H.P. Lovecraft
DIE KATZEN VON ULTHAR
Inhalt
Das Weiße Schiff
Celephais
Die Traumsuche nach dem unbekannten
Kadath
Der Silberschlüssel
Durch die Tore des Silberschlüssels
Die Katzen von Ulthar
Es heißt, in Ulthar, das jenseits des Flusses
Skai liegt, darf niemand eine Katze töten; und wenn ich sie
betrachte, die am Feuer sitzt und schnurrt, kann ich das durchaus
glauben. Denn die Katze ist kryptisch und vertraut mit seltsamen
Dingen, die den Menschen verborgen sind. Sie ist die Seele des
alten Aigyptos und Trägerin von Geschichten aus vergessenen Städten
in Meroe und Ophir. Sie ist vom Geschlecht der Herren des
Dschungels und Erbin der Geheimnisse des ehrwürdigen und sinistren
Afrika. Die Sphinx ist ihre Cousine, und sie spricht ihre Sprache;
aber sie ist viel älter als die Sphinx und erinnert sich an das,
was jene vergessen hat.
In Ulthar lebten, bevor die Bürger das Töten
von Katzen überhaupt verboten, ein alter Kätner und dessen Frau,
die ihr Vergnügen daran fanden, die Katzen ihrer Nachbarn in Fallen
zu fangen und umzubringen. Warum sie dies taten, ich weiß es nicht;
außer, daß vielen die Stimme der Katze in der Nacht verhaßt ist und
sie es übel aufnehmen, daß die Katzen im Zwielicht verstohlen über
Höfe und Gärten huschen. Doch aus welchem Grund auch immer, diesem
alten Mann und seiner Frau machte es Spaß, jede Katze zu fangen und
umzubringen, die in die Nähe ihrer elenden Hütte kam; und wegen
mancher Laute, die nach Einbruch der Dunkelheit erklangen, stellten
sich viele Einwohner vor, daß die Art des Umbringens mehr als
eigentümlich war. Doch die Leute sprachen mit dem alten Mann und
seiner Frau nicht über solche Dinge; das lag an dem habituellen
Ausdruck auf den verwelkten Gesichtern der beiden und daran, daß
ihre Hütte so klein war und so dunkel verborgen unter den Eichen
hinter einem vernachlässigten Hof lag. So sehr wie die
Katzenbesitzer diese merkwürdigen Leute haßten, fürchteten sie sie
in Wahrheit doch mehr; und anstatt sie als brutale Meuchelmörder
anzugehen, besorgten sie nur, daß sich kein umhegter Liebling oder
Mäusefänger zu dem abgelegenen Schuppen unter den dunklen Bäumen
verirrte. Wenn wegen eines unvermeidlichen Versehens eine Katze
vermißt wurde und nach Einbruch der Dunkelheit Laute erklangen,
dann lamentierte der Betroffene machtlos; oder tröstete sich damit,
dem Schicksal zu danken, daß es sich nicht um eines seiner Kinder
handelte, das so verschwunden war.
Denn die Leute von Ulthar waren einfältig und
wußten nicht, woher alle Katzen ursprünglich kamen.
Eines Tages betrat eine Karawane seltsamer
Wanderer aus dem Süden die engen
Kopfsteinpflasterstraßen Ulthars.
Dunkelhäutige Wanderer waren das und unähnlich dem anderen
umherstreifenden Volk, das zweimal jedes Jahr durch die Stadt zog.
Auf dem Marktplatz weissagten sie für Silber, und von den Händlern
kauften sie glänzende Perlen. Aus welchem Land die Wanderer
stammten, vermochte keiner zu sagen; doch zeigte sich, daß sie
seltsamen Gebeten zugetan waren, und daß sie auf die Seiten ihrer
Wagen merkwürdige Figuren mit menschlichen Körpern und den Köpfen
von Katzen, Falken, Widdern und Löwen gemalt hatten. Und der Führer
der Karawane trug einen Kopfputz mit zwei Hörnem und einer
eigentümlichen Scheibe dazwischen.
Zu dieser sonderbaren Karawane gehörte ein
kleiner Junge, der weder Vater noch Mutter hatte, nur ein winziges
schwarzes Kätzchen zum Liebhaben.
Die Pest war zu ihm nicht freundlich gewesen,
hatte ihm jedoch dies kleine bepelzte Wesen zur Linderung seines
Kummers gelassen; und wenn man sehr jung ist, kann man in den
lebhaften Possen eines schwarzen Kätzchens viel Trost finden. So
lächelte der Junge, den die dunkelhäutigen Leute Menes nannten,
viel öfter als er weinte, wenn er mit seinem anmutigen Kätzchen
spielend auf den Stufen eines wunderlich bemalten Wagens
saß.
Am dritten Morgen des Aufenthaltes der
Wanderer in Ulthar konnte Menes sein Kätzchen nicht finden; und als
er auf dem Marktplatz laut schluchzte, erzählten ihm gewisse
Dorfbewohner von dem alten Mann und seiner Frau und von den Lauten
in der Nacht. Und als er diese Dinge vernahm, wich sein Schluchzen
tiefem Nachdenken und schließlich einem Gebet. Er streckte seine
Arme der Sonne entgegen und betete in einer Sprache, die kein
Dorfbewohner verstehen konnte; allerdings bemühten sich die
Dorfbewohner auch nicht sehr darum, etwas zu verstehen, denn den
größten Teil ihrer Aufmerksamkeit beanspruchten der Himmel und die
unheimlichen Formen, die die Wolken annahmen. Es war sehr
sonderbar, doch als der kleine Junge seine Bitte hervorbrachte, da
schienen sich oben die schattenhaften, nebulösen Figuren von
exotischen Wesen zu bilden; von hybriden Geschöpfen, gekrönt mit
hornumrahmten Scheiben. Die Natur ist voll solcher Illusionen, die
auf die Einbildungskraft wirken.
In dieser Nacht verließen die Wanderer Ulthar
und wurden nie wieder gesehen. Und die Familienoberhäupter
beunruhigten sich, als sie bemerkten, daß in der ganzen Stadt nicht
eine Katze zu finden war. An allen Feuerstellen fehlten die
vertrauten Katzen; große Katzen und kleine, schwarze, graue,
getigerte, gelbe und weiße. Der alte Kranon, der Bürgermeister,
schwor, daß die dunkelhäutigen Leute die Katzen mit sich
fortgenommen hätten, aus Rache, weil Menes’ Kätzchen umgebracht
worden war; und er verfluchte die Karawane und den kleinen Jungen.
Aber Nith, der dürre Notar, erklärte, der alte Kätner und seine
Frau wären hierfür weitaus verdächtigere Personen; denn ihr
Katzenhaß sei notorisch und würde zunehmend dreister. Indes, keiner
wagte es, gegen das finstere Paar Klage zu führen; selbst dann
nicht, als der kleine Atal, der Sohn des Schankwirts, beteuerte, er
habe im Zwielicht alle Katzen von Ulthar auf jenem verfluchten Hof
unter den Bäumen gesehen, wie sie ganz langsam und feierlich einen
Kreis um die Hütte beschrieben, zwei und zwei nebeneinander, als
vollführten sie irgendein unerhörtes tierisches Ritual. Die
Dorfbewohner wußten nicht, wieviel sie einem so kleinen Jungen
glauben sollten; und obwohl sie befürchteten, daß das böse Paar den
Katzen den Tod angehext hatte, zogen sie es doch vor, den alten
Kätner erst dann zu schmähen, wenn sie ihn außerhalb seines dunklen
und abstoßenden Hofes träfen.
So legte sich Ulthar in unnützer Angst
schlafen; und als die Leute im Morgengrauen erwachten siehe da!
jede Katze war wieder an ihren gewohnten Herd zurückgekehrt! Große
und kleine, schwarze, graue, getigerte, gelbe und weiße, nicht eine
fehlte. Sehr geschmeidig und fett schienen die Katzen, und sie
schnurrten vernehmlich vor Wohlbehagen. Die Bürger besprachen die
Angelegenheit untereinander und verwunderten sich nicht wenig. Der
alte Kranon beharrte wieder darauf, es sei das dunkelhäutige Volk
gewesen, das sie fortgeführt habe, denn von der Hütte des alten
Mannes und seiner Frau würden keine Katzen lebendig zurückkommen.
Doch alle stimmten sie in einem Punkt überein: nämlich, daß die
Weigerung aller Katzen, ihre Fleischportionen zu verzehren oder
ihre Milchschüsselchen zu schlabbern, höchst sonderbar sei. Und
zwei volle Tage lang wollten die geschmeidigen, fetten Katzen von
Ulthar keine Nahrung anrühren, sondern nur am Feuer oder in der
Sonne dösen.
Es dauerte eine ganze Woche, ehe den
Dorfbewohnern auffiel, daß im Abenddämmer in den Fenstern der Hütte
unter den Bäumen kein Licht brannte. Dann meinte der dürre Nith,
daß keiner den alten Mann oder seine Frau seit der Nacht, in der
die Katzen verschwunden waren, mehr gesehen hätte. Noch eine Woche
später beschloß der Bürgermeister, seine Angst zu überwinden und
von Amts wegen die so befremdlich stille Behausung aufzusuchen,
wobei er sich jedoch darauf bedacht zeigte, Shang, den Hufschmied,
und Thul, den Steinmetz, als Zeugen mitzunehmen. Und als sie die
hinfällige Tür eingedrückt hatten, fanden sie nur dies: zwei
peinlich gesäuberte Skelette auf dem irdenen Fußboden und eine
Anzahl eigenartiger Käfer, die in den schattigen Ecken
umherkrochen.
Hernach gab es viel Gerede unter den Bürgern
von Ulthar. Zath, der Leichenbeschauer, disputierte des Langen und
Breiten mit Nith, dem dürren Notar; und Kranon und Shang und Thul
wurden mit Fragen überhäuft. Selbst der kleine Atal, der Sohn des
Schankwirts, wurde genauestens verhört und bekam ein Stück
Zuckerwerk zur Belohnung. Sie redeten von dem alten Kätner und
seiner Frau, von der Karawane der dunkelhäutigen Wanderer, vom
kleinen Menes und seinem schwarzen Kätzchen, von Menes’ Gebet und
vom Himmel während dieses Gebets, von den Taten der Katzen in der
Nacht als die Karawane fortzog, und von dem, was man später in der
Hütte unter den dunklen Bäumen in dem abstoßenden Hof
fand.
Und am Ende erließen die Bürger dies
bemerkenswerte Gesetz, von dem die Händler in Hatheg erzählen und
über das die Reisenden in Nir diskutieren; nämlich, daß in Ulthar
niemand eine Katze töten darf.
Das Weiße Schiff
Ich bin Basil Elton, der Wärter des
North-Point-Leuchtfeuers, das vor mir mein Vater und mein Großvater
hüteten. Weitab der Küste steht der graue Leuchtturm über
schleimigen, blinden Klippen, die man bei niedriger Flut sieht, bei
hoher jedoch nicht. Ein Jahrhundert lang sind an diesem Signalfeuer
die majestätischen Barken der Sieben Meere vorübergezogen. In den
Tagen meines Großvaters waren es viele; in den Tagen meines Vaters
schon weniger; und heute sind es so wenige, daß ich mich manchmal
seltsam allein fühle, so als wäre ich der letzte Mensch auf unserem
Planeten.
Damals kamen jene weißbesegelten Handelsschiffe
von fernen Küsten; von fernen, östlichen Küsten, wo warme Sonnen
scheinen und süße Düfte merkwürdige Gärten und prächtige Tempel
durchziehen. Die alten Kapitäne besuchten meinen Großvater oft und
erzählten ihm von diesen Dingen, die er wiederum meinem Vater
erzählte, und mein Vater mir, an langen Herbstabenden, wenn der
Wind unheimlich aus dem Osten heulte. Und in den Büchern, die man
mir gab, als ich jung und voller Staunen war, habe ich noch mehr
über diese und viele anderen Dinge gelesen.
Doch wundervoller als die Kenntnisse alter
Männer und die Kenntnisse der Bücher, sind die geheimen Kenntnisse
des Ozeans. Blau, grün, weiß oder schwarz; glatt, aufgewühlt oder
bergehoch; dieser Ozean ist nicht stumm.
Mein Leben lang habe ich ihn beobachtet und
ihm gelauscht, und ich kenne ihn gut. Zuerst erzählte er mir nur
die gewöhnlichen kleinen Geschichten von stillen Stranden und nahen
Häfen, doch mit den Jahren zeigte er sich freundlicher und sprach
von anderen Dingen. Manchmal haben sich im Zwielicht die grauen
Horizontdünste geteilt, um mir flüchtige Blicke in die jenseitigen
Räume zu gewähren; und manchmal wurde des Nachts die See klar und
phosphoreszierend, um mir flüchtige Blicke in die darunterliegenden
Räume zu gewähren. Und diese flüchtigen Blicke haben mir ebensooft
Räume gezeigt, die waren oder die sein könnten, wie die Räume, die
sind; denn der Ozean ist ungleich älter als die Berge, und
befrachtet mit den Erinnerungen und Träumen der Zeit. Von Süden her
war es, daß das Weiße Schiff zu kommen pflegte, wenn der Mond voll
und hoch am Himmel stand. Von Süden her glitt es sehr sanft und
still über das Meer.
Gleichgültig ob die See rauh oder ruhig, der
Wind freundlich oder widrig war, es glitt immer sanft und still
dahin, mit seinen fernen Segeln und den langen, sonderbaren
Ruderreihen, die sich rhythmisch bewegten. Eines Nachts erspähte
ich an Deck einen Mann, bärtig und in Roben gekleidet, und er
schien mich aufzufordern, mich nach fernen, unbekannten Küsten
einzuschiffen. Ich sah ihn noch viele Male danach unter dem
Vollmond, und immer winkte er mir einladend zu.
In der Nacht, als ich der Aufforderung
folgte, leuchtete der Mond sehr hell, und ich schritt auf einer
Brücke aus Mondscheinstrahlen über das Wasser, hinaus zu dem Weißen
Schiff. Der Mann, der mir zugewinkt hatte, hieß mich jetzt in einer
weichen Sprache, die ich gut zu kennen schien, willkommen, und die
Stunden waren von den weichen Liedern der Ruderer erfüllt, während
wir einem mysteriösen Süden, golden im Glanz jenes vollen, milden
Mondes, zusegelten.
Und als der Tag rosig und strahlend dämmerte,
schaute ich die blühende Küste ferner Länder, herrlich und schön
und mir nicht bekannt. Vom Meer stiegen stolze, baumbestandene
Grünterrassen hoch, und hier und dort blitzten die weißen Dächer
und Kolonnaden fremdartiger Tempel. Als wir uns der blühenden Küste
näherten, erzählte mir der bärtige Mann von diesem Land, dem Lande
Zar, wo sich all die schönen Träume und Gedanken aufhalten, die nur
einmal zum Menschen kommen und dann vergessen werden. Und als ich
wieder auf die Terrassen blickte, fand ich, daß er die Wahrheit
sprach, denn unter den vor mir hingebreiteten Ansichten war vieles,
was ich einst durch die Nebel jenseits des Horizonts und in den
phosphoreszierenden Tiefen des Ozeans gesehen hatte. Es gab auch
Formen und Phantasien, die herrlicher waren als alles, was ich je
gekannt hatte; die Visionen junger Dichter, die in Armut starben,
ehe die Welt erfahren konnte, was sie geschaut und geträumt hatten.
Doch wir setzten auf die ansteigenden Auen von Zar keinen Fuß, denn
es heißt, daß, wer sie betritt, nie mehr zu seiner heimatlichen
Küste zurückkehren dürfe.
