Zerfetzt
IMPRESSUM
© dieser Digitalausgabe by Alfred Bekker/CassiopeiaPress, 2014
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Copyright © Das Universum von “Violent Earth“ by Marten Munsonius
Allgemeine Storyline: Inka Mareila, mit Antje Ippensen Marten Munsonius
Copyright © des Romans „ZERFETZT“ by Antje Ippensen, 2014
Copyright © Cover: Steve Mayer, 2014
Korrektorat: Antje Ippensen /Marten Munsonius
Was bisher geschah …
(im VIOLENT EARTH Prequel „Letzte Warnung“ von Astrid Amadori,
Marten Munsonius und Antje Ippensen, erschienen im Januar 2013)
Im HOPE TOWER, einem 30stöckigen Hochhaus in einem Gewerbegebiet nördlich von London, forschen Professor Albert Lee und seine Assistentin Ana Belle (beide sind Virologen und Universal-Wissenschaftler) fieberhaft nach – irgendeiner Art der Rettung, der Hilfe, irgendetwas, womit sich die Menschheit gegen den drohenden Zusammenbruch wehren könnte.
Sie sind fast völlig abgeschnitten vom Rest der Welt und haben schon seit einer Weile keinen anderen Menschen mehr gesehen. Telefon und Internet sind tot.
Als der Professor endlich einen Durchbruch erzielt, flammt die Hoffnung in dem Wissenschaftler-Duo wieder wild auf.
Um die entscheidenden Tests durchführen zu können, benötigt Lee eine bestimmte Substanz, die in einem Geschäft an der nächsten Ecke zu besorgen ist … Ana Belle übernimmt diese Aufgabe.
Sie gelangt auf gespenstisch leere Straßen, schafft es, die Substanz zu besorgen, wird aber in dem Moment, da endlich ihr Handy klingelt, von einem Zombie angegriffen.
Das Mobiltelefon entgleitet ihr, sie rettet sich mit knapper Not vor den sich vermehrenden und sie verfolgenden Untoten, zurück ins Hochhaus. Auch hier gibt es Zombies, aber es gelingt ihr, in den Labortrakt im 22. Stock zurückzukehren.
Ein seltsamer brauner Briefumschlag mit Unterlagen aus Johannesburg, Südafrika, aus den 70er Jahren liegt auf einem der Tische …
(vgl. Prequel „Vorwarnung“ von Lukas Vering)
Und dann überstürzen sich die Ereignisse. Während Ana Belle Übelkeit verspürt (eine Nachwirkung des Schocks?) und Lee die Forschungsergebnisse des Projektes GLASGLOCKE auf einen Stick lädt, ist klar, dass sie sich hier nicht lange werden halten können. Das Gewerbegebiet ist zombieverseucht, sogar der HOPE TOWER steckt schon voller Untoter, und dass sie gerettet werden, scheint nicht eben glaubhaft.
Sie verbarrikadieren sich, doch die Schrecken nehmen kein Ende und achten keine Grenze: Professor Lee verwandelt sich in einen Eliver und Ana Belle muss ihn töten.
Sie flüchtet mit dem Stick durch den Lüftungsschacht, will das Dach erreichen, wo sich ein Jetpack befindet. Die letzte, die einzige Möglichkeit, dem Wahnsinn doch noch mit knapper Not zu entkommen …
Doch das einzige, was entkommen wird, soll der Stick mit jenen wichtigen Daten sein, den Ana Belle mit dem Jetpack losschickt, wohin auch immer.
Sie selbst wird von einem Zombie in den Fuß gebissen und beschließt, ihrem Leben ein ECHTES Ende zu setzen, so lange sie noch kann.
TIMELINE ZUR SERIE
Prequels
Vorwarnzeit – Lukas Vering Marten Munsonius
Letzte Warnung – Ippensen/Amadori/Munsonius
Epizentrum – Philipp Schmidt
Tanz in den Blutmond – Philipp Schmidt
Fleischsplitter – Hrsg. Inka Maereila
Väterchen Russland – Markus Kastenholz Inka Mareila
Serie
Drohgebärde – Inka Mareila Marten Munsonius
Leichensturm – Inka Mareila
Schockwelle – Inka Mareila Marten Munsonius
Seuchenchaos – Inka Mareila
Todeskrieger – Inka MAreila Markus Kastenholz
Hanamibi – Kirschblütenfeuer – Markus Kastenholz
Sichere Zone – Lukas Vering
ZERFETZT – ANTJE IPPENSEN
Die Serie wird fortgesetzt
„Viren sind gefährlicher als Terroristen.“ Nathan Wolfe, Virologe. Quelle: Süddeutsche Zeitung, 2./3. November 2013.
Das gesamte Universum war gefüllt mit Blut, alt, zäh, sirupartig. Woher kam es. Ach ja, der Biss. Hatte nicht in einer Ausgabe von Spektrum der Wissenschaft gestanden, dass tatsächlich der gesamte Kosmos möglicherweise mit einer Art Honig gefüllt war. Aber doch nicht mit Bluthonig. Gleichgültige, monoton rauschende Gedanken.
Wie lange fiel sie schon? Ana Belle hatte eigentlich gedacht, dass man recht bald das Bewusstsein verlor, wenn man sich vom Dach eines 30stöckigen Hochhauses in den Abgrund stürzte, unwiderstehlich angezogen von der Schwerkraft, als sei sie die erste große Liebe.
Stattdessen fiel sie. Fiel. Und fiel. Fiel und fiel und fiel.
Keine Schmerzen, und noch nicht einmal Angst. Oder nur unendlich weit entfernt, oder aber dünn wie eine Nadel, die kaum spürbar in sie eindrang. Doch der Gedanke an die Nadel war – unangenehm. Wieso? Ana versuchte sich zu erinnern. Aber ihr geriet alles immer wieder durcheinander, es machte sie ganz gereizt und böse, und noch dazu dieses schwach flatternde Etwas in ihrem Leib. Das Virus. Nein. Der Embryo? Das konnte gar nicht sein, dass sie den schon spürte. War völlig unmöglich.
Während ihres langen, trägen Sturzfluges drehte Ana Belle sich gemächlich auf den Rücken und starrte in einen Nachthimmel voller Zombiesterne. Mittendrin ein halber Leichenmond, den man glatt durchgeschnitten hatte. Wo war die andere Hälfte? Sie wandelte die Lust an, irre zu kichern.
Und auf einmal kam die Erinnerung. An Wladimir, und sie verkrampfte sich im Fallen, denn jetzt war ihr wieder klar, wieso das innere Bild einer Nadel Unbehagen in ihr auslöste. Vor sieben Wochen hatten sie sich das letzte Mal gesehen.
Sie hätte ihn jetzt gern zur Rede gestellt. Ihn gepackt und geschüttelt und ihn gefragt: „Wie kann das überhaupt sein, dass ich schwanger bin, du Mistkerl? Du hast doch behauptet …“
Ich bin halt die Naive gewesen, hielt sie sich selbstkritisch vor, habe alles ihm überlassen.
In gleichmäßigen, kühlen Sequenzen rauschte der Film ihres letzten Zusammenseins an ihr vorüber. Minsk, die Hauptstadt von Weißrussland, in starken Smog gehüllt. Wladimirs kleine, etwas angestaubte Wohnung im 5. Stock eines schmucklosen Hauses, seine „Höhle“, die ihn nur selten sah, denn er arbeitete fast ebenso fanatisch wie Ana. Er war Chemieingenieur in einem Konzern, der so ziemlich der weißrussischen Diktatorenfamilie gehörte.
Fünfter Stock, natürlich ohne Lift. Sie folgte ihrem Freund die sich spiralförmige windende, großzügige Treppe hinauf. Das war aber auch das einzige, was hier großzügig war. Durch das Treppenhaus schwirrten Flüche auf Trasjanka, roch es nach Kohl, Armut, nassen Socken und diffuser Gier.
In Wladimirs Wohnung war es wie üblich unaufgeräumt, doch das störte Ana kaum. Sie zuckte nur die Achseln und suchte sich eine Sitzgelegenheit, indem sie das, was sich darauf türmte, einfach wegschob. Es handelte sich um ein paar undefinierbare Klumpen und verbeulte Pappkartons.
„Was willst du trinken, Sweetheart?“, rief Wladimir aus der Küche, und sie hörte das saugende Geräusch, mit dem sich sein altertümlicher Kühlschrank öffnete. „Ich hab Bier da oder auch … na ja, Wodka-Cola.“
„Bier ist allright. Nicht zu kalt, wenn’s geht.“
„Eine lauwarme Cervisia, was?“ Wladimir war ein begeisterter Leser von Asterix-Heften. Sein warmes, sympathisches Lachen begleitete seine für ihn typische Anspielung, diesmal auf das Heft „Asterix bei den Briten“.
Ana Belle machte es sich schon mal ein bisschen bequem, während sie auf Wladi wartete. Sie zog ihre Jacke aus, schmiss sie irgendwohin und öffnete die obersten Knöpfe ihrer Bluse. Es gab nur Wohn-Schlafzimmer und Küche, und so konnte sie nicht anders, als immer wieder auf das Bett zu schauen. Das als einziges Möbelstück hier im Raum sauber und angenehm wirkte. Es war frisch bezogen und sah herrlich einladend aus.
Als Wladimir im Türrahmen der Küche erschien, mit seinem schiefen Grinsen und seinem sexy verwuschelten Haarschopf, da spürte sie, wie ihr Herz schneller pochte. Mhm. Zum ersten Mal, seit sie sich auf dem Flughafen begrüßt hatten, war Zeit, einander ausgiebig zu betrachten. Was er sah, schien ihm zu gefallen, denn sein Grinsen vertiefte sich. Und sie spürte ein süßes Ziehen in ihrem Unterleib. Auch wenn eine kleine Stimme kritisch anmerkte, dass er sich gut und gerne die Haare hätte waschen können. Sie waren sexy zerzaust, das ja, aber stumpf und strähnig. In den Händen hielt er zwei geöffnete Bierflaschen. „Du brauchst doch kein Glas, oder?“
Sie schüttelte den Kopf und lächelte ihn an. Er hielt ihr eine Flasche hin, sie griff danach und er ließ nicht los, zog sie neckisch mit sich, sie kicherte, hielt sich ebenfalls an der Flasche fest und ließ sich bis zum Bett bugsieren. Dort fielen sie beide auf die weiche, federnde Matratze und prusteten wie Teenager. Wirklich und wahrhaftig, ihre langen Trennungszeiten hielten die Liebe frisch, das war nicht anders zu sagen.
„Komm, lass uns erst miteinander anstoßen.“ Wladimir setzte sich wieder auf und hob seine Flasche.
Das Glas klirrte aneinander. Komisch, Ana nahm das Geräusch viel deutlicher wahr als sonst. Das Klirren hallte sonderbar in ihren Ohren wider und jetzt, wo sie so dicht neben Wladi saß, merkte sie, dass er auch seltsam roch. Fast hatte sie einen Augenblick lang das Verlangen, von ihm abzurücken. Bestimmt kam das von den ganzen Chemikalien, mit denen er hantierte … aber halb muffig, halb metallisch?! Echt seltsamer Geruch. Sie versuchte vergeblich, den Impuls zu unterdrücken, schnaubte aber unwillkürlich kurz und rümpfte die Nase.
„Was ist denn, Kleines?“ Die Berührung seiner Hand, mit der er liebevoll ihr Haar zauste und ihren Nacken streichelte, war so wie immer. Sie lächelte, ohne zu antworten, und als sie einander zutranken, fiel ihr noch mehr auf. Er sah – ein wenig krank aus, der Teint fahl, die Augen fiebrig glänzend, die Züge eingefallen.
Aber als er sie unvermittelt heftig küsste, war alles Unbehagen wie weggeblasen. Weggeküsst. Sie ließ sich fallen, tief, tief in seine Umarmung hinein, ihr wurde leicht schwindlig und auf einmal war alles leicht, alles superschön und vollkommen erregend. Mit ihrer Lust verhielt es sich oft eigenartig, immerhin war sie ja auch Britin. Oftmals lag ihre Lust wie eine kühle britische Kurzhaarkatze, eine von denen mit bläulichem Fell, auf einer Mauer und blickte abschätzig-arrogant auf das ganze Treiben. Wladimir allerdings schaffte es praktisch immer, auch in solchen Momenten, sie zum Kochen zu bringen.
Im Augenblick war nicht viel nötig, um ihr so richtig einzuheizen. Sie fielen beide übereinander her wie Tiere. Hart saugte Wladimir an ihren Nippeln, erst durch den Stoff des T-Shirts hindurch, was sie quieken ließ, und dann streifte er ihr hastig das Oberteil hoch, riss es über ihren Kopf und packte ihre vor Geilheit anschwellenden „Espresso Cups“. Seine Nägel bohrten sich in ihre Haut und sie stöhnte lustvoll auf.
Mhmm … und jetzt war sein Geruch wieder, wie er sein sollte. Ana wand sich unter seinen Händen, die er geschickt einzusetzen wusste. Sich selbst aus der Jeans zu schälen, die in ihrem Schritt bereits nass war, stellte eine reizvolle Anstrengung dar. Sie riss und zerrte an Knopf und Reißverschluss. Ihm gelang es schneller. Blitzschnell schlüpfte er aus seinen Hosen und sein Schwanz schnellte ihr entgegen, prachtvoll erigiert und zuckend wie der Stab eines Zauberers.
Schon griff er wieder nach ihr. Oh, Ana liebte seine Hände: groß, schlank, warm und makellos, weil er sie im Unterschied zu ihr stets gut schützte. Ihre eigenen Hände wiesen zu viele Arbeitsspuren auf, Rückstände von Chemikalien hatten sich in die Haut der Handteller gefressen und sie verfärbt; nein, ihre eigenen Hände fand sie nicht schön. Auch wenn Wladi ihr immer sagte, das mache nichts, ihn störe der Zustand ihrer Hände nicht. Die Nägel noch dazu abgeknabbert, die Knöchel rot wie die einer Waschfrau. Ana Belle schob diese unliebsamen Gedanken und Komplexe beiseite. Die hatten hier jetzt ebenso wenig zu suchen wie der Gedanke an Arbeit und an Professor Lee. Einmal, einmal alle neun bis zehn Monate wollte sie das alles hinter sich lassen und mit ihrem Geliebten ficken. Wild und wüst rammeln, das war es, was sie wollte. Dass der gutbestückte Weißrusse, den sie seit drei Jahren kannte, ihr sämtliche Sorgen und Ängste aus dem Hirn vögelte.
Und alles entwickelte sich genau nach ihren Wünschen. Bewundernde und zugleich schmutzige Worte raunte er ihr ins Ohr, teils auf Englisch, teils auf Trasjanka, und dann schob er einen, zwei, dann schmerzhaft viele Finger in sie, so dass ihre Klit, zuvor schon heiß flackernd, jetzt heftigst zu pochen begann. Ana stand auf Schmerz, wenn er ihr auf bestimmte Weise (und von einem bestimmten Jemand) zugefügt wurde. „Mehr!“, stöhnte sie. „Mach weiter, mehr, gib‘s mir …!“ Und schrie gleich darauf vor Lustqual wild auf, so dass er ihr den Mund zuhielt.
„He, nicht ganz so laut, die Nachbarn“, lachte er, ein dämonisches Funkeln in den Augen, „du weißt schon, was du sonst kriegst?“ Sie nickte, eine Mischung aus Angst und Erregung im Gesicht. Wladimir hatte sie bei ihrem letzten Zusammensein mit einem selbstgemachten Knebel stumm gemacht.
Ja, sie trieben es öfter wild, und Wladimir, das hatte er einmal keuchend gesagt, liebte den Ausdruck der Angst in ihren Augen – dieses Gemisch mit Lust. Erst wenn er den sah, nahm er seinen Schwanz. Als die ultimative Waffe, um die Geliebte damit zu durchbohren, sie aufzuspießen. Im Nachhinein musste Ana immer lachen, wenn sie an diese wüsten, martialischen Worte dachte, die zwischen ihnen hin und herflogen im ekstatisch aufgeladenen Kampf. Aber währenddessen schien es ihr stets absolut stimmig.
So auch diesmal. Plötzlich aber geschah etwas – Beklemmendes.
Für einen winzigen Moment hatte sie einen faulig-metallischen Geschmack im Mund, und in dem gleichen Augenblick glaubte sie Wladimirs Penis als schwarzviolett verfärbt wahrzunehmen, und um ein Haar hätte sie so laut aufgebrüllt wie noch nie in ihrem Leben.
Grässlicher- und zugleich köstlicherweise hatte dieser Moment keinen lustmindernden Einfluss auf Ana. Die glühendheiße Erregung, die wellenartig durch sie hindurchströmte, verstärkte sich eher noch. Und natürlich war das nur eine Art – Halluzination gewesen. Wladis Schwanz war keineswegs ein verfaultes, stinkendes Stück Fleisch. Sondern hart, straff, jugendlich. Er packte Ana und drehte sie um, damit er sie im Doggy Style nehmen konnte. Seine Hände gruben sich in ihre schmalen Lenden. Und eher noch intensiver und leistungsfähiger als sonst stieß er in sie. Unvermittelt, ungestüm, so dass sich nun doch der unerlaubte Schrei von ihren Lippen löste.
Aber Wladi befand sich offenbar auch in einem solchen Delirium der Ekstase, dass es ihm egal war, jedenfalls gab es keine Sanktionen. Das Bett ächzte, knarrte und quietschte unter den heftigen Stößen, die er ausführte, und sie ächzten und grunzten alle beide immer wieder, animalisch, wüst, und die schwindelerregende Woge in Ana stieg höher und höher, sie schnappte schon nach Luft, sie war schweißüberströmt und bestimmt krebsrot im Gesicht. Was sich da anbahnte, schien ihr ungewöhnlich heftig zu werden – normalerweise hatte sie eher oftmals Probleme mit dem Höhepunkt. Diesmal nicht.
Wladimir besorgte es ihr großartig, langanhaltend, mit nicht nachlassender Konzentration, und sie liebte es, wie sich seine Hände in ihrem Fleisch verkrallten, als auch er sich der Entladung näherte, oh!, sie hatte wieder Lust zu schreien, als die Woge sich auftürmte, wuchs, wuchs, höher, kribbelnd, höher, elektrisch, höher-höher-OH!, und sie schaffte es, nur in einem langen melodischen Seufzer zu enden, als sie unter dem glutwarmen Entzücken zusammenbrach.
„JETZT!“, stöhnte Wladi auf Englisch. „NOW!“ Und trotz des ekstatischen Prickelns, das nur langsam nachließ, spürte sie etwas wie ein leichtes Klacken, als würde ein Schloss zuschnappen, in dem Moment, da sich Wladimir zuckend in sie ergoss.
Erst jetzt, da sie quälend langsam vom Hochhaus stürzte, begriff Ana, was es mit diesem Zuschnappen auf sich hatte. Ah ja, dachte sie und hatte wieder Lust, ein verrücktes Kichern hervorzustoßen.
Kurz darauf kam Wladimir mit seiner Spritze, in der eine türkisblaue Flüssigkeit schimmerte. Lächelnd zog er sie auf. Ein, zwei Tröpfchen ließ er raus, dann griff er ohne weiteres Federlesen nach Anas Arm.
„Was ist diesmal drin?“, fragte sie argwöhnisch. Sein Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen, und urplötzlich musste sie an einen Totenschädel denken.
Nur einen kurzen Moment lang.
Danach war er wieder der alte, nur halt ein bisschen hohlwangig und mit fiebrig leuchtenden Augen.
Doch auf einmal erlosch sein Grinsen, und er wurde ernst. „Eine äußerst wichtige und dich schützende Substanz, mein Schatz. Du bist schließlich, genau wie ich, exakt im Bilde über die seltsamen Gerüchte, die momentan durch Eurasien und Ameropa schwirren …“ Ana Belle mochte seine Georg-Orwell-Ausdrucksweise. Es zuckte trotz des ernster werdenden Themas um ihre Mundwinkel.
„Du meinst die Alien-Viren“, nickte sie.
„Ja. Oder auch Bizarro-Bakterien. Der Laie unterscheidet ja kaum zwischen den Mikroorganismen.“
Das war ihr ebenfalls bewusst.
„Und wir beide wissen, dass durchaus etwas dran ist an der Sache. Eben deshalb arbeiten Wissenschaftler wie wir mit Hochdruck in geheimer Mission. Ist ein halbes Wunder, dass wir zwei uns sehen durften, Süße, doch ich bin froh darüber. Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh!“ Er stieß das mit Inbrunst hervor, legte die Spritze kurz weg und umarmte Ana so heftig, dass sie sicher war, blaue Flecken im Rippenbereich davonzutragen. Doch das war ihr ganz egal. Innerlich fühlte sie gar keinen Schmerz, sondern nur eine tiefe Geborgenheit.
Zuweilen glaubte sie, Wladimir nicht sonderlich zu lieben, doch in diesem Moment hätte sie ihn vom Fleck weg geheiratet.
„Um auf deine Frage nach dem Spritzeninhalt zurückzukommen“, fuhr ihr Liebhaber sachlich fort. „Zum einen sind empfängnisverhütende Substanzen drin enthalten“, er kratzte sich kurz an der Nase, „und zum anderen Universin, das, wie du ja weißt, sein letztes Erprobungsstadium soeben durchlaufen hat. Das powert dein Immunsystem in ungeahnte Höhen, mein Schatz.“
Ana Belle spürte, wie sie schläfrig wurde. „Großartig. Dann solltest du dir selbst aber auch was davon genehmigen. Deine Augen glänzen fiebrig …“
Der Rest ihres Zusammenseins verschwand in nebelhaften Schlieren. Nein, an mehr erinnerte sie sich beim besten Willen nicht, während sie vom Hope Tower stürzte, als sei sie Alice im Wunderland. Wirklich! Ja, das war und blieb der beste Vergleich, obwohl ihr kein weißes Kaninchen mit Taschenuhr den Weg gewiesen hatte, sondern sie ihn sich selbst gesucht hatte, den Biss eines Untoten in der Ferse.
Oh ja, der Weltenraum musste wirklich mit einer Art Honig angefüllt sein, durch den sie träge sank, tiefer und tiefer. Blutsirup. Blutmarmelade. Im Falle von Alice hatte das Mädchen links und rechts oftmals Regale gesehen, einmal sogar eins, in dem ein Glas Konfitüre stand, das sie mitnahm und später wieder abstellte, in einem weiter unter liegenden Regal, während Alice fiel und fiel. Ich weiß jetzt, wie sie sich gefühlt haben muss.
Es wurde immer verrückter. Ana Belle begann auch schon Regale zu sehen, geisterhaft flackernd und schimmernd, und in ihnen lagen Träume.
Sie starrte diesen Träumen ins Gesicht, und manche sprangen sie an wie zähnefletschende Terrier.
Ihr Professor Lee erschien, und im allerersten Moment durchzuckte sie freudiger Schreck, ihn hier traumhaft wiederzusehen, doch schon einen Sekundenbruchteil später gerann jede freudige Regung, wurde eingefroren im Schock, Ana schrie gellend ohne es zu hören.
Vor ihr ragte er auf, etwas Undefinierbares in der Hand … in der einen Hand, die er noch hatte. Aber selbst sie schien nur noch lose am Handgelenk befestigt, mit ein paar schwärzlichen Sehnen und halbzerbrochenen Knochen. Die andere war ein dunkelblutiger zerfetzter angespitzter Bleistift. Ein Blutstift. Sie waren alle drei in ihrem Labor-Büro … drei? Oh ja, wahrhaftig, da drückte sich doch hinter Lee noch eine Gestalt herum, die Ana vage bekannt vorkam.
