränke ich das Risiko ein. Zuerst suchen wir Marinth, dann Archer. Aber es könnte uns gelingen, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, wenn er uns nach Las Palmas folgt.«

»Es ist immer noch eine Pattsituation. Ich muss Ihnen vertrauen.«

Er nickte. »Aber Sie wissen, dass ich es kaum erwarten kann, den Dreckskerl zu fassen zu kriegen. Sie gehen kein großes Risiko ein.« Er überlegte. »Noch eins. Die Schrifttafeln und die Transskripte gehören mir.«

»Nein. Ich werde sie vielleicht noch brauchen, um Archer zu ködern.«

»Sie können sie als Leihgabe behalten. Aber von jetzt an gehören sie mir.«

Sie schwieg eine Weile. »Sie sind ein knallharter Geschäftsmann.«

»Ich wurde von Experten geschult. Es wird ein teures Spiel für Sie werden, wenn Sie sich nicht an die Abmachungen halten.«

»Ich werde mein Versprechen einlösen. Ich gebe Ihnen, was Sie wollen.«

»Noch eine Frage: Was für eine Art von Ausrüstung werde ich brauchen? Mit welcher Tiefe muss ich rechnen?«

»An der Stelle, wo wir waren, hatte das Meer nur sechzig Meter Tiefe. Wenn es dort keine Schluchten gibt, dürfte für eine vorläufige Erkundung normale Taucherausrüstung ausreichen.«

»Also kein Tauchboot. Das wird die Kosten erheblich senken.«

»Sehen Sie zu, wie Sie Geld auftreiben.« Sie schaute ihn an.

»Denn allein der Flug nach Las Palmas könnte teurer werden, als Sie denken. Sie müssen ein Flugzeug auftreiben, in dem Sie Tanks für Pete und Susie unterbringen können. Und in Las Palmas müssen Sie einen noch größeren Tank besorgen.«

»Wie bitte? Kommt nicht in Frage. Ich weiß, dass Sie an Pete und Susie hängen, aber ich werde Ihren schwimmenden Freunden kein Flugticket bezahlen. Haben Sie eine Ahnung, was das kosten –«

»Sie müssen mitkommen.«

»Ich werde Leute hierher beordern, die die Insel schützen können. Machen Sie sich da mal keine Sorgen.«

»Ohne die Delphine können wir Marinth nicht finden. Sie sind die Einzigen, die sich dort auskennen.«

»Wie bitte?«

»Sie haben mich richtig verstanden. Wir haben Pete und Susie in den Gewässern vor Cadora, einer der Kanarischen Inseln, gefunden, als Phil auf der Suche nach Marinth war. Sie waren dauernd um uns herum, schwammen im Kielwasser des Schiffs und neben uns her, wenn wir getaucht sind. Sie waren noch jung, höchstens zwei Jahre alt. Es ist sehr ungewöhnlich, dass junge Delphine ihre Mutter oder ihre Gruppe verlassen, aber Pete und Susie waren von Anfang an anders. Sie haben regelrecht den Kontakt zu Menschen gesucht. Sie erschienen regelmäßig im Morgengrauen an der Last Home und blieben bis zum Sonnenuntergang. Sobald es dunkel wurde, waren sie nicht mehr zu sehen. Vielleicht sind sie nachts immer zu ihrer Mutter oder ihrer Gruppe zurückgekehrt. Aber das war mir egal. Die Tagesstunden reichten mir aus. Ich hatte eigentlich gar keine Lust, nach versunkenen Städten zu suchen, und das war die Gelegenheit für mich, Delphine aus nächster Nähe zu beobachten. Ich habe unter Wasser mehr Zeit mit den Delphinen verbracht als mit der Suche nach Phils versunkener Stadt.«

»Was ihm wahrscheinlich nicht besonders gefallen hat.«

»Nein, aber als ich ihm die Schrifttafeln zeigte, die ich gefunden hatte, nachdem die Delphine mich in eine Unterwasserhöhle geführt hatten, war er völlig aus dem Häuschen.«

»Die Tiere haben Sie gezielt dorthin geführt?«

»Ich weiß nicht. Es kam mir so vor. Aber das kann ich natürlich nicht beweisen. Vielleicht wollten sie auch nur an einem Ort spielen, der ihnen vertraut war.«

»Und Lontana hat den Erfolg eingeheimst.«

Sie seufzte. »Er war vollkommen außer sich vor Aufregung und glaubte, die Delphine könnten ihn zu den Ruinen der versunkenen Stadt führen. Wochenlang sind er und die Männer, die er in Las Palmas angeheuert hatte, mit den Delphinen getaucht. Sie haben sie richtig gescheucht und ihnen teilweise sogar Angst gemacht, damit sie sich vom Boot entfernten und sie ihnen folgen konnten. Ich hätte Phil am liebsten den Hals umgedreht.

Ich habe ihn angefleht, mit dem Blödsinn aufzuhören, aber er hat sich einfach taub gestellt. Er konnte nur noch an Marinth denken.«

»Und hat er gefunden, was er gesucht hat?«

»Nein. Eines Tages sind Pete und Susie plötzlich nicht mehr aufgetaucht. Drei Tage später hörten wir, dass sich zwei junge Delphine vor Lanzarote in Fischernetzen verfangen hatten. Das waren Pete und Susie. Sie waren krank und vollkommen dehydriert. Ich war total wütend auf Phil und habe ihm gedroht, den Fund der Schrifttafeln in der ganzen Welt publik zu machen, wenn er sich nicht bereit erklärte, die Delphine mit hierher zu bringen, damit ich sie gesund pflegen konnte.«

»Raffiniert.«

»Er war ziemlich sauer. Er hatte nicht viel Geld und Delphine zu transportieren ist nicht billig. Aber wir haben Pete und Susie per Flugzeug nach Hause gebracht und sie sind hier geblieben.«

»Ich könnte mir vorstellen, dass Lontana sie nicht hier behalten wollte. Ist er zu den Kanarischen Inseln zurückgekehrt, um ohne die Delphine nach Marinth zu suchen?«

»Ja, aber die Unterwasserlandschaft da unten ist ein Labyrinth aus Schluchten und Höhlen. Wenn man nicht zufällig auf die Ruinen stößt, kann man hundert Jahre dort suchen, ohne Marinth zu finden.«

»Hat er denn nicht versucht, Sie dazu zu überreden, dass Sie ihm die Delphine zur Verfügung stellen?«

»Natürlich hat er das. Vor allem, nachdem die Schrifttafeln entziffert waren. Anscheinend gehörten bei den Marinthern Delphine zum täglichen Leben.«

»Inwiefern?«

»Sie waren Fischer und die Delphine haben ihnen geholfen, die Fische in die Netze zu treiben. Sie haben die Leute vor Haien gewarnt und sogar den Kindern das Schwimmen beigebracht. Über Jahrhunderte gehörten Delphine zum Leben der Marinther.«

»Und was hat das mit der Suche nach Marinth zu tun?«

»Delphine geben uns immer noch viele Rätsel auf. Es besteht die Möglichkeit, dass sich die Erinnerung an Marinth bei den Delphinen von Generation zu Generation vererbt hat. Oder sie hängen an einem Lebensraum, der sich für sie als vorteilhaft erwiesen hat. Auf jeden Fall war Phil der Meinung, wir sollten Pete und Susie noch einmal auf die Suche nach Marinth schicken.«

»Und Sie haben sich geweigert.«

»Darauf können Sie Gift nehmen. Ein Lufttransport ist für die Tiere eine große Belastung. Es war Phils Schuld, dass sie in diesen Fischernetzen beinahe gestorben wären. Er hätte Marinth auch alleine finden können. Die beiden hatten ihm immerhin schon die Schrifttafeln besorgt.«

»Aber Sie glauben, Pete und Susie könnten Marinth finden?«

»Falls ihre Mutter oder irgendein anderer Delphin, den sie kennen, sich immer noch in der Nähe der Ruinen aufhält. Jeder Delphin hat einen ganz individuellen Pfeifton, dem sie problemlos folgen können.«

»Lontana hat es aber nicht geschafft, sie dazu zu bringen, dass sie zu ihrer Mutter schwimmen.«

»Er hat sie gestresst und sie kannten Phil nicht gut genug, um ihm zu vertrauen. Aber ich glaube, es besteht durchaus die Möglichkeit, dass sie uns nach Marinth führen könnten. Sie haben die Schrifttafeln gefunden.

Und die Marinther, die die Tafeln beschriftet haben, bezeichneten die Delphine als ihre kleinen Brüder. Na ja, ihre kleinen Brüder waren wahrscheinlich die Einzigen, die die Katastrophe überlebt haben, und ihre Nachkommen sind immer noch dort.« Dann fügte sie gereizt hinzu: »Glauben Sie, es macht mir Spaß, Pete und Susie dorthin zu bringen? Hier fühlen sie sich wohl und hier sind sie in Sicherheit. Wenn ich irgendeinen Ausweg wüsste, würde ich es nicht tun. Also stellen Sie sich nicht so an, Kelby. Die beiden fliegen erster Klasse.«

»Okay, okay, ist ja gut.« Er schaute zu Pete und Susie hinüber, die im Wasser spielten. »Aber ich hoffe in Ihrem Interesse, dass sie einen guten Orientierungssinn besitzen.«

8

Als sie am Abend in ihr Zimmer ging, waren sieben Nachrichten auf ihrer Mailbox.

Nachdem sie sie gelöscht hatte, ohne sie abzuhören, schaltete sie ihr Handy wieder ein. Also gut, Archer, es kann losgehen.

Ich bin bereit für dich.

Aber sie machte sich etwas vor. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln bei dem Gedanken an einen weiteren Anruf von ihm anspannten. Tief Luft holen. Sie hatte eine Entscheidung getroffen und jetzt musste sie damit leben.

Das Telefon klingelte um Punkt Mitternacht.

»Es gefällt mir nicht, wenn man mich ignoriert«, sagte Archer.

»Ich dachte, die Delphine wären Ihnen ans Herz gewachsen.«

Sie zuckte zusammen. »Wovon zum Teufel reden Sie?«

»Ich nehme an, Sie haben meine Nachrichten nicht abgehört.«

»Warum sollte ich mir diesen Dreck anhören?«

»Weil ich es so will. Und weil Ihre Delphine einen Unfall haben werden, wenn Sie es nicht tun. Ich brauche gar nicht in Ihr kleines Paradies einzudringen. Ein vergifteter Fisch vielleicht? Mir wird schon eine Möglichkeit einfallen.«

»Die Delphine sind nur Studienobjekte. Sie wären kein großer Verlust.«

»Da hat Lontana mir aber etwas ganz anderes erzählt.«

Sie überlegte. »Was hat Lontana Ihnen denn erzählt?«

»Von Marinth zum Beispiel. Und von den Delphinen. Als ich ihn aufgesucht habe, um ihm wegen der Pläne für Schallkanonen ein Angebot zu machen, hat er versucht, mich abzulenken. Er hat mir alles von Ihnen und von Marinth und von den Schrifttafeln erzählt. Ich habe ihm erklärt, dass Marinth mich nicht interessiert, aber er war nicht bereit, über die Schallkanone mit mir zu reden.«

»Er hatte schon genug schlechte Erfahrungen mit Verbrechern wie Ihnen gemacht.«

»Ich weiß. Aber wenn er nicht in der höchsten Liga spielen wollte, hätte er zu Hause auf seiner Insel bleiben sollen. Das Potential ist einfach zu groß, als dass man es ignorieren könnte.