Als das Weiße Schilf still von den
Tempelterrassen von Zar davonsegelte, entdeckten wir
voraus am fernen Horizont die Spitztürme
einer mächtigen Stadt; und der bärtige Mann sagte zu mir: »Dies ist
Thalarion, die Stadt der Tausend Wunder, in der all jene Mysterien
residieren, die der Mensch vergeblich zu ergründen gesucht hat.«
Und als ich aus geringerer Entfernung wieder hinblickte, sah ich,
daß die Stadt größer war, als jede andere Stadt, die ich bislang
gekannt oder im Traum geschaut hatte. Die Türme ihrer Tempel
reichten bis in den Himmel, so daß niemand ihre Spitzen zu sehen
vermochte, und weit hinten am Horizont erstreckten sich grimme,
graue Mauern, über die man nur einige wenige Dächer erspähen
konnte, geisterhaft und ominös, und doch mit reichen Friesen und
verführerischen Skulpturen geschmückt. Es verlangte mich sehr,
diese faszinierende und zugleich abstoßende Stadt zu betreten, und
ich flehte den Bärtigen an, mich an dem glänzenden Pier bei dem
gewaltigen, gemeißelten Tor Akariel an Land zu setzen; aber er
schlug mir meine Bitte freundlich ab, indem er sagte: »Thalarion,
die Stadt der Tausend Wunder, haben viele betreten, aber keiner ist
zurückgekehrt. In ihr wandeln nur Dämonen und irrsinnige Wesen, die
keine Menschen mehr sind, und die Straßen sind weiß von den
unbestatteten Gebeinen jener, die auf das Eidolon Lathi geblickt
haben, das über die Stadt regiert.« So segelte das Weiße Schiff an
den Mauern von Thalarion vorbei und folgte viele Tage einem
südwärtsfliegenden Vogel, dessen leuchtendes Gefieder dem Himmel
glich, aus dem er gekommen war.
Wir gelangten dann zu einer heiteren, mit
Blüten, aller Tönungen geputzten Küste, wo sich, so weit wir ins
Landesinnere schauen konnten, liebliche Haine und prunkende
Obstgärten unter einer mittäglichen Sonne wärmten.
Aus unserem Blick verborgenen Lauben
schallten Lieder und Bruchstücke lyrischer Harmonien, vermischt mit
so entzückendem Gelächter, daß ich in meinem Eifer die Ruderer
anspornte, jenen Schauplatz zu erreichen. Und der bärtige Mann
sagte kein Wort, sondern beobachtete mich nur, als wir uns dem
liliengesäumten Ufer näherten. Plötzlich trieb ein Wind, der über
die Blumenwiesen und Laubwälder strich, einen Geruch herüber, der
mich erzittern ließ. Der Wind schwoll an, und die Luft füllte sich
mit dem lethalen Grabesgestank pestbefallener Städte und
offenliegender Friedhöfe. Und als wir wie rasend von jener
verdammungswürdigen Küste absegelten, sprach der bärtige Mann
schließlich und sagte: »Dies ist Xura, das Land Unerreichter
Wonnen.«So folgte das Weiße Schiff erneut dem Himmelsvogel, über
warme gesegnete Meere, die liebkosende, aromatische Brisen
umfächelten. Tag auf Tag und Nacht für Nacht segelten wir und
lauschten bei Vollmond den weichen Liedern der Ruderer, die so süß
klangen wie in jener weit zurückliegenden Nacht, als wir von meiner
fernen, heimatlichen Küste absegelten. Und bei Mondschein ankerten
wir schließlich auch im Hafen von Sona-Nyl, der von
Zwillingsvorgebirgen aus Kristall bewacht wird, die der See
entsteigen und sich zu einem funkelnden Bogen vereinigen. Dies ist
das Land der Phantasie, und über eine goldene Brücke aus
Mondscheinstrahlen schritten wir an das grünende Ufer.
Im Lande Sona-Nyl existiert weder Zeit noch
Raum, weder Leid noch Tod; und dort weilte ich viele Äonen. Grün
sind die Haine und Triften, leuchtend und duftig die Blumen, blau
und voller Musik die Ströme, rein und kühl die Fontänen, stattlich
und prachtvoll die Tempel, Schlösser und Städte von Sona-Nyl.
Dieses Land kennt keine Grenzen, denn hinter jedem schönen
Durchblick eröffnet sich ein neuer, noch schönerer. Über das Land
und durch die Herrlichkeit der Städte schweifen ungezwungen die
glücklichen Bewohner, denen allen makellose Anmut und lauteres
Glück geschenkt ist.
Während der Äonen, die ich dort weilte,
streifte ich wonnevoll durch Gärten, wo schmucke Pagoden aus
hübschen Buschgruppen lugen, und wo die weißen Wege mit delikaten
Blüten gesäumt sind. Ich stieg auf sanfte Berge, von deren Kuppen
sich nur die Aussicht auf überwältigende Panoramen voller
Lieblichkeit bot, mit turmgekrönten Städten, die sich in fruchtbare
Täler schmiegten und mit goldenen Domen gigantischer Städte, die am
unendlich fernen Horizont glitzerten. Und im Mondschein betrachtete
ich die funkelnde See, die kristallenen Vorgebirge und den stillen
Hafen, wo das Weiße Schiff vor Anker lag.
Gegen den Vollmond war es auch, daß ich in
einer Nacht im unvordenklichen Jahre Tharb, die auffordernde
Gestalt des himmlischen Vogels sah und die ersten Regungen der
Unrast spürte. Dann sprach ich mit dem bärtigen Mann und erzählte
ihm von meinem neuen Verlangen, nach dem entfernten Cathuria
aufzubrechen, das kein Mensch gesehen hat, von dem jedoch alle
glauben, es liege hinter den Basaltsäulen des Westens. Es ist das
Land der Hoffnung, und in ihm leuchten die vollkommenen Ideale all
dessen, was wir anderswo kennen; so sagen die Leute wenigstens.
Doch der bärtige Mann antwortete mir: »Hütet Euch vor jenen
gefahrvollen Meeren, in denen Cathuria angeblich liegen soll. In
Sona-Nyl gibt es weder Schmerz noch Tod, aber wer vermag zu sagen,
was hinter den Basaltsäulen des Westens liegt?« Nichtsdestoweniger
begab ich mich beim nächsten Vollmond an Bord des Weißen Schiffes
und verließ zusammen mit dem widerstrebenden bärtigen Mann den
glücklichen Hafen mit Kurs auf unbereiste Meere.
Und der Vogel des Himmels flog voran und
rührte uns zu den Basaltsäulen des Westens, doch diesmal sangen die
Ruderer keine weichen Lieder unter dem vollen Mond. Im Geist malte
ich mir oft das unbekannte Land Cathuria mit seinen prächtigen
Hainen und Palästen aus und fragte mich, welche neuen Freuden mich
dort wohl erwarteten. »Cathuria«, pflegte ich mir zu sagen, »ist
die Wohnstatt der Götter und das Land ungezählter Städte aus Gold.
In seinen Wäldern wachsen Sandelbäume und Aloen, genauso wie in den
duftenden Hainen von Camorin, und zwischen den Bäumen flattern
bunte Vögel mit süßem Gesang. Auf den grünen und blumigen Bergen
von Cathuria stehen Tempel aus blaßrotem Marmor, sie sind üppig mit
gemeißelten und gemalten Herrlichkeiten verziert, und ihre
Innenhöfe schmücken kühle Silberfontänen, wo die wohlriechenden
Wasser des grottengeborenen Flusses Narg eine entzückende Melodie
summen. Und die Städte Cathuriens sind mit goldenen Mauern
umgürtet, und auch ihre Pflaster sind von Gold. Die Gärten dieser
Städte bergen sonderbare Orchideen und parfümierte Teiche, deren
Becken aus Koralle und Bernstein sind. Nachts werden die Straßen
und die Gärten von fröhlichen Laternen erleuchtet, die aus dem
dreifarbigen Panzer einer Schildkröte gefertigt sind, und hier
ertönen die weichen Klänge der Sänger und Lautenspieler. Und die
Häuser der Städte in Cathuria sind Paläste, jedes über einem
duftenden Kanal erbaut, der die Wasser des heiligen Narg führt. Aus
Marmor und Porphyr sind die Häuser und mit gleißendem Gold gedeckt,
das die Sonnenstrahlen reflektiert und so die Pracht der Städte
erhöht, wenn von fernen Gipfeln glückselige Götter auf sie
herniederschauen. Am schönsten von allem ist der Palast des
mächtigen Monarchen Dorieb, den einige für einen Halbgott, andere
für einen Gott halten. Hochgebaut ist der Palast des Dorieb, und
zahlreich sind die Marmortürme auf seinen Wällen. In seinen
weitläufigen Hallen versammeln sich große Menschenmengen, und hier
hängen die Trophäen der Zeitalter. Und das Dach besteht aus purem
Gold, riesige Säulen aus Rubin und Azur stützen es, und auf ihm
thronen solch gemeißelte Götter-und Heldenfiguren, daß, wer in
diese Höhe hinaufblickt, meint, den wahrhaftigen Olymp zu schauen.
Und der Fußboden des Palastes ist aus Glas, unter dem die kunstvoll
erleuchteten Wasser des Narg fließen, voll munterer Fische, die
jenseits der Grenzen des liebreichen Cathuria nicht bekannt
sind.«
So pflegte ich mir selbst von Cathuria zu
schwärmen, doch immer riet mir der bärtige Mann, zu den glücklichen
Gestaden von Sona-Nyl zurückzukehren; denn Sona-Nyl sei den
Menschen bekannt, Cathuria hingegen habe niemand jemals
geschaut.
Und am einunddreißigsten Tag, den wir dem
Vogel folgten, sahen wir die Basaltsäulen des Westens. Sie waren in
Nebel gehüllt, so daß keiner darüber hinausschauen oder ihre
Spitzen sehen konnte, die, wie manche wirklich behaupten, bis in
den Himmel reichen. Und der bärtige Mann beschwor mich, wieder
umzukehren, doch ich achtete seiner nicht; denn aus den Nebeln
jenseits der Basaltsäulen glaubte ich die Klänge der Sänger und
Lautenspieler zu vernehmen; süßer als die süßesten Lieder Sona-Nyls
waren sie und mir zum Preise gesungen; mir zum Preise, der ich weit
fort vom Vollmond gereist war und im Lande der Phantasie geweilt
hatte. So segelte das Weiße Schiff zum Klang der Melodie in die
Nebel zwischen den Basaltsäulen des Westens. Und als die Musik
abbrach und die Nebel stiegen, schauten wir nicht das Land
Cathuria, sondern eine reißende, unwiderstehliche See, über die
unsere hilflose Barke zu einem unbekannten Ziel getragen wurde.
Bald drang an unsere Ohren der ferne Donner stürzender Wasser, und
vor unseren Augen tauchte voraus am fernen Horizont die Gischt
eines monströsen Kataraktes auf, in dem die Ozeane der Welt ins
bodenlose Nichts taumeln. Da sprach der bärtige Mann mit Tränen auf
den Wangen zu mir: »Wir haben das schöne Land Sona-Nyl verschmäht,
das wir nie mehr schauen werden. Die Götter sind mächtiger als die
Menschen, und sie haben gesiegt.« Und ich verschloß die Augen vor
dem Krachen, von dem ich wußte, es würde kommen, und verbannte den
Anblick des himmlischen Vogels, der seine spöttisch-blauen
Schwingen über dem Rand des Sturzbachs schlug.
Aus jenem Krachen erwuchs Dunkelheit, und ich
hörte das Kreischen von Menschen und von Wesen, die keine Menschen
waren. Aus Osten tosten stürmische Winde heran, die mich vor Kälte
erstarren ließen, als ich mich auf der klammen Steinplatte
zusammenkauerte, die unter meinen Füßen entstanden war. Beim
zweiten Krachen schlug ich die Augen auf und fand mich auf der
Plattform jenes Leuchtturms wieder, von dem ich vor so vielen Äonen
abgesegelt war. Unten in der Dunkelheit zeichneten sich die
gewaltigen, verschwommenen Umrisse eines Schiffes ab, das an den
grausamen Felsen zerschellte; und als ich über die Verheerung
hinblickte, sah ich, daß das Licht zum erstenmal erloschen war,
seit mein Großvater seine Wartung übernommen hatte.
Und in den späteren Nachtwachen, als ich das
Turminnere aufsuchte, entdeckte ich einen Kalender an der Wand, der
noch dasselbe Datum zeigte wie zu der Stunde, da ich davonsegelte.
Mit der Dämmerung stieg ich den Turm hinab und suchte auf den
Felsen nach Schiffstrümmem, doch ich fand nur dies: einen seltsamen
toten Vogel, dessen Farbe die des azurnen Himmels war, und eine
einzige, zerbrochene Spiere von einem Weiß, das das der Wellenkämme
oder das des Bergschnees übertraf.
Und danach erzählte mir der Ozean seine
Geheimnisse nicht mehr; und obwohl der Mond seitdem viele Male voll
und hoch vom Himmel schien, kehrte das Weiße Schiff aus dem Süden
nie wieder.
Celephais
Im Traum sah Kuranes die Stadt im Tal und die
Meeresküste dahinter und den schneeigen Gipfel, der die See
überschaut, und die buntbemalten Galeeren, die aus dem Hafen nach
entfernten Gefilden segeln, wo sich die See dem Himmel vermählt. Im
Traum auch war es, daß er seinen Namen Kuranes erlangte, denn im
wachen Leben trug er einen anderen. Vielleicht war es ganz
natürlich für ihn, daß er sich einen neuen Namen erträumte; denn er
war der letzte Sproß seiner Familie und allein unter den
gleichgültigen Millionen Londons; und also gab es nur wenige, die
mit ihm sprachen und ihn an seine Herkunft erinnerten. Sein Geld
und seine Ländereien hatte er verloren, und um die Leute aus der
Nachbarschaft scherte er sich nicht, sondern zog es vor, zu träumen
und über seine Träume zu schreiben. Die Leute, denen er seine
Arbeiten zeigte, lachten darüber, so daß er nach einer Weile nur
noch für sich selbst schrieb und schließlich ganz damit aufhörte.
Je mehr er sich von seiner Umwelt zurückzog, desto wundervoller
wurden seine Träume; und es wäre völlig nutzlos gewesen, sie zu
Papier bringen zu wollen. Kuranes war nicht modern, und er dachte
auch nicht wie andere Menschen, die schrieben. Während sie sich
bemühten, das Leben von seinen bestickten Roben des Mythos zu
entkleiden und in nackter Häßlichkeit jenes widerwärtige Ding mit
Namen Realität zu zeigen, suchte Kuranes ausschließlich nach
Schönheit. Wo Wahrheit und Erfahrung sie nicht zu enthüllen
vermochten, suchte er sie in der Phantasie und Illusion und fand
sie vor seiner eigenen Türschwelle zwischen den verschwommenen
Erinnerungen an die Geschichten und Träume seiner Kindheit.
Nur wenig Leute wissen um die Wunder, die
sich ihnen in den Geschichten und Träumen ihrer Jugend offenbaren;
denn wenn wir als Kinder lauschen und träumen, denken wir
halbbewußte Gedanken, und wenn wir uns als Männer zu erinnern
versuchen, macht uns das Gift des Lebens stumpf und prosaisch. Doch
einige von uns erwachen des Nachts mit sonderbaren Phantasmen von
verwunschenen Hügeln und Gärten, in der Sonne singenden Fontänen,
goldenen Klippen, die über murmelnden Meeren hängen. Ebenen, die
sich hinuntererstrecken zu Städten aus Bronze und Stein und von
schattengleichen Heldengemeinschaften, die auf geharnischten,
weißen Rössem an dichten Waldsäumen entlangreiten; und dann wissen
wir, daß wir durch die Elfenbeintore zurück in jene Welt des
Wunders geschaut haben, die uns gehörte, ehe wir weise und
unglücklich wurden.
Kuranes stieß ganz plötzlich auf die alte Welt
seiner Kindheit. Er hatte von dem Haus geträumt, in dem er geboren
wurde; das große, efeubewachsene Steinhaus, wo dreizehn
Generationen seiner Vorfahren gelebt und er zu sterben gehofft
hatte. Der Mond schien, und er hatte sich in die duftende
Sommernacht hinausgestohlen, durch die Gärten, die Terrassen hinab,
vorbei an den mächtigen Eichen des Parks und die lange, weiße
Straße zum Dorf hinunter. Das Dorf wirkte sehr alt, am Rand
angenagt wie der abnehmende Mond oben, und Kuranes fragte sich, ob
die spitzen Giebel der kleinen Häuser Schlaf oder Tod deckten. Auf
den Straßen standen lange Grasspeere, und die Fensterscheiben zu
beiden Seiten waren zerbrochen oder glotzten spinnwebverhangen.