Lee näherte sich ihr mit schlurfenden Schritten. Und wie es sich in einem ordentlichen Alptraum gehörte, war sie, Ana, die hilflose Zuschauerin, am Boden festgeschmiedet und konnte sich nicht rühren. Ihr untoter Chef sah schlimmer aus, als sie ihn in Erinnerung hatte, ehe sie ihm eine Kugel ins Gehirn geschossen hatte. Sehr viel schlimmer. In seiner Wange befand sich ein faulendes Loch, aus dem es gelblich und rotschleimig tröpfelte, und ein Augapfel hing ihm auf die andere Wange herunter. Eine Gallert-Kullerträne, und da, wo das Auge gesessen hatte, gähnte die Köhle und war mit ekelhaft pulsierender, offenbar nachgerutschter Hirnmasse gefüllt. Wieder schrie Ana tonlos. Sie vergaß entsetzlicherweise, dass dies nur ein Traum war.
Der Professor wirkte, als sei er schon viel länger am Verwesen … als sich sein fast lippenloser Mund öffnete, ringelten sich weiße Maden daraus hervor und platschten runter. Erst dann konnte er – Laute hervorstoßen. Er starrte Ana mit dem verbliebenen untoten Auge kalt und zugleich hitzig an … eisiges Feuer … und kreischte plötzlich so durchdringend, dass ihr die Ohren schmerzten: „IGÄÄ! IGÄ!“
Und hinter ihm schob sich eine aufgequollene, grässlich entstellte Gestalt hervor, in der Ana nur mit Mühe ihre frühere Praktikantin Chiara erkannte. Die Frau, die ihnen ein paar Wochen zur Seite gestanden hatte, kurz bevor die Dinge … die Dinge … ja, die … SACHE halt eskal… elka … eslakier… schlimmer wurden.
Die Zombie-Chiara schien einladend ihre schwammigen Arme auszubreiten und zu grinsen, und dann sah Ana das Furchtbarste: In ihrem Leib klaffte ein riesiges Loch, in dem sich zuvor ohne Zweifel ETWAS drin gewesen war. Und Ana ahnte auch, WAS.
Näher und näher kam die untote Praktikantin, sie schob sogar den wankenden Professor zur Seite, dass der fast über seine aus dem zerfetzten Leib hängenden Gedärme stolperte. Im nächsten Moment fühlte sich Ana von Chiara gepackt und an sich gepresst, und sie konnte nichts dagegen tun.
Das Loch im Bauch der Frau, dieses nasse, schwärzlich-rote Loch, umschloss ihren eigenen Leib wie ein abgründiger MUND und dieser Abgrund schien sogar ZÄHNE zu haben und plötzlich stieß auch Ana dumpf ein „IGÄ! IGÄ!“ hervor ohne es zu wollen während sie auf diese unbeschreibliche Weise zernagt wurde bis ihre Gebärmutter samt Inhalt herausgefressen worden war von …
NEIN!!!
Ana Belle spürte ein innerliches Absacken, sie schlug hektisch mit Armen und Beinen um sich – irgendetwas veränderte sich. Flüchtig dachte sie an den Film „Alien 3“, in dem Sigourney Weaver als Ellen Ripley ihren eigenen schwangeren Leib umklammerte und das Alien-Baby in ihn zurückzwang, während Ripley selbst ähnlich zeitlupenhaft wie sie jetzt auf die gewaltigen Fluten geschmolzenen Metalls zustürzte … Das war natürlich nur ein Zelluloid-Trick gewesen.
Dann wurden diese Bilder von angenehmeren abgelöst. Sie sah perlweiße Strände und ein lavendelblütenfarbiges Meer, das träge über den Sand leckte, etwas verschwommen wirkend, nein, pastellartig oder wie hinter einem halbtransparenten Vorhang.
Nach und nach versank Ana Belle in einen leicht euphorischen, tranceähnlichen Schwebezustand – damit hatte sie nun auch am allerwenigstens gerechnet. Sie spürte, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete.
Jäh war es damit vorbei, als sie auf mehrere Markisen knallte und von dort auf einen abgebrochenen Fahnenmast, der ihren Körper sauber der Länge nach aufspießte. Obwohl, sauber, das konnte man so oder so sehen. Durch den brutalen Kontakt mit dem Hindernis spritzten ihre Gewebefetzen, ihr Blut und Teile von Organen in alle Richtungen.
Entsetzlicher Schock des plötzlichen Absackens, als sie aus dem „Sirup“ herausfiel und auf den letzten Metern wahnwitzig Geschwindigkeit aufnahm, so dass die Aufprallwucht, dieses obszöne Penetriertwerden, geradezu unbeschreiblich war. Das spitzig zersplitterte Holz durchbohrte sie von unten nach oben – sie hatte sich während des endlos scheinenden Fluges erdwärts mehrmals gedreht – drang etwa in Höhe ihres linken Oberschenkels ein, wurde vom inneren Becken abgelenkt, verfehlte die Gebärmutter und bahnte sich seinen zerstörerischen Weg durch Gedärm und Brustkorb, verbeulte ein paar Rippen, um zunächst in Höhe des Schlüsselbeines, dieses zerschmetternd, kurzzeitig auszutreten, dann aber noch Ana Belles Kiefer zu erwischen – es knirschte – und ihr Lächeln aufzuspießen.
*
Aus Ana Belles „saftigen Giftschleimnotizen, den philocculten“:
Was sind eigentlich Viren? Diese Halblebenden, Halbnichtlebenden, diese mikroskopisch kleinen Zombies aus einer unergründlichen, seltsamen, zwielichtigen Zwischenwelt – und um das Ganze noch komplizierter zu machen mit ihnen, gibt es Cafeteria-roenbergensis mit seinen Bakterien-Eigenschaften. Eine Art Menschenaffe, nein, der Bonobo-Schimpanse unter den Mikroorganismen, oder noch genauer, the missing link? Oder haben wir das noch gar nicht gefunden? Es wäre nicht erstaunlich, denn es gibt zuviele. Die Welt der Mikroorganismen ist – überwältigend und ich finde, wir können einfach froh sein, dass sie keine Schwarmintelligenz entwickelt haben.
Keine eigene Replikation und kein eigener Stoffwechsel und trotzdem so viel Macht.
Die wissenschaftliche Diskussion, ob Viren Lebewesen sind oder nicht, ist noch nicht abgeschlossen. Aber komisch, ich habe das Gefühl, als ob wir jetzt, durch ReDead-V, einen gewaltigen Schritt vorwärts machen würden, was die Beantwortung dieser Frage angeht. Oder ist das vermessen …? Wird uns die Beschäftigung damit, das Virus zu vernichten oder wenigstens einzudämmen, so sehr in Anspruch nehmen, dass für Grundlangeforschung keine Zeit und kein Platz mehr bleibt? Alle Kollegen, mit denen ich spreche, haben Angst. Auch wenn die meisten das zu verbergen suchen. Habe ich Angst? Eher nicht. Dafür eine Menge Respekt. Aber ich bin leidenschaftliche Forscherin – ich sehe auch die Chancen, die das neue Virus bietet. Wie neu ist es eigentlich? Nicht einmal das wissen wir bisher. Gerade haben wir doch diese Postsendung aus Südafrika bekommen, mit deutlichen Hinweisen darin, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf einen prähistorischen ReDead-V-Fund schließen lassen. Aber das nur nebenbei.
Alzheimer oder Demenz werden nicht durch ein Virus ausgelöst. Jedenfalls nicht, soweit wir bislang wissen! Es gibt kein uns bekanntes Virus, das eine so vollkommene Zerstörung des menschlichen Bewusstseins bewirken und das organische System unseres Körpers so komplett umbauen kann wie ReDead-V es vermag. Und wieso fürchten wir uns so sehr davor, Zombies zu werden? Weil es uns Alpträume des ewigen Alterns beschert, ah, witziges Wortspiel, denn alt werden wollen wir alle, alt sein nicht. Bei lebendigem Leibe, aber mit völlig stumpfem Geist, ohne Erinnerungen, mit zerstörter Persönlichkeit, zu verwesen, also extrem zu altern – das ruft absolutes Grauen in uns hervor. Extrem und womöglich sehr, sehr lange auf diese Weise zu altern, bis alles Fleisch von den Knochen gefallen ist womöglich, und dennoch weiter dahinvegetieren zu MÜSSEN – es sei denn, ein nicht Infizierter kommt des Weges und zermatscht uns gnädigerweise die kümmerlichen Reste an Gehirn, die wir noch besitzen, die in unserem Totenschädel rumschwappen und aus den Augenhöhlen spritzen …
Es ist eine Urfurcht, eine archaische Angst in uns, so zu enden beziehungsweise fast nicht zu enden. Ein Alpdruck, aus dem wir niemals mehr erwachen.
Manchmal habe ich Visionen, die mir den Atem verschlagen vor der grandiosen perfekten Hoffnungslosigkeit, die sie ausstrahlen. Woher die Infizierten, sprich das Virus in ihnen, diese Wahnsinnsenergie beziehen, um untot zu existieren, ist nach wie vor ein Mysterium – wir bräuchten befallene, „menschliche“ Versuchspersonen – aber es sieht so aus, als hätte der letzte „überlebende“ Zombie wahrhaftig die Arschkarte gezogen. Ich sehe ihn über die Erde wanken, bis diese selbst vergeht im Feuersturm der sich aufblähenden Sonne, die praktisch zur Zombie-Sonne wird und alle ihre inneren Planeten verschlingt.
Welch kosmischer Alptraum!
Aber: Soll das wirklich der Sinn des Ganzen sein? Was steckt hinter diesem verdammten Virus? Besitzt ReDead-V etwa DOCH eine Art Schwarmintelligenz? Oder gibt es gar keinen Sinn? Soll das ein Treppenwitz Gottes sein, dass seine Schöpfung so krepiert?
Wie gesagt: Wir haben zu wenig Informationen und zu wenig Kapazitäten. Die meisten von uns, global vernetzte Wissenschaftler, forschen eher an der Frage, wie können wir die Seuche eindämmen, uns schützen, die HotSpots abriegeln? Der Professor und ich bilden da keine Ausnahme. Und da allein das schon eine kaum lösbare Sisyphus-Aufgabe ist und uns, wenn wir sie mit vereinten Kräften denn doch lösen, dadurch wertvolle Zeit geschenkt würde, zum Atemschöpfen und zum Kreativ-Werden, bin ich auch nach wie vor damit einverstanden. Und doch …
Nun, dazu führe ich dieses bescheidene Tagebuch, das auch Abwegiges, gar Philosophisches (sogar Okkultes) enthalten darf und wo ich es mir auch mal erlaube rumzuspinnen.
Wo zum Henker kommt ReDead-V her??? Das könnte die Hundert Milliarden Pfund-Frage sein – oder auch nicht.
*
Ort: Cote d’Azur, Cannes.
Zeit: 9. Oktober 2014.
„Das Zeigen der Vulva vertreibt Bären und Löwen, lässt den Weizen höher wachsen, beruhigt Sturmfluten und Dämonen haben Angst davor. Der Teufel läuft weg. Das Zeigen der Vulva rettet die Welt.“
Quelle: Vulva 3.0, Dokumentarfilm von Claudia Richarz und Ulrike Zimmermann.
Juri starrte Nadeschda verzweifelt an. Auf sie eingeredet hatte er jetzt genug, es gab nichts mehr zu sagen, und so beschränkte er sich aufs verzweifelte Starren. Schon seit längerer Zeit merkte er ja, er hatte nichts mehr zu melden bei der Gruppe, sie hörten nicht länger auf ihn, verdammt, dabei hatte er sie groß gemacht, durch ihn waren sie überhaupt erst zu dem geworden, was sie jetzt darstellten! Verflucht noch eins. Es ist, seitdem diese lesbische Nutte da ist, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Aber wenn er ehrlich war, dann hatten die Frauen schon vor Tatjanas Ankunft damit angefangen, sich von ihm zu distanzieren, ihm zu widersprechen und eigene Aktionen ohne ihn zu planen. Tatjana hatte diesen Ablösungsprozess höchstens beschleunigt.
Nadeschda, die vollbusige, schlanke, einen Meter und siebzig verführerische Zentimeter große Blondine, mit hohen Wangenknochen und braunen Kirschaugen sowie endlos langen Beinen, hatte ihre Vorbereitungen soeben abgeschlossen und packte nun alles zusammen, was sie für die Fahrt zu ihrem – gefährlichen – Ziel brauchen würde. Den breitschultrigen, gutaussehenden Juri, der genau wie sie Mitte Zwanzig war, beachtete sie nicht weiter. Nur als er sich einmal räusperte und es schien, als wolle er doch noch etwas sagen, fuhr sie kurz zu ihm herum und blitzte ihn an. Abwehrend hob er beide Hände und zeigte ihr die Handflächen, während er seinen Kopf zwischen die Schultern zog.
Nadeschda schüttelte ihre blonde Mähne, strebte eilig zur leicht zerbeulten und abgewetzten Tür des Wohnmobils und öffnete sie. Der alte Fiat Ducato, der sie den ganzen Weg von der Ukraine bis hierher an die Cote d’Azur gebracht hatte, war ziemlich heruntergekommen und pfiff jetzt nach der langen Reise auf dem letzten Loch. Gut, fahrbereit war er noch. Die Gruppe hatte das Womo in einer äußerst passenden Gegend abgestellt: im Schatten der großen Mülldeponie von Cannes. Hier fiel es überhaupt nicht auf, denn es standen mehrere Autowracks kreuz und quer herum.
Der Gestank ringsum störte die jungen Leute nicht – sie waren weitaus Schlimmeres gewöhnt.
Verdammt, sie wollte tatsächlich gehen, einfach so! So konnte er sie doch nicht weglassen. Als Nadeschda im Begriff war, die Tür hinter sich zuzuknallen, hielt Juri sie fest und machte einen letzten Versuch, sie umzustimmen.
„Nadeschda, bitte … hör auf mich! Du machst einen Riesenfehler, glaub mir! Verflucht nochmal, Baby, ich will einfach nicht, dass du dich in dein Verderben stürzt …“
Sie fuhr heftig zu ihm herum und schüttelte seine andere Hand ab, die er schon auf ihre Schulter gelegt hatte, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
„Nenn mich nicht Baby!“, fauchte sie. „Und hör auf mit dem Rumgejammer und dem Geheule, du Weichei!“
Er biss die Zähne zusammen. So hatte sie ihn noch nie genannt, und er war kein Weichei, das wussten sie alle.
Jetzt jedoch starrte Nadeschda ihn an, als sei er der böse Feind, als hätten sie niemals miteinander geschlafen und als wäre nicht er der Initiator und Helfer bei zahlreichen Aktionen gewesen. Für einen winzigen Moment flackerte in ihm der grellrote Wunsch auf, sie zu schlagen. Er ließ es und biss nur die Zähne noch fester zusammen, bis sie schmerzten. Seine Hand glitt von ihrer Schulter ab.
„Ultra-Femen braucht dich nicht mehr!“, schnob Nadeschda und trat mit ihrer Tasche ins Freie hinaus.
An der Cote d’Azur lief das Leben noch weitgehend normal ab, sogar weniger abgeschottet als im restlichen Europa, ja, es hatten sich hier Orte übersteigerter, schriller Lebendigkeit entwickelt, und all das war dem Megabiozid zu verdanken, einem Gas, das eine höchst wirksamen „Abwehrvorhang“ gegen die Zombieplage bildete und einen Teil des Mittelmeeres somit sicher gemacht hatte.
Das übrige Europa war ein bedrückter und verängstigter Kontinent, über dem die dunkle Bedrohung wie ein Schleier aus mentalem Gift hing. Viele Europäer waren der Ansicht, dass die ANGST vor dem, was sich auf anderen Kontinenten mit grässlicher Geschwindigkeit ausbreitete, schlimmer war als das Übel selbst.
Cannes wollte davon nichts wissen. Die Stadt vereinigte Dekadenz, Laster, reiche Russen und stinkend reiche Araber, Alkohol, Prostitution, Drogen, Spiele aller Art und meistens die derberen, härteren – also alles, was SPASS machte auf dieser verrottenden Welt, in sich. Hierher strömten alle, die es sich leisten konnten und die Vergnügen suchten, die Sorte Vergnügen, die einen alles vergessen ließ, so als gäbe es weder Gestern noch Morgen, nur die lustgetränkte Gegenwart.
Das übrige Europa verbarrikadierte und verkroch sich und zitterte vor Angst, aber in Cannes fühlte man sich irrationalerweise sicher.
Ja, dachte Tatjana, dieses Sicherheitsgefühl ist total irrational. Das androgyn wirkende Ultra-Femen-Mitglied – eigentlich sah sie sogar jungenhaft aus – stand am verabredeten Treffpunkt, einem alten Schuppen am Rande der Stadt.
Tatjana hatte mit ein paar Leuten gesprochen, unter anderem, um herauszufinden, wieso Megabiozid nicht in Massenproduktion hergestellt wurde, um ganz Europa oder sogar noch weitere Lande zu schützen. Nicht nur, dass es ein Riesengeschäft wäre … die Rettung der Welt hatte doch eigentlich Priorität. Nachdem sie zunächst nur ratloses Achselzucken und Verdrängungsfloskeln erntete, hatte sich Tatjana allmählich zu Menschen durchgefragt, die anscheinend andere Informationen besaßen, doch obwohl die 22jährige Ukrainerin recht geschickt war im Ausfragen und noch dazu fließend Französisch sprach, hatte ihr natürlich niemand direkt etwas verraten. Fest stand, dass ein Geheimnis dahintersteckte, und „zwischen den Zeilen“ hatte sie das eine oder andere entziffern können, auch durch Körpersprache. Und langsam war ein ungeheuerlicher Verdacht in ihr aufgekeimt …
Jäh wurde sie aus ihren düsteren Gedanken gerissen, als Nadeschda auftauchte, mit wehenden blonden Haaren. Tatjanas Miene hellte sich augenblicklich auf. Aber nur für kurze Zeit. Sie sah die wilde Entschlossenheit in den Zügen der anderen Frau.
„Hey!“, begrüßte die Freundin sie, und ihre Augen blitzten, während ihr schön geformtes Gesicht im Augenblick geradezu kantig wirkte. Tatjana ahnte, dass sie wieder eine Auseinandersetzung mit Juri gehabt hatte. Und worum war es gegangen? Zweifellos um die Aktion.
„Bin soweit. Auf geht’s, Tatjana – lass uns loslegen! Ultra-Femen wird damit in die Geschichte eingehen, du wirst sehen!“
Nadeschda musste auffallen, dass Tatjana bleich und nachdenklich war, und nun stieß die dünne junge Frau mit dem kurzen schwarzen Haar, das wie ein Prinz-Eisenherz-Helm an ihrem Kopf anlag, auch noch einen Seufzer aus – aber die Blonde ging einfach darüber hinweg.
So war Nadeschda – manchmal direkt etwas langsam und schwerfällig, fast russisch – aber wenn sie sich mal entschieden hatte, absolut fanatisch und zielbewusst.
„Okay“, nickte Tatjana. Wie auch hätte ausgerechnet sie auf einmal die Meinung Juris vertreten können, der von Anfang an versucht hatte gegenzusteuern und die beiden Frauen aufzuhalten? Für einen Moment empfand sie sich in einem quälenden Zwiespalt, dann unterwarf sie sich der Solidarität mit der geliebten Gruppe und vor allem mit Nadeschda.
Sie setzten sich in Bewegung, Richtung Hafen.
„Ärger mit Juri gehabt?“, fragte Tatjana, während sie im Geschwindschritt liefen.
„Ja. Er wollte mich mit Händen und Füßen von unserem Plan abhalten, das feige Schwein!“
„Hoffentlich verrät er uns nicht.“
„Glaub ich kaum!“, stieß Nadeschda mit einem verächtlichen Auflachen hervor. „Schließlich hofft er immer noch darauf, mich weiter ficken zu können. Da hat er sich aber geschnitten!“
*
Es war später Nachmittag und noch so warm wie im Sommer. In der Ukraine schneite es um diese Jahreszeit manchmal schon. Sie näherten sich dem Hafengebiet, in dem es wimmelte und quirlte von buntem Leben. Über allem lag diese nervöse, künstlich fröhliche Hektik, die typisch war für Cannes in den Zeiten von Elivers.
Kurz bevor die zwei Frauen in einem öffentlichen Toilettenhäuschen verschwanden, erhaschte Tatjana noch einen Blick auf die ETOILE, die ein Stück weit auf dem Mittelmeer vor Anker lag: das größte, perfekteste und sicherste Vergnügungsschiff, das es je in Europa gegeben hatte. Genau das war ihr Ziel.
„Schnell, schnell!“, drängte Nadeschda. „Sonst verpassen wir noch den Zubringer, und das wär peinlich. Leonida hat alles eingefädelt, wie du weißt!“
Tatjana nickte stumm. Ja, natürlich wusste sie das. Die ehemalige Bordellchefin Leonida war mit ihren Kontakten und Kenntnissen einfach Gold wert.
In der großzügigen Toilettenkabine war für beide ausreichend Platz. Jetzt kam der Teil, den Tatjana mit Abstand am meisten hasste: Sie musste sich – rein äußerlich jedenfalls – in eine Nutte verwandeln. Noch dazu in eine devote Nutte, samt Sklavenhalsband und allem. Sie kniff die Lippen zusammen, während sie in den Corsagen- und Strümpfe-Fummel schlüpfte, der sie mehr entblößte als bekleidete. Ihr einziger Trost war, dass sie Nadeschdas Sklavin spielen sollte, denn ihre hochgewachsene kurvenreiche Freundin war als Domina vorgesehen.
„Beeil dich doch ein bisschen, Tatjana! Sei keine solche Schlafmütze!“ Kopfschüttelnd sah Nadeschda ihr zu und half ihr dann unwirsch bei den Haken und Ösen und den vertrackten Strumpfhaltern. Sie setzte ihrer Gefährtin noch eine Perücke auf mit affig langen schwarzen Locken, schminkte ihr das blasse Gesicht und fuhr dann zusammen, als von draußen her undeutlich eine Glocke ertönte. Das Signal des Zubringers!
„Verdammt! Auf geht’s!“ Rasch ließ sie noch den stählernen Halsreif um Tatjanas zarten Nacken schnappen, befestigte die Kette daran und nahm das andere Ende in die Hand. „Vorwärts, Sklavin!“, meinte sie herrisch, zwinkerte dabei aber mit ihren schönen Kirschenaugen.
Tatjana schmolz dahin und errötete sicherlich unter ihrem Make-up. Sie fand es nicht einfach, auf den 10 cm hohen Absätzen ihrer Lacklederpumps dahinzustöckeln, obwohl sie das mit der Freundin zusammen geübt hatte.
„Na los!“ Nadeschda schnalzte mit der Zunge und zog leicht an der Kette. Die blonde Ukrainerin trug ein schlauchartiges, knöchellanges Latexkleid, das sich wie eine zweite Haut an ihre Kurven schmiegte. SIE bewegte sich völlig sicher und natürlich auf ihren 12 cm hohen Killerstiefeletten. Für diese messerscharfen Absätze hätte sie eigentlich glatt einen Waffenschein gebraucht.
„Dass es wirklich Kerle gibt, die auf sowas stehen, so’n Nutten-Outfit“, knurrte Tatjana, während sie sich gehorsam in Bewegung setzte.
Nadeschda lachte. „Komm, Schätzchen – bist du wirklich so naiv oder tust du nur so?! Fast hundert Prozent der Typen LIEBEN das geradezu! Und erst recht heutzutage …“
Sie hielt in der linken Hand die Kette, in der rechten die merklich leichter gewordene Tasche.
Ich bin nicht naiv, dachte Tatjana, eher im Gegenteil. Deshalb hab ich ja auch so wenig Kontakt zu – Schwanzträgern. – Von Anfang an hatte es deswegen auch Spannungen zwischen ihr und Juri gegeben.