Ich habe zurzeit drei Interessenten an der Hand, die sich um das Vorkaufsrecht prügeln.

Und es sieht so aus, als hätten noch andere Haie Blut gewittert.

Ich will Lontanas Forschungsunterlagen.«

»Die habe ich nicht.«

»Nicht auf der Insel, das hat Lontana mir bereits gesagt.

Ich glaube, er hat versucht, Sie zu schützen. Aber er hat durchblicken lassen, dass Sie wissen, wo die Unterlagen sich befinden. Also sagen Sie’s mir.«

»Sie lügen. Phil hätte mich nie zur Zielscheibe gemacht.«

»Damals hat er noch geglaubt, ich würde in eine Suchexpedition nach seiner versunkenen Stadt investieren. Der Mann war ziemlich naiv, nicht wahr? Und extrem stur. Genauso wie Carolyn Mulan. Und wie Sie.«

»Da haben Sie verdammt Recht, ich bin äußerst stur.

Glauben Sie tatsächlich, ich würde Ihnen irgendetwas aushändigen, das ich Ihnen vorenthalten kann?«

»Sie können es mir nicht vorenthalten. Vielleicht gelingt es Ihnen, sich eine Zeit lang zu widersetzen. Aber ich habe mir Ihre Bänder angehört. Ich weiß genau, wie labil Sie sind.«

»Sie sind auf dem Holzweg.«

»Das glaube ich nicht. Es ist immerhin einen Versuch wert.

Ich erkläre Ihnen jetzt, wie ich mir das vorstelle.

Ich werde Sie zweimal täglich anrufen und Sie werden mir zuhören und antworten. Wir werden über Kafas plaudern und über den Harem und über alle Ihre schönen Kindheitserlebnisse.

Wenn Sie einen meiner Anrufe nicht entgegennehmen, töte ich die Delphine.«

»Ich kann dafür sorgen, dass sie in der Nähe des Hauses bleiben.«

»Delphine lassen sich nicht in kleinen Becken halten. Sie werden krank und sterben.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe Nachforschungen angestellt. Ein guter Geschäftsmann sorgt immer dafür, dass er gut informiert ist.«

»Geschäftsmann? Sie sind ein Mörder.«

»Nur, wenn man mich ärgert. Normalerweise bekomme ich, was ich will, und ich bin über die Jahre ziemlich verwöhnt geworden.« Dann fügte er leise hinzu: »Ich hoffe doch, dass Sie nachgeben, bevor ich Sie völlig zerstöre. Mir ist, als würde ich Sie sehr gut kennen.

Abends, wenn ich im Dunkeln im Bett liege, stelle ich mir vor, dass Sie bei mir sind. Nur dass Sie in meiner Phantasie wesentlich jünger sind. Wissen Sie, womit wir uns beschäftigen?«

Sie schloss die Augen. Sie musste Ihre Wut hinunterschlucken.

Die Panik ignorieren. Langsam und tief atmen.

»Sie antworten mir ja gar nicht.«

»Sie haben von mir verlangt, dass ich zuhöre, nicht dass ich rede.«

»Ach ja? Und Sie sind sehr folgsam. Damit haben Sie sich eine Belohnung verdient. Gute Nacht, Melis.« Er legte auf.

Es war vorbei.

Aber am nächsten Morgen würde es weitergehen. Und es würde noch schlimmer werden, noch hässlicher, noch obszöner.

Er würde die Gegenwart und die Vergangenheit zu einem Alptraum vermischen.

Sie stand auf und ging ins Bad. Wenn sie erst einmal geduscht hatte, würde sie sich wieder sauber fühlen.

Sie konnte das aushalten. Es war ja nur zweimal am Tag. Sie musste nur seine Worte verdrängen und an das denken, was er Phil und Maria und Carolyn angetan hatte.

Und an das, was sie ihm antun würde.

TOBAGO

»Die Trina hat Athen verlassen«, verkündete Pennig, als er auf die Terrasse trat. »Jenkins sagt, sie ist gestern Abend aus dem Hafen ausgelaufen.«

»Mit welchem Ziel?«, fragte Archer.

»Er ist sich nicht ganz sicher. Er zieht Erkundigungen ein.«

»Dann soll er sich gefälligst ins Zeug legen. Wahrscheinlich bedeutet das, dass sie die Insel bald verlassen werden. Sorgen Sie dafür, dass wir rund um die Uhr darüber informiert sind, was sie tun.«

Pennig zögerte. »Vielleicht sollten wir von hier verschwinden.

Wir sind zu dicht an der Insel. Cobb sagt, dass Lyons die Insel mehrmals verlassen hat. Heute Abend hat er ihn in Richtung Tobago abdüsen sehen.«

»Ich überleg’s mir, aber er kann nicht wissen, wo wir sind.«

Archer schaute nachdenklich zum Strand hinüber. »Kelby scheint langsam aktiv zu werden. Aber ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass es lange dauern würde, bis er anfängt, seine Fühler auszustrecken. Unsere kleine Melis wird ihm wohl geben, was er haben will.«

»Und warum? Lontana hat sie auch nicht geholfen.«

»Aber da war ich noch nicht mit im Spiel. Jetzt fühlt sie sich bedroht.« Und sie würde sich noch viel mehr bedroht fühlen, dachte Archer voller Vorfreude. Melis Nemid erwies sich als ausgesprochen reizvoll. Als er anfangs die Bänder abgehört und die Patientenakte studiert hatte, war er lediglich an einer Waffe interessiert gewesen. Aber inzwischen konnte er sich jede Szene vorstellen, alle Gefühle nachvollziehen, die sie vor all den Jahren durchlebt hatte. Es war unglaublich erregend. »Sie wird Kelby alles geben, was er will, um sich selbst zu retten.«

»Die Schrifttafeln und die Forschungsunterlagen?«

»Möglich. Ich schätze, dass er in erster Linie auf Marinth aus ist, aber nach allem, was ich über ihn gehört habe, hat er gern alles unter Kontrolle und geht immer aufs Ganze.« Er lächelte.

»Aber es wird ihm nicht gelingen. Ich werde derjenige sein, der die Forschungsunterlagen kriegt.«

Und Melis Nemid würde er Kelby auch nicht überlassen. Je intensiver sein Kontakt zu der Frau wurde, umso klarer wurde ihm, dass die Beziehung zu ihr fortgesetzt werden musste, damit er wirklich befriedigt sein würde.

Es gab noch so viele Möglichkeiten, sie zu quälen.

Und erst wenn er sie alle ausgekostet hatte, würde er ihr den Rest geben.

Mitten in der Nacht klingelte Kelbys Handy.

»Ich habe Archers Beobachtungsposten gefunden«, sagte Nicholas, als Kelby sich meldete. »Ein schwarzweißes Motorboot. Es liegt in der Bucht einer Insel, knapp drei Kilometer von hier entfernt. Nah genug, um Melis im Auge zu behalten, aber weit genug entfernt, um nicht bemerkt zu werden.

Ich befinde mich mit meinem Boot in etwa einem Kilometer Entfernung von ihm hinter ein paar überhängenden Bäumen.«

»Bist du sicher, dass es Archers Boot ist?«

»Diese Beleidigung möchte ich überhört haben. Ich sitze ihm direkt im Nacken. Er wird euch sehen, wenn ihr die Insel verlasst. Du musst dich erst in Richtung Tobago halten und dann in einem Bogen zurückkehren. Kommst du?«

Kelby schwang seine Beine aus dem Bett. »Bin schon unterwegs. Sag mir, wie ich fahren soll.«

Der große, aschblonde Mann auf dem schwarzweißen Motorboot beobachtete Lontanas Insel mit einem starken Fernglas.

Kelby ließ sein Nachtsichtgerät sinken und wandte sich an Nicholas. »Wird der irgendwann abgelöst?«

»Wahrscheinlich. Ich bin seit Mitternacht hier und habe nur ihn gesehen. Aber hier draußen auf einem Boot zu hocken ist nicht gerade gemütlich.«

»Vielleicht ist er für die Nachtschicht eingeteilt.« Kelby warf einen Blick auf seine Uhr. »Es dauert noch ein paar Stunden bis zur Dämmerung. Fahr du zur Insel zurück, ich übernehme hier.«

»Willst du ihm folgen, wenn er abgelöst wird?«

»Natürlich. Wenn Archer vorgestern Abend hier war, ist er womöglich noch in der Nähe. Offenbar ist er gern am Ort des Geschehens.«

»Genau wie du«, erwiderte Nicholas. »Könntest du diese Aufgabe nicht an mich delegieren?«

Kelby schüttelte den Kopf. »Den Widerling will ich mir selber vorknöpfen. Fahr zurück zur Insel und pass auf Melis auf. Aber ich möchte nicht, dass sie hiervon etwas erfährt. Es könnte immer noch schief gehen.«

Nicholas zuckte die Achseln. »Wie du willst.« Er ließ den Bootsmotor an. »Halt mich auf dem Laufenden.«

Kelby machte es sich auf seinem Boot bequem und schnappte sich wieder das Fernglas.

Es dämmerte gerade, als Dave Cobb sein Boot in Tobago am Pier vertäute und zu seinem Hotel am Hafen ging.

Im Eingangsbereich des heruntergekommenen Hotels mischte sich der Geruch nach Putzmitteln mit dem Duft der tropischen Blumen, die in einer Vase auf dem Tresen standen. Der Geruch war ihm ebenso zuwider wie alles andere an dieser Stadt, dachte Cobb, als er mit dem Aufzug in den dritten Stock fuhr. Er hatte Pennig gebeten, ihm ein Hotel in der Innenstadt zu besorgen, aber der Mistkerl hatte darauf bestanden, dass er sich am Hafen zur Verfügung hielt.

In seinem Zimmer angekommen, rief er Pennig an.

»Nichts Besonderes zu berichten«, sagte Cobb, als Pennig sich meldete. »Nicholas ist wie gesagt gestern Abend in Richtung Tobago aufgebrochen. Und Kelby hat heute Morgen um drei die Insel verlassen.«

»In dieselbe Richtung?«

»Ja, Richtung Tobago.«

»Das ist nicht unwichtig, Cobb. Ich habe Ihnen gestern schon gesagt, dass wir unbedingt wissen müssen, was Lyons tut.«

»Aber folgen darf ich ihm nicht. Dansk wird Ihnen Bescheid geben, wenn sie auf die Insel zurückkehren. Ich werde jetzt duschen und mich dann ins Bett legen. Wie lange sollen wir noch hier draußen hocken und die Insel beobachten?«

»Bis Archer Sie abruft. Sie werden schließlich dafür bezahlt.«

»Nicht gut genug«, erwiderte Cobb säuerlich. »Zwölf Stunden in dem feuchten, schimmeligen Boot sind zu lang. Ich bin eine Landratte.«

»Möchten Sie das Archer gern persönlich sagen?«

»Ich sage es Ihnen.« Verdammt, vielleicht sollte er lieber vorsichtig sein. Archer war ein sadistischer Schweinehund und Pennig war nicht viel besser. Es kursierten zu viele ähnliche Gerüchte über die beiden, als dass da nichts dran wäre. »Ich mache meinen Job. Sorgen Sie einfach dafür, dass ich so schnell wie möglich von diesem Boot runterkomme.«

»Sobald der Job erledigt ist.« Pennig legte auf.