Kuranes hatte nicht getrödelt, sondern war unverdrossen
weitermarschiert, so als sei er an ein Ziel befohlen. Er wagte es
nicht, sich der Aufforderung zu verweigern, aus Furcht, sie könne
sich als eine Illusion erweisen, so wie die Bedürfnisse und
Hoffnungen des wachen Lebens, die nirgendwohin führen. Dann war er
eine Gasse hinuntergezogen worden, die von der Dorfstraße zu den
Kanalklippen abbog, und ans Ende der Dinge gekommen zu der
Steilklippe und dem Abgrund, wo das ganze Dorf und die ganze Welt
abrupt in die endlose Leere der Unendlichkeit fielen und wo sogar
der Himmel leer und unerleuchtet vom zerbröckelnden Mond und den
aufscheinenden Sternen war. Vertrauen hafte ihn weiter getrieben,
über die Klippe und in den Schlund, den er langsam hinabgesunken
war, hinab, hinab; vorbei an dunklen, formlosen ungeträumten
Träumen, matt schimmernden Sphären, die zum Teil geträumte Träume
gewesen sein mochten, und lachenden, geflügelten Wesen, die den
Träumern aller Welten zu spotten schienen. Dann öffnete sich in der
Dunkelheit vor ihm ein Riß, und er sah die Stadt im Tal, wie sie
tief, tief unten strahlend glitzerte, vor einem Hintergrund aus See
und Himmel und einem schneebekappten Berg nahe der Küste.
Kuranes war in jenem Moment erwacht, da er
die Stadt schaute, dennoch wußte er durch seinen flüchtigen Blick,
daß es keine andere sein konnte, als nur Celephais im Tale von
OothNargai hinter den Tanarischen Bergen, wo sein Geist die ganze
Ewigkeit einer Stunde eines lang vergangenen Sommertages geweilt
hatte, als er seinem Kindermädchen entwischt war und sich von der
warmen Meeresbrise hatte in Schlaf lullen lassen, während er von
dem Kliff nahe des Dorfes die Wolkenzüge betrachtete. Er hatte
damals protestiert, als sie ihn gefunden, geweckt und nach Hause
getragen hatten, denn gerade als sie ihn wachrüttelten, war er im
Begriff gewesen, in einer goldenen Galeere zu jenen lockenden
Gefilden zu segeln, wo sich die See dem Himmel vermählt. Und jetzt
grollte er ebenso über sein Erwachen, denn nach vierzig
beschwerlichen Jahren hatte er seine fabelhafte Stadt
gefunden.
Doch drei Nächte später kam Kuranes erneut
nach Celephais. Wie zuvor träumte er zuerst von dem schlafenden
oder toten Dorf, und von dem Abgrund, den er still hinabtreiben
mußte; dann erschien der Riß wieder, und er schaute die gleißenden
Minarette der Stadt und sah die schlanken Galeeren in dem blauen
Hafen vor Anker schaukeln und betrachtete die Ginkgobäume, die.
sich auf Mount Aran in der Seebrise wiegten. Aber diesmal wurde er
nicht fortgerissen, sondern schwebte wie ein geflügeltes Wesen
allmählich auf eine grasige Hügelflanke nieder, bis seine Füße
sanft auf dem Rasen ruhten. Er war wahrlich und wahrhaftig in das
Tal von Ooth-Nargai und zu der glänzenden Stadt Celephais
zurückgekehrt.
Den Hügel hinab, durch wohlriechende Gräser
und feurige Blumen schritt Kuranes, über den burrbelnden Naraxa auf
der schmalen Holzbrücke, in die er vor so vielen Jahren seinen
Namen geschnitzt hatte, und durch den wispernden Hain zu der großen
Steinbrücke beim Stadttor. Alles war wie einst, und es hatten sich
weder die Marmormauem verfärbt, noch waren die Bronzestatuen auf
ihnen angelaufen. Und Kuranes merkte, daß er nicht befürchten
mußte, daß die Dinge, die er kannte, verschwunden waren; denn
selbst die Posten auf den Schutzwällen waren dieselben geblieben
und noch genau so jung, wie er sie in Erinnerung hatte. Als er die
Stadt betrat, durch die Bronzetore und über das Onyxpflaster,
grüßten ihn die Kaufherren und Kameltreiber, als sei er nie
fortgewesen; und so war es auch beim Türkistempel von NathHorthath,
wo ihm die orchideenbekränzten Priester erzählten, es gebe in
Ooth-Nargai keine Zeit, nur ewige Jugend. Dann ging Kuranes durch
die Straße der Säulen zu der meernahen Mauer, dem Treffpunkt von
Händlern und Seefahrern und merkwürdigen Leuten aus Gefilden, wo
sich die See dem Himmel vermählt. Dort verweilte er lange und
blickte über den strahlenden Hafen hinaus, wo die Kräuselwellen
unter einer unbekannten Sonne funkelten und wo die Galeeren von
fernen Plätzen flink über das Wasser zogen. Und er schaute auch zum
Mount Aran, der sich königlich von der Küste erhob, und auf seinen
unteren Hängen wiegten sich grüne Bäume, und sein weißer Gipfel
berührte den Himmel.
Mehr denn je wünschte sich Kuranes, in einer
Galeere zu den fernen Plätzen zu segeln, von denen er so viele,
seltsame Geschichten vernommen hatte, und er suchte wieder nach dem
Kapitän, der ihn vor so langem hatte mitnehmen wollen. Er fand den
Mann, Athib, auf derselben Gewürzkiste sitzen, auf der er damals
gesessen hatte, und Athib schien nicht zu merken, daß Zeit
verstrichen war. Dann ruderten die beiden zu einer Galeere im
Hafen, gaben der Mannschaft Befehle und segelten langsam in die
wogende Cerenäische See hinaus, die in den Himmel führt. Mehrere
Tage lang glitten sie schaukelnd über das Wasser, bis sie
schließlich am Horizont anlangten, wo sich die See dem Himmel
vermählt. Hier machte die Galeere nicht etwa halt, sondern trieb
zwischen rosenfarbigen Schäfchenwolken mühelos in das Blau des
Himmels. Und weit unter dem Kiel konnte Kuranes fremde Länder und
Ströme und Städte von unübertrefflicher Schönheit sehen, die sich
sorglos im Sonnenschein ausbreiteten, der nie nachzulassen oder zu
vergehen schien. Zuletzt sagte ihm Athib, daß das Ende ihrer Reise
nahe und daß sie bald in den Hafen von Serannian einlaufen würden,
der nelkenfarbenen Marmorstadt der Wolken, erbaut an der
ätherischen Küste, wo der Westwind in den Himmel fließt; doch als
der luftigste der gemeißelten Türme der Stadt in Sicht kam, erklang
irgendwo im Raum ein Geräusch, und Kuranes erwachte in seiner
Londoner Mansarde. Viele Monate lang suchte Kuranes anschließend
vergeblich die wunderbare Stadt Celephais und ihre himmelwärts
segelnden Galeeren, und obwohl ihn seine Träume an viele
prachtvolle und unerhörte Stätten trugen, konnte ihm niemand, dem
er begegnete, sagen, wie Ooth-Nargai hinter den Tanarischen Bergen
zu finden sei. Eines Nachts flog er über dunklen Gebirgen dahin, wo
er fahle, einsame und weitverstreute Lagerfeuer sah und seltsam
zottige Herden, deren Leittiere klingende Glöckchen trugen; und in
den wildesten Regionen dieses bergigen Landes, so abgelegen, daß es
nur wenige Menschen jemals gesehen haben können, fand er einen
gräßlichen uralten Wall oder Steindamm, der sich im Zickzack über
die Kämme und Täler wand; er war zu gigantisch, um von Menschenhand
errichtet zu sein, und von solcher Länge, daß man weder Anfang noch
Ende entdeckte. Jenseits der Mauer gelangte er im grauen
Dämmerlicht in ein Land schmucker Gärten und Kirschbäume, und als
die Sonne aufging, offenbarte sich ihm eine solche Schönheit roter
und weißer Blumen, grüner Laubdächer und Rasenflächen, weißer
Pfade, diamantener Bäche, blauer Teiche, gemeißelter Brücken und
rotgedeckter Pagoden, daß er in hellem Entzücken die Stadt
Celephais für einen Augenblick vergaß. Doch er entsann sich ihrer
wieder, als er einen weißen Pfad hinunter auf eine rotgedeckte
Pagode zuschritt, und würde die Menschen dieses Landes nach ihr
befragt haben, hätte er nicht herausgefunden, daß es dort keine
Menschen gab, sondern nur Vögel und Bienen und Schmetterlinge. In
einer anderen Nacht stieg Kuranes eine feuchte, steinerne
Wendeltreppe endlos empor und kam zu einem Turmfenster, das eine
gewaltige Ebene und einen mächtigen Strom im Licht des Vollmonds
überschaute; und im Aussehen und der Anlage der stillen Stadt, die
sich vom Flußufer fortzog, glaubte er etwas ihm bereits Bekanntes
zu entdecken. Er wäre hinabgestiegen und hätte sich nach dem Weg
nach Ooth-Nargai erkundigt, wäre nicht von einem entlegenen Ort
jenseits des Horizontes eine fürchterliche Morgenröte hochgesprüht,
die den Zerfall und die Altertümlichkeit der Stadt, den stockenden,
verschilften Strom und den Tod enthüllt hätte, der über diesem Land
lag, so wie er dort gelegen hat, seit König Kynaratholis von seinen
Eroberungszügen nach Hause kehrte, um von der Rache der Götter
ereilt zu werden.
So forschte Kuranes vergebens nach der
wunderbaren Stadt Celephais und ihren Galeeren, die gen Serannian
in den Himmel segeln, lernte unterdessen viele Wunder kennen und
entkam einmal mit knapper Not dem unbeschreibbaren Hohepriester,
der eine gelbe Seidenmaske vor dem Gesicht trägt und gefährtenlos
in einem prähistorischen Steinmonasterium auf dem Eiswüstenplateau
von Leng haust. Mit der Zeit wurde er über die öden Tagesintervalle
so ungehalten, daß er begann, Drogen zu erstehen, um seine
Schlafperioden zu verlängern. Haschisch leistete ihm gute Dienste
und sandte ihn einmal in einen Teil des Alls, wo keine Formen
existieren und wo glühende Gase die Geheimnisse des Seins
ergründen. Und ein violettes Gas erklärte ihm, daß dieser Teil des
Alls außerhalb dessen läge, was er Unendlichkeit nenne. Das Gas
hatte vorher nie von Planeten und Organismen gehört und
identifizierte Kuranes bloß als etwas aus der Unendlichkeit, wo
Materie, Energie und Gravitation existieren. Kuranes bemühte sich
jetzt sehr intensiv darum, ins minarettbesetzte Celephais
zurückzukehren und erhöhte die Dosis der Drogen; doch schließlich
besaß er kein Geld mehr, um sich Drogen zu kaufen. Eines
Sommertages dann wurde er aus seinem Mansardenzimmer geworfen, und
er streifte ziellos durch die Straßen und trieb über eine Brücke in
eine Gegend, wo die Häuser vereinzelter standen. Und hier vollzog
sich die Erfüllung, und er begegnete dem Ehrengeleit der Ritter,
die aus Celephais gekommen waren, ihn auf immer dorthin zu
tragen.
Stattliche Ritter waren es, auf Rotschimmeln
und in glänzenden Rüstungen mit wunderlich blassonierten
Wappenröcken aus goldgemustertem Zeug. So zahlreich waren sie, daß
Kuranes sie beinahe mit einer Armee verwechselte, doch sie waren
ihm zu Ehren gesandt; denn er hatte Ooth-Nargai in seinen Träumen
erschaffen, und dafür sollte er nun für alle Zeit zu seinem
obersten Gott ernannt werden. Dann gaben sie Kuranes ein Pferd und
stellten ihn an die Spitze der Kavalkade, und alle ritten
majestätisch durch die Niederungen von Surrey und weiter in jene
Gegend, wo Kuranes und seine Vorfahren geboren wurden. Es wirkte
eigentümlich, doch als die Reiter weiterstürmten, schienen sie
rückwärts durch die Zeit zu galoppieren; denn jedesmal, wenn sie im
Zwielicht durch ein Dorf ritten, sahen sie nur solche Häuser und
Bewohner, wie sie Chaucer oder Menschen vor ihm gesehen haben
mochten, und manchmal trafen sie Ritter zu Pferd, die kleine
Vasallenhaufen anführten. Als es dunkelte, reisten sie geschwinder,
bis sie bald wie durch die Lüfte flogen. Im trüben Morgendämmer
erreichten sie jenes Dorf, das Kuranes in seiner Kindheit voller
Leben gesehen hatte und schlafend oder tot in seinen Träumen. Jetzt
lebte es, und frühaufgestandene Dorfbewohner verneigten sich, als
die Reiter die Straße hinabklapperten und in die Gasse abbogen, die
im Abgrund der Träume endet. Kuranes hatte den Abgrund bislang nur
nachts aufgesucht und fragte sich, wie er wohl bei Tage aussähe;
deshalb blickte er voller Neugier, als sich die Kolonne dem Rand
näherte.
Gerade als sie das zum Absturz hin
ansteigende Land hinaufgaloppierten, stieg irgendwo aus dem Westen
ein goldener Glanz und verbarg die ganze Landschaft hinter
strahlenden Draperien. Der Abgrund glich einem siedenden Chaos
rosenfarbener und himmelblauer Pracht, und unsichtbare Stimmen
sangen frohlockend, als die ritterliche Entourage über den Rand
setzte und anmutig hinabschwebte, vorbei an glitzernden Wolken und
silbrigen Blitzen. Endlos hinab trieben die Reiter, und ihre Rosse
trommelten im Äther, als galoppierten sie über goldene Dünen; und
dann teilten sich die luminösen Dämpfe, um eine größere
Herrlichkeit zu entdecken, die Herrlichkeit der Stadt Celephais und
der Meeresküste dahinter und des schneeigen Gipfels, der die See
überschaut, und der buntbemalten Galeeren, die aus dem Hafen nach
fernen Gefilden segeln, wo sich die See dem Himmel
vermählt.
Und danach regierte Kuranes über Ooth-Nargai
und alle benachbarten Regionen des Traums und hielt abwechselnd Hof
in Celephais und dem wolkengestaltigen Serannian. Er regiert noch
immer dort und wird auf ewig glücklich regieren, obwohl am Fuße der
Klippen bei Innsmouth die Kanalfluten spöttisch mit dem Körper
eines Landstreichers spielten, der in der Morgendämmerung durch das
halbverlassene Dorf gestolpert war; spöttisch damit spielten und
ihn auf die Felsen beim efeubewachsenen Trevor Towers warfen, wo
ein bemerkenswert fetter und besonders anstößiger Brauereimillionär
die erkaufte Atmosphäre erloschenen Adels genießt.
Die Traumsuche nach dem unbekannten
Kadath
Dreimal träumte Randolph Carter von der
wunderbaren Stadt, und dreimal wurde er fortgerissen, als er noch
auf der hohen Terrasse über ihr verweilte.
Ganz golden und lieblich glänzte sie im
Sonnenuntergang, mit Mauern, Tempeln, Kolonnaden
und Bogenbrücken aus geädertem Marmor,
Fontänen prismatischen Sprühregens in silbernen Bassins auf weiten
Plätzen und inmitten duftender Gärten und breiten Straßen, die
zwischen köstlichen Bäumen, blütenüberladenen Urnen und glühenden
Reihen elfenbeinerner Statuen verliefen, während an schroffen
Nordhängen Zeilen roter Dächer und alter, spitzer Giebel
emporklommen und kleine grasüberwucherte Pflastersträßchen
beherbergten. Sie war ein Fieber der Götter, eine Fanfare
himmlischer Trompeten und ein Geschmetter unvergänglicher
Zimbeln.
Geheimnis umlagerte sie wie Wolken einen
sagenhaften unbestiegenen Berg, und als Carter atemlos und
erwartungsvoll auf jener Brustwehr mit dem steinernen Geländer
ringsum stand, da schwemmten zu ihm herauf Bitternis und Zweifel
fast versunkener Erinnerung, der Schmerz über verlorene Dinge und
das rasende Bedürfnis, sich wieder dessen zu entsinnen, was einst
eine ehrfurchtgebietende und wichtige Stätte gewesen war.