Auf der Straße fielen die beiden „SMlerinnen“ nicht weiter auf, denn alles mögliche an bizarr gekleidetem Volk strebte dem Zubringer entgegen, der an der Hafenmole vertäut lag und mit der Glocke nun schon zum zweiten Mal die Nachzügler herbeirief.
Der Abend war hereingebrochen. Trotzdem konnte man die beiden Inseln Sainte Marguerite und Saint Honorat südlich der Stadt noch gut erkennen, wenngleich sie in bläulichen Dunst gehüllt waren.
Zwei ziemlich schwerbewaffnete Wächter überprüften sämtliche Ankömmlinge. Sie hielten auch kleine Pads in Händen, auf die man seinen Einladungschip drücken musste.
„So, jetzt wird sich ja herausstellen, was Leonidas Kontakte und Fädenziehereien wirklich taugen“, zischte Nadeschda aus dem Mundwinkel zu der beträchtlich kleineren Tatjana herab.
Doch es gab nichts zu fürchten – ihre beiden Chips riefen grünes Leuchten auf den Wächterpads hervor und somit durften sie anstandslos passieren. Es bemerkte auch niemand, dass Nadeschdas Kleid eine Spezialanfertigung war; nach Schusswaffen wurden sie zwar abgescannt, aber sonst wirkten die Sicherheitsmaßnahmen eher lax. Dann betraten sie die große eiserne Barke, die von einem grimmig wirkenden Mann mit martialischem dunkelsilbernem Schnurrbart gesteuert wurde.
Don’t pay the ferryman, dachte Tatjana mit leichtem Schauder, und ihr mulmiges Gefühl verstärkte sich noch, als sie über den Metall-Laufsteg an Bord ging, immer hinter ihrer „Herrin“ her.
In Wahrheit machte es Tatjana nichts aus, die Freundin „Herrin“ zu nennen – sie wäre für Nadeschda gestorben. Freudig.
Das Boot war zum Platzen voll mit „Frischfleisch“ für das Vergnügungsschiff, als es ablegte, doch die Übelkeit, die sofort in Tatjana aufstieg, hatte nichts mit den schaukelnden Bewegungen des Zubringers zu tun. Und auch nicht damit, dass ihnen beiden ein gefährliches Abenteuer bevorstand. Na gut, okay, sie hatte Lampenfieber. Aber das gehörte einfach zu jeder Aktion der Ultra-Femen, die sich von der ohnehin schon radikalen feministischen Gruppe Femen abgespaltet hatte, weil sie noch extremere „Missionen“ durchführte und megahart drauf war. Femen hatte sich bereits vor drei Monaten deshalb von den Ultras distanziert.
Lampenfieber war der ganz normale Wahnsinn. Sie hatten alles miteinander besprochen, jede, wie sie dachten, Eventualität eingeplant.
Mit einem leicht nervösen Grinsen erinnerte sich Tatjana an den kurzen Dialog, den sie darüber geführt hatten.
Tatjana: „Was, wenn unten einer der Kerle an mich ran will?“ „Unten“ stand hier für den Teil des Schiffes, den sie notgedrungen als erstes betreten und „bearbeiten“ mussten.
Nadeschda: „Dann beschütze ich dich.“
Tatjana: „Und wenn oben Gewalt ins Spiel kommt und sie dich niederknüppeln wollen?“
Nadeschda: „Dann beschützt du mich.“
So einfach war das.
Nein. Dieses richtig, richtig üble Gefühl, das wie ein Feuer in ihr hochzüngelte, das einer brutalen Faust glich, die ihren Magen zusammenquetschte, kam von woanders her. Es lag an den Informationen über das Megabiozid, die Tatjana bekommen hatte. Und an ihrem Schwarzen Sinn, wie sie ihn nannte. Seit ihrer frühesten Kindheit warnte er sie vor Unheil aller Art, und sie hatte es noch nie bereut, auf seine Warnungen gehört zu haben.
Daher betrachtete sie das Stahlungetüm, das näher und näher kam, also bedrohlich riesig über ihnen emporzuwachsen schien, mit höchst, höchst gemischten Gefühlen. Die Bezeichnungen ReDead-V und Elivers geisterten unaufhörlich durch ihr Hirn. Was, wenn die ETOILE bereits befallen war? Unsinn, wies sie sich selbst zurecht. Das konnte doch gar nicht sein, aus einem sehr gewichtigen Grund: Nirgends waren die Sicherheitsmaßnahmen gegen die Zombieplage stärker als hier, denn auf der ETOILE, in den oberen Bereichen, frönte die Crème de la Crème der Gesellschaft ihrem Vergnügen und tobte sich aus. Genau deswegen sind wir ja auch jetzt hier, dachte Tatjana. Und doch … häuften sich nicht in letzter Zeit die Berichte, vor allem aus den Gegenden um ihr Heimatland herum? Heimat, pah. Tatjana dachte es verächtlich, war sie doch mehr als froh, der Ukraine den Rücken gekehrt zu haben. Bereits Anfang Februar, als die Unruhen in Kiew und in der westlichen Ukraine immer heftiger wurden, hatte Ultra-Femen ihre dortigen Zelte abgebrochen und sich auf den Weg nach Südeuropa gemacht.
Die Berichte. Sie waren natürlich verfälscht und geschönt. Aber wer ein bisschen Grips im Köpfchen hatte, konnte sehr wohl heraushören, dass es in Osteuropa mehr und mehr HotSpots gab, die abgeriegelt wurden – sie schossen gerade in jüngster Zeit wie Pilze aus dem Boden, und natürlich war alles unter voller militärischer Kontrolle. Zu dumm, dass man deswegen die Bürgerrechte allerorten ein wenig hatte einschränken müssen.
Das Volk wurde weiterhin mit den üblichen Beruhigungsdrogen eingelullt: zum Beispiel mit der sehr beliebten Fernsehshow LUXURY FOREVER mit dem Star-Moderator Lazarus Manz, live übertragen aus dem Oberdeck der ETOILE.
Tatjana und Nadeschda wussten beide ganz genau, weshalb sie zu Ultra-Femen gegangen waren. Sie hatten es satt, belogen zu werden. Hatten die Schnauze voll davon, dass die Regierenden ihr Volk wie unmündiges, dummes Vieh behandelten. Die beiden jungen Frauen hatten jede eine recht gute Bildung genossen. Nadeschda war Studentin an der Philosophischen Fakultät der Universität Kiew – nun ja, gewesen – und Tatjana hatte zwar die Schule kurz vor der Erlangung der Hochschulreife abgebrochen, aber sie war das klügste Kind ihrer Großfamilie. Von der sie sich losgesagt hatte. „Meine Ex-Familie“, sagte sie mit großer Kälte.
Das absolut Schlimmste, was Tatjana sich für ihr Leben vorstellen konnte, das war nicht ReDead-V. Oder getötet zu werden. Oder für immer in einem lichtloses Gefängnis zu vegetieren.
Nein, ihr schlimmster Alptraum, der Wirklichkeit zu werden in der Lage war, ließ sich mit einem einzigen Wort umreißen: Schwangerschaft.
Tatjana hatte schon mehrere Ärztinnen aufgesucht, um sich sterilisieren zu lassen, damit die Gefahr ein für allemal beseitigt wäre, doch diese feigen Huren des verfluchten Patriarchats hatten sich mit Blick auf Tatjanas allzu große Jugend geweigert.
„Komm komm, Kleine, eines Tages findest du vielleicht doch den Richtigen und möchtest ein Kind kriegen! Und dann …?“ Augenrollen, Zungenschnalzen, und Tatjana war gegangen, sprachlos vor Wut.
NIEMALS.
Bei ihrer Intelligenz war es Tatjana, sechstes von acht Kindern eines Fabrikarbeiters und einer Putzfrau, natürlich klar, dass sie einen pathologischen Hass aufs Kinderkriegen deshalb entwickelt hatte, weil sie mitansehen musste, wie ihre Mutter, zur Gebärmaschine degradiert und von ihrem alkoholsüchtigen Mann misshandelt, mehr und mehr abstumpfte und lange vor dem Ende ihres eher kurzen Lebens einer Untoten glich.
Der Verstand sagte Tatjana natürlich auch, dass nicht alle Männer gleich waren und eine Familie zu gründen schön und erfüllend sein konnte. Ihr Schwarzer Sinn aber glaubte nicht daran und würde es nicht tun. Nicht in einhundert Billionen Jahren.
Jäh wurde Tatjana aus diesen düsteren Erinnerungen gerissen, denn sie hatten ihr Etappenziel erreicht – der Zubringer ging längsseits bei der ETOILE. Ihre idiotische Perücke verursachte ihr schon jetzt Kopfhautjucken, und sie musste an sich halten, um sich nicht zu kratzen. Sie schoss einen mürrischen Blick auf Nadeschda ab, den diese aber gar nicht mitbekam. Die Femme Fatale, wie sie sich selbst manchmal mit grimmigem Humor nannte, kannte sich in diesen Kreisen besser aus und hatte darauf bestanden, dass Tatjanas Haare lang sein müssten. „Das oder dir eine Glatze scheren lassen, Schätzchen. Dann wärst du natürlich auch die perfekte Sub. Kämst aber um Perücken während der Show ebenfalls nicht drumrum. Gehupft wie gesprungen …“
Aber eine androgyne, fast männliche Prinz-Eisenherz-Frisur ginge auf gar keinen Fall.
Sobald es geht, werde ich mir das Drecksding trotzdem herunterreißen!, schwor sich Tatjana, die sich ohnehin bis zur Unkenntlichkeit entstellt vorkam, und hoffte entgegen ihrer finsteren Ahnungen, dass es in den Erotik-Räumlichkeiten wenig Spiegel geben würde.
Wenig später befanden sie sich allesamt in einem roten Plüschkorridor, und wummernder Techno-Beat dröhnte ihnen entgegen, vermischte sich mit dem schneller werdenden Schlagen von Tatjanas Herz.
Die Show. Sie klammerte sich förmlich an diese zwei Worte. Sie und Nadeschda waren „nur“ für die Show vorgesehen, nicht etwa als Prostituierte oder Sexarbeiterinnen im klassischen Sinne.
Jetzt empfand sie es geradezu als beruhigend, mit Nadeschda durch die Kette verbunden zu sein. Dorthin, wo der donnernde Musiklärm herkam, zog ihre Freundin sie, nicht ohne ihr ab und an einen Blick zuzuwerfen und zu lächeln. Jetzt durfte sie das noch. Gleich, auf der Bühne, mussten sie beide ihre Rollen als strenge Herrin und devote Sklavin spielen. Sie hatten das zuvor geübt. Es würde schon klappen.
Umringt waren sie von weiteren seltsamen Gestalten: einer Gruppe Schwuler in Lederklamotten, die ihre Hinterbacken freiließen – ein paar von ihnen waren gefesselt – und von kichernden asiatischen Mädchen, teils in Schulmädchenuniformen, teils in scharfen Häschenkostümen.
Dann erreichten sie den Großen Erotik-Festsaal, und Sodom und Gomorrha waren ein Rattenfurz dagegen.
Überall zuckende, stöhnende Leiber, teils in Abteilen links und rechts, die aber einsehbar waren, teils auf runden, etwas erhöht liegenden Podesten, die man in Kissen- und Bettlandschaften verwandelt hatte, und dazwischen erhoben sich malerisch Schandpfähle und Andreaskreuze. Auf den fünf Bühnen ringsum löste eine Erotikshow die nächste ab. Nach wenigen Seitenblicken nach links und rechts bemühte sich Tatjana, nur noch auf Nadeschdas schmalen, latexbekleideten Rücken zu schauen. Trotzdem wurde sie diesem löblichen Vorsatz immer wieder untreu, sobald sie durchdringende Laute hörte, die zum Beispiel von einer Frau stammten, die, bäuchlings an einem Bock festgebunden, Gangbang über sich ergehen ließ. Ihre Schreie lagen irgendwo zwischen Lust und Schmerz oder jenseits davon. Sie übertönten die Musik und wurden von den Zuschauern ringsum wohlgefällig aufgenommen, mit anerkennendem Raunen, Anfeuerungsrufen und Beifallklatschen.
Ein Mann nach dem anderen trat hinter den entblößten drallen Po der Gefesselten und fickte sie, anal und/oder vaginal, und zu Tatjanas äußerstem Entsetzen reihte sich sogar eine Frau ein, die mit einem Strap-on bewehrt war. Sie mochte ungefähr 40 sein, hatte rostrote Löckchen und grinste, während sie sich bereitmachte. Obszön ragte der schwarze Kunstschwanz zwischen ihren Schenkeln empor.
Schnell schaute Tatjana weg.
Da, die Bühne. Kurz ehe sie dahinter verschwanden, um sich Anweisungen für ihren Auftritt zu holen, kam es tatsächlich zu einem winzigen Zwischenfall – ein Typ mit Bierflasche und Bierbauch versuchte Tatjana an die Titten zu greifen. Nadeschda fuhr zu ihm herum, fauchte und funkelte ihn drohend an. Das genügte schon. Ein blöde ehrfürchtiges Grinsen im Mondgesicht, rülpste der Typ nur und wandte sich ab. Die Dominanten wurden also durchgehend respektiert, es gab also selbst hier gültige Regeln, die auch von allen eingehalten wurden.
Babylonisches Stimmengewirr herrschte allerorten, die Sprache, die sie alle beherrschten, schien gebrochenes Englisch zu sein. In diesem Kauderwelsch verständigte sich Nadeschda mit dem kleinen Show-Manager, einem wieselhaften Burschen mit Tattoos auf der Glatze und Piercings praktisch überall. Zum Glück ist er angezogen, dachte Tatjana, die sich jetzt bemühte, einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten.
Während ihrer Vorbereitungen hatte Nadeschda zu ihr gesagt: „Hör mal, Kleines, es könnte sein, dass ich dir ein bisschen weh tun muss auf der Bühne. Mit der Gerte. Ich weiß nicht, wieviel du überhaupt über SM weißt …“
„Das geht schon in Ordnung“, hatte Tatjana sie mit dick aufgetragener Kaltschnäuzigkeit unterbrochen, „ich bin von meinem Alten oft genug verprügelt worden. Das halt ich locker aus.“
Jetzt aber, wo sie zur Bühne hinaufschielte, wuchsen Zweifel in ihr, wurden größer und größer, und es schien ihr, als ob sie ihre eigene Stärke falsch eingeschätzt hatte. Was da oben passierte, war REAL, und die Leute wollten das auch so – Vorgetäuschtes kam nicht in Frage und würde sicherlich sofort ausgebuht, womit sie auffallen würden und ihre Mission nicht zu Ende bringen konnten – neongrell ausgeleuchtet war die Bühne bis in ihre letzten Winkel, und …
Tatjana schluckte trocken.
„Macht euch schnell frisch“, sagte Manager Eddie mit einem drängenden Unterton in der Stimme.
Natürlich waren hier überall Spiegel, und in dem jetzt, in einer Garderobenkabine hinter der Bühne, sah sich Tatjana erstmals in Ruhe an und kam sich fremder vor als fremd. Übernatürlich groß strahlten ihre angsterfüllten grünblauen Augen aus dem milchweißen Gesicht, prima in Szene gesetzt von Nadeschdas Schminkfähigkeiten. Ihre „Domina“ musterte ihr Werk auch sehr zufrieden, geradezu selbstgefällig.
Das Jucken der Perücke hatte zum Glück auch aufgehört, nur schwitzen tat sie ziemlich unter dem Ding.
Gut, dass sie einen Moment unter sich waren.
„He Süße, komm, wir schaffen das“, murmelte Nadeschda, kameradschaftlich den Arm um Tatjanas zierliche Schultern gelegt, sie ahnte offenbar, wie ihrer Gefährtin zumute war, und dann lachte sie halblaut auf, um mit Verschwörerinnenmiene einen Flachmann hervorzuziehen aus der Seitentasche ihres Gepäckstücks.
„Wodka“, flüsterte sie, und beide nahmen einen ordentlichen Schluck. Ein stärkendes Heimatgefühl breitete sich in Tatjanas Magen aus, als der kraftvolle Alkohol sie durchströmte. Es war nicht alles schlecht, was aus der Ukraine kam. Und sie hatten eine Mission, eine wichtige Aufgabe. In diesen düsteren, in diesen sich rasend schnell verfinsternden Zeiten war das, was sie taten, wichtiger denn je, davon waren sie beide absolut überzeugt.
Nadeschda blickte sie forschend an und nahm spontan ihr Gesicht in beide Hände, vorsichtig, um Tatjanas Make-up nicht zu verwischen. Ihre Finger fühlten sich köstlich kühl und zart an. Tatjana lächelte zaghaft.
„Wir packen das!“
Und in Nadeschdas geraunte Worte hinein brüllte schon Manager Eddie von draußen, marktschreierisch kündigte er „die devote Jungfrau Tanja und ihre strenge Herrin Nadja“ an.
Die Musik, die Eddie für ihren Auftritt spielen ließ, war anders als der wummernde Techno-Beat oder die mittelalterlichen Gothic-Klänge – nach einem Moment fiel es Tatjana ein: der „Bolero“ von Ravel. Langsam anfangend und sich immer mehr steigernd. Die perfekte „Flag-Session-Musik“, wie man es in SM-Kreisen nannte. Um ihre Bühne herum sammelten sich Menschen, eine formlose, ruhiger werdende Masse.
Zu Tatjanas großer Erleichterung konnte sie auf der scharf beleuchteten Bühne nichts mehr vom Publikum sehen. Es war fast so, als wären sie und Nadeschda allein in ihrer eigenen, bizarren Welt, und somit ging Tatjanas sehnlichster Wunsch auf irgendeine leicht abartige Weise in Erfüllung.
Sie hatten ihre Show nicht wirklich geprobt, sich aber auf dem alten DVD-Player, der zur Ausstattung ihres Womos gehörte, ein paar billig gemachte Sadomaso-Amateurfilme angeschaut und darüber gesprochen, das eine oder andere Element zu übernehmen. Hauptsächlich wollten sie improvisieren. Zu den bis ins Blut gehenden Trommelklängen des „Bolero“ zog „Herrin Nadja“ ihre „devote Sklavin Tanja“ die auf allen Vieren laufen musste, hinter sich her. Nadeschda gewann allein schon durch ihre wallende blonde Mähne und ihre Ausstrahlung eine Menge Fans: Die perfekte osteuropäische Walküre, die sinnliche Erdgöttin und strenge Domina mit der Reitgerte in der Hand.
Auf Befehl ihrer Herrin musste sich Tatjana das Corsagen-Oberteil ausziehen. Darunter trug sie eine metallene winzige Büstenhebe, durch die ihre Brüste jetzt obszön betont wurden. Steif sprangen die kleinen Nippel hervor und wirkten größer, geschwollen.
Fast nackt kniete sie auf der leeren Bühne – die nicht leer blieb: Zwei Helfer, die Ledershorts und ebensolche Kapuzen trugen, rollten ein fahrbares Andreaskreuz herbei und fixierten es.
Tatjana blendete weiterhin die Geräusche des Publikums weitestgehend aus, konzentrierte sich auf die Musik – und auf ihre Spielpartnerin. Und sie spürte, wie eine seltsame Wandlung mit ihr vorging, unmerklich fast, aber doch so zwingend, so – unwiderstehlich, dass sie fast erschrak. Die Grenzen zwischen Show und Wirklichkeit verwischten sich, wurden transparent, lösten sich auf …
Nadeschda gab die Domina, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Ihre Augen schienen jetzt aus Bronze zu bestehen, ihr sexy Mund drückte eine wolllüstige Grausamkeit aus, und ihre Hände lösten zunächst die Kette und fesselten dann Tatjana effektvoll an das Kreuz, so dass ihr fast vollständig entblößter Rücken den Zuschauern optimal präsentiert wurde.
Gleich wird sie mich schlagen … dachte Tatjana.
Die Reitgerte, deren Spitze mit einer Lederschlaufe versehen war, kitzelte ihren Hintern, ihre Oberschenkel.
Und dann zischte der erste Hieb und die fiese kleine Lederschlaufe verbrannte ihre Haut. Schlag auf Schlag, Strieme auf Strieme setzte Nadeschda unter den mehr und mehr anschwellenden Klängen des „Boleros“, und als Tatjana einmal einen Blick über die Schulter riskierte, bemerkte sie, wie natürlich-geschickt und überzeugend die blonde Prachtfrau agierte, immer so, dass sie dem Publikum den besten Blick auf das Geschehen gewährte, vor allem auf das gepeitschte helle Fleisch des „Opfers“, denn darum ging es, das rief das bewundernde Raunen hervor, nein, nicht nur, es ging selbstverständlich auch um die blendende Erscheinung der Latex-Herrin, beides musste stimmen. – Oh, wir kommen offenbar gut an, und das ist wichtig!
Tatjana wand sich, stöhnte auch dann und wann, was unterging in der Musik, doch obwohl Nadeschda sie nicht schonte, sondern wirklich züchtigte, nahm sie die beißenden Schmerzen ohne allzu große Mühe hin, was sie selbst ein wenig wunderte. Nach jedem Hieb breitete sich in der Umgebung des Striemens eine wohltuende Hitze aus, mit der sie nie und nimmer gerechnet hätte. Sie presste ihre heiße Stirn gegen ihren Arm, ihre Wangen glühten.
Als das Stück in einem donnernden Crescendo endete, war das fast ein Schock.
Starker Beifall zollte Nadeschdas Leistung Anerkennung, was sie ungerührt hinnahm.
Seltsam aufgewühlt war Tatjana, als sie losgebunden wurde und die Gertenschlaufe zum Abschluss leicht über ihre Brüste gezogen wurde, jetzt wieder vollkommen spielerisch, und da das Licht auf der Bühne langsam und dramatisch herabgedimmt wurde, nutzte Nadeschda die Gelegenheit, um ihr zuzuzwinkern.
Sie verschwanden von der Bühne und hatten nun eine halbe Stunde Pause. „Großartig, Mädels, großartig!“ Eddies Grinsen glänzte wie ein Fettfleck in seinem Gesicht, und er rieb sich die Hände. „Die Pause habt ihr euch redlich verdient.“
In der Garderobe zog Nadeschda ihre Gefährtin für einen Moment in ihre Arme und küsste sie unerwartet auf den Mund. Die zarte Berührung ihrer weichen Lippen ließ Tatjana erschauern.
„Du warst PERFEKT, Süße, einfach perfekt! Jetzt sind wir ein Teil der ganzen Chose hier … und niemand schöpft auch nur eine Spur Verdacht!“
Sie hatte nach wie vor völlig fanatisch ihren Plan im Kopf, wurde Tatjana mit fast schmerzhafter Deutlichkeit klar – während sie selbst im Augenblick ein bisschen benebelt war und sich anstrengen musste, um wieder ins Hier und Jetzt zurückzukehren.
Nadeschda half ihr wieder ins Corsagenoberteil. Den kurzen Lackrock konnte Tatjana sich alleine anziehen, und dann drückte ihr die Freundin das Armbandnavi in die Hand. „Umbinden, aktivieren und los jetzt!“, zischte sie. mechanisch führte Tatjana die tausendmal geübten Handbewegungen aus – das Navi, immerhin, stammte von Juri, der es aus seiner mehr als dunklen Vergangenheit mitgebracht hatte, als er Ultra-Femen beitrat. Es war getarnt als Armbanduhr und gespeichert mit allen Daten über die Wege innerhalb des Schiffes, derer sie nur hatten habhaft werden können.
„Raus hier durch den Lüftungsschacht, dann durch Zwischenflure hin zum nächsten Lastenaufzug“, murmelte Tatjana, nachdem sie ein paar Befehle in den Touchscreen gehämmert und den Plan studiert hatte.
„Klingt gut!“ Nadeschdas braune Augen funkelten feurig.