Verdammter Wichser. Cobb knallte den Hörer auf die Gabel und ging ins Bad. Er hätte den Job nie übernommen, wenn er nicht total blank gewesen wäre. Eigentlich hatte es ihm geschmeichelt, dass ein großes Tier wie Archer ihn ausgesucht hatte, aber er stand auf Action und konnte es nicht ausstehen, völlig tatenlos herumzusitzen.

Er drehte den Hahn auf und ließ das heiße Wasser über seinen Körper laufen. Das war schon besser. Gegen Abend war es ziemlich kühl geworden und er war drauf und dran gewesen, nicht auf Dansk zu warten und einfach nach Tobago zurückzufahren und Pennig zu sagen, er solle ihm den Buckel runterrutschen. Noch eine solche Nacht und er würde es vielleicht wirklich tun. So gut war die Bezahlung auch wieder nicht und – Was zum Teufel!

Die Badezimmertür hatte sich geöffnet.

»Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, wie gefährlich es unter der Dusche ist?«, fragte Kelby leise. »Man kann auf einem Stück Seife ausrutschen, sich verbrühen oder –«

Mit einem Grunzen ging Cobb auf ihn los.

Kelby wich ihm aus und versetzte ihm einen Karateschlag gegen die Halsschlagader. »Oder jemand wie ich taucht plötzlich auf und bricht Ihnen sämtliche Knochen. Wollen wir ein bisschen plaudern?«

Als Nicholas Lyons am nächsten Morgen in die Küche kam, saß Melis bei einer Tasse Kaffee am Tisch. »Ach, das ist genau das, was ich brauche. Darf ich?«

»Bedienen Sie sich.«

»Danke.« Er schenkte sich Kaffee ein und setzte sich ihr gegenüber. »Kelby ist nach Tobago gefahren, um zwei Tanks für Ihre Delphine aufzutreiben. Er hat mich gebeten, Ihnen das auszurichten.«

»Der hat’s ja ziemlich eilig.«

»Na klar. Ihre Haare sind nass. Waren Sie mit Pete und Susie schwimmen?«

Sie nickte. »Wie jeden Morgen. Es macht Spaß.«

»Manche Leute würden das nicht verstehen. Aber als Schamane habe ich kein Problem mit einer spirituellen Beziehung zu Tieren. Vielleicht waren Sie ja in einem früheren Leben mal ein Delphin.«

Sie lächelte. »Das bezweifle ich. Ich werde zu ungeduldig, wenn sie nicht kapieren, was ich von ihnen will.«

»Aber sie geben Ihnen, was Sie brauchen, nicht wahr?«

Er hob seine Tasse an die Lippen. »Sie interessieren Sie, sie unterhalten Sie, sie sorgen dafür, dass Sie nicht einsam sind. Das ist sehr wichtig, wenn man so eine Einzelgängerin ist wie Sie.«

Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Sie halten mich für eine Einzelgängerin?«

»Aber ja. Sie haben eine undurchdringliche Mauer um sich gezogen. Da kommt niemand durch. Außer vielleicht Ihre Freundin Carolyn.«

»So wie Sie mich beschreiben, sollte man meinen, ich wäre gefühlskalt.«

Er schüttelte den Kopf. »Sie sind nett zu den Delphinen und Sie sind nett zu Cal. Nach allem, was er mir erzählt hat, war Lontana ziemlich anstrengend, trotzdem hatten sie jede Menge Geduld mit ihm. Carolyn Mulans Tod hat Ihnen das Herz gebrochen. Nein, gefühlskalt sind Sie nicht, nur argwöhnisch.«

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass Sie zu diesem Schluss gekommen sind. Ich wusste gar nicht, dass Sie mich unter Ihrem Mikroskop beobachtet haben, seit Sie hier sind.«

»Ich studiere Menschen und Sie sind ein besonders interessanter Fall.«

Sie musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen.

Erneut wurde ihr die Komplexität seines Charakters bewusst.

Was steckte hinter dem scheinbar offenen Lächeln? »Sie auch.

Warum begleiten Sie uns? Wegen Marinth?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe eine Vorliebe für Geld und ich mag Kelby. Und bei dem Feuerwerk, das hier losgeht, hab ich mir gesagt, wird es vielleicht wie in alten Zeiten. Ich bin ein Einzelgänger wie Sie, ich lasse nicht viele Leute nah an mich ran.«

»Feuerwerk? Sie waren mit Kelby bei den SEALs, nicht wahr?«

Er nickte. »Und hinterher sind wir eine Weile zusammen durch die Welt gezogen. Schließlich sind wir dann beide unserer Wege gegangen.«

»Wenn man Kelbys Herkunft in Betracht zieht, kann man sich kaum vorstellen, dass er bei den SEALs war.«

Sie schaute in ihre Kaffeetasse. »Nach allem, was ich über ihn gelesen habe, muss er ein ziemlich undisziplinierter Charakter sein. War er denn gut?«

Er schwieg eine Weile. »Komplizierte Frage.«

»Ach ja?«

»Mal sehen, ob ich mit meinen schamanischen Kräften sehen kann, was es mit ihm auf sich hat. Also. Archer ist ein sehr gefährlicher Mann. Und Sie wollen wissen, ob Kelby Ihnen seinen Kopf auf einem Silbertablett servieren kann?«

Sie nickte. »In etwa.«

»Ich mag Frauen, die nicht zimperlich sind.« Er musterte sie.

»Was halten Sie von Kelby?«

»Er ist zäh. Zäh genug?«

»Was glauben Sie, wie hart allein die Grundausbildung bei den SEALs für Kelby war? Eigentlich sollen für alle die gleichen Bedingungen gelten, aber er war ein reicher junger Mann, der dauernd die Medien im Nacken hatte. Es gibt verdammt viele Möglichkeiten, einem Kameraden das Leben zur Hölle zu machen, und die Rekruten haben sie alle an Kelby ausprobiert.«

»Sie auch?«

»Aber klar. Ich kann genauso sadistisch sein wie jeder andere.

Vielleicht sogar noch mehr. Ich habe schon immer viel davon gehalten, Menschen zu testen. Andere Menschen und auch mich selbst. Nur so kann man Erfolg haben. Man setzt die Latte hoch an und versucht, darüber zu springen, und wenn man es nicht schafft, tritt man zur Seite und lässt anderen den Vortritt. Und man macht kein Theater, wenn man blaue Flecken abbekommt.

Der Stärkere überlebt.«

»Das ist eine ziemlich brutale Philosophie.«

»Vielleicht liegt das am Indianerblut in meinen Adern. Oder es ist meine Slum-Mentalität. Es trifft für beides zu.«

»Sie sind ganz schön stolz auf Ihr Indianerblut, nicht wahr?«

»Wenn man nicht stolz auf sich selbst ist, dann ist man arm dran.« Er lächelte. »Ich mache Witze darüber, aber beim Jagen und Spurenlesen komme ich mir manchmal vor wie in den Zeiten des Wilden Westens. Die Jagd hat mich schon immer fasziniert. Vielleicht bin ich deswegen zu den SEALs gegangen.« Er zuckte die Achseln. »Jedenfalls hat Kelby während der Grundausbildung eine Menge einstecken müssen, sich aber trotzdem nicht unterkriegen lassen. Er war ein zäher Bursche.« Lyons grinste. »Und später hat er es uns allen heimgezahlt.«

»Das klingt, als wäre er ziemlich belastbar.«

»Belastbar?« Er wurde ernst. »So könnte man es sagen.

Wollen Sie was über Belastbarkeit hören? Wir waren bei einem Einsatz im Irak, während des Golfkriegs, und die Luftaufklärung hatte im Norden des Landes ein kleines, unterirdisches Labor für biologische Waffen ausfindig gemacht. Unsere Einheit hatte den geheimen Auftrag, dieses Labor zu zerstören. Man fürchtete, dass die öffentliche Meinung sich gegen den Krieg richten würde, wenn bekannt würde, dass die Truppen biologischer Kriegsführung ausgesetzt werden könnten. Aber die ganze Sache ist von Anfang an schief gelaufen. Wir haben das Labor gesprengt, doch wir haben zwei Männer verloren und Kelby und ich wurden von Angehörigen eines dort ansässigen Stammes gefangen genommen, bevor wir den Hubschrauberlandeplatz erreichen konnten.

Die Iraker haben die Produktion biologischer Waffen ja nach wie vor abgestritten, also haben sie uns in ein kleines Gefängnis mitten in der Wüste gesteckt und Saddam benachrichtigt, dass zwei amerikanische SEALs geschnappt worden waren.

Daraufhin verlangte Saddam von uns Geständnisse und eine Verurteilung der amerikanischen Kriegshandlungen. Ich weiß nicht, warum sie sich Kelby zuerst vorgeknöpft haben.

Vielleicht hatten sie rausgefunden, wie reich er war, und wollten an ihm die Verweichlichung eines Großkapitalisten demonstrieren.«

»Sie haben ihn gefoltert?«

»Und zwar ausgiebig. Drei Tage lang. Sie haben ihm weder zu essen noch zu trinken gegeben und ihn die meiste Zeit in einer Hitzekammer eingesperrt. Als sie ihn wieder in die Zelle warfen, hatte er zwei gebrochene Rippen und war von Kopf bis Fuß grün und blau. Aber sie hatten seinen Willen nicht gebrochen. Wie gesagt, er ist ein zäher Bursche. Ich hätte nicht gedacht, dass er eine Flucht überleben würde, aber er hat es geschafft und dabei auch noch zwei Wächter getötet. Wir haben uns in den Bergen versteckt und uns über die Grenze durchgeschlagen. Erst fünf Tage nach unserer Flucht konnten wir über Funk einen Hubschrauber anfordern.«

Er lächelte schief. »Ja, ich würde sagen, er ist ziemlich belastbar. Ich beneide Archer nicht darum, ihn zum Feind zu haben. Ist es das, was Sie wissen wollten?«

Es war mehr, als sie hatte wissen wollen. Die Vorstellung von Kelby als Opfer gefiel ihr nicht – auch nicht als Opfer, das alle Grausamkeiten überlebt hatte. Das Bild von Kelby in der Zelle, gefoltert und geschunden, ging ihr allzu nah. »Ja, das war es, was ich wissen wollte.« Sie schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein. »Danke.«

»Gern geschehen.« Er schob seinen Stuhl zurück. »Und, was machen wir mit dem angebrochenen Vormittag?«

»Wir?«

»Kelby hat mir aufgetragen, Sie nicht aus den Augen zu lassen, bis er wieder hier ist.«

»Ich brauche Sie nicht. Hier auf der Insel bin ich in Sicherheit.«

»Doppelt genäht hält besser. Wollen wir schwimmen gehen und mit den Delphinen spielen?«

»Spielen?« Sie überlegte. »Das hatte ich eigentlich nicht vor, aber warum nicht? Ziehen Sie Ihre Badehose an. Pete und Susie würden bestimmt liebend gern mit Ihnen spielen.« Sie grinste spitzbübisch. »Fragen Sie Cal.«