Er wußte, daß sie für ihn einst von höchster
Bedeutung gewesen sein mußte; doch in welchem Zyklus oder welcher
Inkarnation er sie gekannt hatte, und ob im Traum oder im Wachen
konnte er nicht sagen. Vage rief sie schwache Erinnerungen an eine
längst vergessene, früheste Jugend herauf, als das Mysterium der
Tage Staunen und Wonne barg, und Morgengrauen und Abenddämmer zum
lebhaften Klang von Lauten und Liedern gleichermaßen prophetisch
voranschritten und feurige Tore zu weiteren, überraschenden Wundem
eröffneten. Doch jede Nacht, wenn er auf dieser hohen
Marmorterrasse mit den seltsamen Urnen und dem gemeißelten Geländer
stand und über die stille, abendliche Stadt der Schönheit und
überirdischen Immanenz hinblickte, fühlte er die Knechtschaft der
tyrannischen Traumgötter; denn auf keine Weise vermochte er diesen
luftigen Ort zu verlassen, oder die breiten, marmornen
Treppenfluchten hinabzusteigen, die endlos nach unten eilten, wo
jene Straßen früherer Bezauberung weit und auffordernd lagen. Als
er zum drittenmal erwachte, ohne diese Treppenfluchten
hinabgestiegen zu sein und ohne diese Straßen überquert zu haben,
betete er lange und ernsthaft zu den verborgenen Göttern des
Traums, die launisch über den Wolken auf dem unbekannten Kadath
brüten, in der kalten Öde, die keines Menschen Fuß betritt. Aber
die Götter gaben keine Antwort und zeigten weder Nachsicht, noch
gewährten sie ein günstiges Zeichen, als er im Traum zu ihnen
betete und sie durch Opfergaben der bärtigen Priester von Nasht und
Kaman-Thah anrief, deren Höhlentempel mit seiner Flammensäule nicht
weit von den Toren der wachen Welt liegt.
Es schien indes, daß seine Gebete ungünstig
aufgenommen worden sein mußten, denn bereits nach der ersten
Anrufung hörte er gänzlich auf, die wunderbare Stadt zu schauen;
als wären seine drei flüchtigen Blicke aus der Ferne nichts als
reine Zufälle oder Versehen gewesen; und entgegen einem verborgenen
Plan oder Wunsch der Götter. Krank vor Sehnsucht nach diesen im
Sonnenuntergang glitzernden Straßen und den kryptischen Hügelgassen
zwischen alten Ziegeldächern, und unfähig, sie im Schlafen oder
Wachen aus seinem Geist zu bannen, beschloß Carter, mit seinem
dreisten Gesuch dorthin zu gehen, wo noch kein Mensch zuvor gewesen
war, und sich durch die Eiswüsten im Dunkel zu wagen, dorthin, wo
der unbekannte Kadath, wolkenverhüllt und von ungeahnten Sternen
gekrönt, das Onyxschloß der Großen geheim und noc-tum
bewacht.
Im leichten Schlummer stieg er die siebzig
Stufen zur Kaverne der Flamme hinab und sprach den bärtigen
Priestern von Nasht und Kaman-Thah von diesem Vorhaben. Und die
Priester schüttelten ihre pshent-tragenden Häupter und erklärten
feierlich, dies bedeute den Tod seiner Seele. Sie wiesen daraufhin,
daß die Großen ihren Willen bereits kundgetan hätten, und daß es
ihnen nicht angenehm sei, durch beharrliches Bitten belästigt zu
werden. Sie erinnerten ihn auch daran, daß nicht nur kein Mensch
jemals am Kadath gewesen wäre, sondern daß auch nie ein Mensch
geahnt hätte, in welchem Teil des Raumes er liegen könnte; ob in
den Traumländern um unsere eigene Welt herum oder in jenen, die
irgendeinen unvermuteten Begleiter von Formalhaut oder Aldebaran
umgeben. Falls in unserem Traumland, ließe er sich möglicherweise
erreichen, doch hätten seit Anbeginn der Zeiten nur drei
menschliche Seelen die schwarzen, gottvergessenen Abgründe zu
anderen Traumländern hin und zurück überquert, und von diesen drei
wären zwei total wahnsinnig wiedergekehrt.
Es bergen solche Reisen unberechenbare lokale
Gefahren; sowie jenes abstoßende, endgültige Verderben, das
außerhalb des geordneten Universums, wohin keine Träume reichen,
unnennbar schnattert; dieser letzte amorphe Pesthauch heillosester
Verwirrung, der im Zentrum aller Unendlichkeit lästert und brodelt
der grenzenlose Dämonen-Sultan Azathoth, dessen Namen laut zu
nennen kein Mund wagt, und der in unfaßbaren, lichtlosen Kammern
jenseits der Zeit hungrig nagt, inmitten des gedämpften,
rasendmachenden Schlags nichtswürdiger Trommeln und des dünnen,
monotonen Gewinsels verwünschter Flöten; und zu diesem
abscheulichen Stampfen und Pfeifen tanzen langsam, plump und absurd
die gigantischen Ultimaten Götter, die blinden, stummen, finsteren,
irrsinnigen Anderen Götter, deren Seele und Bote das kriechende
Chaos Nyarlathotep ist.
Vor diesen Dingen wurde Carter von den
Priestern von Nasht und Kaman-Thah in der Kaverne der Flamme
gewarnt, aber dennoch blieb er bei seinem Entschluß, die Götter auf
dem unbekannten Kadath in der kalten Öde, wo immer das sein mochte,
zu finden, und ihnen den Anblick, die Erinnerung und den Schutz der
wunderbaren Stadt im Sonnenuntergang abzugewinnen.
Er wußte, daß seine Reise seltsam und lange
sein würde, und daß die Großen dagegen wären; aber da er im Land
der Träume erfahren war, verfügte er über viele nützliche
Erinnerungen und Listen, um sich fortzuhelfen.
Nachdem er also die Priester um einen
förmlichen Segen gebeten und sein weiteres Vorgehen genau bedacht
hatte, schritt er kühn die siebenhundert Stufen zum Tor des
Tieferen Schlummers hinunter, und begab sich auf den Weg durch den
Verwunschenen Wald.
In den unterirdischen Tunnels dieses
verschlungenen Waldes, dessen ungeheure Eichen ihr tastendes
Astwerk ineinander verflechten und in der Phosphoreszenz
sonderbarer Schwämme trübe leuchten, hausen die verstohlenen und
heimlichen Zoogs; sie wissen um viele obskure Geheimnisse der
Traumwelt und um einige der wachen Welt, denn an zwei Stellen rührt
der Wald an die Länder der Menschen, doch zu sagen wo, wäre
verheerend. Gewisse ungeklärte Geräusche, Vorkommnisse und Fälle
von Verschwinden ereignen sich unter den Menschen dort, wo die
Zoogs Zugang haben, und es ist gut, daß sie außerhalb der Welt des
Traums nicht allzuweit reisen können. Doch in den Teilen, die der
Traumwelt naheliegen, bewegen sie sich ungehindert, huschen klein
und braun und ungesehen umher und bringen pikante Geschichten mit
zurück, um sich damit an ihren Feuerstellen in dem Wald, den sie
lieben, die Zeit zu kürzen. Die Mehrzahl von ihnen lebt in
Erdhöhlen, obschon einige auch die Stämme der großen Bäume
bewohnen; trotzdem sie sich in der Hauptsache von Pilzschwämmen
ernähren, munkelt man doch davon, daß sie auch an Fleisch ein wenig
Geschmack finden, entweder körperlich oder geistig, denn gewiß
haben zahlreiche Träumer diesen Wald betreten, die nicht wieder
herausgekommen sind. Carter jedoch empfand keine Angst; schließlich
war er ein erfahrener Träumer, der ihre flatternde Sprache erlernt
und so manche Verhandlung mit ihnen geführt hatte; durch ihre Hilfe
hatte er die prächtige Stadt Celephais in Ooth-Nargai hinter den
Tanarischen Bergen gefunden, wo das halbe Jahr über der große König
Kuranes regiert, ein Mann, den er im Leben unter einem anderen
Namen gekannt hatte. Kuranes war der Eine, der an den
Stemenschlünden gestanden hatte und frei von Wahnsinn zurückgekehrt
war.
Als er sich jetzt durch die fahl
phosphoreszierenden Gänge zwischen den gigantischen Stämmen wand,
gab Carter die flatternden Geräusche der Zoogs von sich und horchte
dann und wann auf eine Antwort. Er erinnerte sich, daß ein
besonderes Dorf dieser Geschöpfe im Zentrum des Waldes lag, wo auf
einer ehemaligen Lichtung ein Zirkel großer moosiger Steine von
älteren und schlimmeren, längst vergessenen Bewohnern zeugt, und
diesem Ort eilte er zu. Er folgte auf seinem Weg den grotesken
Schwämmen, die immer wohlgenährter scheinen, je dichter man dem
furchtbaren Zirkel kommt, wo ältere Wesenheiten tanzten und
opferten. Endlich enthüllte der starke Schein jener feisteren
Schwämme eine sinister grüngraue Ungeheuerlichkeit, die das Dach
des Waldes durchbrach und dem Blick entschwand. Es war der
nahegelegenste Stein aus dem großen Ring, und Carter wußte, daß das
Zoog-Dorf nicht mehr weit entfernt lag. Er wiederholte seine
flatternden Geräusche und wartete dann geduldig ab; schließlich
wurde er durch den Eindruck belohnt, daß ihn viele Augen
beobachteten. Es waren die Zoogs, denn ihre unheimlichen Augen
sieht man lange bevor man ihre kleinen, schlüpfrigen, braunen
Umrisse ausmachen kann. Aus verborgener Grube und hohlem Baum
schwärmten sie, bis die ganze matterleuchtete Gegend von ihnen
wimmelte. Einige der wilderen streiften Carter unsanft, und einer
knabberte sogar ekelerregend an seinem Ohr; doch diese zügellosen
Gesellen wurden rasch von den Älteren in ihre Schranken verwiesen.
Der Rat der Weisen, der den Besucher erkannte, offerierte eine
Kürbisflasche mit dem fermentierten Saft eines verwunschenen
Baumes, der anders aussah als die übrigen, und aus einem Samen
gewachsen war, den jemand auf dem Mond fallengelassen hatte; und
als Carter zeremoniell davon trank, begann ein wunderliches
Gespräch.
Die Zoogs wußten bedauerlicherweise nicht, wo
der Gipfel des Kadath liegt, ja, sie vermochten nicht einmal zu
sagen, ob die kalte Öde zu unserer Traumwelt oder einer anderen
gehört. Gerüchte über die Großen kämen von überall gleichermaßen;
und es ließe sich nur feststellen, daß es wahrscheinlicher sei, sie
auf hohen Berggipfeln als in Tälern zu sehen, denn auf solchen
Gipfeln tanzen sie erinnerungsvoll, wenn oben der Mond steht und
unten die Wolken ziehen.
Dann erinnerte sich ein sehr alter Zoog an
etwas, von dem die anderen nichts wußten; und sagte, in Ulthar,
jenseits des Flusses Skai, vergilbe noch immer die letzte Abschrift
jener unvorstellbar alten Pnakotischen Manuskripte, die von wachen
Menschen in vergessenen borealen Königreichen angefertigt und ins
Land der Träume verbracht worden seien, als der haarige Kannibale
Gnophkehs das vieltemplige Olathoe überwand und alle Helden des
Landes Lomar erschlug. Diese Manuskripte, sägte er, erzählten viel
von den Göttern, und außerdem gäbe es in Ulthar Leute, die die
Zeichen der Götter gesehen hätten und sogar einen alten Priester,
der auf einen hohen Berg gestiegen sei, um sie im Mondschein tanzen
zu sehen. Er selbst wäre gescheitert, aber sein Gefährte hätte es
geschafft und wäre namenlos umgekommen.
Randolph Carter dankte den Zoogs, die
liebenswürdig flatterten und ihm noch eine Kürbisflasche voll
Mondwein mitgaben, und setzte sich durch den phosphoreszierenden
Wald zur anderen Seite hin in Marsch, wo der rasende Skai die Hänge
Lerions herabströmt und Hatheg und Nir und Ulthar in der Ebene
verstreut liegen. Hinter ihm krochen, verstohlen und unsichtbar,
mehrere neugierige Zoogs; denn sie wollten in Erfahrung bringen,
wie es ihm ergehen würde, um die Legende dann heim zu ihrem Volk zu
tragen.
Die gewaltigen Eichen drängten sich dichter,
als das Dorf hinter ihm zurückblieb, und er hielt scharf nach einer
bestimmten Stelle Ausschau, an der sie etwas aufgelockerter
wuchsen, und schon völlig abgestorben oder noch absterbend inmitten
der unnatürlich dichten Schwämme, der modernden Erde und der
teigigen Stämme ihrer gestürzten Brüder standen.
Dort würde er dann scharf abbiegen, denn an
diesem Ort ruht eine mächtige Steinplatte auf dem Waldboden; und
diejenigen, die es gewagt haben näherzutreten, sagen, daß in sie
ein Eisenring eingelassen ist, mit einem Durchmesser von drei Fuß.
Eingedenk des archaischen Zirkels aus riesenhaften, bemoosten
Felsen und des Zwecks, zu dem er möglicherweise errichtet worden
war, halten die Zoogs in der Umgebung jener umfangreichen Platte
mit dem gewaltigen Ring nicht inne; denn sie sind sich bewußt, daß
nicht alles, was vergessen ist, notwendigerweise auch tot sein muß,
und es wäre ihnen nicht angenehm, mitanzusehen, wie sich die Platte
langsam und bedächtig hebt.
Carter wich an der richtigen Stelle aus und
hörte hinter sich das ängstliche Geflatter einiger mehr furchtsamer
Zoogs. Er hatte gewußt, sie würden ihm folgen und war deswegen
nicht beunruhigt; denn man gewöhnt sich an die Anomalien dieser
neugierigen Geschöpfe. Dämmerung herrschte, als er den Waldsaum
erreichte, und der zunehmende Glanz verriet ihm, daß es die
Morgendämmerung war. Über fruchtbaren Ebenen, die sich bis hinab
zum Skai entrollten, sah er den Rauch aus den Kaminen von Cottages
aufsteigen, und überall gab es die Hecken und gepflügten Felder und
Strohdächer eines friedvollen Landes. Einmal rastete er an einem
Farmhausbrunnen, um einen Becher Wasser zu trinken, und alle Hunde
bellten verschreckt die unbemerkbaren Zoogs aus, die hinter ihm
durchs Gras krochen. Bei einem anderen Haus, wo sich Leute regten,
stellte er Fragen über die Götter und ob sie oft auf dem Lerion
tanzten, doch der Farmer und seine Frau machten nur das Zeichen der
Alten und wiesen ihm den Weg nach Nir und Ulthar.
Mittags schritt er auf der einzigen breiten
Hauptstraße Nirs; er kannte sie von einem früheren Besuch, und sie
markierte die vorgeschobendste Grenze seiner vormaligen Reisen in
dieser Richtung; und bald darauf gelangte er an die große
Steinbrücke über den Skai, in deren Mittelpfeiler die Maurer ein
lebendiges Menschenopfer eingegossen hatten, als sie sie vor
dreizehnhundert Jahren erbauten. Einmal auf der anderen Seite,
enthüllte die häufige Gegenwart von Katzen (die vor den
dahinkriechenden Zoogs alle den Buckel krümmten) die nahe
Nachbarschaft Ulthars; denn in Ulthar darf, nach einem alten und
ausdrücklichen Gesetz, niemand eine Katze töten. Sehr hübsch war
sie, die Umgebung von Ulthar mit ihren kleinen, grünen Cottages und
den ordentlich eingezäunten Farmen; und noch hübscher war die
schmucke Stadt selbst mit ihren altmodisch spitzen Dächern, den
vorkragenden Obergeschossen, den unzähligen Kaminkappen und den
engen Hügelsträßchen, auf denen alte Pflastersteine zum Vorschein
kommen, wann immer die grazilen Katzen Platz genug dafür lassen.
Die Katzen hatten sich wegen der halbwahrgenommenen Zoogs
zerstreut, und Carter fand seinen Weg direkt zum bescheidenen
Tempel der Alten, wo die Priester und alten Papiere angeblich zu
finden waren; und nachdem er den ehrwürdigen, kreisrunden,
efeuüberrankten Felsturm der Ulthars höchsten Hügel krönt betreten
hatte, suchte er den Patriarchen Atal auf, der den verbotenen
Gipfel Hatheg-Kla in der Steinwüste erstiegen hatte und lebendig
wieder heruntergekommen war.