Die High Heels ließen sie alle beide zurück. Superhochhackige Schuhe wären jetzt unbedingt hinderlich gewesen. Auf Strümpfen bewegten sie sich zudem absolut lautlos. Tatjana trennte sich auch von der scheußlichen Perücke und fuhr sich rasch mit den Händen durch ihr schweißfeuchtes, kurzes schwarzes Haar.
Sie öffneten die Lüftungsklappe mit ihrem Allzweck-Werkzeug, das auch Schraubenzieher beinhaltete, und natürlich vergaßen sie nicht, die Klappe möglichst perfekt wieder zu schließen. Zunächst würde niemandem dieser Fluchtweg auffallen, Manager Eddie sich höchstens wundern, wie die beiden Frauen es an ihm vorbei geschafft hatten.
Der Lüftungsschacht war wohlbestückt mit eisernen Trittstufen. Energisch hangelte Nadeschda sich hinauf und Tatjana folgte ihr zügig, obwohl es ihr nach wie vor an Enthusiasmus mangelte.
Verrückt! Sie war doch immer eine der radikalsten Feministinnen der Gruppe gewesen, stets Feuer und Flamme auch für die schrägsten Aktionen, und jetzt … Noch immer schmeckte sie Nadeschdas Kuss auf den Lippen. Auch das langsam abklingende, aber immer noch leise spürbare Brennen ihrer Striemen war eine köstliche Empfindung. Doch während sie hinter ihrer Gefährtin herkletterte, wuchs langsam wieder jenes beklemmende Gefühl in ihr. Tatjanas Schwarzer Sinn meldete sich mit Vehemenz zurück.
Als sie durch die Zwischenflure schlichen, hätte sie Nadeschda fast darauf angesprochen, auch wenn sie wusste, dass die Freundin von düsteren Vorahnungen rein gar nichts hielt und vermutlich nur kübelweise Spott über ihr ausgeschüttet hätte. Aber kaum hatte sie sich auch nur geräuspert, da fuhr Nadeschda zu ihr herum und zischte: „Psschht!“ Und Tatjana schwieg, hin- und hergerissen.
Im Lastenaufzug kauerten sie zusammengedrückt eng beieinander, und da griff Nadeschda nach ihrer Hand und flüsterte: „Tschuld’ge. Wolltest du vorhin was sagen?“
Tatjana zögerte, fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Dann schüttelte sie energisch den Kopf. „Nee, nichts.“
Nadeschda blickte durch sie hindurch in utopische Fernen. Sie öffnete und schloss ihre schön manikürten, beringten Finger, immer wieder. Tatjana sah ihr wie hypnotisiert dabei zu. Ja, sie selbst war des Kampfes müde, glaubte nicht mehr daran. Während Nadeschda weiterhin für die Aktion brannte, träumte sie zaghaft von einer gemeinsamen Zukunft. Die Session auf der Bühne hatte unerwartete Gefühle in ihr ausgelöst, Gefühle, von denen sie geglaubt hätte, die seien nicht für sie bestimmt. Niemals im Leben hätte sie geglaubt, dass das sadomasochistische Spiel zwischen ihr und Nadeschda solche Energien hätte strömen lassen können, wie es geschehen war.
Hingebungsvoll schaute sie ihre Gefährtin an. Nur noch diese eine Aktion, sie hatten das Womo, alt und klapprig, aber zäh, Juri würde kurzerhand einen Tritt in den Arsch bekommen und rausfliegen, und dann konnten sie sich davonmachen, einen sicheren Ort aufsuchen … Aber würden sie das Wohnmobil denn danach noch haben? Irgendwie unwahrscheinlich.
„Irgendwas ist doch mit dir!“, stellte Nadeschda argwöhnisch fest. „Du guckst so komisch.“
„Unsinn. Nur Lampenfieber“, wiegelte Tatjana schnell ab.
„Willste noch’n Schluck ‚Heimat‘?“
Aber Tatjana verneinte. Sie wollte keinen Alkohol; sie spürte noch die Nachklänge eines echten Rausches, und die wollte sie nicht überdecken.
Mit einem satten Surren glitt der Lastenfahrstuhl aufwärts, immer weiter, und endlich kam er zum Stehen. Jetzt mussten sie ganz in der Nähe der Superreichen-Zone sein, auf dem Oberdeck, und sie lagen auch noch ausgezeichnet in der Zeit.
Dann aber geschah etwas, womit sie nicht gerechnet hatten, obwohl es ihnen eigentlich hätte klar sein müssen: Ein Wachmann stand vor der prächtigen Tür aus Blattgold und Mahagoni, die ihr Ziel markierte. Jenseits dieser Tür befanden sich die Zielpersonen von Ultra-Femen bei dieser Aktion, und allzu lange durften sie nicht warten, sie zu durchschreiten, denn hier kam es SEHR auf das richtige Timing an.
Nun stand da jedenfalls dieser Wachmann. Übermäßig wach wirkte der allerdings nicht. Täuschte sich Tatjana, oder schwankte er sogar ein bisschen hin und her?
Die beiden jungen Frauen hatten nur kurz um die Ecke gespäht und zuckten jetzt wieder zurück.
„Scheiße“, wisperte Nadeschda. „DAVOR hat uns das blöde Navi natürlich nicht gewarnt.“
(Sie spielte darauf an, dass das Ding angeblich so hochgerüstet war, dass es in Notsituationen selbständig reagierte und Fluchtwege aufzeigte, etwa weil der Puls seiner Trägerin unnatürlich rasch klopfte).
Tatjana erwiderte nichts.
Tief in ihrem Innern verdichtete sich das Gefühl einer gestaltlosen Gefahr so sehr, dass es einem dicken schwarzen Balken glich, der quer über ihrem Magen lag und noch in ihr Herz hineinragte.
Letzte Chance, das Ganze sein zu lassen, es abzublasen und uns davonzumachen!, hämmerte es zwischen ihren Schläfen.
Sie streckte ihre Hand nach Nadeschda aus.
Doch in diesem Moment fuhr die Gefährtin zu ihr herum und raunte triumphierend: „Wir schaffen auch den! Lass mich machen, den wickel ich ein!“
„Er … er sieht komisch aus, so als wär er besoffen“, murmelte Tatjana und ließ ihre Hand wieder sinken.
„Kein Wunder, oder? Wenn er die ganze Nacht da stehen muss, der arme Kerl will sich bestimmt auch mal amüsieren! Umso besser für uns! Wir gehören zur Show, und die Typen da drinnen haben nach uns verlangt, um ihnen den Abend zu würzen … die haben einfach genug von ihren eigenen, faden Püppchen und wollen ‚frisches Blut‘. Das ist unser Aufhänger, Liebste, klar?“
Liebste – es war eher nur so dahingesprochen, Nadeschda benutzte gern überschwängliche Koseworte, Tatjanas Kopf wusste das sehr wohl, aber ihr Herz schmolz dahin.
*
Juri hockte derweil im stickigen Bauch des Womos und fluchte vor sich hin. Er kriegte den Fernseher einfach nicht zum Laufen, Bullshit nochmal, bestimmt lag das an der altersschwachen Satellitenschüssel auf dem Dach, die wohl dabei war, vollends den Geist aufzugeben.
Dabei war es so verdammt wichtig! Er wollte die Live-Show LUXURY FOREVER sehen, wollte erfahren, ob die zwei wahnsinnigen Weiber ihren irren Plan wahrhaftig in die Tat umsetzten und … eigentlich dachte er auch die ganze Zeit darüber nach, sie zurückzuholen. Nun ja, zumindest Nadeschda. Doch dafür war es definitiv zu spät, das wäre wohl ein Ding der Unmöglichkeit. Erstens kam er gar nicht an Bord der ETOILE, zweitens war es zu spät (in einer Viertelstunde spätestens würde die Livesendung beginnen), und drittens war es sowieso aussichtslos.
Ich hätte Tatjana früher ausschalten müssen. Habe einfach nicht geglaubt, dass sie einen so üblen Einfluss auf mein Täubchen haben würde. Na ja. Hätte, hätte, Fahrradkette, hieß es doch.
Die Überwachungskameras, die die Umgebung des Womos „im Auge“ behielten, funktionierten einwandfrei und lieferten gestochen scharfe Bilder auf den kleinen Innenmonitor. Aber auf den achtete Juri überhaupt nicht.
Wie besessen schraubte und fummelte er an dem rumpeligen TV-Gerät herum und probierte mit dem Inside-Steuerknüppel, die Schüssel anders zu positionieren. Aufs Dach raufzuklettern, wäre zwar auch noch eine Option gewesen, aber im Moment hatte er einfach keine Lust dazu. Wenn alle Stricke rissen, würde er es versuchen. Ein paar Minuten blieben ihm ja noch.
Das Radio lief immerhin auch, wenngleich etwas verrauscht. Mit halbem Ohr hörte Juri hin.
Eine Art Fatalismus ergriff Besitz von ihm. Wenn es denn so sein sollte, dass Ultra Femen dieses Himmelfahrtskommando durchführte, dann sollte es eben so sein. Mit dergleichen Aktionen kannte er sich immerhin gut aus, und er hatte die Mädels entsprechend gedrillt. Lange Zeit hatte Juri der berüchtigten Omega-Truppe der Sicherheitskräfte von Präsident Janukowitsch angehört, aber ehe in der Ukraine die Scheiße in den Ventilator flog, war es ihm gelungen, rechtzeitig die Kurve zu kratzen. Er wollte nicht auf seine eigenen Landsleute schießen, oh nein!
Als sehr bitter empfand er es, wie wenig Zeit den Ukrainern geblieben war, sich an ihrer neugewonnenen Freiheit zu erfreuen. Sie hatten den Diktator davongejagt, Julia Timoschenko war zurückgekehrt, im Rollstuhl, aber ungebrochen – und als dann die Krim ins Rampenlicht geriet und sich von der Ukraine abspaltete, hatten Russland und die EU eingegriffen und aus dem gesamten Land einen einzigen, riesigen HotSpot gemacht: ReDead-V-Alarm! Erst die Krim, dann die gesamte Ukraine – das Land war zum Schwarzen Loch geworden, zum Bermuda-Dreieck.
Juri glaubte selbst heute noch nicht so wirklich daran. Er hielt das alles für eine gigantische Verschwörung. Und das war übrigens etwas, was ihn mit seinem Täubchen Nadeschda verband: die Liebe zur Heimat. Die Hexe Tatjana hasste ja die Ukraine geradezu.
„… Achtung, Achtung. Bringen Sie sich sofort in Sicherheit. Dies ist kein Scherz … *kracks … knister … krschhh* …“
Er horchte auf. Des Englischen war er hinreichend mächtig, und die Art und Weise der Radiomeldung klang nach einem dieser Piratensender, die zurzeit wie Pilze aus dem Boden schossen. KUNTERBUNTER SCHRECKEN, so hieß doch einer davon.
„This is not a joke“ klang ziemlich bedrohlich.
„… Tsuanmi-Warnung für die Küste von Cannes …“
Konsterniert starrte Juri das Radio an.
Es rauschte, knackte und knisterte jetzt nur noch. Hatte er das gerade wirklich gehört? Er versuchte zu lachen. Das war ja völlig absurd.
Eine TSUNAMI-Warnung für das Mittelmeer? Unmöglich, grotesk. Hätte er jedoch in diesem Augenblick in den Spiegel gesehen, so wäre ihm aufgefallen, dass jeder Tropfen Blutes aus seinem Gesicht gewichen war.
Im nächsten Moment flog die Tür zum Womo krachend auf, und das letzte, was Juri mit bewussten Sinnen wahrnahm, schien eine athletische, geschmeidige Gestalt zu sein, die eine bunte Strumpf- oder Stoffmaske trug – sie schwang einen Totschläger und zog ihm damit eins über, ehe er auch nur Piep sagen konnte.
Juris Augen verdrehten sich, und er sackte in einen mit Finsternis gefüllten Brunnen, stürzte und war weg.
*
Der sah wirklich komisch aus, der Kerl. Nicht nur, dass er besoffen wirkte, aber keine Fahne hatte, er war anscheinend auch völlig stumpfsinnig, und seine Augen lagen tief und glanzlos in den Höhlen. Gelblicher Teint, spitze, verkniffene Nase und strähniges Haar, das ihm unordentlich in die Stirn fiel. Sein Gewehr hielt er, als wüsste er nichts damit anzufangen …
… und trotzdem wünschte ich, wir müssten uns ihm nicht nähern, dachte Tatjana, während Nadeschda („Lass mich reden“, hatte sie ihrer Kameradin noch zugezischelt) schon grinsend auf ihn zustrebte.
Zwar roch er nicht nach Alkohol, aber das hieß nicht, dass man ihn mit einer Rose hätte verwechseln können. Nein, dem mittelgroßen, nicht übermäßig kräftig wirkenden Mann strömte eine andere Art von „Parfüm“ aus den Poren.
Unwillkürlich rümpfte Tatjana ihre eigene, feine Nase. Vor vielen Jahren hatte sie einmal bei einem Picknick nah an einem Busch gesessen und sich nach hinten ausgestreckt, die Hände arglos ins Gras drücken wollen – da war sie mit der linken Hand in etwas Weiches, Nachgebendes, fast Schleimiges geraten. Die Überreste eines Eichhörnchens, das schon mehrere Monate da lag. Und genau so hatte es damals gerochen.
Sie grub die Zähne in ihre Unterlippe, um ihren Würgereiz zu unterdrücken.
Nadeschda hingegen stürmte vor und schien drauf und dran, den Burschen mit ihrem walkürenhaften Charme plattzumachen. „Hey, ich hoffe, du bist informiert worden, mein Lieber! Wir sollen direkt zur Show hinein, sind schon spät dran …“
Aus matten Tagelöhner- oder Schweinehirten-Augen glotzte der Wachmann Nadeschda blöde an. Er schien überhaupt nichts zu kapieren. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Öffne die Tür, na los, mach schon!“
Irgendeine Art von Gier glomm in dem Minusgesicht des Mannes auf (komisch!, dachte Tatjana flüchtig), er versuchte Nadeschda um die Taille zu fassen, aber da war Tatjana schon blitzschnell heran, drängte sich dazwischen.
Daraufhin erloschen die Züge des Kerls wieder wie ein glühendes Pappestück unter einem kräftigen Wasserstrahl, er grunzte etwas Unverständliches und dann – es war unglaublich! – öffnete er den beiden Frauen die Tür, ohne sich auch nur durch sein Walkie-Talkie rückzuversichern, ohne irgendetwas zu fragen, ohne alles! – ja, ohne auch nur zu bemerken, dass beider Outfit für eine „Fernsehsause mit den Reichen und Mächtigen“ ein Stück weit unvollständig war. Bis hinab zu ihren Beinen war sein Blick anscheinend gar nicht gefallen.
Hocherhobenen Hauptes marschierte Nadeschda durch die Mahagoni-und-Blattgold-Pforte, und sie ließ es allein schon durch die löwinnenhafte Art und Weise ihres Ganges niemanden merken, dass sie keine Schuhe trug. Tatjana folgte ihr mit wild schlagendem Herzen – sollte das wirklich so einfach laufen!? – und in einem hinteren Winkel ihrer Wahrnehmung registrierte sie, dass der Wächter die Tür nicht mehr ganz schloss, sondern sie nur bis auf einen Spalt zuzog, ohne sie einzuklinken.
Von den Reichen und Schönen, die sich drinnen aufhielten, wurden die zwei Frauen nur mit milder Neugier betrachtet. Niemand schien beunruhigt durch ihren sexy Anblick, und weshalb auch? Sie unterschieden sich nicht sonderlich von den übrigen Damen hier, nur trugen sie vielleicht weniger Echtschmuck und ihre Kleidung war nicht so teuer. Gefährlich wirkten diese zwei Frauen jedenfalls nicht – unter ihrem Fummel konnten sie auch wohl kaum Uzis oder Kalaschnikows verstecken und noch nicht einmal einen Sprengstoffgürtel.
Ein Saal von überwältigenden Ausmaßen erstreckte sich vor ihnen, in schummriges dunkelgoldenes Licht getaucht, edle kristallene Lüster, wenig Plüsch, Brokatstoffe an den Sesseln, Orientteppiche, Gobelins an den Wänden.
Einen Moment lang blieb Nadeschda stehen, um sich zu orientieren. Sie legte den Arm um Tatjana. „Du bleibst besser in der Nähe der Tür und hältst dich bereit, Süße“, flüsterte sie. „Da vorne, siehst du …?“
Tatjana schaute dorthin und nickte. Da vorne erhob sich eine Art Podest, das besser beleuchtet war, Fernsehkameras drumherum und riesige Scheinwerfer beherrschten die Szenerie, und Mittelpunkt dieser „Bühne“ war ein langer ovaler Tisch, an dem der Moderator und die Ehrengäste saßen.
Zum ersten Mal seit längerer Zeit fühlte sich Tatjana wieder im „Aktionsmodus“, jetzt hieß es einfach nur handeln, ihr Ding durchziehen, jeder Handgriff musste sitzen und es galt, scharf aufzupassen. Sie würden Erfolg haben und Aufsehen erregen, das war so gut wie sicher – auf einmal glaubte Tatjana wieder, dass es hier und heute nur darum ging und um nichts sonst. Denn schließlich hätte es doch sonst noch irgendjemand außer ihr bemerkt, wenn etwas wirklich nicht in Ordnung gewesen wäre.
Ein letzter flüchtiger Händedruck der Freundin an ihrem Arm, ein ermutigendes Zwinkern – und dann steuerte Nadeschda äußerst zielbewusst auf jenen „Bühnen-Tisch“ zu, an dem Araber in Ölscheichkleidung, stinkreiche Russen und Südamerikaner mit obszön vielen Goldringen an den dicken Fingern saßen. Stets von ihren kostbar ausstaffierten und teuer zurechtoperierten Weibern umgeben. Der ganz normale dekadente Wahnsinn eben.
Nadeschda spielte ihre Rolle vorzüglich. Niemand vermutete, dass diese schöne, hochgewachsene Blondine im Domina-Latexkostüm etwa nicht zum Programm gehörte, und selbst wenn doch, all diese reichen, satten, blasierten Säcke genossen ihren Anblick als willkommene Abwechslung.
An der Kopfseite des Tisches thronte der arrogante Moderator Lazarus Manz, halb Römer, halb Deutscher und berüchtigt für seine oberflächlich-taktlosen Bemerkungen. Er grinste Nadeschda breit entgegen und dröhnte: „Nanu, nanu, wen haben wir denn da?“
Kamera-Augen richteten sich ebenfalls gierig auf den attraktiven Neuankömmling – das Format LUXURY FOREVER war live auf Sendung.
Von ihrer Position her konnte Tatjana alles gut beobachten, und sie entwarf rasch eine Strategie, um Nadeschda am effektivsten zu Hilfe eilen zu können, wenn es nottat.
Ja, jetzt fühlte sie sich wieder im Einklang mit den Dingen. Sie waren hier, um ihre Stimme zu erheben, und das Universum liebte symbolische Handlungen.
Nadeschda betrat die „Bühne“ mit einem Scherzwort auf den Lippen. „Wie schön, hier auf dem Oberdeck eine Luft zu atmen, die nach Champagner und Kaviar duftet! Da unten, in den Eingeweiden des Schiffes, war’s doch ziemlich stickig, und der Geruch nach Schweiß und Samenflüssigkeit – nun ja.“
„Oho, eine gebildete Liebesdienerin!“, johlte Moderator Manz und klatschte in die Hände.
Er war etwas überrascht, als Nadeschda sich vorbeugte und ihm einen Nasenstüber gab.
Und dann ging alles sehr, sehr schnell.
Mit einem Satz sprang Nadeschda auf den Tisch und riss sich in einer einzigen fließenden Bewegung das Spezialkleid, das genau für diesen Zweck angefertigt worden war, vom Leibe. Darunter war sie splitternackt und vollkommen rasiert, und sie hatte auch keine Tattoos. Dafür war ihr Oberkörper bemalt und beschriftet und auch ihr Bauch, und ihre Vagina leuchtete als ein blutrotes V-Zeichen. Das Dreieck des Sieges! Angehörige von Ultra-Femen stellten nicht nur ihre Brüste zur Schau, sondern auch ihr Geschlecht. Das war eins der Dinge, worin sie sich von der Gruppe Femen unterschieden.
Stöhnendes Geraune erhob sich, einem Aufschrei gleich, während die Männer am Tisch vollkommen überrumpelt nur starrten und starrten und starrten, bis ihnen die Augen schier aus den Höhlen zu purzeln drohten.
ICH BIN SATAN, stand auf Nadeschdas herrlichem Körper.
DESTORY SEXISM AND DECADENCE! und FREIHEIT FÜR DIE UKRAINE! Tatjana zuckte vor Verärgerung kurz zusammen, als sie diesen letzten Satz las, denn dieser Schriftzug zierte Nadeschdas Haut entgegen ihren, Tatjanas, Willen. Nadeschda war Patriotin und hoffte immer noch, eines Tages in ein befreites ukrainisches Heimatland zurückkehren zu können, sie teilte offenbar Juris Verschwörungswahn, nachdem niemals das Land der Zombieseuche, sondern vielmehr den Machtintrigen zwischen Russland und der EU zum Opfer gefallen war.
Aber gut! Tatjana schüttelte ihren Ärger ab. Was soll’s! Ihr Herz klopfte stürmisch bis in ihre Kehle hinein – verdammte Scheiße, die Aktion war gelungen! Der ULTRA-FEMEN-Protest wurde jetzt in die halbe noch existierende zivilisierte Welt übertragen, LUXURY FOREVER war ad absurdum geführt, die Kameras surrten und klickten eifrig, der Skandal war jetzt schon perfekt!
Und Nadeschda tanzte auf dem Tisch. Einmal mehr war es genau richtig, dass sie keine Schuhe mehr trug – so fand sie überall guten Halt und blieb geschickt und wendig. Denn nun gab es natürlich schon die ersten Versuche, ihre Fußknöchel zu packen und sie zu Fall zu bringen.
Vergeblich! Die nackte Ukrainerin wirbelte herum und schaute mit einem herausfordernden Lachen auf Lazarus Manz. Der Moderator war, was so gut wie nie vorkam, für den Moment sprachlos und sein Grinsen war ihm verrutscht und förmlich aus dem Gesicht gefallen.
Nadeschda brüllte noch: „FRAUEN, ERHEBT EUCH!“, aber darauf kam keine positive Resonanz, es geschah nicht das, was sie erwartet hätte, sondern nur das Lachen einer bekoksten Dame schrillte los. Ein schorfiges, abgehacktes Gelächter. Sekundenlang hing es rostzerfressen im Saal.
Und dann ging alles noch viel, viel schneller.
Ein Schwall üblen Geruches wehte auf einmal durch den Türspalt hinein, ein Gestank, gegen den das verweste Eichhörnchen damals süß wie Honig geduftet hatte!
Gleichzeitig fing nun auch noch in Tatjanas unmittelbarer Nähe eine aufgetakelte Brünette an zu kichern, offenbar angesteckt von ihrer lachenden Geschlechtsgenossin weiter vorn, immer lauter, immer höher, immer durchdringender, bis ihr Kichern in entsetzliches Todeskreischen umschlug und wie abgeschnitten verstummte. Wie abgeschnitten stimmte. Im wahrsten Sinne des Wortes, weil der gelbgesichtige Wachmann sich hereingezwängt, die Frau gepackt und ihr den Hals durchgebissen hatte.
Jetzt starrte er mit seinen untoten Augen direkt in Tatjanas Gesicht. er sah irgendwie … verändert aus, sein – Gebiss. Nicht nur, weil es jetzt mit Blut bemalt war. Nein. in den wenigen Minuten, die seit vorhin verstrichen waren, hatte offenbar das Virus dermaßen in ihm gewütet, dass ihm die Lippen abgefault waren. Und deshalb wirkten seine Zähne jetzt sehr viel imposanter.