»Archer war in Tobago«, sagte Kelby knapp, als Nicholas wenige Stunden später seinen Anruf entgegennahm. »Im Hotel Bramley Towers. Aber da ist er nicht mehr.«

»Der Vogel ist ausgeflogen?«

»Ja, verdammt. Cobb, der Mann, den du auf dem Boot gesehen hast, sagte, es hätte Pennig nervös gemacht, als er gesehen hat, wie du die Insel in Richtung Tobago verlassen hast. Offenbar hat das Archer ebenfalls beunruhigt und er hat es vorgezogen, sich aus dem Staub zu machen.«

»Wissen wir, wohin?«

»Cobb wurde in Miami angeheuert. Ich hab Detective Halley in Nassau angerufen, vielleicht kann er Archer in Miami aufspüren. Und ich hab ihn gebeten herzukommen und Cobb und dessen Kumpel Dansk abzuholen.«

»Konnte Cobb dir nicht sagen, wohin Archer abgehauen ist?«

»Wenn Cobb es wüsste, hätte er es mir gesagt, darauf kannst du Gift nehmen.«

»Das bezweifle ich nicht«, erwiderte Nicholas. »Es wundert mich nur, dass du Cobb an Halley ausliefern willst.«

»Er ist ein kleiner Fisch. Ich habe von ihm bekommen, was ich wollte. Du kannst Dansk einsammeln und ihn Halley am Flughafen übergeben.«

»Du bist also endlich bereit zu delegieren? Aber ich kriege wahrscheinlich mal wieder die langweiligen Aufgaben zugeschoben.«

»Dansk weiß auch nichts. Du würdest nur deine Zeit vergeuden. Übergib ihn einfach an Halley. Du kannst sofort losfahren. Ich bin auf dem Weg zurück auf die Insel.«

»Gut zu wissen. Deine Melis hat einen seltsamen Sinn für Humor. Sie hat mich ins Wasser gelockt, um mit ihren Delphinen zu spielen, und das war ziemlich entwürdigend für mich.«

»Sie ist nicht meine Melis und jeder, der dir einen Dämpfer verpasst, egal ob Mensch oder Tier, hat meinen Segen. Ruf mich an, falls es mit Dansk Probleme gibt.«

9

»Ist alles gut gelaufen?«, wollte Melis von Kelby wissen. »Sie wirken ziemlich angespannt.«

»Ich bin nicht angespannt.«

»Haben Sie die Tanks bestellt?«

»Tanks? Äh, ja. Ich habe mich darum gekümmert.« Er schaute sie an. »Kaffee?«

»Im Moment nicht. Die Sonne geht bald unter. Die Jungs müssten gleich hier sein, um gute Nacht zu sagen.«

»Ich glaube, ich mache mir einen Kaffee.«

Sie schaute ihm nach, als er ins Haus ging. Kelby mochte vielleicht nicht angespannt sein, aber er wirkte auf jeden Fall nervös. Seit seiner Rückkehr am Nachmittag schien er vor Energie zu bersten. Aber sie kannte ihn nicht sehr gut. Vielleicht war das bei ihm normal, wenn er zur Hochform auflief.

Zum Glück beunruhigte sie das nicht, stellte sie fest. Sie gewöhnte sich allmählich an ihn und sie begann sogar, ihm zu vertrauen.

Ihr Handy klingelte.

Sie zuckte zusammen, dann nahm sie es vom Tisch und meldete sich.

»Warum hast du mich nicht angerufen, um mir zu sagen, dass Lontana umgebracht wurde?«

»Kemal?«, sagte sie erleichtert. »Wie schön, deine Stimme zu hören.«

»Dazu brauchst du nur anzurufen. Du bist diejenige, die sich rar macht. Ich bin immer für dich da.«

»Ich weiß.« Als sie die Augen schloss, sah sie seine dunklen, schelmisch funkelnden Augen vor sich, das Lächeln, das ihr Herz erwärmt hatte, als sie schon geglaubt hatte, es wäre zu Stein erstarrt. »Wie geht es Marisa?«

»Sehr gut.« Er zögerte. »Sie möchte ein Kind.«

»Du würdest einen wunderbaren Vater abgeben.«

»Stimmt. Aber das würde alles nur noch schwieriger für sie machen. Das kann ich nicht zulassen. Wir werden noch warten.

Aber deswegen rufe ich dich nicht an. Ich habe erst heute von Lontanas Tod erfahren. Wie geht es dir? Soll ich zu dir kommen?«

»Nein.«

»Ich wusste, dass du mein Angebot ablehnen würdest. Melis, lass mich dir helfen.«

»Ich brauche keine Hilfe. Wie hast du das mit Phil erfahren?«

»Hast du etwa gedacht, ich würde euch nicht im Auge behalten? Das liegt nicht in meiner Natur.«

Nein, in seiner Natur lag es, andere zu schützen und sich um diejenigen, die ihm etwas bedeuteten, liebevoll zu kümmern.

Gott sei Dank hatte er noch nicht von Carolyns Tod gehört.

»Anfangs war es schwer, aber ich komme zurecht. Es wäre leichtsinnig von dir, mir zu Hilfe zu eilen, wenn ich keine Hilfe brauche. Aber vielen Dank, dass du angerufen hast.«

»Zwischen uns ist kein Dank nötig. Wir sind seelenverwandt.«

Dann fügte er hinzu. »Komm nach San Francisco.«

»Es geht mir gut hier.«

»Brauchst du Geld?«

»Nein.«

Kemal seufzte. »Verschließ dich nicht vor mir, Melis. Das tut mir weh.«

Das war das Letzte, was sie wollte. »Ich brauche wirklich nichts, Kemal. Pass auf Marisa auf. Ich bin es gewöhnt, allein zu sein. Es macht mir nichts aus.«

»Doch, es stört dich. Lüg mich nicht an. Wir kennen uns schon zu lange. Du hast nie gelernt, dich zu öffnen und andere Menschen an dich heranzulassen.«

»Außer dich.«

»Ich zähle nicht. Aber bei deiner Freundin Carolyn ist das etwas anderes. Wie geht es ihr?«

»Ich habe sie schon eine ganze Weile nicht gesehen«, log sie vorsichtshalber.

»Versuch wenigstens, mit ihr in Verbindung zu bleiben. Oder komm her und lass mich an dir arbeiten. Du bist eins meiner unvollendeten Meisterwerke.«

»Das macht mich nur noch einzigartiger. Mach dir keine Sorgen um mich.«

»Unmöglich.«

»Ich werde mich an dich wenden, wenn ich dich brauche, Kemal. Grüß Marisa von mir.«

Er schwieg einen Moment. »Ich denke immer voller Zuneigung an dich. Vergiss das nicht, Melis.«

»Ich hab dich auch lieb, Kemal«, flüsterte sie. Dann legte sie auf.

Ihre Augen brannten, als sie auf das Telefon starrte. Seine Stimme hatte so viele bittere Erinnerungen wachgerufen, trotzdem war sie froh, dass er angerufen hatte.

»Melis?«

Als sie aufblickte, sah sie Kelby in der Tür stehen, in den Händen ein Tablett mit einer Kanne Kaffee und zwei Tassen.

Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter.

»Das ging aber schnell. Ich glaube, jetzt könnte ich einen Kaffee gebrauchen.«

»Das ging überhaupt nicht schnell. Ich stehe schon seit mindestens fünf Minuten hier.« Er kam auf sie zu und stellte das Tablett geräuschvoll auf dem Tisch ab.

»Archer?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Lügen Sie mich nicht an«, sagte er barsch. »Sie sind ja fix und fertig.«

»Ich lüge nicht.« Sie schaute ihn an. »Das war Kemal, ein alter Freund.«

»Sehen Sie deswegen so aus, als würden Sie gleich – Wer zum Teufel ist das?«

»Ich hab’s Ihnen doch gesagt, er ist mein Freund. Nein, mehr als das. Er ist mein Retter. Er hat mich aus dem Kafas rausgeholt. Können Sie sich vorstellen, was das für mich bedeutet?«

»Nein, und ich will es auch gar nicht wissen.«

»Warum nicht?« Sie lächelte schief. »Sind Sie gar nicht neugierig?«

»Natürlich bin ich das.« Er überlegte. »Ich habe darüber nachgedacht. Meine Neugier ist nicht so groß, dass ich es riskieren würde, Ihre Seele zu verletzen. Das ist harter Tobak.«

»Gott, hab ich das gesagt? Wie melodramatisch.« Sie holte tief Luft. »Das ist anders. Sie nehmen mir nichts weg. Es ist mir egal, ob Sie über das Kafas Bescheid wissen. Carolyn hat mal zu mir gesagt, nur wer schuldig ist, muss sich schämen. Ich weigere mich, mich zu schämen. Irgendwann wird Archer Sie wahrscheinlich sowieso anrufen und Ihnen Gift ins Ohr spritzen.«

»Es reicht nicht, dass es Ihnen egal ist. Möchten Sie es mir erzählen?«

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie tatsächlich das Bedürfnis hatte, mit jemandem darüber zu sprechen.

Das Gespräch mit Kemal hatte zu viele Erinnerungen wachgerufen, die sie erdrückten, und es gab keine Carolyn mehr, die sie davon befreien konnte. »Ja, ich … glaube schon.«

Er wandte sich ab. »Also gut, dann erzählen Sie mir von dem Kafas. «

»Es bedeutet goldener Käfig. Es war eine Art spezieller Nachtclub in Istanbul.« Sie stand auf und trat an den Rand der Veranda. »Und daran angeschlossen war ein ganz besonderer Raum: der Harem. Samtene Sofas. Vergoldete Schnitzereien an den Wänden. Der Raum war äußerst luxuriös ausgestattet, denn die Kunden waren entweder sehr wichtige oder sehr reiche Männer. Es war ein Bordell, in dem jede sexuelle Geschmacksrichtung bedient wurde. Ich war dort sechzehn Monate lang gefangen.«

»Wie bitte?«

»Es kam mir vor wie sechzehn Jahre. Kinder leben so sehr in der Gegenwart, sie können sich nicht vorstellen, dass das Leben sich jemals ändert. Und wenn sie in der Hölle leben, dann glauben sie, es ist für immer.«

»Kinder?«, wiederholte Kelby langsam.

»Ich war zehn Jahre alt, als ich an den Harem verkauft wurde.

Als ich wegging, war ich elf.«

»Mein Gott. Verkauft? Wie das?«

»Der übliche weiße Sklavenhandel. Meine Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben, als ich zwei war. Da ich keine Verwandten hatte, wurde ich in einem Kinderheim in London untergebracht. Das Heim war gar nicht so schlecht, aber leider brauchte der Heimleiter Geld, um seine Spielschulden zu bezahlen. Also hat er einfach hin und wieder ein Kind als Ausreißer gemeldet. Und diese Kinder landeten dann in Istanbul.« Nicht nachdenken. Die Worte einfach aussprechen.

Alles hinter sich bringen. »Natürlich musste er ganz bestimmte Typen von Kindern liefern, um das Geld zu bekommen, das er verlangte. Ich war perfekt. Blond, mit zarter Kinderhaut. Und ich hatte etwas, das diese Leute besonders schätzten. Ich wirkte

… so zerbrechlich. Das war wichtig. Pädophile bevorzugen zarte, zerbrechliche Kinder. Es verstärkt das Gefühl der Macht.