Atal, der auf einer Elfenbeinestrade in einem
bekränzten Schrein in der Spitze des Tempels thronte, zählte volle
drei Jahrhunderte, gebot aber noch immer über einen scharfen
Verstand und ein ebensolches Gedächtnis. Von ihm erfuhr Carter
vieles über die Götter, hauptsächlich jedoch, daß sie wahrhaftig
nur Götter der Erde sind, die unser eigenes Traumland schwach
regieren und anderswo weder Macht noch Wohnung haben. Bei guter
Laune, so sagte Atal, könnten sie das Gebet eines Menschen durchaus
erhören; aber man sollte es sich nicht einfallen lassen, zu ihrer
Onyxfeste oben auf dem Kadath in der kalten Öde hinaufsteigen zu
wollen. Zum Glück wüßte niemand, wo sich der Kadath auftürme, denn
die Folgen seiner Besteigung wären sehr ernst. Atals Gefährte,
Barzai der Weise, wäre schon schreiend in den Himmel gezogen
worden, nur weil er den bekannten Gipfel des Hatheg-Kla erstiegen
habe. Bei dem unbekannten Kadath, sollte er jemals gefunden werden,
müßte man sich auf noch bedeutend Schlimmeres gefaßt halten; denn
obwohl es einem klugen Sterblichen manchmal gelänge, die Erdgötter
zu überwinden, stünden sie doch unter dem Schutz der Anderen Götter
des Außenraumes, von denen man besser nicht spräche. Wenigstens
zweimal in der Geschichte der Welt hätten die Anderen Götter dem
Urgranit der Erde ihr Siegel aufgedrückt; einmal in
vorsintflutlichen Zeiten, wie sich einer Zeichnung in jenen Partien
der Pnakotischen Manuskripte entnehmen lasse, die zu alt seien, um
sie entziffern zu können, und dann auf Hatheg-Kla, als Barzai der
Weise versuchte, die Götter der Erde im Mondschein tanzen zu sehen.
Deshalb, sagte Atal, wäre es auch viel klüger, man ließe alle
Götter bis auf taktvolle Gebete unbehelligt.
Obgleich Carter von Atals entmutigendem
Ratschlag und der mageren Hilfe, die ihm aus den Pnakotischen
Manuskripten und den Sieben Kryptischen Büchern von Hsan zuwuchs,
enttäuscht war, verzweifelte er doch nicht völlig. Zuerst befragte
er den alten Priester über jene wunderbare Stadt im
Sonnenuntergang, die er von der Terrasse mit der Balustrade aus
geschaut hatte, in dem Glauben, er könne sie vielleicht auch ohne
die Unterstützung der Götter finden; aber darüber wußte Atal
nichts. Womöglich, meinte Atal, gehöre der Ort zu seiner speziellen
Traumwelt und nicht zum allgemeinen Reich der Vision, das vielen
bekannt sei; und ebensogut könnte er auf einem anderen Planeten
liegen. In diesem Fall vermöchten ihn die Erdgötter nicht zu
leiten, selbst wenn sie dies wollten. Doch letzteres schien nicht
wahrscheinlich, denn das Aufhören der Träume zeige recht deutlich,
daß es sich um etwas handele, was die Großen vor ihm zu verbergen
wünschten.
Und dann verfiel Carter auf eine Gemeinheit: Er
nötigte seinen arglosen Gastgeber zu so vielen Schlucken vom
Mondwein der Zoogs, daß der alte Mann davon unverantwortlich
geschwätzig wurde. Seiner Zurückhaltung beraubt, plauderte der arme
Atal nun ganz freimütig von verbotenen Dingen; er erzählte von
einem großen Bildnis, das nach Berichten von Reisenden in den
soliden Fels des Berges Ngranek auf der Insel Oriab im Süd-Meer
eingemeißelt sein soll, und deutete an, es könnte sich um ein
Ebenbild handeln, das die Erdgötter einst nach ihren eigenen Zügen
modellierten, in jenen Tagen, da sie bei Mondschein auf diesem
Berge tanzten. Und er lallte weiterhin, daß die Züge dieses
Bildnisses sehr fremdartig seien, so daß man sie leicht erkennen
könnte, und daß sie sichere Merkmale der authentischen Rasse der
Götter wären. Der Nutzen, der sich aus all dem für seine Suche nach
den Göttern ziehen ließ, wurde Carter augenblicklich klar. Es ist
bekannt, daß sich die jüngeren von den Großen oft unter der Maske
einer Verkleidung mit den Menschentöchtem vermählen, deshalb mußten
alle Bauern, entlang der Grenzen zur kalten Öde, in der der Kadath
steht, ihr Blut in sich tragen. Dies vorausgesetzt, galt es nun zur
Auffindung besagter Wüste folgendermaßen vorzugehen: das
Steingesicht auf dem Ngranek ansehen und sich die Züge einprägen;
sodann diese Züge, nachdem man sie sich sorgfältig gemerkt hatte,
bei lebenden Menschen zu suchen. Wo sie am ausgeprägtesten und
häufigsten hervortraten, da mußten die Götter am nächsten wohnen;
und welche Steinöde auch immer hinter den Dörfern dort lag, mußte
diejenige sein, in der der Kadath sich erhob.
In solchen Gegenden ließe sich viel über die
Großen erfahren, und jene, die ihr Blut trugen, mochten kleine
Erinnerungen bewahren, die einem Suchenden sehr nützlich wären. Sie
ahnten vielleicht nichts von ihrer Herkunft, denn so sehr
verabscheuen es die Götter, von den Menschen erkannt zu werden, daß
sich niemand finden läßt, der ihre Gesichter wissentlich geschaut
hat; und obwohl sich Carter dieser Tatsache bewußt war, trachtete
er danach, den Kadath zu erklimmen. Doch sie würden wunderliche,
hochfahrende Gedanken haben, die ihre Kameraden mißverstanden, und
sie würden von fernen Stätten und Gärten singen, die sogar im
Traumland ihresgleichen suchten, so daß das gewöhnliche Volk sie
Narren heißen würde; und aus alledem ließen sich vielleicht alte
Geheimnisse über den Kadath erfahren, oder Hinweise auf die
wunderbare Stadt im Sonnenuntergang gewinnen, die die Götter
verborgen hielten. Und überdies könnte man in bestimmten Fällen das
inniggeliebte Kind eines Gottes als Geisel nehmen, oder gar einen
jungen Gott selbst gefangen setzen, der verkleidet und mit einem
hübschen Bauernmädchen zur Braut unter den Menschen
wohnte.
Atal jedoch wußte nicht, wie der Ngranek auf
seiner Insel Oriab zu finden war, und er empfahl Carter, dem
singenden Skai unter den Brücken hindurch zum Süd-Meer hinab zu
folgen, wo noch kein Bürger Ulthars jemals gewesen ist, von woher
aber die Händler mit Booten oder langen Maultierkarawanen und
zweirädrigen Karren kommen. Es gibt dort eine große Stadt,
Dylath-Leen, doch wegen der schwarzen, dreiruderigen Galeeren, die
mit Rubinen einer nicht genau benannten Küste zu ihr segeln,
genießt sie in Ulthar einen schlechten Ruf. Die Händler, die von
diesen Galeeren kommen, um mit den Juwelieren Geschäfte zu
schließen, sind menschlich, oder doch beinahe, die Ruderer hingegen
bekommt man nie zu Gesicht; und in Ulthar hält man es nicht für
heilsam, wenn Kaufleute mit schwarzen Schiffen Handel treiben,
deren Herkunft unbekannt ist und deren Ruderer nicht vorgezeigt
werden können.
Nachdem er diese Information preisgegeben
hatte, wurde Atal sehr schläfrig, und Carter bettete ihn behutsam
auf eine getäfelte Ebenholzcouch und drapierte den wallenden Bart
dekorativ auf der Brust. Als er sich zum Gehen wandte, stellte er
fest, daß ihm kein unterdrücktes Geflattere folgte, und er wunderte
sich, warum die Zoogs in ihrer neugierigen Verfolgung so nachlässig
geworden waren. Dann bemerkte er all die geschmeidigen,
selbstzufriedenen Katzen von Ulthar, die sich mit ungewöhnlichem
Gusto die Mäuler leckten, und er entsann sich des Fauchens und
Miauens, das aus den unteren Geschossen des Tempels schwach
heraufgeklungen war, während er von der Erzählung des alten
Priesters ganz in Anspruch genommen wurde. Und er entsann sich
ebenfalls der boshaften, hungrigen Art, mit der ein besonders
unverschämter junger Zoog ein kleines schwarzes Kätzchen auf der
gepflasterten Straße draußen betrachtet hatte. Und weil er auf
Erden nichts so sehr liebte wie kleine schwarze Kätzchen, beugte er
sich nieder und streichelte die geschmeidigen Katzen von Ulthar,
wie sie ihre Mäuler leckten und grämte sich nicht, daß ihn die
wißbegierigen Zoogs nun nicht weiter eskortieren würden.
Eben ging die Sonne unter, und so nahm Carter
bei einem alten Gasthof Quartier, der in einem steilen Gäßchen lag,
das die untere Stadt überblickte.
Und als er auf den Balkon seines Zimmers trat
und unter sich das Meer von roten Ziegeldächern und Pflasterwegen
und die anmutigen Felder dahinter schaute, alles mild und magisch
im sinkenden Licht, da schwor er, daß Ulthar ein sehr angenehmer
Ort wäre, um für immer darin zu wohnen, triebe einen nicht die
Erinnerung an eine noch großartigere Stadt im Sonnenuntergang
immerfort unbekannten Gefahren zu. Dann brach die Dämmerung herein,
und die blaßroten Wände der getünchten Giebel färbten sich violett
und mystisch, und kleine gelbe Lichter schienen eines nach dem
anderen in alten Gitterfenstern auf. Und liebliche Glocken läuteten
im Tempel oben, und der erste Stern blinkte sanft über den Wiesen
jenseits des Skai. Mit der Nacht kamen die Lieder, und Carter
nickte, als die Lautenspieler auf den filigranverzierten Baikonen
und in den mosaikgeschmückten Höfen des bescheidenen Ulthar die
alten Zeiten priesen. Und vielleicht hätten sogar die Stimmen von
Ulthars zahlreichen Katzen süß geklungen, wären sie nicht zum
Großteil träge und still von einem sonderbaren Schmaus gewesen.
Einige stahlen sich in jene kryptischen Bereiche davon, um die nur
die Katzen wissen und die, wie die Bewohner behaupten, auf der
Rückseite des Mondes liegen, wohin die Katzen von hohen Hausdächern
springen; aber ein kleines schwarzes Kätzchen schlich die Treppe
hoch und sprang auf Carters Schoß, um zu schnurren und zu spielen,
und es rollte sich an seinen Füßen zusammen, als er sich
schließlich auf das kleine Lager streckte, dessen Kissen mit
duftenden, einschläfernden Kräutern gefüllt waren.
Am Morgen schloß sich Carter einer Karawane
von Kaufleuten an, die mit Ulthars gesponnener Wolle und dem Kohl
seiner geschäftigen Farmen nach Dylath-Leen unterwegs war. Und
sechs Tage lang ritten sie mit klingenden Glöckchen auf der ebenen
Straße neben dem Skai; manche Nächte schliefen sie in den
Wirtshäusern kleiner, schmucker Fischerstädtchen, und andere wieder
kampierten sie unter den Sternen, während vom glatten Fluß
bruchstückhaft die Lieder der Schiffer erklangen. Die Landschaft
war überaus reizvoll, mit grünen Hecken und Hainen und malerisch
spitzzulaufenden Cottages und achteckigen Windmühlen.
Am siebten Tag erhoben sich voraus am
Horizont Dampfschwaden, und dann die hohen, schwarzen Türme von
Dylath-Leen, das überwiegend aus Basalt erbaut ist. Von der Ferne
wirkt die Stadt Dylath-Leen mit ihren dünnen, kantigen Türmen wie
ein Teil des Giant’s Causeway*, und ihre Straßen sind dunkel und
wenig einladend. Zahllose verkommene Hafentavemen liegen in der
Nähe der myriadenfachen Kais, und in der ganzen Stadt drängen sich
sonderbare Seeleute aus allen Ländern der Erde und aus einigen, von
denen es heißt, daß sie nicht zur Erde A.d.U. Eine
Felsstrandbildung an der Nordspitze Irlands, aus von der Brandung
abgeschliffenen Basaltsäulen gebildet, 30-60 m breit, fast 5 km
lang, gehören. Carter fragte die in wunderliche Roben gekleideten
Männer dieser Stadt nach dem Gipfel Ngranek auf der Insel Oriab und
erfuhr, daß sie sehr wohl davon wußten. Aus Bahama, das auf
besagter Insel liegt, kämen Schiffe, und eines sollte binnen
Monatsfrist dorthin zurücksegeln, und der Ngranek erhöbe sich nur
zwei Zebra-Tagesritte von diesem Hafen entfernt.
Aber das Steingesicht des Gottes hätten nur
wenige gesehen, denn es befände sich auf einer sehr schwer
zugänglichen Seite des Ngranek, die nichts anderes als Klippen und
ein finsteres Lavatal überschaue. Einstmals hätten sich die Götter
über die Menschen auf dieser Seite erzürnt und den Anderen Göttern
davon gesprochen.
Es war schwierig, diese Informationen von den
Händlern und Seeleuten in den Hafenkaschemmen von Dylath-Leen zu
erhalten, denn zumeist zogen sie es vor, über die schwarzen
Galeeren zu flüstern. Eine wurde nächste Woche mit Rubinen von der
unbekannten Küste erwartet, und die Stadtbewohner fürchteten ihren
Anblick am Dock. Die Münder der Männer, die von Bord gingen, um
Handel zu treiben, seien zu breit, und die Art wie sich ihre
Turbane über der Stirn zu zwei Höckern aufwölbten, besonders
geschmacklos. Und ihre Schuhe wären die kürzesten und
fragwürdigsten, die die Sechs Königreiche je gesehen hätten. Doch
am allerschlimmsten sei die Angelegenheit mit den unsichtbaren
Ruderern. Die drei Ruderbänke bewegten sich zu flink und akkurat
und kraftvoll, um sich dabei wohlzubefinden, und es schicke sich
auch nicht für ein Schiff, wochenlang im Hafen vor Anker zu gehen,
während die Kaufleute Geschäfte machten, von seiner Mannschaft aber
nicht das geringste sehen zu lassen. Das sei weder den
Tavernenbesitzem von Dylath-Leen, noch den Krämern und Fleischern
gegenüber fair; denn nie würde auch nur ein Krümelchen Proviant an
Bord geschickt. Die Kaufleute nähmen nur Gold und gedrungene,
schwarze Sklaven aus Parg jenseits des Flusses. Das wäre alles, was
sie wollten, diese unerfreulich anzusehenden Kaufleute und ihre
unsichtbaren Ruderer; niemals etwas von den Fleischern und Krämern,
sondern nur Gold und die fetten, schwarzen Männer aus Parg, die sie
pfundweise kauften. Und die Ausdünstungen dieser Galeeren, die der
Südwind von den Kais herüberwehe, seien nicht zu beschreiben.
Selbst der hartgesottenste Bewohner der alten Hafentavernen
vermöchte sie nur durch das ständige Rauchendes starken Thag-Tabaks
zu ertragen. DylathLeen würde die schwarzen Galeeren nie geduldet
haben, wären solche Rubine anderswo zu bekommen gewesen, aber
nirgends im ganzen Traumland der Erde sei eine Mine bekannt, die
ihresgleichen hervorbrächte.
Von solcherlei Dingen schwatzte die
kosmopolitische Bevölkerung Dylath-Leens, während Carter geduldig
auf das Schiff von Bahama wartete, das ihn vielleicht zu der Insel
tragen würde, wo der behauene Ngranek erhaben und kahl ragt.
Inzwischen versäumte er es nicht, die Treffpunkte weitgereister
Leute aufzusuchen, um sich bei ihnen nach Geschichten umzuhören,
die möglicherweise den Kadath in der kalten Öde betrafen oder eine
wunderbare Stadt mit Marmormauem und Silberfontänen, die man von
Terrassen aus im Sonnenuntergang liegen sieht. Von diesen Dingen
jedoch erfuhr er nichts; obwohl es ihm einmal so schien, daß ein
bestimmter alter, schieläugiger Kaufmann ein merkwürdig wissendes
Gesicht aufsetzte, als von der kalten öde die Rede war. Dieser Mann
stand in dem Ruf, mit den schrecklichen Steindörfern auf dem
Eiswüstenplateau von Leng Handel zu treiben, welche kein getroster
Mensch besucht, und deren schlimme Feuer man nachts von ferne
sieht. Es kursierten sogar Gerüchte, er habe mit jenem unsäglichen
Hohepriester Geschäfte gemacht, der eine gelbe Seidenmaske vor dem
Gesicht trägt und ganz allein in einem prähistorischen Steinkloster
lebt. Daß eine derartige Person sehr wohl zaghaften Handel mit
solchen Wesenheiten getrieben haben mochte, die unter Umständen in
der kalten Öde hausten, stand außer Zweifel, aber Carter stellte
bald fest, daß es sinnlos war, ihn danach zu fragen.