Der Wächter griff nach Tatjana. Reflexhaft wich sie ihm aus und sprang behende davon. Mein Dolch!, dachte sie fiebrig, und als nächstes: NADESCHDA! Sie schrie den Namen der Freundin blindlings heraus, aber ihr Schrei ging unter in dem von Panik verseuchten Getöse, das sich in dem Stinkreichen-Luxus-Saal des Oberdecks erhob. Wilde Kopflosigkeit brach aus.
Denn der Zombie-Wächter war nicht allein gekommen. Oh nein. Hinter ihm drängelten, schwankten, stöhnten, ächzten, waberten Dutzende, nein, mehr als fünfzig, nein, Hunderte von Infizierten herein.
Und blitzartig durchzuckte Tatjana jener beunruhigende Satz von jemandem aus den Katakomben von Cannes:
Das Megabiozid hat keine Wirkung.
Irgendwie schaffte es Tatjana, ihren flachen, aber tödlichen Stahldolch aus ihrem halterlosen Strumpf zu ziehen. Und als ihr ein weiterer Zombie zu nahe kam, rammte sie ihm, ohne zu überlegen, die Spitze des Messers ins Auge. Mit einem satten Knirschen drang der Stahl ins Gehirn ein, und eine eklige breiige Masse aus Eiter, Gehirnflüssigkeit und schleimigem Blut schoss in einem breiten Strahl auf sie zu. Tatjana machte einen Riesensatz weg, um von dieser Todesdusche nicht getroffen zu werden, und ließ dabei den Griff ihrer einzigen Waffe fahren.
Das Messer blieb in dem zusammenbrechenden Eliver stecken, und zugleich wurde er von wimmelnden Seinesgleichen und flüchtenden kreischenden Reichen überdeckt und es gab keine Möglichkeit mehr, den Dolch wiederzuerlangen.
Na großartig.
Hektisch sah sich Tatjana nach ihrer Freundin um. War Nadeschda immer noch auf dem Tisch? Wurde sie von Zombies bedrängt?
Die erste Frage ließ sich mit Ja beantworten, die zweite glücklicherweise mit Nein. Noch wurde sie nicht bedrängt.
Aber sie hatte viel von ihrem Selbstbewusstsein eingebüßt, war auf die Knie gesunken und starrte verstört um sich, handlungsunfähig und orientierungslos.
Entschlossen versuchte Tatjana sich zu ihr durchzukämpfen. Sie war schmal und zierlich, aber auch wendig, und anfangs kam sie gut voran, obwohl es alles andere als leicht war, die Fassung zu bewahren und nicht wie der Rest der Leute in den Abgrund des Wahnsinns zu stürzen.
Ich brauche eine Waffe!
Die Elivers zerrissen die Menschen, fetzten sie in Stücke, suhlten sich in ihrem Blut und gaben dabei Laute von sich, die unheimlicher klangen als alles, was Tatjana jemals gehört hatte. Um sie herum herrschte ein unbeschreibliches Chaos, eine Kakophonie des Grauens, und niemand schaffte es so recht, sich wirksam zur Wehr zu setzen. Da stieß mal einer, Irrsinn in den Augen, einen Tisch um, damit er zwischen ihn und die angreifenden Elivers geriet, oder packte das Bein eines zertrümmerten Stuhles – ja, das wäre etwas! – aber im nächsten Moment sah Tatjana eine noch bessere Waffe auf sich zusegeln. Sie schimmerte im Licht der wild hin- und herschwankenden Kronlüster, die tausendfaches regenbogenfarbiges Funkeln in den Raum warfen.
Ein menschlicher Oberschenkelknochen, an dem noch blutige Fleischfetzen hingen und Sehnen, die sie an herabbaumelnde Klaviersaiten erinnerten, sauste durch die Luft und Tatjana fing ihn auf. Sie bekam auch sogleich Gelegenheit, den Knochen anzuwenden, schwang ihn einmal herum und zermalmte einer Zombiefrau damit den Schädel. Er platzte regelrecht nach allen Seiten auseinander, was ein überaus widerlicher Anblick war. Tatjana hielt sich nicht damit auf, sich davon zum Kotzen bringen zu lassen. Dazu war keine Zeit.
Sie schüttelte die Krallenhand eines weiteren Untoten ab und erklomm den Tisch – aber am entgegengesetzten Ende, weit weg von Nadeschda. Sie versuchte nach ihr zu rufen, aber kein Laut kam aus ihrer Kehle. War dies ein Alptraum? Ein täuschend echter?
Plötzlich schien es, als würde alles zugleich rasend schnell als auch lähmend langsam passieren.
Die ganze Zeit hatte das riesige Schiff ruhig auf dem Wasser gelegen – auf einmal schwankten nicht nur die kristallenen Leuchter träge hin und her, sondern der Boden unter ihren Füßen erzitterte. Bebte bis in die Tischplatte hinein. Gläser und Besteck klirrten.
Der Zombie, der sich wie ein unförmiges Rieseninsekt kriechend auf Nadeschda zubewegte, kam Tatjana bekannt vor, und richtig erkannte sie ihn an seinem Grinsen, das nunmehr eine verzerrte untote Karikatur war. Das war mal Eddie der Manager gewesen, dessen Glatzentätowierungen jetzt bluteten, eiterten und abblätterten, samt Haut. Rechts und links auf seinen Pausbacken ringelten sich fette Totenwürmer. Er grapschte nach Nadeschda, und wieder schrie Tatjana, endlich löste sich der Schrei von ihren Lippen, aber hören konnte sie ihn wiederum nicht, fühlte nur, wie er ihr fast die Brust zerriss, während um sie herum das Höllenspektakel toste und brüllte und tobte.
Nadeschda befand sich in allerhöchster Gefahr.
Wie pochendes Eis fühlte sich Tatjanas Herz an.
Hatte Nadeschda sie gehört? Sie endlich wahrgenommen in dem Gewimmel an Untoten – oh bei GOTT, soviele konnten es doch gar nicht sein, vermehrten sie sich etwa wie die Fliegen?! – Und erfüllt von etwas, was größer war als Todesekel, holte sie mit ihrem Knochen aus, im selben Moment, da sich Nadeschdas vor Entsetzen entstelltes Gesicht tatsächlich eine Sekunde lang erhellte.
Zombies immer am Kopf treffen.
Sie erwischte Eddie oder das, was das Virus von ihm übriggelassen hatte, am Hinterkopf und riss mit dem Knochen ein Riesenloch in die morsche Masse seines Schädels.
„Guu … guuu …!“, gurgelte der Untote und brach zusammen.
Nadeschda, wehr dich! Siehst du, es ist gar nicht so schwer!
Normalerweise war Nadeschda auch eine gute Kämpferin, sie hatten beide die gleiche Ausbildung genossen – aber das Grauen ringsum schien sie so ziemlich paralysiert zu haben.
Verschwunden die starke, machtvolle Domina, unter deren Reitgerte Tatjana sich …
Aber sie sah ihre Gefährtin und schöpfte daraus offensichtlich Mut. Ihre konfuse Haltung straffte sich.
Doch verdammt, da erkletterten ein paar weitere Zombies den Tisch, meistens Weiber mit Resten von Fetischkleidung an ihrer mit Flecken übersäten Haut, sie fletschten ihre Zähne und Geifer, so dunkel wie Blut, floss jeder einzelnen in reichlichen Mengen über das Kinn.
Ich schaffe es.
Tatjana war schon ganz nahe.
Sie erkannte schon fast das Weiße in den Augen der Freundin.
Als sie urplötzlich auf einer Lache aus Kaviar und Mayonnaise, die sich über das halbe Tischtuch ergossen hatte, ausrutschte.
„Tatja…AAAAAAAAAAAAAAAAAAHHH!“
Lazarus Manz erschien über der Tischkante, schubste Nadeschda, stieß sie mit beiden Händen auf die Untoten zu, um sich selbst zu retten, und machtlos musste Tatjana dem zusehen. Die Zombiefrauen zerrten die wild um sich schlagende und wie von Sinnen kreischende Nadeschda vom Tisch, rissen ihr die Augen aus und fraßen ihre Ohren.
Alles.
Kam.
Zum Stillstand.
Wie ein langsam mahlendes riesiges Mühlrad, das knirschte.
Mehr und mehr Elivers bedeckten Nadeschda und verzehrten sie bei lebendigem Leibe, und quälende Ewigkeiten lang fragte sich Tatjana, wieso sie selbst noch atmete.
Flach auf dem Bauch lag sie da, und wäre sie in diesem Augenblick attackiert worden, sie hätte es wohl einfach hingenommen.
Rätselhafterweise geschah dies jedoch nicht.
Wohlbeleibte Araber und ebenso fleischige Russen dienten im Moment als Zombie-Futter.
Immer noch umklammerten ihre tauben Hände den Knochen, und urplötzlich schoss Wut in ihr hoch wie brennende Säure.
Sie hatte Nadeschda nicht beschützten können. Sie hatte sie verloren.
Das Schlimmste war geschehen.
Dachte sie.
Doch es sollte noch viel, viel schlimmer kommen.
*
Kommandobrücke des Luxusliners ETOILE, Nachtwache.
Manchmal konnte das Leben verdammt schön sein. Jedzik spürte, wie sich ein Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete, während er heftig zustieß und der Frau, die sich unter ihm wand, ein wimmerndes Stöhnen entlockte.
Dabei hatte er anfangs gedacht: Verflucht, hab ich mal wieder die Arschkarte gezogen, als das Los auf ihn gefallen war. In Zeiten des ruhigen Vor-Anker-Liegens blieb an Bord – neben dem Dienstpersonal – nachts nur ein einziger Offizier zurück, mehr war nicht nötig. Und der langweilte sich dann meistens halb zu Tode, während unter ihm die Gäste die Sau rausließen. Normalerweise stand Jedzik überhaupt nicht auf subalternes Dienstpersonal. Und die Frau, die er gerade vögelte, war noch nicht einmal besonders hübsch. Eher so ein Dutzendgesicht hatte sie und halblange braune Haare – dafür aber tolle weiße Zähne. Das hatte ihn magisch angezogen, so sehr, dass er einfach über ihre Position – Raumpflegerin – hinweggeschaut hatte. und sie war vor Ehrfurcht auf die Knie gegangen, als er, der große „Härr Officier“ ihr sein Interesse bekundet hatte. Mhm … genauso mochte er es. Sie würde sich schön ins Zeug legen und ihm die öden Stunden vertreiben.
„Ja, ja, ja, Baby!“, hechelte er und dachte flüchtig: Verflucht, ich kenne noch nicht mal ihren Namen. Ist aber auch total uninteressant.
Bis zum Anschlag steckte er in ihrem gutgeformten weiblichen Fleisch – sie lag rücklings ausgestreckt und vollkommen nackt, während er nur die Uniformhosen runtergelassen hatte, auf dem Kapitänstisch, an dem sie eben gesessen und einen Schluck Wein getrunken hatten.
Die Panoramascheiben ringsum erlaubten einen Blick auf die Positionslampen, die schwarze Nacht und die Sterne am Himmel. Das Funkgerät gab statische Geräusche von sich, aber das kam öfter mal vor. Zwischenfälle waren keine zu erwarten. Dies hier war schließlich Cannes, die sicherste Küstenstadt Europas.
Routiniert ergoss sich Jedzik ins Kondom, schlüpfte aus der namenlosen Putzfrau heraus und es war ihm sehr wichtig, möglichst rasch danach wieder einen Steifen zu bekommen. Weil sie ihn mit ihren strahlend weißen, perfekten Zähnen anlächelte, zuckte sein Schwanz bereits wieder wie eine Wünschelrute. Hmmm … das war, verfickt nochmal, saugut. Mehr davon. Aber jetzt sollte sie es ihm mit dem Mund besorgen.
Er flezte sich auf die Bank und wies befehlend unter den Tisch. Sie rutschte gehorsam auf den Knien zu ihm hin.
Schon als ihre etwas rauen Hände ihn umfassten, wurde er hart wie Stahl.
Mhmmm. Saugut. Jedzik war 45, und ein erster Anflug von Midlife Crisis machte es für ihn essentiell, seinen kleinen Freund nach dem Abspritzen schnell wieder hochzukriegen.
Er blinzelte zu seiner Gespielin hinunter, und sie lächelte zu ihm hinauf. Sie hatte wirklich schöne Zähne, wie weiße Perlen. Mit der Zunge fuhr sie einmal über ihre Lippen und schüttelte ihr struppiges Haar nach hinten. Verflucht geile Titten hatte sie auch.
Jedzik spreizte die Beine und versuchte sich so zu positionieren, dass er an ihren Nippeln spielen konnte, während sie sich ans Werk machte.
Man konnte es nicht anders sagen, es war schon ein Traumjob, hier an Bord zu dienen – gerade in diesen unsicheren Zeiten.
Er grapschte nach den runden Brüsten seiner Putzfrau, zwirbelte die festen Warzen, was ihr ein lustvolles gedämpftes Stöhnen entlockte – gedämpft deshalb, weil sie inzwischen seinen Schwanz beinahe bis zur Wurzel in ihrem Mund hatte. Hingebungsvoll massierten ihn ihre Lippen, saugten und bearbeiteten das heiße männliche Fleisch, das anschwoll und abermals zu explodieren drohte.
Der Offizier gab ein gutturales Geräusch von sich – Scheiße, sie besorgte es ihm einfach spitzenmäßig.
Nur eine Winzigkeit gab es, die Jedzik nervte – was war nur mit dem verdammten Funkgerät los? Da knisterte es schon wieder, so als ob … eine Art Störsender den Empfang störte.
Seine Gefährtin unter dem Tisch machte eine kleine Pause, aber nur, um jetzt an seinen Hoden zu lutschen wie an kandierten Feigen.
„Jaaaa das ist geil mach weiter!“, stieß er atemlos hervor, kniff die Nippel härter und starrte nach oben.
Komisch.
Wieso sah er die Sterne nicht mehr durch das Kuppeldach? Weshalb erzitterte der Schiffsleib auf einmal und woher kam das dumpfe, gewaltige Donnern …?
Jeder Seemann hatte DAVON natürlich schon gehört. Seemannsgarn zumeist, manchmal auch wahre Erfahrungsberichte. Eine Riesenwelle. Nannte man sie auf hoher See eher Freakwave, war sie in Küstennähe als Tsunami bekannt.
Als Jedzik begriff, was DAS war, was auf die ETOILE zurollte und das Licht der Sterne verschluckte, gruben sich seine Fingernägel so heftig in die Brustwarzen seiner Sexpartnerin, dass er sie ihr herausquetschte und abriss, alle beide gleichzeitig, so dass das Blut aus ihren Brüsten spritzte, und dafür biss sie ihm, sein linkes Kronjuwel noch im Mund, reflexhaft genau dieses ab und der Hoden platzte wie eine Weintraube zwischen ihren Zähnen entzwei. Ihren perfekten Zähnen.
Ein grässlicher, schier unvorstellbarer Schmerz spaltete ihn entzwei, und doch schien er ihn bizarrerweise kaum zu spüren.
Denn das Grauen, das die Kapitänsbrücke eindrückte und überflutete und darüber hinaus den Luxusliner umwarf wie ein Spielzeugschiffchen, bestand nicht aus Wasser.
Oder jedenfalls nur zu einem Teil. Der größte Teil dieses Tsunamis bestand aus Untoten, aus Blutsuppe und Leichenteilen, aus zerfetztem Fleisch, das noch zuckte und mit Lumpen bedeckt war, aus kopflosen und somit wirklich toten Leichen, die sinnlos mitgeschwemmt wurden und am grässlichsten aufgequollen waren, so, als wäre das Meer schon sehr lange ihr Aufenthaltsort gewesen, aus Zombiefischen und aus Elivers-Kindern, die, abgesehen von einer bläulichen Haut, erstaunlich frisch wirkten. Unverwest.
Jedzik bekam nicht mehr mit, was genau ihm die Wirbelsäule zerschmetterte, als die ETOILE kippte und die monströse Woge ihre grotesken Bestandteile auf ihn und alle anderen schüttete.
Nichts bekam er mehr mit.
Der Glückspilz.
*
Tatjana musste eine Weile lang ohnmächtig gewesen sein. Lange genug, um unter einer stinkenden Masse begraben zu werden, die sie zunächst nicht identifizieren konnte. Sie sah noch, wie die Panoramafenster des Oberdecks brachen, krachten, splitterten und der Lärm des Tsunamis derart anschwoll, dass er die Entsetzensschreie der Überlebenden mühelos übertönte – dann wirbelte es sie herum, ein grässlicher Schwindel ergriff von ihr Besitz und schmetterte sie hin.
Als sie erwachte, erwartete sie nichts weniger, als keinen heilen Knochen mehr im Leibe zu haben, doch erstaunlicherweise war das nicht der Fall. Nur ein paar Prellungen. Wohl, weil sie auf einem erbärmlichen stinkenden Bett aus toten Fischen lag. Verdammt … waren die wirklich tot? Ja, es schien so, und auch der angefressene Hai, der wie eine eklige Decke über ihr lag. Er musste, ehe er über ihrem Körper zum Halten kam, irgendwo abgeprallt sein und somit an Schwung verloren haben; andererseits hätte er sie mit Sicherheit zu Mus zerquetscht.
Das Schiff liegt auf der Seite, ein Teil muss auf jeden Fall noch über der Wasseroberfläche treiben, ich kann noch atmen, dachte Tatjana und versuchte sich zu bewegen. Es tat weh, aber es ging. Mühselig grub sie sich selbst aus dem Fischkadaverhaufen aus.
Verblüffend, dass die Schiffsräume nicht völlig mit Wasser vollgelaufen waren, und wo kamen auf einmal die MENGEN AN ZOMBIES HER???
Ich meine, so viele Untote kamen schließlich nun auch wieder nicht aus dem Unterdeck, wir hatten … wir hatten eine gute Chance gegen sie, und …
Tatjana brauchte ein paar Sekunden, um eins und eins zusammenzuzählen und die Fakten auszuwerten. Als sie das fertiggekriegt hatte, weiteten sich ihre blaugrünen Augen immer mehr und mehr und sie hätte am liebsten gekotzt.
Sie dachte an Nadeschda und wünschte sich, die ganze Welt auskotzen – nein, noch besser, ihr eigenes Innerstes nach außen krempeln und ein für alle Mal Schluss machen zu können.
Nadeschda würde das nicht wollen. Dieser Gedanke und der nackte Selbsterhaltungstrieb brachten Tatjana dann doch dazu, sich auf den Weg zu machen. Wohin? Nun, die Navi-Armbanduhr an ihrem Handgelenk funktionierte noch immer.
Und sie zeigte – rot blinkend – den Weg zu einem Notausgang an. Weil ihr Puls erhöht war und ihr Stresspegel so hoch, dass das Navi ihr zur Flucht riet? Oder hatte der kleine Computer sowieso die Lage analysiert? Keine Zeit, darüber nachzudenken, entschied Tatjana.
Die umher wankenden Elivers nahmen seltsamerweise kaum Notiz von ihr. Gar keine. Lag das am durchdringenden Fischleichengestank? Das musste wohl so sein. Eine andere Erklärung gab es nicht, denn ringsherum wurden die Menschen, die den Anprall der Blut-Eiter-und-Kadaverwoge überlebt hatten, von den Wiedergängern gnadenlos in Fetzen gebissen. Nur sie selbst wurde nicht beachtet. Tatjana hielt es trotzdem für besser, sich so unauffällig wie nur möglich zu verhalten. Den Knochen hatte sie noch. Notfalls würde sie diesen Wasserzombies zeigen, was eine Harke war – oh, sie sahen grässlich aus, so abartig und abscheulich, dass die ETOILE-Elivers zuvor, die ja gerade erst entstanden waren, daneben fast wie Schönheiten gewirkt hatten.
Durch knöcheltiefe und stinkende Flüssigkeit watete sie, wich einem Untoten aus, der nur noch einen Arm hatte und eine riesige Wunde im Brustkorb, in der es von Maden nur so wimmelte – und noch dazu war das ‚Wesen‘ aufgequollen bis zur Unkenntlichkeit, wie ein Katalog, der Ewigkeiten modernd in ekler Feuchtigkeit gelegen hatte. Rasch zwängte sich Tatjana durch eine kleine versteckte Seitentür, auf die der blinkende rote Pfeil auf ihrem Display, das einen detaillierten Grundriss vom Schiff zeigte, wies.
Ein schmaler trockener Korridor lag vor ihr, mit Sisalteppichen belegt. Die Tür fiel hinter ihr zu und die Geräusche dahinter klangen nur noch sehr gedämpft an ihr Ohr. Eine Wohltat. Die entmenschten Todesschreie waren alles andere als angenehm gewesen und hatten sie davon abgehalten, kühl und klar nachzudenken. Eigentlich funktionierte sie sowieso nur noch mechanisch, setzte bloß einen Fuß vor den anderen. Ihr Kopf war wie mit dicker Wolle gestopft. Ihr Nuttenoutfit glänzte von Fischöl, hatte auch Fetzen von Fisch an sich hängen, ein paar Gräten und Schuppen.
„Geschätzte Zeit bis zum Ausgang: 53 Minuten“, erschien eine Zeile im Display.
„So lange? Hoffentlich sinkt der Kahn nicht vorher.“ Sie sprach es laut aus, um ihre eigene Stimme zu hören. Sie klang heiser und rau. Der Gedanke, in ein nasses Grab voll von Zombies gerissen zu werden, hatte nichts Verlockendes.
Tatjana biss die Zähne zusammen. Ihre Strümpfe waren längst zerrissen. So schnell sie konnte, lief sie durch die Flure und spürte das raue Sisal an ihren bloßen Füßen. Vor jeder Abzweigung blieb sie stehen, denn sie traute der Friedhofsruhe im gekippten Luxusliner nicht. Und zu Recht. Außerdem schien sich ihr Verwester-Fisch-Parfüm allmählich zu verflüchtigen, denn der nächste Eliver, der ihr entgegentaumelte, entwickelte wieder das übliche Interesse an ihr. Ihm fehlte der Unterkiefer, aber das machte ihm gar nichts aus.
Tatjana kreischte, spie Gift und Galle und holte weit aus mit ihrem Schlaginstrument. Sie zermalmte den Schädel des Monsters zu grauschwarzem Brei. Im nächsten Moment wünschte sie sich allerdings, sie hätte nicht geschrien, denn vor ihr ertönte ein infernalisches Zombiegebrüll. Sie glaubte sogar einzelne Laute zu erkennen, aber es jagte ihr vor allem eiskalte Schauer den Rücken herunter – da musste ein Oberzombie mit seinen Leuten sein, wenn es sowas bei denen gab. Ermöglichte ihnen das Virus, eine Hierarchie beizubehalten wie zu den Zeiten, da sie noch Menschen waren?
Sie musste einen Umweg laufen. Das Navi berechnete den Weg neu. Die Zombiedichte nahm jedoch auch auf dem neuen Weg so sehr zu, dass sie in eine Kajüte flüchtete.
Endstation. Eine Sackgasse.
Aber immerhin ein Moment Zeit zum Verschnaufen. Erst nach mehreren Schrecksekunden registrierte sie, dass sie hier nicht allein war.
„Das glaub ich jetzt nicht“, sagte sie tonlos auf Ukrainisch, als sie die jämmerliche männliche Gestalt erkannte, die sich hier verkrochen hatte: das kolossale Arschloch, der hodenlose Feigling Lazarus Manz. Er starrte ängstlich auf Tatjanas Knochen. Ihr wurde schlecht, wenn sie ihn nur ansah, aber einfach so erschlagen konnte sie den miesen Wichser nicht. Nein, das brachte sie nicht fertig, obwohl sie es hätte tun müssen, allein schon, um Nadeschda zu rächen.