Der Besitzer des Bordells meinte sogar, ich wäre auch für normale Kunden brauchbar, wenn ich erst ein paar Jahre älter wäre. Mit mir hatte er einen richtig guten Fang gemacht.«

»Wie hieß der Besitzer?«

»Das spielt keine Rolle.«

»Doch, das spielt eine Rolle. Ich werde die Welt von dem Dreckskerl befreien. Wie heißt er?«

»Irmak. Aber er ist tot. Er wurde ermordet, bevor Kemal mich und die anderen Kinder aus dem Harem befreit hat.«

»Gut. Ist das der Kemal, der eben angerufen hat?«

»Kemal Nemid.« Die Worte kamen ihr jetzt leichter über die Lippen. Kemal stellte auch einen Teil ihrer guten Zeiten dar, nicht nur des Alptraums. »Das ist der Mann, der mich aus der Türkei nach Chile gebracht hat. Er stand mir näher als ein Bruder. Ich habe fast fünf Jahre bei ihm gewohnt.«

»Ich dachte, Sie hätten bei Luis Delgado gewohnt.«

»Woher wissen Sie, dass ich –« Ihre Mundwinkel zuckten.

»Klar, Sie haben sich natürlich informiert, um zu wissen, wo Sie mich packen können. Erzähle ich Ihnen eigentlich irgendwas, das Sie noch nicht wissen?«

»Das mit diesem Kafas hat Wilson nicht rausgefunden«, erwiderte Kelby grimmig. »Nur, dass Sie in Chile bei Luis Delgado gewohnt haben.«

»Delgado war Kemal. Seine Vergangenheit war nicht unbedingt lupenrein, deswegen hat er es vorgezogen, uns neue Identitäten zu verschaffen. Er hat mich Melisande genannt –«

»Und dann hat er Sie fallen lassen und Lontana übergeben?

Toller Typ!«

Sie fuhr zu ihm herum. »Er ist tatsächlich ein toller Typ«, sagte sie wütend. »Sie haben ja keine Ahnung. Er hätte mich nie im Stich gelassen. Ich bin von ihm weggelaufen. Er wollte in die Vereinigten Staaten gehen und er wollte mich mitnehmen. Er wollte ein neues Leben beginnen.«

»Und warum sind Sie dann weggelaufen?«

»Ich wäre ihm nur im Weg gewesen. Ich war ihm fünf Jahre lang ein Klotz am Bein. Er hatte alles für mich getan. Nachdem er mich aus dem Kafas rausgeholt hatte, stand ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Er hat mich zu einem Arzt gebracht, in die Schule geschickt und war immer für mich da, wenn ich ihn brauchte. Es war an der Zeit, ihn loszulassen.«

»Sie waren erst sechzehn, verdammt. Ich hätte Sie nicht mit Lontana ziehen lassen.«

»Sie verstehen das nicht. Mein Alter spielte keine Rolle. Ich war schon lange kein Kind mehr. Ich war wie dieses kleine Mädchen in dem Film Interview mit einem Vampir, eine Erwachsene in einem Kinderkörper. Das hat Kemal immer verstanden.« Sie zuckte die Achseln. »Phil hatte seine Forschungen über die thermischen Kanäle vor der chilenischen Küste beendet und bereitete sich auf eine Forschungsreise zu den Azoren vor. Ich bin auf die Last Home gegangen und habe ihn gefragt, ob er mich mitnehmen könnte. Ich kannte ihn schon seit Jahren. Kemal und er haben sich sehr gut verstanden, seit Phil die Last Home für Delphinbeobachtungsfahrten an die Stiftung zur Rettung der Delphine vermietete. Phil und ich passten gut zusammen und er brauchte jemanden, der ihm die Buchführung macht, mit seinen Kreditgebern verhandelt und dafür sorgt, dass er auf dem Teppich bleibt.«

»Und Kemal hat nicht versucht, Sie zurückzuholen?«

»Ich habe ihn angerufen und mit ihm gesprochen. Er hat mir das Versprechen abgenommen, ihn anzurufen, wenn ich Probleme hätte.«

»Was Sie wahrscheinlich nicht getan haben.«

»Welchen Sinn hat es, jemanden loszulassen, wenn man sich dann bei jedem Wehwehchen wieder an ihn klammert? Er hat außerdem darauf bestanden, mir mein Studium und die Kosten für den Psychoanalytiker zu bezahlen. Ich wollte die Sitzungen eigentlich abbrechen, weil sie mir nicht viel brachten. Die Alpträume hörten einfach nicht auf.«

»Und dann haben Sie Carolyn Mulan gefunden.«

»Dann habe ich Carolyn Mulan gefunden. Kein Hokuspokus.

Keine Gnade. Sie hat mich einfach erzählen lassen. Und dann sagte sie, ja, es war ekelhaft. Ja, ich kann mir vorstellen, dass du nachts schreiend aufwachst. Aber es ist vorbei und du lebst noch. Du darfst dich nicht unterkriegen lassen. Du musst damit umgehen. Das war ihr Lieblingssatz. Du musst damit umgehen.«

»Sie hatten Glück, sie auf Ihrer Seite zu haben.«

»Ja, aber für sie bedeutete es Unglück. Wenn sie mich nicht kennen gelernt hätte, wäre sie jetzt noch am Leben.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie wäre verärgert, wenn sie mitbekäme, dass ich mir die Schuld an ihrem Tod gebe. Das war eins meiner Probleme. Es ist leicht, Kindern Schuldgefühle einzutrichtern.

Wenn ich nicht schlecht war, warum wurde ich dann bestraft?

Irgendwo tief in meinem Innern habe ich mir selbst die Schuld dafür gegeben, dass ich im Kafas gelandet bin.«

»Das ist doch vollkommen verrückt. Das ist ja genauso, als würde man jemandem, der an Eisenbahnschienen gefesselt ist, die Schuld dafür geben, dass der Zug ihn zermalmt.«

»Carolyn war der gleichen Meinung. Es hat lange gedauert, bis ich diese Hürde genommen habe. Sie meinte, Schuldgefühle schadeten der Gesundheit, ich sollte mich stattdessen dem Leben stellen, mit meinem Leben umgehen. Also werde ich damit umgehen.« Sie schaute ihm in die Augen. »Aber ich werde mich auch Archer stellen. Er hat es nicht verdient, am Leben zu sein.

Er ist noch viel schlimmer als die Männer, die ins Kafas kamen, um ein kleines Mädchen in einem weißen Organzakleidchen zu missbrauchen. Er erinnert mich an Irmak. Sein Geschäft ist sowohl der Tod als auch der Sex.«

»Und Sie wollen es ganz allein mit ihm aufnehmen. Sie lassen es zu, dass dieser Perverse Ihnen ins Ohr flüstert. Ist das nicht rührend?«

Er war äußerlich so ruhig gewesen, dass sie die Wut nicht bemerkt hatte, die unter der Oberfläche kochte.

Doch jetzt spürte sie sie. Jede Faser seines Körpers war angespannt. »Ich brauche es nicht allein mit ihm aufzunehmen.

Sie werden mir helfen.«

»Wie nett von Ihnen, mir eine kleine Rolle zuzugestehen.« Er trat einen Schritt auf sie zu. »Haben Sie eine Ahnung, was ich im Moment empfinde? Erst erzählen Sie mir eine Geschichte, die mich so wütend macht, dass ich am liebsten sofort losrennen und jedem Scheißkerl, der das kleine Mädchen in dem Harem gevögelt hat, die Gurgel durchschneiden würde. Und dann sagen Sie mir, ich soll tatenlos zusehen, wie Archer Sie quält.«

Er war tatsächlich wütend, sie konnte es fast körperlich spüren. »Ich hasse es auch, hilflos zu sein. Aber dieses kleine Mädchen gibt es nicht mehr.«

»Ich glaube doch. Und was haben Sie sich dabei gedacht, mir anzubieten, mit Ihnen ins Bett zu gehen? Was glauben Sie wohl, wie ich mich gefühlt hätte, wenn ich anschließend erfahren hätte, dass ich das Opfer von diesen Kinderschändern gevögelt habe?«

»Ich bin kein Opfer. Ich habe sogar seit damals schon Sex gehabt. Zweimal. Carolyn meinte, es würde mir gut tun.«

»Und? Hat es Ihnen gut getan?«

»Es war nicht unangenehm.« Sie wandte sich ab. »Warum reden wir überhaupt darüber? Sie haben mein Angebot doch sowieso abgelehnt.«

»Weil ich mir ganz sicher bin, dass es irgendwann passiert wäre. Ich bin genauso wie all die anderen Scheißkerle, die Sie ficken wollten. Verdammt, ich würde es immer noch gern tun.«

Er drehte sich auf dem Absatz um und ging auf die Terrassentür zu. »Worauf ich, nachdem Sie mir diese Geschichte erzählt haben, richtig stolz bin. Aber keine Sorge: Ich werde damit umgehen, wie Ihre Freundin Carolyn mir geraten hätte.«

»Was soll der Blödsinn? Sie sind nicht wie diese Männer im Kafas. «

»Ach nein? Wir haben mindestens eins gemeinsam und das ist auf keinen Fall unsere Selbstbeherrschung.«

Er verschwand im Haus und schloss die Tür hinter sich.

Einmal mehr hatte er sie verblüfft. Sie war sich nicht sicher, was sie erwartet hatte, aber mit dieser Reaktion hatte sie jedenfalls nicht gerechnet. Eine Mischung aus Mitgefühl, Wut und sexuellem Frust. Sein Ausbruch hatte sie aus dem Schrecken der Vergangenheit in eine turbulente Gegenwart katapultiert.

Aber sie war auch erleichtert. Außer mit Carolyn hatte sie noch nie mit irgendjemandem über ihre Vergangenheit gesprochen und Kelby vom Kafas zu erzählen hatte eine seltsam kathartische Wirkung. Sie fühlte sich gestärkt. Vielleicht, weil Kelby kein Arzt oder Psychologe, sondern ein ganz normaler Mensch war. Vielleicht hatte sie immer noch einen Rest von Schuldgefühlen gehabt, von denen Carolyn sie hatte befreien wollen.

Aber er hatte nicht ihr die Schuld gegeben, sondern den Männern, die sie missbraucht hatten. Ihre Geschichte hatte seinen Beschützerinstinkt geweckt, sie hatte ihn wütend gemacht und … geil. Irgendwie war ihr seine Geilheit ganz willkommen, denn sie bewies, dass er sie trotz allem, was er nun wusste, immer noch begehrte.

Er hatte diesen Abschnitt ihres Lebens als Teil von ihr akzeptiert. Selbst seine Wut hatte etwas Beruhigendes, weil sie bedeutete, dass er offenbar glaubte, sie hätte die Sache im Griff.

Wer hätte gedacht, dass Kemals Anruf ihr diesen unerwarteten Seelenfrieden bescheren würde?

Kemal oder Kelby? Kemal hatte ihr Wärme gegeben, Kelby hatte ihr Wut gegeben und sie war sich nicht sicher, was wichtiger gewesen war.