Dann glitt die schwarze Galeere in den Hafen,
vorbei an dem Basaltwall und dem hohen Leuchtturm, still und fremd,
und mit einem seltsamen Gestank, den der Südwind in die Stadt
brachte. Unbehagen breitete sich in den Tavernen entlang dieses
Uferbezirks aus, und nach einer Weile tappten die dunklen,
breitmundigen Kaufleute mit den gebuckelten Turbanen und den kurzen
Füßen schwerfällig an Land, um die Basare der Juweliere zu
besuchen. Carter beobachtete sie eingehend, und je länger er sie
betrachtete, desto weniger gefielen sie ihm. Dann sah er, wie sie
die gedrungenen, schwarzen Männer aus Parg grunzend und schwitzend
die Laufplanke hinauf in jene eigentümliche Galeere trieben, und er
wunderte sich, in welchen Ländern oder ob überhaupt in
irgendwelchen Ländern es diesen fetten, pathetischen Kreaturen wohl
bestimmt war, zu dienen.
Und am Abend des dritten Ankertages jener
Galeere, sprach ihn einer der unerfreulichen Kaufleute an, grinste
anzüglich und erging sich in Andeutungen über das, was er in den
Kaschemmen von Carters Suche gehört hatte. Er schien Kunde von
Dingen zu besitzen, die zu geheim waren, um sie öffentlich
preiszugeben; und obgleich seine Stimme unerträglich haßerfüllt
klang, meinte Carter doch, daß die Kenntnisse eines so
weitgereisten Mannes keinesfalls ignoriert werden dürften. Er lud
ihn daher ein, oben hinter verschlossenen Türen sein Gast zu sein
und holte den Rest vom Mondwein der Zoogs, um ihm die Zunge zu
lösen. Der fremdartige Kaufmann trank sehr viel, grinste aber
trotzdem unverwandt weiter. Dann zog er eine merkwürdige Flasche
mit seinem eigenen Wein hervor, und Carter stellte fest, daß die
Rasche aus einem einzigen ausgehöhlten Rubin bestand, grotesk mit
Mustern verziert, die zu unglaublich waren, um sie begreifen zu
können. Er bot seinem Gastgeber von dem Wein an, und obwohl Carter
nur einen winzigen Schluck nahm, fühlte er den Schwindel des Alls
und das Fieber ungeahnter Dschungel. Indessen hatte der Gast immer
breiter gelächelt, und als Carter in die Leere entglitt, sah er
zuletzt noch, wie sich das dunkle, widerliche Gesicht zu einem
bösartigen Lachen verzerrte und noch etwas ganz und gar
Unaussprechliches dort, wo sich der eine der beiden Stirnhöcker des
orangenen Turbans durch die Zuckungen dieser epileptischen
Heiterkeit verschoben hatte.
In fürchterlichen Gerüchen erlangte Carter
unter einer zeltartigen Plane auf Deck eines Schiffes sein
Bewußtsein zurück; und an ihm vorüber flogen, mit unnatürlicher
Geschwindigkeit, die wundervollen Küsten des Süd-Meers. Er lag
nicht in Ketten, aber drei der dunklen, sardonischen Kaufleute
standen grinsend in der Nähe, und der Anblick jener Höcker auf
ihren Turbanen raubte ihm fast ebenso die Kraft wie der Gestank,
der aus den finsteren Luken heraufdrang. Er sah die glorreichen
Länder und Städte an sich vorübergleiten, über die ein
Traumgefährte von der Erde, ein Leuchtturmwärter im alten
Kingsport, in vergangenen Tagen oft gesprochen hatte, und er
erkannte die Tempelterrassen von Zar, dem Aufenthaltsort
vergessener Träume; die Spitztürme des schändlichen Thalarion,
jener Dämonenstadt der Tausend Wunder, in der das Eidolon Lathi
regiert; die Begräbnisgärten von Xura, dem Land Unerreichter
Wonnen, und die kristallenen Zwillingsvorgebirge, die sich am
Himmel zu einem funkelnden Bogen vereinigen und den Hafen von
Sona-Nyl, dem gesegneten Land der Phantasie, bewachen.
An all diesen prächtigen Ländern flog das
stinkende Schiff verderblich vorbei, getrieben von den abnormen
Ruderschlägen der unsichtbaren Ruderer in seinem Bauch. Und ehe der
Tag zu Ende ging, wußte Carter, daß der Steuermann kein anderes
Ziel haben konnte, als die Basaltsäulen des Westens, hinter denen
das glänzende Cathuria liegt, wie die einfachen Leute behaupten;
doch weise Träumer wissen sehr gut, daß es die Tore eines
monströsen Kataraktes sind, in dem die Ozeane des Traumlandes der
Erde ins bodenlose Nichts stürzten und durch die Räume zu anderen
Welten und anderen Sternen und zu den schrecklichen Leeren
außerhalb des geordneten Universums schießen, wo der Dämonen-Sultan
Azathoth hungrig im Chaos nagt inmitten von Getrommel und Gepfeif
und dem höllischen Tanz der Anderen Götter, blind, stumm, finster
und irrsinnig, mit ihrer Seele und ihrem’Boten
Nyarlathotep.
Währenddem verrieten die drei sardonischen
Kaufleute mit keinem Wort ihre Absichten, obwohl Carter sicher war,
daß sie mit jenen im Bunde sein mußten, die ihn von seiner Suche
abhalten wollten. Im Land der Träume ist es eine unausgesprochene
Tatsache, daß die Anderen Götter viele Handlanger unter den
Menschen haben; und alle diese Handlanger, seien sie nun völlig
menschlich oder nicht mehr so ganz, sind eifrig darum bemüht, den
Willen dieser blinden und irrsinnigen Wesen zu erfüllen, als Dank
für die Gunst ihrer gräßlichen Seele und ihres Boten, des
kriechenden Chaos Nyarlathotep. Hieraus folgerte Carter, daß die
Kaufleute mit den Höckerturbanen, als sie von seiner dreisten Suche
nach den Großen in ihrem Schloß auf dem Kadath erfuhren,
beschlossen hatten, ihn gefangen zu nehmen und an Nyarlathotep
auszuliefern, gleichgültig für welch namenlose Prämie, die auf eine
solche Prise ausgesetzt sein mochte. Aus welchem Land unseres
bekannten Universums oder der schauerlichen Räume draußen diese
Kaufleute stammten, vermochte Carter nicht zu erraten; er konnte
sich auch nicht vorstellen, an was für einem höllischen
Zusammenkunftsort sie das kriechende Chaos treffen würden, um ihn
zu übergeben und ihre Belohnung zu fordern.Er wußte indes, daß so
fast menschliche Wesen wie diese hier es nicht wagen würden, sich
dem Ultimaten, umnachteten Thron des Dämons Azathoth in der
formlosen Zentralleere zu nahem.
Bei Sonnenuntergang leckten sich die
Kaufleute ihre ungeheuer breiten Lippen und glotzten hungrig, und
einer von ihnen verschwand nach unten und kam aus irgendeiner
verborgenen und ekelhaften Kabine mit einem Topf und einem Korb
voller Teller zurück. Dann kauerten sie sich dicht nebeneinander
unter die Plane und aßen das dampfende Fleisch, das herumging. Doch
als sie Carter einen Brocken reichten, da entdeckte er in der Größe
und Form davon etwas sehr Schreckliches; und er erbleichte noch
mehr als zuvor und schleuderte den Brocken in einem unbeobachteten
Moment ins Meer. Und wieder dachte er an jene unsichtbaren Ruderer
in den Eingeweiden des Schiffes und an die verdächtige Nahrung, aus
der sie ihre allzu mechanischen Kräfte bezogen.
Es war dunkel, als die Galeere die
Basaltsäulen des Westens passierte, und das Geräusch des Ultimaten
Kataraktes schwoll unheilverkündend an. Die Gischt dieses
Kataraktes spritzte auf und verdunkelte die Sterne, das Deck wurde
feucht, und das Schiff taumelte im wogenden Sog des
Abgrunds.
Dann erfolgte unter eigentümlichem Pfeifen
und mit einem jähen Fall der Sprung, und Carter fühlte die
Schrecken des Alptraums, als die Erde wegstürzte und das große Boot
stumm und kometenhaft in den planetaren Raum schoß. Er hatte vorher
nie geahnt, was für gestaltlose, schwarze Dinge überall im Äther
lauem und torkeln und zappeln, nach eventuellen Reisenden schielen
und sie angrinsen und manchmal mit schleimigen Pfoten umhertasten,
wenn irgendein sich bewegendes Objekt ihre Neugier
erregt.
Dies sind die namenlosen Larven der Anderen
Götter, und genau wie jene, sind auch sie blind und ohne Hirn und
von wunderlichen Hungerund Durstgelüsten besessen. Aber das Ziel
dieser abstoßenden Galeere lag nicht so fern, wie Carter befürchtet
hatte, denn bald sah er, daß der Rudergänger direkten Kurs auf den
Mond nahm. Der Mond glich einer leuchtenden Sichel, die beim
Näherkommen immer größer wurde und ihre sonderbaren Krater und
Gipfel unangenehm deutlich zeigte. Das Schiff steuerte auf den Rand
zu, und bald wurde klar, daß sein Bestimmungsort auf der
verborgenen und mysteriösen Seite lag, die der Erde immerzu
abgewandt ist, und die kein rein menschliches Wesen, den Träumer
Snireth-Ko vielleicht ausgenommen, je geschaut hat. Der nahe
Anblick des Mondes wirkte auf Carter beunruhigend, und es behagten
ihm weder Form noch Größe der Ruinen, die hier und dort zerfielen.
Die toten Tempel auf den Bergen waren so plaziert, daß sie keine
ziemlichen oder heilsamen Götter verherrlicht haben konnten, und
den Symmetrien der geborstenen Säulen schien eine dunkle und
verborgene Bedeutung innezuwohnen, die wenig zur Entdeckung
einlud.
Und wie die Beschaffenheit und das Aussehen
dieser früheren Anbeter gewesen sein mochte, darüber weigerte sich
Carter beharrlich, Vermutungen anzustellen.
Als das Schiff um den Mondrand gebogen war und
über die von Menschen nie gesehenen Länder segelte, offenbarte die
lunare Landschaft gewisse Anzeichen von Leben, und Carter erspähte
viele niedrige, breite, runde Behausungen inmitten von Feldern
grotesk weißlicher Pilze. Er bemerkte, daß diese Behausungen
fensterlos waren, und dachte, daß ihre Form an die Iglus der
Eskimos erinnerte. Dann sah er auf einmal die öligen Wellen einer
trägen See, und wußte, daß die Reise erneut durch Wasser gehen
würde oder zumindest doch durch eine Flüssigkeit. Die Galeere
schlug mit einem absonderlichen Geräusch auf die Oberfläche, und
die merkwürdige Elastizität, mit der sie die Wellen aufnahmen,
verwirrte Carter beträchtlich.
Sie glitten nun mit hoher Geschwindigkeit
dahin, passierten einmal eine andere Galeere ähnlichen Aussehens,
die sie anriefen, sahen aber ansonsten nur jenes seltsame Meer und
einen schwarzen und sternübersäten Himmel, obwohl die Sonne sengend
darin brannte.
Gleich erhoben sich voraus die Bergzacken
einer leprösen Küste, und Carter machte die dicken, unschön grauen
Türme einer Stadt aus. Die Art, wie sie sich neigten und bogen, und
die Weise, wie sie in Gruppen zusammenstanden, sowie die Tatsache,
daß sie überhaupt keine Fenster aufwiesen, verstörte den Gefangenen
sehr; und bitter bereute er den Leichtsinn, der ihn vom
wunderlichen Wein jenes Kaufmanns mit dem höckerigen Turban hatte
kosten lassen.
Carter konnte jetzt auf den vorausliegenden,
ekelhaften Kais sich bewegende Gestalten erkennen, und je
deutlicher er sie wahrnahm, um so mehr begann er sie zu fürchten
und zu verabscheuen. Denn das waren keine Menschen mehr, nicht
einmal annähernd, sondern große, grauweiße, schlüpfrige Dinger, die
sich nach Belieben ausdehnen und zusammenziehen konnten.
Ihre eigentliche Gestalt glich obschon sie
häufig wechselte einer Art Kröte, die keine Augen, dafür aber eine
sonderbar vibrierende Masse blaßroter Tentakel am Ende ihres
stumpfen, vagen Mauls besaß. Diese Objekte watschelten geschäftig
die Kais entlang, verluden mit übernatürlicher Kraft Ballen,
Lattenkisten und Behälter und sprangen gelegentlich mit langen
Rüdem in den Vorderpfoten an oder von Bord einer ankernden Galeere.
Und hin und wieder tauchte eines auf, das eine Schar
zusammengepferchter Sklaven trieb, die eigentlich beinahe
menschliche Wesen mit breiten Mündern waren, wie jene Kaufleute,
die in Dylath-Leen Handel trieben; nur wirkten die Sklaven ohne
Turbane, Schuhe und Kleidung nicht mehr ganz so menschlich. Einige
der Sklaven die fetteren, die eine Art Aufseher prüfend kniff
wurden aus Schiffen entladen, in Lattenkisten genagelt, und dann
von Arbeitern entweder in die flachen Lagerhallen geschoben oder
auf große rumpelnde Wagen verfrachtet.
Einmal wurde ein Wagen angespannt und
weggefahren, und das Ding, das ihn zog, war so unglaublich, daß
Carter nach Luft rang, obwohl er die anderen Monstrositäten dieses
verhaßten Ortes bereits gesehen hatte. Dann und wann wurde eine
kleine Schar Sklaven, bekleidet und beturbant wie die dunklen
Händler, an Bord einer Galeere getrieben; ihr folgte eine große
Gruppe der glitschigen Krötenwesen als Offiziere, Navigatoren und
Ruderer.
Und Carter fand heraus, daß die
fastmenschlichen Kreaturen dazu ausersehen waren, die gemeineren,
weniger Kraft erfordernden Arbeiten zu tun, z. B. das Steuern und
Kochen, die Zuträgerdienste und den Handel mit den Menschen auf der
Erde oder auf anderen Planeten, wo sie Geschäfte machten. Diese
Geschöpfe mußten auf der Erde von Nutzen gewesen sein, denn wenn
sie angezogen und sorgfältig beschuht und beturbant waren, sahen
sie den Menschen wahrhaftig nicht unähnlich und konnten in den
Läden der Händler ungehindert und ohne sonderliche Erklärungen
feilschen.
Doch die meisten von ihnen wurden, wenn sie
nicht mager oder mißgebildet waren, entkleidet, in Lattenkisten
gezwängt und auf holpernden Wagen von ungeheuren Wesen
davongezogen. Manchmal lud man auch andere Geschöpfe aus und
steckte sie in Kisten; einige davonsahen jenen halbmenschlichen
sehr ähnlich, andere schon wieder weniger und manche überhaupt
nicht. Und Carter fragte sich, ob wohl noch einige der armen,
gedrungenen, schwarzen Männer aus Parg übriggeblieben waren, um
entladen, verstaut und auf diesen abscheulichen Karren ins
Landesinnere verbracht zu werden.
Als die Galeere an einem schmierigen Kai aus
porösem Fels anlegte, quoll eine alptraumhafte Horde der
Krötenwesen aus den Luken, und zwei von ihnen packten Carter und
schleppten ihn an Land. Der Geruch und der Anblick der Stadt waren
über alle Beschreibung, und Carter behielt nur fragmentarische
Eindrücke von geziegelten Straßen, schwarzen Torwegen und endlosen
Klippen vertikaler, grauer Mauern ohne Fenster. Zuletzt wurde er in
einen niedrigen Toreingang gezerrt und gezwungen, im Stockdunkel
unendliche Treppen hinaufzusteigen. Offenbar war es den Krötenwesen
ganz einerlei, ob Licht oder Finsternis herrschte. Der Ort stank
unerträglich, und als man Carter in eine Kammer sperrte und allein
ließ, besaß er kaum die Kraft, herumzukriechen, um sich über ihre
Form und Ausmaße klar zu werden. Sie war rund, und ihr Durchmesser
lag bei etwa zwanzig Fuß.