„Wieso hast du dich hier nicht verbarrikadiert, du miese Ratte?“, fragte sie Manz, von dessen geschniegeltem Aussehen nur noch wenig übrig war.
Er hielt irgendwas in der Hand, umklammerte es.
„I-i-ich …“, stammelte er nur und seine untertassengroßen Augen, von Grauen erfüllt, flitzten hin und her.
Blitzschnell schlug Tatjana zu, und die Verdickung am Ende ihres Knochens (der jetzt schön blank schimmerte, elfenbeinfarben, alle Fleischreste waren ihm bei seinen Einsätzen abhandengekommen) hieb Manz ein kleines Päckchen aus den Fingern. Er brüllte auf.
DAS war verkehrt, denn schon polterten SIE von außen gegen die Tür. Holz splitterte.
„Wir … wir sind verloren!“, wimmerte der Moderator, die verletzte Hand in seine Achsel gepresst, aber Tatjana war weit davon entfernt, so einfach aufzugeben. Auch diese Kajüte musste einen Zugang zum Lüftungssystem haben. Sie würde in einen solchen Schacht krabbeln, und zwar definitiv ohne den Mistkerl.
Abermals holte sie mit ihrem Knochen aus, aber diesmal – es war wohl die Kraft der Todesangst, die ihn trieb – gelang es ihm zur Seite zu springen, und dann warf er sich auf sie. Ein Ringkampf zwischen Mann und Mädchen entbrannte.
Als die Tür in Stücke brach, verharrten sie jedoch in Schockstarre.
Es war schwierig, sich darauf einen Reim zu machen, einen rationalen Gedanken zu fassen, anstatt vollkommen dem Wahnsinn anheimzufallen, doch für einen Wimpernschlag gelang Tatjana das, obwohl sie gerade ächzte unter dem Gewicht des Männerkörpers: KINDER? Die ZOMBIES pflanzen sich fort?
Denn was da auf sie zugewuselt kam, das waren keine Kinder, die zu Elivers „gemacht“ worden waren durch die herkömmliche Virusmethode; das konnte Tatjana deutlich erkennen. Sie wirkten agil, intakt, und sie hatten bläuliche Haut und offenbar großen Hunger. Es waren drei oder vier.
„HUUUUU!“, brüllte Manz, rollte sich von Tatjana, packte sie und wollte sie den Zombiekindern zuschieben, so wie er es am Reichentisch mit Nadeschda gemacht hatte. Und Tatjana hielt, obwohl sie im Begriff war, dem Kerl zu unterliegen, immer noch ihren beinernen Knüppel umklammert.
Die Kinder sahen sie mit Augen an, in denen mehr lag als Hunger. Bildete Tatjana sich ein. Weißliches Haar hing ihnen in die runden Stirnen, und zwei von ihnen hielten sich an den Händen wie Geschwister.
Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung schnellte Tatjana herum, versetzte dem sich gerade aufrappelnden Manz einen trockenen Knochenhieb in die Kniekehlen, der ihn einbrechen ließ, als wollte er vor den untoten Kids auf Knien um sein Leben betteln, und ein Fußtritt von der aufspringenden Tatjana trieb ihn endgültig in ihre Mäuler, die sich jetzt öffneten und bläuliche Zähne entblößten, makellos, nicht so lückenhaft wie oft bei Elivers. Dunkelrote, fast schwarze, lange Zungen schlängelten sich aus den Kinderrachen.
So schlug Tatjana zwei Fliegen mit eine Klappe: Sie musste keine Kinder töten und schaffte es, die Rache an Manz auf elegante Weise zu vollziehen. Vier blauhäutige Kinder stürzten sich auf den kreischenden Moderator.
Kindliche Zombiezähne bohrten sich in seinen Hals. Andere schälten ihm die Haut von Beinen und Wangen in Streifen ab. Sein Kreischen verstummte abrupt, doch dafür erklang Schmatzen und Gurgeln, und eine Blutfontäne schoss meterhoch empor.
Okay. Wunderbar. Ein bisschen Zeit gewonnen.
Tatjana schnappte sich das Päckchen, das Manz fallengelassen hatte, sah sich hektisch in der spartanisch eingerichteten Kajüte um und nahm auch noch eine kleine Flasche Feuerzeugbenzin mit. Dann entdeckte sie das Gitter vor dem Lüftungsschacht, riss es heraus und kroch hinein, den Knochen unter den Arm geklemmt.
Eine Reihe von seltsam schrillen Tönen folgte ihr.
Die verständigen sich! Eins der Kinder ruft seinen … Sie dachte das nicht zu Ende, sondern schaute sich rasch das Päckchen an. Rasierklingen. Na, immerhin.
Sie starrte auf das Navi. „Vier Minuten bis zum Notausgang am Rumpf.“ Vom Umweg zur Abkürzung.
Aber dann hörte sie wieder dieses grässliche Gebrüll von einem Superzombie, so nannte sie ihn kurzerhand, und sie wusste, ihre Zeit wurde so knapp wie ihr Atem, der ihr vor Schreck wegblieb. Sie musste erst einmal geradeaus, auf das Gebrüll zu, und die Angst in ihr dehnte sich aus und fühlte sich so an, als würde ihr Herz zu einer Murmel zusammengepresst und als müsste sie sich gleich einnässen … und dann zeigte ihr das Navi eine Stiege nach oben, einen Schacht, ein eiserner Tritt über dem anderen. Tatjana kletterte um ihr Leben, erreichte eine Luke und stieß sie mit Hilfe des Knochens, also mit Hilfe brachialer Gewalt, auf.
Die Flanke der ETOILE! Der Luxusdampfer lag tatsächlich auf der Seite und noch dazu sackte er allmählich tiefer, so kam es ihr vor, und sie keuchte heftig und ihre Augen traten aus den Höhlen.
Der … Megazombie …! Er – KAM!!!
Mit zitternden Händen übergoss Tatjana ihren Knochen mit dem Feuerzeugbenzin und suchte dann hektisch nach ihrem Feuerzeug. Sie hatte sich von dem nie trennen wollen, obwohl sie selten rauchte. Aber wo hatte sie es in dieser Scheiß-Hurenkleidung reingesteckt!? WO??
Hinten …? Sie schälte sich halb aus der Corsage, verrenkte sich dabei fast.
Nichts.
Unten aus dem Schacht erklang gefährliches Geschnauf, es mischte sich mit dunkleren Tönen, die ohne Zweifel aus höllischen Abgründen kamen, nicht von dieser Welt waren, obwohl sie doch an so etwas wie Hölle und Fegefeuer gar nicht glaubte!
Klong-patsch, klong-patsch, klong-patsch – der Missklang von untoten Füßen auf kaltem Eisen.
Ein glühender Pfeil aus Stahl schien Tatjanas Inneres zu durchbohren. Verdammt, sie war so weit gekommen, spürte Luft und frischen Wind im Gesicht, und selbst wenn das gesamte Meer zombieverseucht war, sie würde es schon irgendwie schaffen, nur …
DA! Ihr Feuerzeug. Es hatte sich in zwei Schnüren ihres Oberteils verhakt. Klein war es, fast winzig, und sie konnte nur hoffen, dass es noch funktionierte.
Tatjana zögerte keine Sekunde.
Untote weiße Augen starrten zu ihr hoch, ohne Ausdruck. Ein riesiges breites Gesicht, zerklüftet, rotschwarze Risse, in denen Unaussprechliches nistete.
Sie zündete den Knochen an und schleuderte ihn auf das Gesicht herab.
Mit einem hässlichen, durch und durch unmenschlichen Geheul stürzte das Eliver-Wesen ab, brennend, qualmend … tot?! Sterbend?!
Glaube ich nicht, dachte Tatjana und lief, mit den Füßen krampfhaft Halt suchend, ein Stück weit über die recht glatte Flanke des Schiffes, ins Wasser wollte sie eigentlich nicht, so lange sie nicht müsste.
Sie starrte zur Stadt hinüber.
Stadt? Welche Stadt?
Cannes existierte nicht mehr.
Aber Tatjana hatte kaum Zeit, diesen schockierenden Anblick in sich aufzunehmen, denn plötzlich drang ein charakteristisches Geräusch an ihre Ohren: der Motorenklang eines Helikopters.
Es näherte sich. Es klang ein bisschen wie das Summen eines monströsen Insektes.
*
Verwaschene Stimmen, wie aus weiter Ferne. Eine Hand, die vor ihrem Gesicht herumwedelte.
Ein Mann sagte: „Sie ist katatonisch.“
Ein anderer, mit einem warmen, volltönenden Organ, erwiderte: „Das kriegen wir hin, keine Sorge. Erstmal bleibt festzuhalten: Sie hat nicht einen Kratzer und keine Bisswunde. Ein paar Prellungen, einige Striemen, als habe man sie ausgepeitscht, aber Blut ist nicht ausgetreten.“
Die Männer sprachen Russisch.
„Und was umklammert sie da mit ihrer Hand?“
Tatjana sah den anderen Mann mit den Schultern zucken.
„Sollen wir es ihr mit Nachdruck abnehmen?“
„Nein. Es wird sich schon nicht um Sprengstoff handeln.“
„Wie Sie meinen, Herr Oberst. – Später dann die Standardprozedur?“
„Ja. Sie können jetzt gehen, Herr Major.“
Sie befanden sich in einer Art Krankenzimmer. Endlich trug Tatjana kein Nuttenoutfit mehr, sondern ein mit Blüten bedrucktes Krankenhausnachthemd.
Sie achtete sorgsam darauf, ihren Blick stumpf und leer zu lassen, während sie in Wahrheit den Mann, mit dem sie jetzt allein in dem Raum war, genauestens musterte.
Der Oberst hatte breite Schultern und sandblondes Haar, das ihm bis auf den Kragen seines weißen Kittels fiel. Ein ingwerfarbener Schnurrbart zierte sein Gesicht, doch das Auffälligste an ihm waren seine knallblauen Augen. Im Augenblick hatte er ein Lächeln aufgesetzt, das so falsch wirkte wie die Lüge vom Megabiozid.
Tatjana misstraute ihm auf Anhieb, auch wenn eine kleine Stimme in ihr flüsterte, he, das Militär hat dich gerettet, ohne die Russen wärst du jetzt auf dem Grund des Mittelmeeres oder Schlimmeres, und nun hör mal damit auf allen Männern gegenüber feindselig zu sein …
Woran erinnerten sie diese Augen noch? Ah, richtig. In grauer Vorzeit – so kam es ihr jedenfalls vor, es musste Anfang 2014 gewesen sein, noch ehe die ReDead-V-Scheiße in den globalen Ventilator flog, hatte sie eine Serie namens „Game of Thrones“ auf DVD geschaut, und da war ein halb entfleischter weißhaariger Zombie mit irre glitzernden, kristallblauen Augen vorgekommen.
Na, wie passend, dachte sie trocken.
Der Armeearzt oder was immer er genau war ergriff ihr Handgelenk und entnahm ihrer Fingerkuppe nochmals ein wenig Blut. Und wieder gab es keine Regung von Tatjana, sie zuckte nicht einmal.
„Kleine, ich weiß ja nicht, ob du überhaupt etwas von dem verstehen kannst, was ich dir jetzt sage“, begann er mit seiner angenehmen, volltönenden Stimme, „ich rechne eher damit, dass ich dir das wiederholen muss, wenn du erst richtig DA bist. Aber die Dinge haben sich rasend schnell verändert, das muss ich einfach loswerden. Du hast vermutlich noch ein Europa im Sinn, das einigermaßen intakt ist und wo die befallenen Gebiete in Schach gehalten werden durch Quarantänezonen, großes Militäraufgebot etc. Nun, es ist jetzt genau andersherum – ein paar kümmerliche kleine Inseln wehren sich gegen die anbrandende Flut von Elivers, die ihre Kreise immer enger um sie ziehen. So geht das durch drei Viertel von Europa, ich habe gehört, Portugal, Westfrankreich und Belgien seien noch einigermaßen sicher, aber – die Nachrichten prasseln fast stündlich auf uns ein, sofern Nachrichten überhaupt noch durchkommen. Und so kann es sein, dass auch da die Situation jetzt schon kippt. Wir haben es mit einer Spiral-Explosion zu tun, dadurch, dass die verdammten Infizierten das MEER nutzen, um sich auszubreiten, haben wir kaum noch eine Chance. Wir können schwerlich alle Ozeane mit Nuklearwaffen verdampfen … Aber ich will keine Vorlesungen halten, Kleine. Wir sind hier in einer Sicheren Zone in Weißrussland, und … wir retten Überlebende. Es läuft darauf hinaus, dass wir zusammenhalten müssen, mehr denn je! Nichts anderes darf mehr eine Rolle spielen, jeder muss Aufgaben übernehmen, selbst wenn sie ihn anwidern und – es geht ums Letzte, Kleine, um das Überleben der Menschheit!“ Seine Augen knallten noch blauer in die ihren.
„Du bist jung und gesund, und – es grenzt an ein Wunder, dass du es geschafft hast aus diesem – Schiff, diesem Sündenpfuhl, in dem die Hölle los gewesen sein muss. Wir schafften es gerade noch, dich hochzuziehen in einen Heli, ehe der Kahn mit einem grässlichen Blubbern versank in einer stinkenden Blutsoße voller Fleisch-Stückchen, das Inferno schlechthin. Den verfluchten Zombies hat es natürlich nichts ausgemacht, zu sinken. Jedenfalls …“ Abermals warf er ihr einen scharfen Blick zu. Versuchte er, sie durch Aufrütteln aus ihrer Katatonie zu reißen, durch eine Re-Traumatisierung sozusagen? Tatjana spürte, dass ihre Hand das Lazarus-Päckchen stärker umklammerte, bestimmt traten ihre Knöchel weiß hervor.
Das fiel ihm auch auf. Mist. „Du hast da doch nicht wirklich eine Mini-Handgranate drin, Kleine?“
Sie las in seinem Gesicht, dass er womöglich doch versuchen würde, ihre Hand mit roher Gewalt aufzubrechen, egal, ob ihre Knochen zersplitterten – sie konnte die Gewaltbereitschaft regelrecht sehen, das hatte sie schon immer gekonnt; sie lauerte hinter der abblätternden Fassade der Zivilisiertheit wie nackter, roher Stein.
Um sich zu retten, griff Tatjana zu einem Mittel, das sie nur sehr selten anwandte, und das vermutlich gerade deshalb hervorragend wirkte: Sie lächelte. Ihr Lächeln war absolut hinreißend, lockend und unschuldig zugleich, charmant und weich, und es riss auch den Oberst hin.
„Ah, wunderbar, du scheinst allmählich zu dir zu kommen!“ Er klatschte leicht in die Hände und vergaß ihre krampfhaft geschlossenen Finger.
„Wie ich eben schon sagte, wir Überlebenden müssen zusammenhalten. Und es gibt ein höchst dringliches Problem, mit dem ich dich aber noch nicht belasten möchte, noch nicht … erst wenn wir diesen einen letzten Test mit dir gemacht haben. Denn es ist seltsam, es scheint nicht miteinander zusammenzuhängen, doch beide Phänomene traten fast zeitgleich auf, das Erscheinen von ReDead-V und …“ Er verstummte. Stoppte sich gerade noch rechtzeitig, wie es ihr schien, ehe er etwas verraten hätte, was er als noch zu früh erachtete.
Tatjana lächelte immer noch, obwohl sie fühlte, es kam von Sekunde zu Sekunde mehr Zwang in ihre Mimik, und als der Oberst ihr Lächeln jetzt erwiderte, sah sie nicht nur Falschheit, sondern soviel Gift darin, dass es mühelos für die gesamte Besatzung und alle Passagiere der ETOILE gereicht hätte, ganz ohne Zombie-Attacke.
„… also sprechen kannst du wohl noch nicht, wie? Macht nichts. Ich werde dir jetzt ein leichtes Beruhigungsmittel verabreichen, und dann kommst du nach nebenan. Keine Angst. Es geht schnell und wird nicht weh tun.“
Standardprozedur, dachte Tatjana und fröstelte.
Wenig später lag sie auf eine fahrbaren Trage, sanft sediert, und wurde hinübergerollt in einen Raum, der sehr nach Labor aussah. Sogar einen Kernspintomographen gab es.
Unglaublicherweise schlummerte Tatjana ein, und obwohl es doch hieß, unter Beruhigungsmitteln träumte man nicht, sank sie in einen Zustand, der traumhafter und gleichzeitig klarer war als alles, was sie bisher erlebt hatte in ihrem jungen Leben.
Ein Traum, klarer als ein flüssiger Kristall.
Er floss von allen Seiten auf sie zu, löschte mit seinen Farben und Formen das trostlose kalte Labor, den Wichser mit seinem ingwergelben Schnurrbart, den Assistenten und alles andere aus. Nur die Trage war noch da, sie spürte sie hart unter ihrem Rücken. Die Szenerie ringsum wandelte sich behutsam, aber beharrlich um in eine phantastisch bunte Blumenwiese, wie es sie kaum mehr gab in der überzivilisierten Monokulturen-Welt Europas, der Ukraine, Russlands …
„Na sowas“, sagte Tatjana laut und erhob sich von der Trage. Ihre nackten Füße tauchten ins Gras ein, und das erfrischte sie so herrlich und war gleichzeitig so balsamisch, dass ihr Tränen in die Augen traten.
Doch das war erst der Anfang aller Wunder.
Sie schaute über die sanft sich wellende, von einzelnen Bäumen gesprenkelte Wiese bis hin zu einem breiten, in der Sonne wie pures Silber glänzenden Bach, der dort strömte, und von da kam ihr Nadeschda entgegen, nackt und unbemalt, dafür aber auch herrlich unversehrt.
Tatjanas Sicht war eine ganze Weile verwischt von Tränen, sie fasste es nicht, kaum, als sie leibhaftig die Hände der Freundin in den ihren spürte, weil Nadeschda lächelnd herangekommen war. Ihr gutes echtes Lächeln, und die gleiche charakteristische Art, mit der sie ihre blonde Mähne zurückwarf.
Tatjana blinzelte die salzigen Tropfen fort.
Dicht vor ihr stand Nadeschda, sie hatte ihre kleinen, schön geformten Ohren und ihre Augen glichen reifen Kirschen, es WAR ein Wunder, sie so zu sehen.
„Geht es dir gut?“, schluchzte Tatjana.
Fest drückte Nadeschda ihre Hände, schaute sie eindringlich an. „Ja, hier ist alles gut, Süße. Tatjana, komm zu mir. Komm hierher.“
Nichts lieber als das. Tatjana nickte so heftig, dass ihre Halswirbel knackten.
„Aber wie, Nadeschda?“
„Du weißt, wie.“ Halblaut lachte die blonde Walküre, fast verächtlich. Aber dann veränderte sich ihre Miene, wurde ernst, fast hart. „Aber pass gut auf. Du weißt, worauf du achten musst. Nicht alle haben das Glück, hierher zu gelangen. Sieh nur …“
Sie führte ihre Freundin zum Ufer des heiter murmelnden Flüsschens. Ein Schatten flog über die Wiese und über den Bach, machte ihn stumpf und metallisch grau.
Und wo eben noch nur harmonisches Glitzern von Wasser gewesen war, trieben jetzt die ersten Leichenteile heran, Schädel auf fleischlosen Schultern, sonst nichts, ein halber Kopf, von dem Gehirnmasse schleimig herabtropfte, und der gesamte im Zeitraffer verwesende Restkörper war ebenfalls halbiert, Arme und Beine schwammen, schaukelten, winkten Tatjana zu.
Der gellende Schrei, mit dem sie erwachte, gefror ihr auf der Stelle im Mund.
Denn wer sich über sie beugte, war natürlich der verdammte Schwanzträger-Oberst mit seinem sandfarbenen Haar und dem Scheißarztkittel. Und sein Lächeln wirkte jetzt nicht mehr nur giftig oder falsch, sondern es war das Grässlichste, was Tatjana je gesehen hatte, wie eine eiternde Wunde in einer Dämonenfratze.
„Glückwunsch, Kleine“, sagte er. „Du bist fruchtbar. Als eine von ganz, ganz wenigen weiblichen Exemplaren der Spezies Mensch. Nebenbei bemerkt, bist du auch noch Jungfrau, was mich in der heutigen Zeit ein wenig verwundert, aber auch erfreut: Immerhin bist du etwa … kannst du jetzt sprechen? Wie alt bist du, 20, 21?“
„Dreiundzwanzig“, flüsterte Tatjana mit tauben Lippen. Ihre Augen waren gewiss riesig geworden, sie selbst wunderte sich, weshalb sie noch nicht aus ihren Höhlen gesprungen waren.
Jetzt schnell handeln tu was jetzt schnell JETZT.
„Bitte, darf ich einmal auf die Toilette gehen?“, fragte sie artig. Tief in ihr donnerte und ballte sich etwas Dunkles FINSTERES zusammen und sie sie war höchst erstaunt, dass ihr dieses Täuschungsmanöver gelang.
„Wie schön, dass du deine Sprache wiedergefunden hast“, freute sich der Oberst. „Sag, hast du verstanden, was ich dir begreiflich zu machen versuche? Kennst du deine Aufgabe?“
IN DER TAT.
Seine große Hand berührte ihre Schulter, glitt am Oberarm herab.
„Wie heißt du?“, fragte er, die Stimme volltönender denn je. Tatjana hätte ihm sehr gern den Kehlkopf herausgerissen.
„Tatjana“, antwortete sie so zuckersüß, wie es ihr nur möglich war, und dann, drängender: „Muss auf Toilette, sonst mache ich hier noch Pipi auf dem schönen Boden.“ Es sollten ihre letzten Worte sein.
Er lachte und wies ihr den Weg.
Tatjana wunderte sich nicht darüber, dass sie die Tür hinter sich nicht abschließen konnte. Egal. Hauptsache, sie war ein paar Sekunden allein.
Sie kniete vor der Toilettenschüssel nieder und packte mit fliegenden Fingern die Rasierklingen aus. Es waren sechs Stück. Ihre Bewegungen waren zu hektisch, sie säbelte sich als erstes den kleinen Finger der linken Hand halb ab. Der extrem scharfe Schmerz brachte sie wieder zur Besinnung, half ihr, sich zu konzentrieren.
Ihre Sehnsucht nach Nadeschda wuchs und wuchs und wuchs, eine gewaltige Woge aus purem Gefühl. Der Zombie-Tsunami war nichts dagegen. Und mischte sich mit Glück, banger Erwartung, freudigem Entzücken, tiefer Vorfreude, all das überflutete sie, so dass der Gedanke, die Klingen zu verwenden und hier auszubluten wie ein Tier auf dem Opferstein, jeglichen Schrecken verlor.
Ein letzter Atemzug.
Dann schnitt sie sich selbst die Kehle durch, mit aller Kraft und so gründlich, dass kein Arzt der Welt sie wieder hätte zusammenflicken können, selbst wenn man sie sofort gefunden hätte. Ihr Blut sprudelte wie aus einer First-Class-Fontäne und überschwemmte die Bodenfliesen.
Aber der Oberst und sein Assistent kamen erst in die Toilette gestürmt, als sie ihr Lebenssaft durch die Türritze sickerte.
Alles, was Tatjana blieb, war zu HOFFEN. Zu hoffen, dass das reichte.
NADESCHDA, ICH KOMME ZU DIR!
Ihr Bewusstsein stieg auf wie ein Gasballon, und ihr Geist konnte alles hören, was die beiden Männer sprachen. SO war das also. Genau so, wie viele Menschen es aus ihren Nahtoderlebnissen berichtet hatten.
„Verdammt. Warum hat sie das getan?“ Die Stimme des Militärmediziners klang auf einmal farblos, fast brüchig.