Aber eins wusste sie: Wenn das Telefon wieder klingelte und sie Archers Stimme hörte, würde sie wesentlich besser gewappnet sein.

»Halley hat Dansk und Cobb vor ein paar Minuten abgeholt«, sagte Nicholas, als Kelby ans Telefon ging. »Soll ich hier in der Stadt noch irgendwas erledigen oder auf die Insel zurückkommen?«

»Komm zurück. Ich muss für eine Weile von hier weg.«

»Du klingst gestresst. Läuft irgendwas schief?«

»Wie kommst du auf die Idee? Die Insel ist so eine wunderbare, friedliche Welt voller liebenswürdiger Menschen, dass einem vor Freude die Tränen kommen.«

Nicholas pfiff leise durch die Zähne. »Ich bin in einer Stunde da. Ist das schnell genug?«

»Das muss es wohl.« Kelby legte auf, verließ das Haus und ging auf den Steg hinaus. Nicholas konnte gar nicht schnell genug herkommen, dachte er. Er wusste nicht wohin mit seinem Gefühlschaos und stand kurz davor zu explodieren. Er musste raus aufs Wasser, durch die Wellen pflügen und seiner Wut und seinem Frust Luft machen.

Was er nicht kontrollieren konnte, musste er hinter sich lassen.

Auf den Torbogen zuschwimmen …

Nein, das würde nicht funktionieren. Er durfte Melis nicht mit Marinth gleichsetzen. Sie war der Schlüssel, nicht das Ziel.

Also setzte er sich auf den Steg und wartete auf Nicholas.

Und versuchte, nicht an ein kleines, blondgelocktes Mädchen in einem Organzakleidchen zu denken.

»Ich weiß, dass ihr das nicht versteht«, flüsterte Melis Pete und Susie zu, die in ihrem abgesperrten Bereich schwammen. Die Delphine waren zweifellos unglücklich und fühlten sich nicht wohl mit der Absperrung, die Cal vor ein paar Tagen in der Nähe der Veranda errichtet hatte. »Ich wünschte, ich könnte es euch erklären.«

»Können Sie das nicht?«, fragte Kelby hinter ihr.

Als sie sich umdrehte, sah sie ihn auf sich zukommen.

Er war den ganzen Tag weg gewesen, aber offenbar kam er gerade aus der Dusche, denn seine Haare waren nass.

Er war barfuß, sein Oberkörper war nackt und er wirkte leicht verwegen. »Wie meinen Sie das?«

»Ich hätte fast geglaubt, dass Sie mit ihnen sprechen können, so eng, wie die Bindung zwischen Ihnen und den Tieren ist.«

Sie schüttelte den Kopf. »Aber manchmal habe ich das Gefühl, als könnten sie meine Gedanken lesen. Vielleicht können sie das wirklich. Delphine sind seltsame Geschöpfe. Je mehr ich über sie lerne, umso mehr denke ich, dass ich sie überhaupt nicht kenne.« Sie schaute ihn an. »Haben Sie die Maschine zur Eisherstellung bekommen?«

»Sie wird gerade in den Jet eingebaut.« Er verzog das Gesicht.

»Der Pilot konnte nicht recht einsehen, wozu wir sie brauchen.

Ich habe ihm versichert, dass wir nicht vorhaben, im Flugzeug eine gigantische Cocktailparty steigen zu lassen.«

»Wir müssen die Jungs in den Tanks kühl halten. Das ist absolut wichtig. Kühl und nass und gestützt.«

»Gestützt. Ist das der Grund, warum die Delphine in diesen mit Schaumstoff gepolsterten Hängematten transportiert werden?«

Sie nickte. »Die Körper der Tiere sind ans Wasser angepasst.

Wenn man sie aus dem Wasser nimmt, drückt ihr eigenes Gewicht ihre inneren Organe zusammen und verletzt sie. In den Transporttanks ist nicht genug Wasser, um ausreichend Auftrieb zu erzeugen.«

»Hören Sie auf, sich Sorgen zu machen. Ich habe alle Ihre Anweisungen befolgt, damit wir sie sicher transportieren können. Die Delphine werden es im Flugzeug bequemer haben als wir. Es wird ihnen nichts zustoßen, Melis, das verspreche ich Ihnen.«

»Es ist nur … Sie sind so hilflos. Sie vertrauen mir.«

»Dazu haben sie allen Grund. Sie sind eine vertrauenswürdige Frau.«

Sie sah ihn überrascht an.

»Für Delphine«, fügte er mit einem wehmütigen Lächeln hinzu.

»Hätte mich auch gewundert, wenn Sie eine solche Aussage nicht einschränken würden.«

»Wo kämen wir denn da hin?« Er setzte sich neben sie und ließ die Füße ins Wasser baumeln. »Dann würden Sie ja am Ende noch denken, ich wäre weich geworden.«

»Nie im Leben.« In den vergangenen Tagen hatte sie ihn als dynamisch und energisch erlebt, aber nicht als unflexibel, wenn man ihm klar machte, dass er sich irrte.

»Sie sind viel zu stur, um sich zu ändern.«

»Ein Esel, der den anderen Langohr schimpft …« Er nahm einen Fisch aus dem Eimer, der neben ihnen stand, und warf ihn Susie zu. »Ihren Appetit hat sie jedenfalls noch nicht verloren.«

Er nahm noch einen Fisch und warf ihn Pete zu, doch dieser schlug nur mit dem Schwanz aufs Wasser und ignorierte den Leckerbissen.

»Mit ihm könnten wir ein Problem kriegen.«

»Er lässt sich nicht bestechen.« Sie betrachtete Kelbys Hände, die entspannt auf seinen Knien lagen. Schöne, braun gebrannte, kräftige Hände mit langen, geschickten Fingern. Hände hatten sie immer schon fasziniert und Kelbys waren außergewöhnlich.

Sie konnte sie sich bei der Arbeit oder beim Klavierspielen vorstellen. Er besaß einen ausgeprägten Tastsinn. Sie hatte ihn beobachtet, wie er mit den Fingerspitzen über den Rand eines Glases fuhr, wie er das Rattangeflecht an der Lehne des Liegestuhls befühlte. Offenbar genoss er es zu berühren, zu streicheln, zu erkunden …

»Nun?«

Sie riss ihren Blick von seinen Händen los. Was hatte er gefragt? Irgendwas wegen Pete. »Er ist ein Männchen und die sind in der Regel aggressiver. Aber Pete ist sanftmütiger als die meisten männlichen Delphine. Das liegt wahrscheinlich daran, dass er keine Gelegenheit hatte, mit einer Gruppe männlicher Tiere durch die Meere zu ziehen.«

»Sie bleiben nicht bei ihrer ursprünglichen Gruppe?«

»Nein. Die Weibchen schließen sich in der Regel mit anderen Weibchen zusammen, während die Männchen eigene Gruppen bilden. Die meisten männlichen Delphine tun sich zu zweit zusammen und die Bindung bleibt gewöhnlich ein Leben lang bestehen. Deswegen ist die Beziehung zwischen Pete und Susie einzigartig. Wie gesagt, Pete ist außergewöhnlich.«

»Und Sie haben ihn zu einem Haustier gemacht.«

»Nein, das habe ich nicht. Ich habe dafür gesorgt, dass sie ohne meine Hilfe überleben können. Aber ich hoffe, dass sie zu meinen Freunden geworden sind.«

»So wie Flipper?«

»Nein. Es ist ein Fehler anzunehmen, Delphine wären wie wir.

Das sind sie nicht. Sie leben in einer feindlichen Umwelt, in der wir niemals überleben könnten. Ihre Sinne sind ganz anders.

Ihre Gehirne funktionieren anders. Wir müssen sie akzeptieren, wie sie sind.«

»Aber können sie sich mit Menschen anfreunden?«

»Seit Tausenden von Jahren gibt es Geschichten von Beziehungen zwischen Menschen und Delphinen. Von Delphinen, die Menschen das Leben retten, die Fischern bei der Arbeit helfen. Ja, ich glaube, dass es Freundschaften geben kann. Wir müssen sie einfach nehmen, wie sie sind, und dürfen nicht versuchen, menschliche Züge in ihnen zu entdecken.«

»Interessant.« Kelby warf Susie noch einen Fisch zu. »Sind die beiden Geschwister? Oder können wir damit rechnen, dass hier demnächst lauter kleine Delphine rumschwimmen?«

»Sie sind keine Geschwister. Ich habe eine DNA-Analyse von ihnen machen lassen, als ich sie mit auf die Insel gebracht habe.

Aber sie sind noch nicht geschlechtsreif.«

»Sie sind doch schon fast achteinhalb.«

»Delphine können sehr alt werden. Vierzig, fünfzig Jahre.

Manchmal werden sie erst mit zwölf, dreizehn geschlechtsreif, aber mit acht, neun Jahren kann es schon losgehen. Pete und Susie müssten also bald so weit sein.«

»Und wie finden Sie das?«

»Was?«

»Na ja, zur Zeit genießen sie eine glückliche Kindheit. Mit der Geschlechtsreife wird sich einiges ändern.«

»Und Sie meinen, das würde mir etwas ausmachen?«

Ihre Lippen spannten sich. »Ich bin nicht krank. Ich habe seit Jahren mit Delphinen und ihren sexuellen Bedürfnissen zu tun.

Delphine sind Tiere mit einem ausgeprägten Sexualtrieb. So wie Pete mit seinen Spielzeugen umgeht, könnte ich mir vorstellen, dass er einmal sexuell sehr aktiv sein wird. Sex in der Natur hat nichts Obszönes. Es würde mich freuen zu erleben, dass die beiden ein erfülltes Sexualleben haben.«

»Ich halte Sie nicht für krank«, sagte er ruhig. »Ich bin noch nie einer Frau begegnet, die so stark war wie Sie. Sie haben etwas überlebt, woran die meisten anderen zerbrochen wären.

Verdammt, Sie sorgen sogar dafür, dass niemand Ihre Narben sieht.«

»Weil niemand etwas davon hören will, dass Kindern etwas Schlimmes angetan wird. Es berührt die Leute unangenehm.«

Sie schaute ihn an. »Waren Sie nicht auch aufgebracht?«

»Aber nicht unangenehm berührt.« Er sah sie ernst an. »Es hat mich wütend gemacht. Ich war Ihretwegen wütend, aber auch auf Sie. Ich war drauf und dran, mich mit Ihnen in den Federn zu vergnügen und Sie haben mir den Wind aus den Segeln genommen.«

Sie befeuchtete ihre Lippen. »Es war nicht meine Absicht, Sie an der Nase herumzuführen. Ich war verzweifelt und habe instinktiv gehandelt. Es war ein Rückfall in die Zeit im Kafas.