Von da an hörte die Zeit auf zu existieren.
In Abständen wurde Essen hereingeschoben, aber Carter rührte es
nicht an. Was sein Schicksal sein würde, wußte er nicht; doch er
fühlte, daß er für das Kommen der gräßlichen Seele und des Boten
der Anderen Götter der Unendlichkeit, das kriechende Chaos
Nyarlathotep, gefangen gehalten wurde. Endlich, nach einer
unbemessenen Spanne von Stunden oder Tagen, schwang die große
Steintür wieder auf, und Carter wurde die Treppe hinunter und
hinaus auf die roterleuchteten Straßen dieser furchtbaren Stadt
gestoßen. Nacht regierte auf dem Mond, und überall in der Stadt
waren fackeltragende Sklaven postiert.
Auf einem abscheulichen Platz formierte sich
so etwas wie eine Prozession; zehn Krötenwesen und vierundzwanzig
fastmenschliche Fackelträger, zu jeder Seite elf und jeweils einer
an der Spitze und am Schluß. Sie nahmen Carter in die Mitte; fünf
Krötenwesen vor, und fünf hinter ihm, und links und rechts ein
fastmenschlicher Fackelträger. Manche der Krötenwesen brachten
widerliche geschnitzte Flöten aus Elfenbein zum Vorschein und
erzeugten ekelhafte Töne darauf. Zu diesem höllischen Gepfeif
bewegte sich die Kolonne durch die geziegelten Straßen, hinaus in
nachtschwarze Ebenen obszöner Pilze, und begann bald einen der
flacheren und weniger steilen Berge zu ersteigen, die sich hinter
der Stadt erhoben. Daß auf irgendeinem entsetzlichen Abhang oder
gottlosen Plateau das kriechende Chaos wartete, daran durfte Carter
nicht zweifeln; und er hoffte nur, daß die Ungewißheit bald vorüber
sein würde. Das Winseln dieser blasphemischen Röten war
schockierend, und er hätte Welten für ein halbwegs normales
Geräusch gegeben; doch die Krötenwesen besaßen keine Stimmen, und
die Sklaven sprachen nicht.
Dann drang ein normales Geräusch durch die
stemfleckige Dunkelheit. Es rollte die höheren Berge hinab, wurde
von allen schrundigen Gipfeln ringsum aufgenommen und in einem
anschwellenden, pandämonischen Chor zurückgeworfen. Es war der
mitternächtliche Schrei der Katze, und nun wußte Carter, daß die
alten Stadtbewohner zu Recht ihre leisen Mutmaßungen über jene
kryptischen Bereiche anstellten, die nur den Katzen bekannt sind,
und in die sich des Nachts die älteren Katzen heimlich begeben,
indem sie von hohen Hausgiebeln springen. Es ist tatsächlich die
Rückseite des Mondes, die sie aufsuchen, um dort auf den Bergen zu
hüpfen und zu tollen und mit alten Schatten zu verkehren; und hier,
inmitten dieser Kolonne fötaler Wesen, vernahm Carter ihren
vertrauten, freundlichen Ruf, und er dachte an die steilen Dächer,
die warmen Herdstellen und die kleinen, erleuchteten Fenster zu
Hause.
Carter verstand viel von der Katzensprache,
und an diesem fernen und schrecklichen Ort stieß er den
entsprechenden Schrei aus. Doch das hätte er gar nicht zu tun
brauchen, denn gerade als sich seine Lippen öffneten, hörte er den
Chor anwachsen und näherkommen und sah flinke Schatten gegen die
Sterne, als kleine anmutige Gestalten von Berg zu Berg sprangen.
Der Ruf des Clans war ergangen, und ehe die widerwärtige Prozession
noch Zeit zur Furcht fand, brach auch schon eine erstickende
Fellwolke und eine Phalanx mörderischer Klauen wie eine Sturzflut
und ein Sturm über sie herein. Die Flöten verstummten, und Schreie
hallten durch die Nacht. Sterbende Fastmenschliche kreischten, und
Katzen fauchten und jaulten und brüllten, nur die Krötenwesen gaben
keinen Laut von sich, als ihr stinkendes, grünes Blutwasser fatal
auf den porösen Boden mit den obszönen Pilzen
niedertropfte.
Solange die Fackeln brannten, bot sich ein
erstaunliches Bild, und nie zuvor hatte Carter so viele Katzen
gesehen. Schwarze, graue und weiße; gelbe, getigerte und bunte;
gewöhnliche Hauskatzen, Perserund Manx-, Tibet-, Angoraund
Ägypterkatzen, alle waren sie da in der Raserei der Schlacht, und
über ihnen schwebte ein Hauch jener profunden und unentweihten
Heiligkeit, die ihre Gottheit in den Tempeln von Bubastis groß
machte. Zu siebt fuhren sie einem Fastmenschlichen an die Kehle
oder sprangen einem Krötenwesen ans blaßrote Tentakelmaul und
zerrten es reißend zu Boden, wo eine Myriade ihrer Gefährten mit
den wahnsinnigen Zähnen und Krallen einer göttlichen
Schlachtenfurie darüber herfiel. Carter hatte einem
niedergestreckten Sklaven die Fackel abgenommen, wurde jedoch bald
von den wogenden Wellen seiner getreuen Verteidiger überwältigt.
Dann lag er in völliger Finsternis und hörte den Kriegslärm und die
Rufe der Sieger, und spürte die sanften Pfoten seiner Freunde, als
sie im Kampfgetümmel kreuz und quer über ihn hineilten.
Zuletzt verschlossen ihm Scheu und
Erschöpfung die Augen, und als er sie wieder aufschlug, erblickte
er eine wunderliche Szenerie. Der gewaltige, leuchtende Diskus der
Erde, dreizehnfach größer als sich uns Menschen die Scheibe des
Mondes darbietet, war mit geisterhaften Lichtfluten über der
lunaren Landschaft aufgegangen; und auf den meilenweiten, öden
Plateaus und zerklüfteten Bergkämmen kauerte ein endloses Meer von
Katzen in wohlgeordneter Schlachtreihe. Ring schloß sich an Ring,
und zwei oder drei der Heerführer leckten sein Gesicht und
schnurrten ihm tröstend zu. Von den toten Sklaven und den
Krötenwesen fehlte beinahe jede Spur, aber Carter glaubte ein wenig
abseits, in dem freien Raum zwischen sich und den Kriegern, einen
Knochen zu sehen.
Carter redete jetzt mit den Anführern in der
weichen Sprache der Katzen und erfuhr, daß seine alte Freundschaft
mit der Rasse wohlbekannt war und an den Versammlungsplätzen der
Katzen oft erwähnt wurde. Er war nicht
unbemerkt geblieben, als er durch Ulthar
ging, und die geschmeidigen alten Katzen hatten sich erinnert, wie
er sie streichelte, nachdem sie sich der hungrigen Zoogs angenommen
hatten, die ein kleines schwarzes Kätzchen boshaft ansahen. Und sie
entsannen sich auch daran, wie er eben dies kleine Kätzchen, das
ihn im Gasthof besuchen kam, aufgenommen und ihm morgens, bevor er
aufbrach, ein Schälchen fetter Sahne hingestellt hatte. Der
Großvater besagten ganz winzigen Kätzchens war der Anführer der
jetzt versammelten Armee, denn er hatte die schlimme Prozession von
einem fernen Berg aus entdeckt und in dem Gefangenen den
eingeschworenen Freund seiner Rasse auf der Erde und im Land des
Traums erkannt.
Von einem entfernten Gipfel ertönte jetzt ein
Geheul, und der alte Anführer hielt abrupt in seiner Rede inne. Es
war einer der Vorposten der Armee, auf dem höchsten Berg
stationiert, um nach dem einzigen Feind Ausschau zu halten, den die
Katzen der Erde fürchten: die sehr großen und sonderbaren Katzen
vom Saturn, die aus irgendeinem Grund den Zauber der Nachtseite
unseres Mondes nicht vergessen haben. Sie sind durch einen Vertrag
mit den bösen Krötenwesen verbündet und unseren Erdenkatzen
notorisch feindlich gesinnt; sodaß zu diesem kritischen Zeitpunkt
ein Treffen eine sehr ernste Angelegenheit gewesen wäre.
Nach einer knappen Beratung der Generäle
erhoben sich die Katzen und bildeten eine dichtere Formation, indem
sie sich schützend um Carter sammelten und sich auf den weiten
Sprung durch das All, zurück auf die Hausdächer unserer Erde und
ihres Traumlandes, vorbereiteten. Der alte Feldmarschall riet
Carter, sich von den massierten Reihen pelziger Springer sanft und
passiv mittragen zu lassen und erklärte ihm, wie er mit den übrigen
abspringen und mit ihnen zusammen wieder landen sollte. Er bot ihm
auch an, ihn an jedem gewünschten Ort abzusetzen, und Carter
entschied sich für die Stadt Dylath-Leen, von wo die schwarze
Galeere ausgelaufen war; denn von dort wollte er nach Oriab und dem
behauenen Gipfel des Ngranek segeln, und zudem die Leute der Stadt
vor weiterem Handel mit den schwarzen Galeeren warnen, falls es
überhaupt möglich sein sollte, diese Geschäfte taktvoll und
besonnen abzubrechen. Dann sprangen auf ein Signal hin alle Katzen,
den Freund in ihrer Mitte sicher geborgen, los; während in einer
schwarzen Höhle auf einem ruchlosen Gipfel der Mondberge das
kriechende Chaos Nyarlathotep immer noch vergeblich
wartete.
Der Sprung der Katzen durch das All verlief
sehr rasch; und da ihn seine Gefährten umgaben, sah Carter diesmal
die riesigen schwarzen Unförmlichkeiten nicht, die in dem Abgrund
lauem und torkeln und zappeln.
Ehe er noch ganz begriff, was geschehen war,
befand er sich wieder in seinem vertrauten Zimmer im Gasthof zu
Dylath-Leen, und die heimlichen, freundlichen Katzen ergossen sich
in Strömen aus dem Fenster. Der alte Anführer aus Ulthar ging als
letzter, und als ihm Carter die Pfote drückte, meinte er, er könne
mit dem Hahnenschrei wieder zu Hause sein. Als die Morgendämmerung
anbrach, begab Carter sich nach unten und erfuhr, daß seit seiner
Gefangennahme und seinem Verschwinden eine Woche verstrichen war.
Es galt also noch beinahe zwei Wochen auf das Schiff nach Oriab zu
warten, und in dieser Zeit sagte Carter gegen die schwarzen
Galeeren und ihre fürchterlichen Reisen was er nur konnte. Die
meisten Bürger glaubten ihm; und doch schätzten die Juweliere große
Rubine so sehr, daß keiner von ihnen endgültig versprechen wollte,
den Handel mit den breitmundigen Kaufleuten einzustellen. Sollte
Dylath-Leen jemals ein Übel aus solchem Handel erwachsen, wird er
keine Schuld daran tragen.
Nach einer Woche etwa passierte das ersehnte
Schiff den schwarzen Wall und den hohen Leuchtturm, und Carter sah
erleichtert, daß es ein Boot mit gesunder Besatzung, bemalten
Flanken, gelben Lateinsegeln und einem grauhaarigen, in seidene
Roben gehüllten Kapitän war. Als Fracht führte es das duftende Harz
aus Oriabs verborgenen Hainen”die delikaten Töpferwaren, die die
Künstler von Baharna gebrannt hatten und die seltsamen kleinen
Figuren, die aus der alten Lava des Ngranek gemeißelt waren. Sie
bekamen dafür Wolle aus Ulthar, schillernde Stoffe aus Hatheg und
das Elfenbein, das die schwarzen Menschen in Parg jenseits des
Flusses schnitzten. Carter vereinbarte mit dem Kapitän eine Passage
nach Baharna, und man unterrichtete ihn davon, daß die Reise zehn
Tage dauern würde.
Und während der Woche, die er wartete, sprach
er viel mit diesem Kapitän über den Ngranek und erfuhr, daß nur
sehr wenige das dort in den Fels gehauene Gesicht gesehen hätten;
die meisten Reisenden gäben sich damit zufrieden, den Legenden der
alten Leute, der Lavasammler und der Steinbildner in Baharna zu
lauschen und behaupteten dann später in ihrer weitentfernten
Heimat, sie hätten es mit eigenen Augen geschaut. Der Kapitän war
sich nicht einmal sicher, ob überhaupt irgendein jetzt Lebender das
steinerne Gesicht erblickt hatte, denn diese Seite des Ngranek sei
sehr schwer zugänglich, kahl und finster, und außerdem gäbe es
Gerüchte über gipfelnahe Höhlen, worin die Dunkel-Dürren hausten.
Doch beschreiben wollte der Kapitän das mögliche Aussehen eines
Dunkel-Dürren nicht, denn von diesem Geschmeiß wisse man, daß es
ganz hartnäckig die Träume jener verfolge, die zu oft daran
dachten. Dann fragte Carter den Kapitän nach dem unbekannten Kadath
in der kalten Öde und nach der wunderbaren Stadt im
Sonnenuntergang, aber hierüber wußte der gute Mann wirklich nichts
zu berichten.
Eines Frühmorgens segelte Carter mit Wechsel
der Flut aus dem Hafen von Dylath-Leen und beobachtete die ersten
Strahlen des Sonnenaufgangs auf den dünnen, kantigen Türmen jener
dunklen Basaltstadt. Zwei Tage segelten sie ostwärts entlang der
grünen Küsten und entdeckten oftmals hübsche Fischerstädtchen,
deren rote Dächer und Kaminkappen sich steil über alten,
verträumten Kaianlagen und Stranden erhoben, auf denen Netze zum
Trocknen auslagen. Doch am dritten Tag steuerten sie hart nach
Süden, wo die See schwerer rollte, und schon bald sahen sie gar
kein Land mehr. Am fünften Tag breitete sich Unruhe unter den
Matrosen aus, doch der Kapitän entschuldigte ihre Furcht, indem er
erklärte, das Schiff werde bald über den tangbewachsenen Mauern und
zerbrochenen Säulen einer versunkenen Stadt, älter als jede
Erinnerung, hinfahren, und bei klarem Wasser könne man an diesem
Ort so viele schwebende Schatten ausmachen, daß schlichte Gemüter
Anstoß daran nähmen. Er gestand überdies, daß in diesem Teil der
See viele Schiffe verschollen wären; ganz in der Nähe der
versunkenen Stadt seien sie noch angerufen worden, aber dann hätte
man nie wieder etwas von ihnen gesehen.
In jener Nacht schien der Mond hell, und man
konnte eine weite Strecke ins Wasser hinabschauen. Es kam so wenig
Wind auf, daß das Schiff sich kaum bewegte und der Ozean ganz still
lag. Carter beugte sich über die Reling und erblickte viele Faden
tief den Dom des großen Tempels und davor eine von unnatürlichen
Sphinxen gesäumte Allee, die auf einen ehemaligen öffentlichen
Platz zuführte. Delphine spielten ausgelassen zwischen den Ruinen;
hier und da tollten plumpe Tümmler, die manchmal an die Oberfläche
schwammen und sich hoch aus dem Meer schnellten. Als das Schiff ein
wenig weiterdriftete, stieg der Meeresboden in Hügeln an, und
deutlich ließen sich die Linien alter, steiler Straßen und die
niedergewaschenen Mauern von Myriaden kleiner Häuser
erkennen.
Dann glitten die Vororte in den Blick und
schließlich auf einem Berg ein großes, einsames Bauwerk von
einfacherer Architektur und in wesentlich besser erhaltenem
Zustand. Es war dunkel und flach und nahm die vier Seiten eines
Quadrats ein, mit je einem Turm in den Ecken, einem Pflasterhof im
Zentrum und kleinen, merkwürdig runden Fenstern.