„Das werden wir wohl nie erfahren. Sollen wir ihr das Virus verabreichen und sehen, wie sie sich als Zombie-Mutter macht?“, fragte der Assistent.
Der Oberst betrachtete Tatjanas Leichnam quälende Sekunden lang.
„Nein“, entschied er dann. „Schneidet ihr den Kopf ab und legt ihn in die Knochenpresse.“
„Und der Rest?“
„Wird tiefgefroren. Immerhin enthält er einen kostbaren funktionsfähigen Uterus. Wer weiß …“ Er zuckte die Achseln und entfernte sich.
So wie Tatjanas Bewusstsein.
Manchmal ließ Gott oder das Schicksal oder das Universum eben doch eine bizarre Art der Gnade walten.
*
Juri Taganov riss die Augen auf. Das erste, was er registrierte war, dass sein Schädel dröhnte. Kein Wunder. Dann das zweite: Das Womo befand sich in heftiger, schlingernder Bewegung. Das dritte: Es war heller Tag, er musste LANGE bewusstlos gewesen sein. Und das vierte: Er war mit Handschellen an einen Haltegriff gefesselt.
„HEEE!“, brüllte er aus einem Reflex heraus. Erst einmal geschah nichts. Er zerrte an seinen Fesseln, natürlich vergeblich, sowohl die Stahlschellen als auch der Griff saßen unverrückbar fest.
Irgendwann kreischten die Bremsen und quietschten die Reifen, und mit einem letzten brutalen Schlingern kam das Gefährt zum Stehen. Eine Gestalt erschien im Trennbereich zur Fahrerkabine, und sie sah wirklich absonderlich aus.
Groß, hager, in einem undefinierbar gemusterten Kleid, eine bonbonfarbige Skimütze über dem Kopf. Juri erkannte düsterbraune Augen und einen Mund mit vollen Lippen, sonst nichts.
„Benimm dich gefälligst“, herrschte ihn eine grollende Stimme an. „Sei froh, dass wir’s geschafft haben.“
Die Gestalt ließ sich auf der Bank der Ess-Sitzgruppe nieder, Juri gegenüber. Knochige Knie sahen unter dem Saum des Kleides hervor.
„Hey, du bist’n Kerl“, entfuhr es dem Ukrainer, ehe er sich zurückhalten konnte.
„Und wenn?“, konterte sein Gegenüber.
„Auch du bist Mitglied einer Gruppe von Feministinnen. Ich weiß genug über dich, Juri Taganov.“
Juri starrte den Maskierten einen Augenblick lang an.
„D-das heißt du … einer Frauengruppe? A-aber … also …“, er fasste sich, grinste breit und spürte ein Kollern in sich aufsteigen. Trotz seiner misslichen Lage war ihm zum Lachen zumute. Hysterisch, hätte er es bei Nadeschda genannt. „Mag ja alles so sein“, gluckste er, „aber deswegen zieh ICH doch keine Tussiklamotten an.“
In sein brüllendes Auflachen hinein sagte der Fremde scharf und schneidend, mit einer Stimme wie reißendes Metall: „Hundesohn. Nur, weil du deine Aufgabe NICHT ernst nimmst. Und weil deine Mitkämpferinnen zu nachsichtig mit dir waren. Sie ließen dir zuviel durchgehen, Idiot! Ich bin Gründungsmitglied der Clit Rebels, und selbstverständlich trage ich stolz die Kleidung einer Frau!“
Die bräunlichen Augen funkelten Juri an.
Urplötzlich schoss seine Hand vor und legte sich über Juris Schritt. Während sein Knie die Beine des Ukrainers kraftvoll zur Seite drückte, gegen die Wand des Womos.
„Und: Nein, ich bin nicht schwul“, sagte er gefährlich leise. „Aber wenn du mir einen winzigen Anlass dazu gibst, Dummkopf, dann zerdrücke ich deine Eier, als wären es Nissen. Klar?“
Seine Hand presste Juris Geschlecht kurz, aber schmerzhaft, und längst schon war das Lachen des Ukrainers versickert, so plötzlich, wie es emporgesprudelt war. Eingeschüchtert zog Juri den Kopf ein.
„W… was willst du denn von mir?“, stammelte er dann. „Wie ist dein Name?“
„Mandraco“, knurrte der Maskierte und lockerte seinen Griff. „Und du kannst von Glück sagen, dass ich da war. Wir sind mit knapper Not entkommen, und nun bin ich auf dem Weg zu einer Werkstatt, die hoffentlich noch nicht verseucht ist.“
„Verseucht?“, hörte sich Juri mit schwächlicher Stimme fragen.
„Unterbrich mich nicht! – Ich wurde von meinen Kameradinnen ausgesandt, um genau so etwas zu finden wie das hier. Euer Wohnmobil ist zwar nicht mehr das jüngste und so’n bisschen verkommen, aber es hat einen starken Motor. Ich werde es aufrüsten und meine Frauen retten. Keine von ihnen konnte mich begleiten, aus Gründen, die ich dir jetzt noch nicht verraten werde. Die Frage ist: Schließt du dich mir – uns! – an, Juri Taganov, oder soll ich dich bei nächster Gelegenheit rauswerfen, damit du es allein, auf eigene Faust mit der Zombieapokalypse aufnimmst?“
Mandraco stemmte die Hände in die Seiten und starrte Juri herausfordernd an.
„Mit der – was?“, bellte Juri, der bis dahin fest geglaubt hatte, die ganze Elivers-und-ReDead-V-Scheiße sei ein Riesenfake, eine Verschwörungssache der Mächtigen, die insbesondere in Russland und Osteuropa die kritischen und rebellierenden Bürger damit in Furcht und Schrecken versetzen und somit unter Kontrolle halten wollten.
Mandraco tippte sich an die skimützenbekleidete Stirn. „Wo lebst’n du, auf dem Mond? – Verdammt, Mann, du hättest die zwei Ultra-Femen-Frauen nie im Stich lassen dürfen.“
Es durchfuhr Juri wie ein heißes Schwert. „Na-Nadeschda und …“ Er räusperte sich. „Tatjana. Was ist mit ihnen? Wieso zum Teufel sind wir denn hier, wo immer das auch ist, und nicht in Cannes, wo sie …“
„Cannes existiert nicht mehr, Brother.“
Erstmals nahm Juri einen mitfühlenden Ausdruck in den Augen des Mannes wahr. Denn er musste sehen, was für ein Schlag das für den Ukrainer war. Er schluckte.
Dann fiel ihm wieder etwas ein, verschwommen, halbbewusst. „Die … die Tsunami-Warnung … Aber das war doch, das kann doch nicht … dieser Piratensender …“
„Es war ein Zombie-Tsunami“, behauptete Mandraco, und jetzt bekam Juri wieder Lust, gellend zu lachen, denn das klang einfach albern.
„Tsombie-Tsunami – hörst du dir eigentlich selber zu?“
Der maskierte Mann im Kleid – völlig unpassend dazu trug er übrigens an den Füßen derbe Turnschuhe ohne Socken – wandte sich halb ab und murmelte: „Ich muss es ihm wohl zeigen, der glaubt nur, was er sieht.“
Wenig später führte er seinen Gefangenen – dem er die Handschellen nicht abnahm – aus dem Womo; sie befanden sich auf einem Hügel, und ringsum dehnte sich eine warme goldfarbene Landschaft: das Hinterland der Cote d’Azur im Herbst. Ein traumhafter, idyllischer Anblick. Aber wenn man in Richtung Mittelmeer schaute, zur rotleuchtenden Porphyrit-Küste hin …
Juri, der schon den Mund geöffnet hatte, um gegen seine Fesseln zu protestieren, schnappte nach Luft, als er in genau diese Richtung blickte. Sie waren noch nicht allzu weit weg. Weit genug, um vor den Ausläufern der Katastrophe in Sicherheit zu sein, aber noch nah genug, um das meiste sehen zu können. Cannes lag in Trümmern. Die herrliche Stadt am Mittelmeer, diese mediterrane Perle, Austragungsort berühmter Filmfestspiele – existierte nicht mehr! War überschwemmt worden und – Schlimmeres. So genau konnte man es nicht erkennen.
Mit rauer Stimme verlangte Juri nach einem Fernglas. Mandraco gab es ihm.
Der junge Ukrainer, Ex-Geheimpolizist und Gründungsmitglied von Ultra Femen, wollte nicht etwa hindurchschauen, um die Details des Grauens zu betrachten. Nein, er schwenkte die Linse hinaus aufs Meer, in der Hoffnung, wenigstens eine Spur der ETOILE entdecken zu können. Vergebens. Er sah nur die beiden Inseln, und auch die wirkten verwüstet.
Er schluckte hart, und seine Augen begannen zu brennen.
Auf einmal fühlte er, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte.
„Das Schiff ist gesunken“, sagte Mandraco. „Ich habe keine genauen Informationen, aber es sieht nicht so aus, als hätte sich jemand retten können. Du musst verstehen, selbst wenn jemand unversehrt das Schiff verlassen und schwimmen konnte, wurde er von den Zombies im Wasser gefressen … Zunächst ist der schwimmende Sündenpfuhl von der Leichenwoge wohl ‚nur‘ auf die Seite geworfen worden. Anders als in dem Film ‚Poseidon‘, hast du den mal gesehen? Natürlich könnten das ein paar Leute überlebt haben. Aber wie gesagt …“
„… die Zombies erledigten den Rest.“
Mandraco nickte.
„Glaub mir, wenn ich auch nur eine winzige Chance gesehen hätte, sie zu retten, ich hätte es getan! Unsere Schwestern im Geiste! Aber mir blieb gerade noch Zeit, das Womo zu starten und loszurasen, als seien alle Teufel der Hölle hinter mir her! Ich konnte auch sonst niemanden retten, hatte keine Zeit, anzuhalten – teilweise leckte das Wasser schon gierig nach den Hinterrädern, es war verflucht knapp!“
Juri ließ das Fernglas sinken, wobei die Kette zwischen den Stahlschellen leise klirrte.
„Du weißt verdammt viel über uns“, sagte er müde. „Wie kommt das?“
„Kurz bevor das Mobilfunknetz total zusammenbrach“, erzählte der Mann mit der Skimütze, „gelang es mir, einen Kontakt mit Leonida herzustellen: einer engagierten Kämpferin, die wir ebenso schätzen wie ihr es tut. Es ist schade, dass die Clit Rebels und Ultra Femen sich nie zusammengeschlossen haben. Wir wären so viel stärker gewesen …“
Er musterte Juri.
„Also, wie hast du dich entschieden?“
„Ich komme mit.“ Er hob die Arme, hielt sie dem Anderen hin.
„Warte.“ Mandraco überlegte kurz, verschwand dann für einen Moment im Womo und kam mit einem Foto wieder. Nadeschda und Tatjana waren darauf zu sehen.
„Welche von beiden bedeutete dir mehr?“
Stumm wies Juri auf das Bild der blonden. Nadeschda, mein Täubchen …
„Dann küss ihr Bild und schwöre bei ihrer Seele, dass du mir und meinen Kameradinnen beistehen und uns ein Freund sein wirst!“
Juri nickte. Ohne zu zögern drückte er seine Lippen auf das Foto, auf das Abbild von ihrem göttlich schönen Gesicht. Wieder brannte es heiß unter seinen Lidern, aber Tränen wollten keine fließen. Stattdessen regte sich in ihm eine tierische Wut, er konnte spüren, wie sie hochstieg.
Seine Nadeschda, seine Geliebte! Er würde sie nie wiedersehen!
Mit rauer Stimme leistete er den verlangten Schwur.
Mandracos Mund verzog sich zu einem Lächeln, und er schloss endlich Juris Handschellen auf. Abwesend rieb der sich die Gelenke, um dann zu fragen: „Und wann nimmst du dir deine Mütze ab, damit ich mal dein Gesicht sehen kann?“
Mandraco winkte ab. „Später. Jetzt sollten wir aufbrechen. Die Biester schlafen niemals, und sie haben nichts weiter im Sinn als Töten, Fressen, Invasion.“
Für einen Moment ballte Juri nur die Hände. Im Grunde hätte er fast nichts dagegen, wenn Untote erscheinen würden. Er war ein Mann. Er war ein Kämpfer. Er wollte jetzt irgendetwas töten und darauf herumtrampeln.
„Willst du fahren oder soll ich?“, fragte ihn sein neuer Freund.
„Fahr du.“
Es war früher Nachmittag, als sie in etwas bewohntere Gegenden kamen. Doch alles lag gespenstisch ruhig da, obwohl, wie Mandraco meinte, die Zombiepest sich noch nicht bis hier ausgebreitet haben konnte.
„Aber ehe die gesamten Netze zusammenbrachen, muss es wohl dem Militär gelungen sein, die Landstriche hier zu informieren und zu evakuieren“, mutmaßte Mandraco. Er war ein guter Fahrer und ging sehr geschickt mit dem Womo um, hatte sich schon an alle seine Macken gewöhnt, zum Beispiel daran, dass der dritte Gang klemmte.
„Du scheinst wirklich eine Menge zu wissen“, äußerte Juri. „Konnte dir Leonida soviel mitteilen?“
„Sie schaffte es sogar noch, mir übers Smartphone eine Karte zu senden, in der es nur noch wenige weiße Flecken gab. Die meisten auf hohen Bergen. Alles andere: schwarz-grau.“
„Schwarz-grau?“
„Die Zombiefarbe. Die Farbe ihrer verdammten Hirnmasse, die du siehst, wenn du ihnen die Schädel einschlägst.“
„Wohin hauen wir also ab, wenn es uns gelungen ist, deine … unsere Kameradinnen zu retten?“
„Da gibt es kein WENN“, sagte Mandraco hart, und seine Augen funkelten. „Wir RETTEN sie. So einfach ist das.“
Nicht zum ersten Mal dachte Juri, dass dieser Mann zwar fast lächerlich wirkte in seinem Kleid und mit der grellfarbigen Vermummung – aber eben nur fast. Seine Hagerkeit täuschte zudem. Er besaß große Kräfte, das war deutlich zu erkennen, wenn man nur etwas genauer hinschaute. Und der kampferprobte Ukrainer hatte ein Auge dafür.
„Wohin, sobald ich dieses Womo zu einer rollenden Festung gemacht habe? – Keinen genauen Plan, Brother. Wirklich nicht. In die Pyrenäen vielleicht oder in die Alpen? Wir werden es gemeinsam besprechen.“
Ihre Unterhaltung schlief wieder ein.
Sie fuhren und fuhren durch das hügelige Hinterland von Cannes, und langsam wurden die Schatten länger.
„Wie weit entfernt ist das Versteck der Gruppe?“, wollte Juri irgendwann wissen.
„Wenn ich keinen Umweg fahren müsste, um Ausrüstung zu besorgen, könnten wir es vor Einbruch der Dunkelheit schaffen.“
Verbissen trat Mandraco das Gaspedal durch.
Es war – unheimlich, befremdlich, alptraumhaft, das einzige Auto auf vollkommen leeren Straßen zu sein. Weder Lebende noch Untote. Nichts regte sich. Selten einmal sah man einen Vogel oder ein Kaninchen.
Auf einmal warfen sie zufällig beide gleichzeitig einen Blick in ein sanft geschwungenes Tal hinab, in dem noch Sonne lag und in dem Schienen blitzten – und Juri schrie auf: „Ein Zug! Also … nun sieh dir das an, der fährt, da müssen Menschen drin sein!“
Er war beglückt über dieses offensichtliche Anzeichen menschlicher Normalität.
Mandraco schwieg eine Weile und fuhr noch schneller.
„Was hast du? Freust du dich nicht?“ Juri starrte seinen Gefährten verständnislos an.
„Du vergisst, dass ich schon ein paar Erfahrungen mit diesen – Dingern gesammelt habe. Nee, ich glaube nicht, dass da ein normaler Zug fährt. Ich glaube eher an eine Teufelei.“
„Du bist verrückt. Zombies fahren doch nicht mit Zügen.“ Gebannt starrte Juri in seinen Seitenspiegel, in der Hoffnung, irgendeine menschliche Regung erkennen zu können, aber sie fuhren schnell genug, um den Zug allmählich hinter sich zu lassen.
In einem mittelgroßen, verlassenen Ort hielt Mandraco beim Bahnhof. Vom Zug keine Spur, auch kein sich näherndes Rattern. Neben dem Bahnhofsgebäude befand sich eine große Lagerhalle.
„Da muss ich rein – ich schau mich erstmal um und du bringst dann das Womo nah heran, okay? Seitwärts, damit wir es rasch beladen können.“
Klasse, er vertraut mir jetzt wirklich, dachte Juri.
„Und hier ist ein Knüppel, falls und wenn. Du weißt schon.“
Mandraco zeigte auf einen mit eisernen Nägeln gespickten dicken Stock, der in der Fahrertür steckte.
„Geh nicht raus. Halte hier die Stellung und nach mir Ausschau“, schärfte er ihm ein und verschwand.
Juri blickte ihm nach, bis er die Lagerhallentür zur Seite hin aufgeschoben hatte und hindurchgeschlüpft war. Er hatte eigentlich vorgehabt, den Rat seines neuen Kameraden zu befolgen. Nur das Fenster wollte er ein bisschen öffnen, es war stickig in der Fahrerkabine des Womos.
Und da hörte er das Geräusch. Eindeutig das Fiepen eines Hundes. Sehen konnte er nichts, so sehr er auch den Hals reckte.
Während die Schatten näher und näher auf das Womo zukrochen, saß Juri unschlüssig da.
Bis er endlich die Tür einen Spalt weit öffnete, einen Pfiff ausstieß und rief: „Na komm, Hund, komm her!“
Er hatte keine besondere Beziehung zu Hunden, in seiner Heimat gab es Straßenköter in rauen Mengen, die von vielen Menschen verjagt, misshandelt oder sogar getötet wurden – aber dieses Fiepen klang gar zu jämmerlich. Nadeschda hätte das Tier auch sofort retten wollen, soviel wusste er.
Wieder fiepte es – jetzt konnte er die Herkunft der Laute genauer ausmachen: eine kleine Seitengasse, kaum zehn Schritt entfernt, die schon mit Schatten angefüllt war.
Das konnte er ja wohl schnell schaffen. Juri packte seinen primitiven Knüppel und stieg die Trittstufen herab.
Sogleich umfing ihn eine … irgendwie dicke, zähe, eine unglaublich bedrückende Atmosphäre, das hätte er nie für möglich gehalten.
Er konnte kaum atmen und musste alles an Mut zusammennehmen, was er besaß.
Schritt für Schritt bewegte er sich auf die Gasse zu.
Und das Grauen begann.
Ort:Am anderen Ende der Welt. Südzipfel Australiens, Küstenbereich.
Praxis von Doctor Halo Winter, Schmerzspezialist, Psychotherapeut, Neurologe.
Zeit: Oktober 2014, Frühling in der südlichen Hemisphäre.
Jason Chrome vernahm die Stimme des Arztes nur wie durch eine Schicht aus blutgetränkter Watte. Aus blut- und hirngetränkter Watte, sollte er hinzufügen, denn wann immer er auf seine Anfälle zurückblickte, hatte er das Bild, dass sein Hirn sich teilweise verflüssigt hatte und durch seine Ohren hinausgeronnen war. Begleitet durch pochende, pulsierende, grässliche Schmerzen wie von einer Symphonie puren Grauens, die noch so viele Schreie aus der Tiefe seiner Brust nicht übertönen konnten.
„Es tut mir sehr leid, Jason, aber Sie sind austherapiert“, dröhnte die Arztstimme seltsam verzerrt aus der Ferne, und dabei saß er ihm fast direkt gegenüber, nur der Schreibtisch zwischen ihnen.
„Ich kann nichts mehr für Sie tun. Alles, was mir noch einfällt, ist: Gehen Sie dahin, wo es Ihnen gut tut. Suchen Sie diesen Ort auf und – beten Sie. Ich weiß, es klingt nicht eben professionell, aber das ist es, was ich Ihnen rate. Beten Sie um Heilung, an diesem besonderen Ort, der …“
„Sie wissen doch, dass das äußerst schwierig ist“, unterbrach Jason ihn barsch. Zum Glück zum Glück zum Glück … ebbte der Anfall gerade ab, befand er sich auf dem Weg ins Tal, weg von den Gipfelpunkten der Qual. Worte echoten noch hart in seinem Kopf, aber schon hatte er nicht mehr den Wunsch, seinen Schädel gegen die Schreibtischplatte zu hauen.
Dr. Winter zuckte bedauernd die Achseln.
„Ja, ich weiß das. Aber …“
Jason fiel ihm abermals ins Wort. „Schon recht, Hal. Ich will Ihre kostbare Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen. Leben Sie wohl.“ Brüsk stand er auf und ging in Richtung Tür. Auf dem Weg dahin kam er an einem Spiegel vorbei und warf einen flüchtigen Blick in sein bleiches Gesicht.
Es war eigentlich gut aussehend, mit rabenschwarzem Haar, langen dichten Wimpern über dunkelblauen Augen; einzig die Mundpartie samt Kinn wirkte wenig markant und wies auf Konfliktscheu und Entscheidungsschwäche hin. Davon spürte man allerdings jetzt nichts, als er hinausstürmte aus dem Arztzimmer, die Tür hinter sich zuschlug und sich mit bedrohlich flackernden Augen seinem Freund Tim Stark näherte. Dieser, ein schlanker aber kräftiger Mann Ende Dreißig, verdiente sein Geld selbst in diesen schlechten, unsicheren Zeiten mit Poesie und Geschichten, und er besaß ausreichend Phantasie, um sogleich zu erfassen, was in Jason Chrome vorging.
Cluster-Kopfschmerzen hatten wenig mit Migräne und so gut wie nichts mit Spannungskopfschmerzen zu tun. Cluster-Qualen waren so grauenhaft, dass die Betroffenen oftmals Selbstmord in Erwägung zogen, brüllend umherrannten und sich die Hände brachen, weil sie sie gegen harte Gegenstände schlugen. Eine Cluster-Attacke konnte 33 Stunden lang sein. Während dieser Zeit tendierte die Lebensqualität eines Kranken gegen minus 1000.
Jason Chromes Anfälle hatten vor neun Monaten angefangen. Seitdem war sein Leben ein grausames Auf und Ab zwischen Schmerzhölle und dem bangen Warten auf den nächsten Anfall gewesen.
Und niemand, wirklich niemand konnte ihm helfen. Es war zum Verzweifeln.
„Pack alles zusammen, Tim, wir fahren nach Tasmanien“, stieß Jason hervor, und auf das entsetzte „Was?“, seines Freundes hörte er gar nicht.
Jason war Anfang 40, sah zuweilen aber älter aus, während Tim jünger wirkte mit seiner hellen Haut, den fuchsroten Locken und den laubgrünen Augen. Tim war Single, noch nie verheiratet gewesen, denn er liebte seine Kunst zu sehr, wie er immer sagte, er war mit der Literatur vermählt. Jason hingegen hatte bis vor neun Monaten eine Familie gehabt.
Jason wusste, dass er sich unmöglich benahm, doch in seiner Verzweiflung konnte er nicht anders.
Tim verstand das sehr wohl, aber auch Jason musste doch wohl begreifen, dass er ihn nicht begleiten würde. Nach Tasmanien, auf die Quarantäne-Insel! Der reine Wahnsinn, das würde er schlicht und ergreifend vergessen müssen!
Außerdem bekamen sie auf keinen Fall die Genehmigung. Ausgeschlossen, dachte der Poet.