Ich wusste, dass Männer ein solches Angebot zu schätzen wissen.«

»Das können Sie laut sagen. Pete ist nicht der Einzige, der einen ausgeprägten Sexualtrieb hat.« Kelby stand auf. »Aber ich wollte Sie wissen lassen, dass Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich Sie nicht mehr begehren werde, aber für gewöhnlich kann ich mich beherrschen.«

»Wirklich? Haben Sie deshalb dieses Gespräch mit mir gesucht?«

»Wir werden viel Zeit miteinander verbringen. Ich möchte nicht, dass Sie dauernd angespannt sind.«

»Ich bin nicht angespannt.« Als er sie skeptisch betrachtete, fügte sie hinzu: »Ich bin weder nervös noch habe ich Angst vor Ihnen. Sie irritieren mich nur manchmal.«

»Ich irritiere Sie?« Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Inwiefern?«

»Ich weiß nicht.« Das stimmte nicht und das wusste sie nur zu gut. Seine Präsenz war ihr immer bewusst. Er dominierte jeden Raum, den er betrat. Sie sprang auf. »Ich muss die Polsterung in den Hängematten überprüfen. Wir sehen uns beim Abendessen.«

»In Ordnung.« Er stand auf. »Nicholas ist heute mit Kochen an der Reihe, also erwarten Sie nicht zu viel. Er meinte, Kochen gehört nicht zur Arbeitsplatzbeschreibung eines Schamanen.«

»Ich weiß noch gar nicht, ob ich Zeit habe zu –« Sie zuckte zusammen, als ihr Handy klingelte. Nicht jetzt.

Sie hatte zu viel zu tun und nach einem Gespräch mit Archer lagen ihre Nerven immer blank.

»Gehen Sie einfach nicht ran, verdammt.« Kelby war ebenso angespannt wie sie. »Sie haben mir gesagt, er würde den Delphinen etwas antun, wenn sie nicht rangingen, aber die sind doch jetzt in Sicherheit.«

»Sie werden nicht immer in der Absperrung bleiben.

Außerdem soll er glauben, er könnte mich in Angst und Schrecken versetzen.« Sie hörte Kelby leise vor sich hin fluchen, als sie das Gespräch entgegennahm. »Sie sind ziemlich früh dran, Archer.«

»Das liegt daran, dass ich in wenigen Stunden in einem Flugzeug sitzen werde, und ich könnte es nicht ertragen, heute Ihre Stimme nicht zu hören. Dafür genieße ich unsere Gespräche viel zu sehr.«

»Wo fliegen Sie denn hin?«

»Dahin, wo Sie hinfliegen. Las Palmas. Wie ich höre, ist die Trina gestern Abend dort eingetroffen.«

»Was hat das mit mir zu tun?«

»Glauben Sie etwa, ich hätte Sie nicht genau beobachtet?

Cobb und Dansk hat Kelby vielleicht erwischt, aber es war kein Problem für mich, neue Männer anzuheuern. Und er hat weiß Gott kein Geheimnis daraus gemacht, dass er diesen Frachtjet gechartert hat. Diese Delphine zu transportieren stellt ihn sicherlich vor einige Probleme. Er muss Ihnen ja total verfallen sein, um das alles auf sich zu nehmen. Was mussten Sie denn tun, um ihn dazu zu überreden?«

»Nichts.«

»Erzählen Sie’s mir.«

»Sie können mich mal.« Sie ließ einen Augenblick verstreichen. »Wer sind Cobb und Dansk?«

»Tun Sie bloß nicht so, als wüssten Sie nicht, dass Kelby zwei meiner Männer geschnappt hat, die die Insel beobachtet haben.

Die beiden haben sich wie die letzten Amateure angestellt, sonst wäre es ihm nie gelungen, sie –«

»Wahrscheinlich hat er es nicht für wichtig genug erachtet, um mir davon zu erzählen.«

»Vielleicht weiß er einfach, wie schwach Sie sind. Nur für eins zu gebrauchen.«

»Eine solche Meinung hat er nicht von mir.«

»Ihre Stimme zittert ja. Kurz bevor ich gestern Abend aufgelegt habe, habe ich genau gemerkt, dass Sie geflennt haben. Warum händigen Sie mir nicht einfach die Unterlagen aus und lassen mich meiner Wege ziehen?«

Sie schwieg einen Moment, um ihn glauben zu machen, sie müsste ihre Fassung wiedergewinnen. »Ich habe nicht geflennt.

Das haben Sie sich bloß eingebildet. Ich weine nie.«

»Aber Sie standen kurz davor. In den vergangenen Tagen waren Sie mehrmals drauf und dran zusammenzubrechen. Es wird nicht aufhören, das verspreche ich Ihnen. Ich werde in Las Palmas auf Sie warten.«

»Gut.« Sie versuchte nicht, etwas gegen das Zittern in ihrer Stimme zu unternehmen. Er würde es für ein Zeichen von Angst anstatt von Wut halten. »Ich werde der Polizei sagen, dass Sie auf dem Weg nach Las Palmas sind. Vielleicht werden sie Sie verhaften und für den Rest Ihres Lebens hinter Gitter bringen.«

»Bei den guten Beziehungen, die ich habe, kann so etwas gar nicht passieren. Ich bin schließlich kein Amateur. Und im Nahen Osten gibt es einen sehr einflussreichen Mann, der jederzeit seine Fäden spielen lassen und mir alles besorgen kann, was ich brauche. Er ist ganz angetan von der Idee einer Schallkanone.«

»Er wird sie nicht bekommen.«

»Doch, das wird er. Ich bin sehr zufrieden mit Ihrer Entwicklung. Ich werde jetzt Band Nummer zwei auflegen und Sie werden es sich anhören. Ich glaube, es ist mein Lieblingsband. Wenn das Band abgelaufen ist, folgt ein Quiz, also hören Sie aufmerksam zu.«

Dann hörte sie ihre eigene Stimme vom Band.

Sie sah Kelbys Blick und spürte die Wut, die jeden Muskel seines Körpers unter Strom setzte. Sie wandte ihm den Rücken zu und ging an den Rand der Veranda.

»Dreckschwein!«, hörte sie ihn fluchen, dann knallte die Glastür hinter ihm zu, als er ins Haus stürmte.

Dass Kelby wegging, bekam sie nur halb mit. Ihr war klar, warum dieses Band Archer besonders gut gefiel.

Es war deutlich zu hören, wie sie sich quälte, während sie Einzelheiten aus ihrer schrecklichen Vergangenheit beschrieb.

Durchhalten. Sie war nicht mehr dieses kleine Mädchen.

Sie durfte sich von ihm nicht unterkriegen lassen.

Als sie ins Haus kam, war Kelby in der Küche dabei, wutentbrannt Möhren klein zu hacken. Er blickte nicht auf.

»Fertig?«

»Ja. Er weiß, dass wir nach Las Palmas fliegen. Er lässt die Trina beobachten. Und Sie auch. Er weiß, dass wir die Delphine mitnehmen.«

»Ich habe nicht versucht, es vor ihm geheim zu halten.«

Das Fleischmesser grub sich tief in den Holzblock. »Ich hatte gehofft, er würde sich zeigen, damit ich ihn erledigen kann.«

»Sie sollten zum Möhrenschneiden kein Fleischmesser verwenden. Am Ende hacken Sie sich noch einen Finger ab.«

»Keine Sorge. Archer ist nicht der Einzige, der mit einem Messer umgehen kann.«

»Ich dachte, Nicholas wäre heute mit Kochen an der Reihe.«

»Er braucht Hilfe und ich brauche eine Therapie. Ich wollte eine Waffe in meiner Hand spüren.« Er schaute sie immer noch nicht an. »Hatten Sie ein angenehmes Gespräch?«

»Ging so.«

»Lügen Sie mich nicht an. Ich habe Ihr Gesicht gesehen.«

»Also gut, es war nicht besonders erfreulich. Warum haben Sie mir nichts von Cobb und Dansk erzählt?«

»Warum sollte ich Sie beunruhigen? Schließlich habe ich Archer nicht erwischt.«

»Weil ich es nicht ausstehen kann, wenn man mich im Dunkeln lässt. Und weil Archer es ausgenutzt hat, um mich zu treffen.«

»Okay, nächstes Mal sage ich Ihnen Bescheid, wenn ich einen von diesen Dreckskerlen kriege. Worüber haben Sie noch geredet?«

»Er hat mir eins von Carolyns Bändern vorgespielt.«

»Sie hätte sie verbrennen sollen.«

»Wie hätte sie so was ahnen können?«

»Jetzt wissen wir es. Ich werde sie verbrennen. Und Archer werde ich vielleicht auch verbrennen, sobald ich ihn habe. Ich werde dieses Schwein ganz langsam am Spieß braten. Ein Messer wäre viel zu sauber für ihn.«

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Darf ich ihm den Apfel ins Maul stopfen?«

Als er aufblickte und sie seinen Gesichtsausdruck sah, wich sie vor Schreck zurück. »Ich mache keine Witze, Melis. Sie können vielleicht mit Archers sadistischem Schwachsinn umgehen, aber mir geht das allmählich über die Hutschnur. Ich ertrage es nicht, mit anzusehen, wie Sie das mit sich machen lassen.«

»Das ist meine Sache.«

»Bis ich Archer in die Finger kriege. Dann sieht alles wieder anders aus. Sie wollten meine Hilfe. Sie werden sie kriegen.«

»Hören Sie mir gut zu, Kelby. Ich habe Sie um Hilfe gebeten, nicht um Schutz. Ich werde nicht zulassen, dass Sie mich ausschließen. Ich bin diejenige, die – Mist!«

Kelbys Daumen blutete. »Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie sollen ein anderes Messer benutzen.« Sie riss ein paar Papierhandtücher von der Rolle, wickelte sie um seinen Daumen und hob seine Hand über sein Herz, um die Blutung zu stoppen.

»Aber Sie wissen ja, wie man mit Messern umgeht. Ein Wunder, dass der Daumen noch dran ist.«

»Das lag nicht an dem Messer«, entgegnete er mürrisch. »Ich war abgelenkt.«

»Weil Sie versucht haben, mir zu drohen. Geschieht Ihnen recht.« Nachdem die Wunde aufgehört hatte zu bluten, wusch sie Kelbys Daumen, sprühte etwas Desinfektionsmittel darauf und verband ihn mit einem Pflaster. »Und jetzt sagen Sie Nicholas, er soll uns was kochen. Er macht das bestimmt besser als Sie.«

»Wie Sie meinen.«

Sie schaute zu ihm auf, verwundert über den seltsamen Unterton in seiner Stimme, und als ihre Blicke sich begegneten, standen ihr alle Haare zu Berge. Plötzlich wurde sie sich der körperlichen Nähe bewusst, der Wärme, die er verströmte. Sie trat einen Schritt zurück und ließ seine Hand los.

»Ja, Melis«, sagte er und wandte sich wieder dem Hackbrett zu. »Sie sollten mich lieber nicht berühren.«

Einen Augenblick lang blieb sie verunsichert stehen, dann wandte sie sich zum Gehen.

»Oder vielleicht irre ich mich auch«, sagte er leise.

»Zumindest denken Sie nicht mehr an das verdammte Band, nicht wahr?«

10

»Vorsicht.« Voller Sorge beobachtete Melis, wie die Delphine in ihren Hängematten in die Tanks hinuntergelassen wurden, die im Jet angebracht worden waren. »Lassen Sie sie um Himmels willen nicht fallen.«

»Beruhigen Sie sich, Melis«, sagte Kelby. »Sie sind schon drin.«

»Dann sollten wir von hier verschwinden.« Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Noch sieben Stunden, bis wir in Las Palmas sind, und sie sind jetzt schon gestresst.«

»Nicht nur die Delphine sind gestresst«, entgegnete Kelby.

»Nicholas, sag dem Piloten, wir können starten.«

»Bin schon unterwegs«, sagte Nicholas und ging in Richtung Cockpit. »Es ist alles in Ordnung, Melis. Wir haben die Situation im Griff.«

»Es ist gar nichts in Ordnung.« Melis kletterte die drei Sprossen an Petes Tank hinauf und streichelte ihm zärtlich die Schnauze. Sie fühlte sich seidenweich an. »Es tut mir so leid, mein Junge. Ich weiß, das ist nicht fair. Wir bringen das so schnell wie möglich hinter uns.«

»Susie wirkt ganz ruhig«, sagte Kelby, nachdem er in dem anderen Tank nachgesehen hatte. »Sie hat schon wieder die Augen auf. Während wir sie ins Flugzeug gehievt haben, waren sie die ganze Zeit geschlossen.«

»Sie hatte Angst.« Melis wunderte sich, dass Kelby das aufgefallen war. Er war während der gesamten Dreiviertelstunde dauernd hin und her gelaufen, hatte mit dem Piloten geredet und das Verladen der Delphine beaufsichtigt. »Pete ist einfach nur sauer.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich kenne ihn. Die beiden reagieren auf fast alles sehr unterschiedlich.«

»Setzen Sie sich und schnallen Sie sich an. Wir heben gleich ab.«

Sie kletterte von der Leiter herunter und tat, wie ihr geheißen.

»Wie lange werden wir brauchen, um die Jungs in den Tank im Hafen von Las Palmas zu verfrachten?«

»Höchstens zwanzig Minuten.« Kelby schnallte sich an. »Ich habe dafür gesorgt, dass uns ein paar Studenten von der Meeresbiologie helfen. Sie freuen sich schon auf die Aufgabe und sie sind gern bereit, auf die beiden aufzupassen. Das Becken ist über zwanzig Meter lang, das dürfte ausreichen für die kurze Zeit, die sie darin verbringen müssen, bis wir sie freilassen.«

»Haben Sie dafür gesorgt, dass die Wände des Tanks über Vertiefungen und Vorsprünge verfügen?«

»Ich habe Ihre Anweisungen genauestens befolgt. Aber wozu ist das wichtig?«

»Der Schall muss gebrochen werden. Ihr Gehörsinn ist so hoch entwickelt, dass es sie extrem irritiert, wenn ihre Pfeiftöne und Klicklaute von einer glatten Oberfläche abprallen.« Endlich hob das Flugzeug ab. Obwohl der Aufstieg wie gewünscht sanft und allmählich verlief, hörte Melis Susies ängstliche Klicklaute.

Sobald sie die endgültige Flughöhe erreicht hatten, schnallte sie sich los.

»Ich gehe nach Pete sehen.« Kelby war bereits auf der Leiter.

»Versuchen Sie, Susie zu beruhigen.«

»Seien Sie vorsichtig. Er könnte versuchen, Sie zu beißen.«

»Ja, Sie sagten bereits, dass er sauer ist.« Er schaute zu Pete hinunter. »Es scheint ihm gut zu gehen. Was können wir sonst noch für sie tun?«

»Wir können uns nur immer wieder vergewissern, dass sie nass sind, und versuchen, sie zu beruhigen. Gott, ich hoffe bloß, dass das ein ruhiger Flug wird.«

»Der Pilot meinte, die Wetterbedingungen sind günstig. Er rechnet nicht mit Turbulenzen.«

»Gott sei Dank.« Sie streichelte Susies Schnauze. »Halt durch, Baby. Es ist gar nicht so schrecklich. Es ist fast wie im Uterus.«

Susie klickte traurig.

»Ich weiß. Du glaubst mir nicht. Aber ich verspreche dir, dass dir nichts Schlimmes passieren wird.« Sie schaute zu Kelby hinüber. »Wehe, wenn das nicht die Wahrheit ist.«

»Ich habe Ihnen versprochen, dass nichts schief gehen wird.«

Sie schüttelte erschöpft den Kopf. »Und wenn doch, habe ich kein Recht, Ihnen die Schuld zu geben. Ich allein bin für die Delphine verantwortlich.« Sie streichelte Susie noch einmal, dann kletterte sie die Leiter hinunter. »Und ich bin an Sie herangetreten und habe Ihnen einen Handel vorgeschlagen.« Sie setzte sich an ihren Platz. Gott, war sie müde. Vor lauter Sorge um Pete und Susie hatte sie in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan. »Und das mit dem Transport haben Sie sehr gut organisiert.«

»Allerdings.« Er setzte sich ihr gegenüber. »Aber ich glaube kaum, dass ich so etwas öfter machen möchte. Es ist zu traumatisch. Sobald ich die Delphine wieder sicher auf Ihrer Insel abgeliefert habe, ist Schluss damit.« Er schaute sie an.

»Wenn Sie sie wieder dort haben wollen. Vielleicht beschließen Sie ja auch, sie freizulassen.«

»Das glaube ich nicht. Wenn es sich um ein von Menschen unberührtes Gebiet handeln würde, dann vielleicht. Aber es gibt viel zu viele durch den Menschen verursachte Gefahren für sie: Umweltverschmutzung, Schleppnetze, in denen sie sich verfangen und ersticken können, selbst Touristen mit ihren Schnellbooten stellen eine Bedrohung für die Delphine dar.«

»Ich bekenne mich schuldig.« Er lächelte. »Wenn ich als Junge auf der Yacht meines Onkels war, wollte ich immer unbedingt mit dem Boot rausfahren und die Delphine streicheln.«

»Und hat er es Ihnen erlaubt?«

»Sicher, er hat mir alles erlaubt. Immerhin hat er mit meinem Treuhandfonds seine Yacht finanziert. Da wollte er sich lieber gut mit mir stellen.«

»Vielleicht wollte er auch einfach nur nett zu Ihnen sein.«

»Möglich. Aber nachdem ich volljährig geworden war, habe ich immer noch die Rechnungen für die Yacht bekommen.«

»Haben Sie sie denn bezahlt?«

Er schaute aus dem Fenster. »Ja. Ich habe sie bezahlt. Warum auch nicht?«

»Weil Sie ihn mochten?«

»Weil diese Reisen auf seiner Yacht mich gerettet haben. Und Rettung gibt’s nicht umsonst. Nichts im Leben ist umsonst.«

»Ich glaube, Sie mochten ihn. Waren diese Reisen mit Ihrem Onkel der Grund, weswegen Sie auch so eine Yacht haben wollten wie er?«

Er nickte. »Aber ich wollte eine größere und bessere.«

»Die haben Sie ja auch bekommen. Warum haben Sie sie Trina getauft?«

»Ich habe sie nach meiner Mutter benannt.«

Sie sah ihn verwundert an. »Aber ich dachte –«

»Dass ich meine Mutter nicht besonders liebe? Na ja, schließlich haben die Medien die ganze Welt darüber informiert, dass wir seit meiner Kindheit nicht miteinander geredet haben.«

»Und warum haben Sie Ihr Schiff dann nach ihr benannt?«

»Meine Mutter hat immer gern alles unter Kontrolle und sie ist sehr ehrgeizig. Sie hat meinen Vater geheiratet, weil sie die begehrteste Gastgeberin auf zwei Kontinenten sein wollte. Mich hat sie bekommen, weil das die einzige Möglichkeit für sie war, meinen Vater an sich zu binden. Er war ein bisschen wankelmütig und schon einmal geschieden.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe einmal miterlebt, wie meine Mutter und meine Großmutter sich fürchterlich gestritten haben. Sie haben beide keine große Rücksicht auf meine kindlichen Gefühle genommen.« Er zuckte die Achseln. »Eigentlich war ich froh, dass ich dabei war. Bis dahin war es meiner Mutter gelungen, mich zu täuschen. Nachdem mein Vater bei einem Unfall ums Leben gekommen war, ging der Streit ums Sorgerecht los. Er hat mir alles vererbt, was er besaß, und sie war stinksauer. Aber wer die Kontrolle über mich hatte, der hatte auch die Kontrolle über das Geld und sie hat sich sofort in den Kampf gestürzt.

Jedes Kind möchte seine Mutter lieben und sie war sehr talentiert darin, das schwache, hilflose Opfer zu spielen. Sie war eine echte Südstaatenschönheit. Immer wieder hat sie mir tränenreich erklärt, wie schlecht meine Großmutter wäre.

Wahrscheinlich hat sie schon für den Tag geprobt, an dem sie vor Gericht in den Zeugenstand treten musste, und gleichzeitig versucht, mich dazu zu bewegen, zu ihren Gunsten auszusagen.«

»Und Ihre Großmutter?«

»Sie hat meinen Vater geliebt und sie hat das Geld geliebt.

Trina konnte sie nicht ausstehen. Ich war nur ein Hindernis und noch dazu eine Waffe in Trinas Händen.«

»Entzückend.«

»Ich hab’s überlebt. Schließlich war ich nicht in einem Sexclub so wie Sie. Die meiste Zeit habe ich in Internaten und auf Onkel Ralphs Yacht verbracht. Richtig unangenehm wurde es nur, wenn ich vor Gericht gezerrt wurde oder ein paar Wochen zu Hause verbringen und mich von Trina vor den Augen der Presse betütteln lassen musste. Aber den Spaß habe ich ihr vermasselt, indem ich mich wie ein kleines Ekelpaket aufgeführt habe, wenn ich bei ihr war.«

»Und trotzdem haben Sie Ihr Schiff nach ihr benannt.«

»Das war ein kleiner gemeiner Seitenhieb gegen meine liebe Mama. Die Yacht hat ein Vermögen gekostet und sie lebt heute von einem Taschengeld. Es ist ein großzügiges Taschengeld, aber es erlaubt ihr bei weitem nicht den Lebensstil, den sie sich wünscht.« Er lächelte. »Und ich habe die Kontrolle über die Trina. Ich verfüge über das Schiff ebenso wie über das Taschengeld meiner Mutter. Das bereitet mir eine große Genugtuung.«

»Sie müssen sie abgrundtief hassen.«

»Eine Zeit lang habe ich sie gehasst. Aber mit der Zeit bin ich abgeklärter geworden. Früher bin ich tatsächlich auf ihre Show reingefallen. Als Junge war ich sehr idealistisch und bereit, mit Windmühlen zu kämpfen, um meine Mutter zu beschützen. Bis mir klar wurde, dass ich mich vor ihr schützen musste. Das war eine regelrechte Offenbarung.« Er stand auf. »Ich werde noch ein bisschen frisches Eis in die Tanks schütten. Sie haben gesagt, die Delphine müssen kühl gehalten werden, und Pete hat eben ziemlich aufgeregt mit dem Schwanz geschlagen.«

Sie nickte. »Ich sehe inzwischen mal nach Susie.« Sie erhob sich. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Kelby?«

Er drehte sich zu ihr um.

»Ich wirke sehr … Die meisten Männer finden, dass ich sehr zerbrechlich wirke. Erinnere ich Sie vielleicht an Ihre Mutter?«

»Anfangs hat Ihre scheinbare Zerbrechlichkeit eine gewisse Abneigung in mir hervorgerufen.« Seine Mundwinkel zuckten.

»Aber ich garantiere Ihnen, an meine Mutter haben Sie mich noch nie erinnert.«