Tasmanien schien zum unheimlichsten Ort der südlichen Hemisphäre geworden zu sein, doch niemand wusste so recht, weshalb. Die ReDead-V-Plage steckte nicht dahinter, soweit man wusste. Das Meer rings um Australien wurde auch immer wieder, in schöner Regelmäßigkeit, für zombiefrei erklärt. Tim traute da dem Frieden eigentlich nicht. Vor vier Monaten war ein kleiner Meteorit mitten in Tasmanien eingeschlagen und hatte eine gefährliche, hochgiftige Strahlung freigesetzt. Hieß es. Zwar schien sie sich nicht weiter auszubreiten als um den Krater herum, aber Vorsicht schien absolut geboten. Also waren sämtliche Überlebenden evakuiert worden; wohin, wusste übrigens auch niemand. Schon vor fünf Monaten hatte die australische Regierung den Ausnahmezustand über das gesamte Land verhängt.
Und Jason Chrome bekam es doch hin. Er zog sämtliche Fäden, machte überall seinen Einfluss geltend, um diese Genehmigung zu erlangen, und man gab ihm und einem Assistenten einen biologisch-geologischen Forschungsauftrag für Tasmanien, was an ein Wunder grenzte!
Auch wie er es geschafft hatte, Tim zu überreden, ihn zu begleiten, entzog sich dessen bewusster Wahrnehmung.
Er tat es aber letztlich aus Freundschaft, soviel wusste er. Und vielleicht, weil er auf Tasmanien neue Inspiration, neue Impulse finden würde … Die 240-km-Reise hasste er zwar von ganzem Herzen, denn er neigte zur Seekrankheit, und so war er an Bord des kleinen, gepanzerten 2-Mann-Forschungsschiffes aus Stahl recht wortkarg, doch das fiel kaum auf.
Denn auch Jason sagte kaum etwas, er stand am Steuer oder aber an der Reling und hing seinen Gedanken nach.
„Baumheilkunde“, so hieß seine Hoffnung, der letzte Strohhalm, nach dem er griff. Er hatte dem Dichter fast wütend davon erzählt.
Jetzt auf der Fahrt – und vermutlich etwas länger – wird er Ruhe haben vor den verdammten Kopfschmerzen, dachte Tim, während er seinen Freund beobachtete, denn sie kommen ja fast fahrplanmäßig, diese Attacken. Na gut, manchmal auch nicht.
Er wusste, woran Jason dachte, denn das war nicht schwer zu erraten. Er fragte sich, ob sein Freund jemals wieder Ruhe und Frieden finden würde.
Neun Monate zuvor hatte Jason Chrome nach einem heftigen Streit mit seiner labilen Lebensgefährtin Marie das gemeinsame Haus verlassen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Als er nach Stunden wieder zurückkehrte, war Marie fort und die beiden Kinder Luther und Leah, 11 und 9 Jahre alt, lagen mit durchschnittenen Kehlen in ihren Betten.
Man fand niemals eine Spur von Marie. Kurzfristig geriet Jason unter Tötungsverdacht und saß sogar zwei Wochen in Untersuchungshaft, aber es gab nicht den Hauch eines Beweises und endlich wurde auch sein Alibi für die Tatzeit von einer Kellnerin bestätigt.
Somit sah es nach einer klassischen Beziehungstat aus, wenngleich ungewöhnlich brutal: Psychisch kranke Mutter tötet ihre Kinder und dann sich selbst, eine Mischung aus erweitertem Suizid und Racheakt. Aber wie gesagt, man fand niemals eine Spur von Marie, weder lebend noch tot. Sie hatte sich in Luft aufgelöst.
Seitdem war Jason traumatisiert, aber er konnte sich diesem Zustand nicht stellen und flüchtete in Cluster-Kopfschmerzanfälle. So und nicht anders war das, Dr. Halo Winter wusste das ebenso gut wie Tim Stark.
Tasmanien! Die grünen bewaldeten Küsten der annähernd herzförmigen Insel tauchten auf. Weißgolden leuchteten die Traumstrände. Das einzige, was störend wirkte, war die dünne schwarze Rauchsäule, die über der Insel aufstieg und die schon von weitem zu sehen war: so, als hätte sich Tasmanien in eine aktive Vulkaninsel verwandelt.
Die Reise hierher war vollkommen normal verlaufen, ein paar Nebelbänke, weiter nichts, und obwohl sie Schutzanzüge dabei hatten, wollte Jason auf sie verzichten, und so kam es auch Tim lächerlich vor. Er freute sich: Schon jetzt gewann Jasons Gesicht wieder Farbe, und er lächelte sogar leicht. „Ah, riech nur diesen Duft! Diese herrlichen Bäume! Diese Art von Eukalyptus gibt es nur hier … Komm, mein Freund, schau nicht so besorgt drein. Alles ist wunderbar, das Gerede von der Strahlung ausgemachter Quatsch.“
Tim Stark zwang ebenfalls ein Lächeln in seine angespannten Züge. „Alles ist gut“, wiederholte Jason und klopfte ihm auf die Schulter. „Und für den äußersten Fall habe ich uns eine kleine ‚Lebensversicherung‘ verschafft.“
„Ach ja? Und welche?“
Die dunkelblauen Augen seines Freundes blitzten ihn triumphierend an. „Denk dir, ich konnte Kontakt mit Arty aufnehmen!“
„Wirklich?“ Jetzt war auch Tims Strahlen echt. Es erhellte sein sommersprossiges jungenhaftes Gesicht, denn neben Jason war Arty der Mensch, den er am meisten schätzte.
„Sie wird in der Nähe sein und ein wenig auf uns aufpassen. Ja, ich weiß, die Schwierigkeiten mit Telefon und Funkkontakt und so – aber für den Notfall gibt es ja noch andere Möglichkeiten.“ Jason klopfte auf seinen Rucksack. „Da hab ich Leuchtraketen drin.“
Dem Poeten fiel ein Stein vom Herzen. Soviel Überlegung und Entschlusskraft hätte er Jason gar nicht zugetraut, er hatte ihn unterschätzt. Jetzt schaute er mit viel freierem Blick auf die grüne Insel, die auch er liebte, und begann sich sogar ein wenig darauf zu freuen, sie zu betreten. Er musste zugeben, dass ein frischer würziger Duft herüberwehte, der seine Stimmung hob.
Sie ließen den Anker fallen und ruderten mit einem Dinghi an Land. Friedlich lagen die menschenleeren tasmanischen Hügel vor ihnen im Sonnenlicht, paradiesisch und ganz so, als hätte nie eine Störung oder ein Schrecken diese Insel befallen, als sei sie außerhalb der Zeit.
Einer Zeit, in der vier Fünftel der Welt schon überrannt waren von der Seuche, vom Virus, von der Plage der Elivers.
Baumheilkunde, deshalb sind wir hier, dachte Tim und schaute auf die Stämme der mächtigen Eukalyptus-Riesen, die sich unmittelbar hinter dem Kiesstrand aufragten und einen Wald bildeten. Ihr lieben, wunderbaren Bäume, ihr spielt auch für mich und meine Dichtkunst eine wichtige Rolle. Aber jetzt heilt bitte meinen besten Freund Jason Chrome, gebt ihm Kraft und schenkt ihm Trost.
*
Nicht so weit entfernt, auf einem felsigen Eiland, so groß wie ein mittlerer Sportplatz.
„Komm schon“, presste sie durch die zusammengebissenen Zähne. „Komm schon komm schon komm schon KOMM schon!!“
Sie hielt eine Art Joystick in der linken, zwei Kabelenden geschickt in der rechten Hand und war angestrengt damit beschäftigt, beides aufeinander abzustimmen. Die Zeit drängte.
Sie hatte sich geirrt, nicht zum ersten Mal, und es schien angebracht, ihren universalen Vorrat an Irrtümern nicht vollends aufzubrauchen. Alles deutete darauf hin, dass das höchst unerfreulich Folgen haben würde.
Artemis Callaghan, genannt Arty, war so vermummt, dass sie sehr absonderlich aussah, kaum noch wie ein Mensch, sondern wie eine Kreuzung aus überdimensionaler Raupe und Libelle. Für den Eindruck eines riesigen Insektes sorgte vor allem die Gasmaske, die sie trug; und ihr Raumanzug panzerte sie vom Hals bis zu den Füßen. Nur ihre säure- und feuerfesten Handschuhe hatte sie für den Moment ausgezogen, um die feinmotorisch anspruchsvolle Aufgabe meistern zu können.
Sie hockte in der offenen Tür ihres Hubschraubers, den sie selbst gebaut hatte. und eben deshalb funktionierte er auch nicht so wie ein „normales“ Fluggerät, sondern erforderte Arbeitsgänge, die genau Artys Geist entsprachen: genial, aber chaotisch. Sie besaß eine Art magisches, intuitives Gespür für Technik.
Einen Moment nur blickte sie hinaus und erschrak so, dass sie die Kabelenden fahrenließ. Verdammt! Aber der grünlich-aufgequollene, längs halbierte Leib eines Untoten sah zu scheußlich aus. Gedärme schwappten aus ihm raus wie die Schaumgummifüllung eines aufgeplatzten Teddybärs. Für ihre Waffe war er noch zu weit weg.
Er war der erste einer Vorhut, die sich über die zum Teil schüsselartigen, zum Teil nadelspitzen Felsen des Eilandes hinwegwälzte wie eine eklige Schlammflut aus verwesendem Fleisch.
Es wurde brenzlig, sie musste sich beeilen. Wenn das Monsterpack womöglich auch noch ihren Landefelsen emporkletterte … sie traute sich zwar zu, ihren Heli, der den Namen Josy trug, eine Weile zu verteidigen, aber wenn er dann nicht abhob – es waren verdammt nochmal zuviele Untote.
Verflucht. Und dabei hatte Arty fest geglaubt, dieses Eiland sei sauber.
Normalerweise wäre das kein Problem gewesen, eher im Gegenteil. Normalerweise suchte sie ja die Zombiepest, für die irgendwelche hirnkranken Wissenschaftler den Namen ELIVERS erfunden hatte, suchte sie, um sie zu vernichten.
Artemis wehrte sich nicht einfach nur gegen die Untoten, sie wollte sich keineswegs verteidigen oder irgendeinen militärischen oder sonstwie gearteten Auftrag ausführen. Wann immer sie sich in den Resten der australischen Zivilisation blicken ließ, um ihre Vorräte aufzufüllen, wurde ihr in der Regel letzteres unterstellt. Immer wieder. Sie war deswegen schon so wütend geworden, dass die gesamte Einrichtung eines Pubs hatte dran glauben müssen.
Nein, es war anders, ganz anders. Und supereinfach. So klar wie die See einst gewesen war.
Arty HASSTE die Wiedergänger und führte Krieg gegen sie. Einen veritablen, verrückten, wahnsinnigen und gar nicht mal so erfolglosen Eine-Frau-Krieg. Gern bezeichnete sie sich selbst als Zombiekillerin oder Zombiejägerin.
Die 38jährige Frau war allerdings in ihrem früheren Leben Soldatin gewesen, was ihr jetzt sehr zupass kam. Sie hatte beim Militär sehr nützliche Dinge gelernt, unter anderem natürlich, wie man mit Hubschraubern umging.
„Tchiii! Äh! Gääääääh!“, das klang nahe. Die untote Stimme eines männlichen Zombies klang so, als hätte man ihm den verfaulten Schwanz abgetrennt.
Arty hieb mit der Handkante gegen den „Joystick“, zwischen den Kabeln hüpfte ein Funke, und endlich sprang Josy wieder an und ließ gehorsam die Rotorblätter wirbeln.
Aber die ersten Untoten hatten bereits die Kufen erreicht und klammerten sich an sie.
Eine schwärzliche Hand, an der nur noch drei Finger hingen, deren Nägel dunklen Schleim absonderten, streckte sich nach Artys gepanzertem Bein aus.
„Weg mit dir, untoter Wichser“, zischte Arty. Ein Griff zur Spraydose, sie richtete die Düse auf das entstellte Gesicht der Bestie und nebelte es mit Zombie-Ex ein. Die Augen des Zombies waren nur Klumpen aus Blut und Eiter, offenbar SAH der nichts, sondern orientierte sich schnüffelnd am Geruch. Nun, das letzte, was er riechen sollte, würde Zombie-Ex sein. Ein silbriger Dunst umhüllte den Schädel gänzlich und die Sprühnebelsäure fraß sich als erstes durch die Augenhöhlen des Untoten. Einen Moment lang konnte Arty durch die Löcher hindurchschauen und sah dahinter weitere Elivers auftauchen – viele. Sehr viele.
Sie wartete nicht, bis einer herankam. Während sich der Kopf des Angreifers Stück für Stück auflöste, startete sie ihre Josy. Wie eine fliegende schwarze Spinne erhob sich ihr Helikopter Marke Eigenbau in den wolkenlosen Himmel – Vogelschwärme waren zum Glück auch keine in Sicht, erst neulich hatte sie eine sehr unangenehme Überraschung erlebt, was infizierte zerfledderte Federviecher anging, und war nur gerade eben so davongekommen – und knatterte davon, Richtung Tasmanien.
Elivers, der verdammt Name war für sie wie ein Zahnschmerz, der niemals aufhört. Das Wort LIVE steckte da drin, also LEBEN – ja waren die Wissenschaftler denn von allen guten Geistern verlassen?!
Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Wenn alles nach Plan lief, dann mussten Jason und Tim in diesem Augenblick tasmanischen Boden betreten. Arty schüttelte sich leicht. Sie hielt überhaupt nichts von dieser Idee. Jason hätte sich seine verdammten Bäume lieber woanders suchen sollen, wieso ausgerechnet auf Tassie Island? Zwar schien die Insel zombiefrei zu sein, aber sie war – unheimlich.
Und das lag natürlich an dem rauchenden Meteoritenkrater in ihrer Mitte. Arty selbst hätte niemals freiwillig einen Fuß auf den Boden Tasmaniens gesetzt. Sie hatte eine Ahnung, was auf der Insel vor sich ging, aber sogar sie, obwohl abgebrüht und nur sehr schwer aus der Fassung zu bringen, wollte das lieber nicht so genau wissen.
Ein einziger Ort existierte, den sie auf Tasmanien sogar recht regelmäßig aufsuchte, aber sie betrat den Boden auch dann nicht, sondern ließ nur ein Seil mit einem Eimer hinunter, während Josy in der Luft stand.
Erst als sie ziemlich hoch über dem Meer schwebte, nahm Artemis Callaghan ihre Gasmaske ab. Zum Vorschein kam ein schmales Gesicht, umrahmt von kastanienbraunem Haar, hinten lässig zu einem Pferdeschwanz gebunden – ihre Augen waren eisblau und ihr Unterkiefer passte nicht so recht zum Rest des Gesichts: Er war stark und kantig, sehr ausgeprägt. Was Jason zu wenig hatte, hatte Arty zuviel, so dass ihr Gesicht bestenfalls apart genannt werden konnte.
Ihre Stirn war sorgenvoll gerunzelt. Der überraschende Angriff der Zombiemeute auf den Felsenatollen hatte ihre Pläne durchkreuzt. Sie musste an Josy dringend etwas reparieren und verbessern.
Also wo jetzt? Holy Shit. Angestrengt hielt sie Ausschau nach einem sauberen Platz, einer Felseninsel, die diesmal hoffentlich auch wirklich REIN war.
Tasmanien, mit seinem trügerischen Grün.
Die dunkle Ahnung, die heftiger denn je über Arty herfallen wollte, ließ sich kaum noch verdrängen. Sicher, ihre Informationen waren bruchstückhaft und widersprüchlich. Aber hätte sie ihren alten Freund Jason nicht trotzdem deutlicher warnen sollen?
Ich hätte vielleicht doch mal einen Fuß auf Tassieland setzen sollen, dachte sie besorgt.
Aber nun war es zu spät.
*
Der feine, perfekte Sand knirschte unter ihren Füßen. Ein vollendeter, milder Frühlingstag, Lufttemperatur 19 Grad Celsius. Tim und Jason sahen sich aufmerksam um, das konnte heutzutage nie schaden, und zudem waren sie schließlich auf einer Forschungsmission, doch alles schien wunderbar normal.
Bereits jetzt fühlte sich Jason einer Heilung nahe, was verblüffend war. Wie magnetisch von ihnen angezogen, strebte er auf jene Eukalyptusbäume zu, denen der würzige frische Duft entströmte.
In ihrer Nähe zu sein, empfand er als wohltuend, aber den Knoten in ihm löste das noch nicht. Er hatte versucht, es Tim zu erklären.
Ein bestimmter Baum muss es sein. Wenn ich den finde, bleibe ich einen Tag und eine Mondnacht lang unter ihm und werde geheilt.
Gut, Tim war Poet, aber eigentlich kein Esoteriker. Auch der Freund hatte früher – bevor die entsetzlichen Clusterschmerzen seine Persönlichkeit veränderten – eher in der Liga der Realisten gespielt.
Sie verließen den Strand und die riesigen grünen Bäume verschluckten die zwei Männer, saugten sie auf.
Anfangs kamen sie gut voran. Sie entnahmen Boden- und Pflanzenproben, ihrem Forschungsauftrag gemäß, und alles schien ganz normal. Man vergaß hier beinahe, in welch grässlicher Bredouille sich fast der gesamte Erdball befand. Nun, Australien hielt sich noch – aber wer nur ein wenig Ahnung hatte beziehungsweise sich ein paar Gedanken darüber machte (und genau das hatten Tim und Jason getan), dem musste klar sein, das lag vor allem daran, dass der kleinste Kontinent so dünn besiedelt war. Wenig erstrebenswerte Beute für ReDead-V, dieses karge, fast menschenleere, durch seine Wüsten oft lebensfeindliche Land hob sich der Virus vermutlich bis zum Schluss auf.
„Sag mal, die Stelle des Einschlags sollen wir aber nicht untersuchen, oder?“, fragte Tim nach etwa einer Stunde und wies auf die Rauchsäule, die immer und überall deutlich sichtbar blieb.
„Nein“, erwiderte Jason, „natürlich nicht! Wir kommen noch nicht einmal in die Nähe. Obwohl nach allen Daten, die man noch so sammeln konnte, ja keinerlei Gefahr von dem Krater ausgeht.“
Tim fiel auf, dass seine Stimme hektisch und nervös klang; womöglich litt er an einem „Echo“, einer Begleiterscheinung der satanischen Cluster-Kopfschmerzen: Sie traten oft ein, zwei Tage nach dem eigentlichen Anfall auf, stellten eine Art Nachhall dar, schwach, aber immer noch ziehend wie Zahnschmerz im Gehirn. So hatte Jason es ihm beschrieben.
Tim wollte seinen Freund gerade danach fragen, als dieser krampfhaft auflachte und meinte: „Nach dem wenigen, was Arty mir erzählt hat, ist die Einschlagsstelle wohl wirklich harmlos. Unsere tollkühne Arty hält sich da allerdings ziemlich bedeckt! Keine Ahnung, was sie eigentlich genau treibt.“
Er ging voran auf dem schmalen Trampelpfad, der sich durch die Bäume schlängelte, und sah sich nach Tim um. Seine weißen Zähne blitzten im grünen Waldesdämmer.
„Nicht weit von hier ist übrigens eine Hütte. Da werden wir rasten.“
„Gut“, lächelte der Dichter und wischte sich Schweiß von der Stirn.
Unmerklich veränderte sich die Atmosphäre ringsum. War es Tim hier soeben noch erfrischend kühl vorgekommen, so fand er sie jetzt stickig. Und der gewaltige Baumriese da vorn mit rauer, grauer Borke, dessen Sorte er nicht bestimmen konnte: Er schien schwärzliche Schatten auszudünsten. Hier war zwar eine kleine Lichtung, doch das bedrückende Gefühl blieb. Flüchtig dachte er an den „Herrn der Ringe“. Das Buch, nicht den Film. Frodo, Samweis, Merry und Pippin unterwegs im Alten Wald. Lächerlich, wies Tim sich zurecht.
Ein rundes Blatt segelte hernieder, trieb nach links, nach rechts und legte sich auf Tims Handrücken.
Er schrie auf.
Schrie wie von Sinnen und versuchte das Blatt wegzuwischen, fahrig, ungeschickt mit der anderen Hand, denn der brennende und zugleich eisige Schmerz, der ihn durchzuckte, war höllisch.
„AAAAAAAAAAAAAH – verdammt!“, heulte er fluchend.
Jason stürzte besorgt zu ihm. „Was ist passiert?“
Das Blatt war in Tims Fleisch eingesunken, hatte ein sauberes Loch hineingestanzt, als ob es aus ätzender Säure bestanden hätte.
„Vorsicht!“, stöhnte Tim, der trotz seiner Schmerzen als erster sah, dass noch mehr Blätter herabregneten, und sie sprangen zur Seite, sahen, wie der Baum sich regelrecht schüttelte.
Da war aber doch überhaupt kein Wind!
Beide Männer starrten auf den Baumriesen, weit davon entfernt zu begreifen, was hier geschah.
Und dann kamen die Vögel. Ein ganzer Schwarm, und mit einigen von ihnen stimmte etwas nicht.
„Weg hier!“, brüllte Jason. „Weg weg weg, das sind Zombie-Vögel!“
Gleich darauf mussten sie jedoch erkennen, dass die eigentliche Gefahr woanders lauerte.
Die Ereignisse überschlugen sich; während Tim und Jason noch zurückwichen, halb in Panik, halb in Verwirrung, SAHEN sie, wie die Äste des Baumes sich ächzend und knirschend und grässlich SCHNELL nach den Vögeln ausstreckten und einen nach dem anderen vom Himmel pflückten und in Stücke rissen. Ganz gleich, ob infiziert oder nicht. Die Zweige packten Vogelfüße, wickelten sich um sie und schleuderten den halb zerfressenen Kadaver gegen den Stamm, in dem sich ein blutig-eitriger Spalt bildete und den Vogelleib verschluckte.
Der Anblick war so grotesk, so – surreal, dass die Freunde es kaum fassen konnten. Ihr Entsetzen wuchs ins Gigantische, als sie erkannten, dass dieser Baumriese nicht der einzige war, der … Nur ein Funke Geistesgegenwart flammte noch in Jason Chrome auf.
„ZUR HÜTTE!“, stieß er gellend hervor.
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Aus den „Saftigen Giftschleimmnotizen, philoccult“ von Ana Belle, Virologin und Universalforscherin
Manchmal sehe ich den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ich als Virologin, deren Fachgebiet das hier doch ist. Ich werde – betriebsblind. Dann fange ich an zu spinnen und sehe die Viren nicht mehr als das vor mir, was sie doch allem Anschein nach – wenn wir der Schulwissenschaft, der Schulmedizin trauen – sind.
Aber sammeln nicht auch wir hundsgewöhnlichen Wissenschaftler fast täglich neue Erkenntnisse, die die Grenzen dessen, was wir für möglich gehalten haben, weiter hinausschieben.
Neulich las ich von 30.000 Jahre alten im sibirischen Permafrost eingeschlossenen Viren, die, durch den Klimawandel aufgetaut, sich sogleich daran machten, Amöben zu infizieren und letztlich zu verilgen … und es sind RIESENVIREN, viel größer als alle Viren, die wir bislang kannten. Pithovirus sibericum, 1500 Nanometer im Umfang, fünfmal so groß wie das Pockenvirus. Ich fand das einigermaßen – beunruhigend. Jetzt vor dem Hintergrund des düsteren „Siegeszuges“, den ReDead-V offenbar im Begriff ist anzutreten, es sei denn, wir schaffen es, die Seuche einzudämmen, umso mehr.
Gibt es eine „Bruderschaft der Viren“? Verständigen sich die Viren untereinander? Immerhin existieren „gute“ Viren im menschlichen Darm oder in den Ozeanen. Was mögen die anderen Viren denken über den Eindringling ReDead-V, der wie eine Art Darth Vader sich daran macht, alle irdischen Verhältnisse umzukrempeln? Darth Vader ist der Handlanger des Imperators. Aber wer ist der Imperator??