Möglicherweise bestand es aus Basalt, doch
jetzt deckte es der Seetang fast völlig zu; und nach seinem
einsamen und impressiven Standort auf jenem abgelegenen Hügel zu
urteilen, hätte es ein Tempel oder Kloster sein können. Ein Schwarm
phosphoreszierender Fische im Innern verlieh den kleinen runden
Fenstern den Anschein, erleuchtet zu sein, und Carter nahm den
Seeleuten ihre Angst nicht weiter übel. Dann bemerkte er im
wässerigen Mondlicht einen sonderbar hohen Monolithen in der Mitte
des Zentralhofes und sah, daß irgend etwas daran festgebunden war.
Und als er, nachdem er sich aus der Kajüte des Kapitäns ein
Teleskop besorgt hatte, entdeckte, daß es sich bei dem angebundenen
Ding um einen in die Seidenroben Oriabs gekleideten Seemann
handelte, den augenlosen Kopf nach unten, war er froh, daß eine
schwellende Brise das Schiff bald in gesündere Meeresbreiten
vorantrieb. Den nächsten Tag trafen sie ein Schiff unter violetten
Segeln, das mit einer Ladung wunderlich gefärbter Lilienknollen
nach Zar im Land der vergessenen Träume unterwegs war. Und am Abend
des elften Tages kam die Insel Oriab mit dem in der Feme
aufragenden, zerrissenen und schneegekrönten Ngranek in Sicht.
Oriab ist eine sehr große Insel und ihr Hafen Bahama eine mächtige
Stadt. Die Kais von Bahama sind aus Porphyr, und hinter ihnen
erhebt sich in gewaltigen Steinterrassen die Stadt mit
Stufenstraßen, die häufig von Gebäuden und den Brücken zwischen
Gebäuden überwölbt werden. In einem Tunnel mit Granittoren fließt
ein immenser Kanal unter der gesamten Stadt hindurch und mündet in
den Binnensee Yath, an dessen entfernten Gestaden die ausgedehnten
Lehmsteinruinen einer uranfänglichen Stadt liegen, deren Name
vergessen ist. Als das Schiff am Abend in den Hafen lief, blinkten
die Zwillingssignalfeuer Thonund Thai einen Willkommensgruß, und in
der Million Fenster auf Bahamas Terrassen schienen milde Lampen
auf, still und allmählich wie die Sterne am Dämmerlümmel, bis
zuletzt der steile und ansteigende Seehafen als glitzerndes
Sternbild zwischen den Himmelslichtem und den Spiegelungen eben
dieser Lichter im stillen Hafenbecken hing.
Nach dem Anlegen lud der Kapitän Carter als
Gast in sein eigenes kleines Haus an den Ufern des Yath-Sees, dort
wo sich die Ausläufer der Stadt bis zu ihm hinunterziehen; und
seine Frau und seine Diener tischten zum Entzücken des Reisenden
fremdartige, schmackhafte Speisen auf. In den folgenden Tagen
fragte Carter in allen Tavernen und auf den öffentlichen Plätzen,
wo sich die Lavasammler und Steinbildner treffen, nach Gerüchten
und Legenden über den Ngranek, aber es gelang ihm nicht, jemanden
zu finden, der auf den höhergelegenen Hängen gewesen war oder das
herausgemeißelte Gesicht gesehen hatte. Der Ngranek sei ein
schwieriger Berg, hinter dem nur ein verfluchtes Tal liege, und
außerdem könne man sich nie mit Gewißheit darauf verlassen, daß die
Dunkel-Dürren ausschließlich in der Fabel existierten.
Als der Kapitän nach Dylath-Leen
zurücksegelte, quartierte sich Carter in einem alten Wirtshof ein,
der auf ein Treppengäßchen in der Altstadt hinausführte, die aus
Ziegeln gebaut ist und den Ruinen am entfernten Ufer des Yath-Sees
ähnelt. Hier schmiedete er Pläne für die Besteigung des Ngranek und
trug alles zusammen, was er von den Lavasammlern über den Weg
dorthin erfahren hatte. Der Besitzer der Taverne war ein sehr alter
Mann und hatte so viele Legenden gehört, daß er eine große Hilfe
bedeutete.
Er führte Carter sogar in einen Raum im
Obergeschoß des alten Hauses und zeigte ihm ein krudes Bild, das
ein Reisender in jenen verflossenen Tagen in die Lehmwand geritzt
hatte, als sich die Menschen noch kühner und weniger abgeneigt
zeigten, die hochgelegenen Ranken des Ngranek aufzusuchen. Der
Urgroßvater des alten Tavernenbesitzers hatte von seinem
Urgroßvater erzählt bekommen, daß der Reisende, der besagtes Bild
einritzte, den Ngranek bestiegen, das gemeißelte Gesicht gesehen
und es anschließend hier aufgezeichnet hatte, damit andere es
betrachten konnten; doch daran hegte Carter starke Zweifel, denn
die großen, rohen Züge auf der Wand waren hastig und sorglos
hingeworfen und zudem völlig mit einer Unmenge kleiner, äußerst
geschmackloser Begleitfigürchen mit Hörnern, Flügeln, Klauen und
Ringelschwänzchen bedeckt.
Nachdem er zuletzt alle Informationen
eingesammelt hatte, die es in den Tavernen und auf den öffentlichen
Plätzen von Bahama einzusammeln gab, mietete Carter ein Zebra und
brach eines Morgens entlang der Straße am Ufer des Yath-Sees zu
jenem Gebiet des Landesinnern auf, in dem sich der steinige Ngranek
türmt. Zu seiner Rechten wellten sich Hügel, gefällige Obstgärten
und blitzblanke, kleine Steinfarmhäuser, und dieser Anblick
erinnerte ihn eindringlich an die fruchtbaren Felder, die den Skai
flankieren.
Gegen Abend befand er sich nahe der
namenlosen, antiken Ruinen am jenseitigen Ufer des Yath-Sees, und
obwohl ihn erfahrene Lavasammler davor gewarnt hatten, hier nachts
zu kampieren, band er sein Zebra an einer merkwürdigen Säule vor
einer zerbröckelnden Mauer an und breitete seine Decke in einem
geschützten Winkel unter irgendwelchen Steingravuren aus, deren
Bedeutung niemand entziffern konnte. Er wickelte sich in eine
zweite Decke, denn die Nächte Oriabs sind kalt; und als er beim
Aufwachen einmal glaubte, die Flügel eines Insektes zu spüren, das
sein Gesicht streifte, zog er den Kopf ganz unter die Decke und
schlief friedlich weiter, bis ihn die Magahvögel in den fernen
Harzwäldchen weckten.
Die Sonne war eben erst über dem großen
Abhang aufgegangen, von dem sich meilenweit uralte
Ziegelfundamente, abgetragene Mauern und dazwischen geborstene
Säulen und Piedestale desolat bis ans Ufer des Yath-Sees zogen, und
Carter blickte sich nach seinem Zebra um. Groß war seine
Bestürzung, als er das zahme Tier neben der merkwürdigen Säule, an
der er es angeleint hatte, niedergestreckt fand, und seine
Verwirrung wuchs noch, als er feststellte, daß das Reittier tot und
bis auf den letzten Blutstropfen ausgesaugt war, und zwar durch
eine einzige Wunde am Hals. Sein Gepäck hatte man durchwühlt und
einigen glitzernden Schnickschnack mitgenommen, und ringsum auf der
staubigen Erde entdeckte er die großen Abdrücke von Schwimmfüßen,
für die er sich keine Erklärung wußte. Die Legenden und Warnungen
der Lavasammler fielen ihm ein, und er dachte an das, was nachts
sein Gesicht gestreift hatte. Dann schulterte er sein Gepäck und
marschierte dem Ngranek zu, doch nicht ohne leises Schaudern, als
dicht an der durch die Ruinen verlaufenden Straße tief in der Mauer
eines alten Tempels ein Gewölbe gähnte, dessen Stufen weiter in die
Dunkelheit hinabführten, als er spähen konnte.
Sein Weg stieg jetzt bergan durch eine
wildere und teilweise waldige Landschaft, und er traf nur auf
Köhlerhütten und die Lager derjenigen, die in den Hainen das Harz
sammelten. Die Luft duftete balsamisch, und alle Magahvögel
zwitscherten vergnügt, als sie ihr siebenfarbiges Gefieder in der
Sonne strahlen ließen. Kurz vor Sonnenuntergang erreichte er ein
neuerrichtetes Lager der Lavasammler, die mit prallgefüllten Säcken
von den unteren Hängen des Ngranek zurückkehrten; und hier
kampierte auch er, vernahm die Lieder und Geschichten der Männer
und belauschte, was sie über einen Gefährten flüsterten, den sie
verloren hatten. Er war hoch hinaufgeklettert, um an einen Brocken
feinster Lava heranzukommen, und bei Einbruch der Nacht nicht zu
seinen Kameraden zurückgekommen. Als sie ihn am nächsten Tag
suchten, fanden sie nur seinen Turban, und auch unten zwischen den
Klippen fehlte jedes Anzeichen dafür, daß er abgestürzt war. Sie
forschten nicht weiter nach ihm, denn ein alter Mann aus ihrer
Mitte meinte, es wäre zwecklos. Keiner würde je das finden, was die
Dunkel-Dürren holten, obwohl diese Bestien selbst so zweifelhaft
seien, daß sie fast schon fabulös wären. Carter erkundigte sich bei
ihnen, ob Dunkel-Dürre Blut saugten, glitzernde Sachen liebten und
Abdrücke von Schwimmfüßen hinterließen, aber alle schüttelten
verneinend die Köpfe und schienen von seiner Nachforschung
erschreckt. Als er merkte, wie wortkarg sie geworden waren, gab er
es auf, weitere Fragen zu stellen und legte sich unter seiner Decke
schlafen.
Am nächsten Tag stand er mit den Lavasammlern
auf und tauschte Abschiedswünsche mit ihnen, als sie nach Westen
ritten, und er, auf einem Zebra, das er ihnen abkaufte, gen Osten.
Die alten Männer erteilten ihm ihren Segen und ihre Ermahnungen und
rieten ihm, besser nicht zu hoch auf den Ngranek zu klimmen, aber
obwohl er sich herzlich bei ihnen bedankte, wurde er in seinem
Entschluß doch kein bißchen wankelmütig. Denn er fühlte noch immer,
daß er die Götter auf dem unbekannten Kadath finden und ihnen einen
Weg zu jener bezaubernden und wunderbaren Stadt im Sonnenuntergang
abgewinnen mußte. Nach einem ausgedehnten Ritt bergan gelangte er
mittags zu mehreren verlassenen Ziegeldörfem der Hügelleute, die
einst so dicht am Ngranek gelebt und aus seiner glatten Lava
Figuren gebildet hatten. Bis in die Tage des Großvaters des alten
Tavernenbesitzers hatten sie hier gewohnt, doch etwa um diese Zeit
spürten sie, daß ihre Gegenwart unerwünscht war. Ihre Häuser waren
sogar den Berghang hochgekrochen, und je höher hinauf sie bauten,
desto mehr Leute vermißten sie wenn die Sonne aufging. Und endlich
beschlossen sie, es wäre besser, überhaupt wegzuziehen, denn
manchmal sah man im Dunkeln flüchtig Dinge, die keiner vorteilhaft
auszulegen vermochte; deshalb zogen sie schließlich alle hinunter
ans Meer und lebten in Bahama, wo sie ein sehr altes Viertel
bewohnten und ihren Söhnen die überlieferte Kunst der
Steinbildnerei lehrten, die sie bis auf den heutigen Tag
ausüben.
Von diesen Kindern der ausgewanderten
Hügelleute hatte Carter bei seinen Streifzügen durch Bahamas alte
Tavernen die besten Geschichten über den Ngranek gehört.
Inzwischen ragte die gewaltige, kahle Flanke
des Ngranek immer höher auf, je mehr sich ihr Carter näherte. Die
unteren Abhänge waren spärlich von Bäumen bestanden, darüber
wuchsen dürre Büsche, und dann erhob sich das bare, gräßliche
Gestein gespenstisch in den Himmel, um sich mit Frost und Eis und
ewigem Schnee zu mischen. Carter konnte die Ritzen und Schrunde im
düsteren Fels erkennen, und die Aussicht, dort hinaufzusteigen,
behagte ihm nicht. Mancherorts, traten solide Lavaströme hervor,
und Schlackehaufen übersäten Hänge und Grate. Vor neunzig Äonen,
ehe sogar die Götter noch auf seinem spitzen Gipfel tanzten, hatte
dieser Berg mit Feuer gesprochen und mit den Stimmen des Erddonners
geröhrt. Nun türmte er sich ganz stumm und sinister und trug auf
seiner verborgenen Seite das geheime, titanische Bildnis, von dem
Gerüchte erzählten. Und es gab in diesem Berg Höhlen, die leer und
allein mit vorzeitlicher Finsternis sein mochten, oder vielleicht
wenn die Legenden der Wahrheit entsprachen Schrecken von ungeahnten
Ausmaßen bargen.
Das Gelände stieg schräg zum Fuße des Ngranek
an, dünn mit Zwergeichen und Eschen bewachsen und bestreut mit
Felsgeröll, Lava, und altem Zinder.
Neben den verkohlten Ascheresten zahlreicher
Lagerplätze, an denen die Lavasammler zu rasten pflegten, standen
mehrere kunstlose Altäre, die sie entweder zur Huldigung der Großen
errichtet hatten, oder um das abzuwehren, was sie in den Hochpässen
und Labyrinthhöhlen des Ngranek vermuteten. Abends erreichte Carter
die vorgeschobenste Feuerstelle; hier schlug er sein Camp für die
Nacht auf, band sein Zebra an einen jungen Baum und wickelte sich
vor dem Einschlafen fest in seine Decken. Die ganze Nacht hindurch
heulte ein ferner Voonith am Ufer eines versteckten Teichs, aber
Carter fürchtete diesen amphibischen Schrecken nicht, denn man
hatte ihm mit Bestimmtheit versichert, daß es kein Voonith wagen
würde, sich den Hängen des Ngranek auch nur zu nahem. Im klaren
Sonnenlicht des Morgens begann Carter den langen Aufstieg; er
führte sein Zebra so weit mit, wie das nützliche Tier gehen konnte,
doch als der Boden des lichten Waldes zu steil wurde, leinte er es
an einer verkrüppelten Esche fest. Danach kletterte er allein
weiter; zuerst durch den Wald mit seinen Ruinen antiker Dörfer auf
zugewucherten Lichtungen, und dann über das feste Gras, wo ab und
zu anämische Büsche wuchsen. Er bedauerte es, den Wald verlassen zu
müssen, denn die Berglehne stieg ziemlich jäh an, und das Ganze
wirkte einigermaßen schwindelerregend. Nach und nach begann er
immer mehr Einzelheiten der unter ihm ausgebreiteten Landschaft zu
erkennen, wenn er sich einmal umdrehte; die verlassenen Hütten der
Steinbildner, die Haine mit den Harzbäumen und die Lagerstätten
derer, die darin sammelten, die Wälder wo die prismatischen Magahs
nisten und singen, und ganz weit entfernt sogar eine Andeutung der
Ufer des Yath-Sees und jener abstoßenden, uralten Ruinen, deren
Name vergessen ist. Er erachtete es für ratsamer, sich nicht
umzuschauen und kletterte solange weiter, bis die Büsche nur noch
sehr vereinzelt gediehen und oft bloß das feste Gras Halt
gewährte.
Dann wurde die Humusschicht kärglich, und
große Flächen schieren Felsgesteins brachen durch, hier und da
klebte in einer Spalte der Horst eines Kondors. Zuletzt gab es nur
noch den blanken Fels, und wäre er nicht so rissig und verwittert
gewesen, hätte Carter kaum höher klimmen können.
Buckel, Simse und Vorsprünge halfen ihm indes
weiter; und es war ermutigend für ihn, hin und wieder das Zeichen
eines Lavasammlers unbeholfen in den bröckeligen Stein eingekratzt
zu finden und zu wissen, daß gesunde, menschliche Wesen vor ihm
hier gewesen waren. Ab einer gewissen Höhe zeugten nach Bedarf
eingeschlagene Handund Fußlöcher ebenso von menschlicher Gegenwart
wie kleinere Steinbrüche und Ausgrabungen dort, wo man auf eine
reiche Lavaader oder gar einen Strom gestoßen war. An einer Stelle
hatte man kunstvoll einen schmalen Sims ausgehauen, über den man zu
einem besonders reichen Vorkommen rechts der Hauptaufstiegsroute
gelangte. Einoder zweimal wagte es Carter, sich umzuschauen und
wurde fast von der ausgebreiteten Landschaft überwältigt.
Der gesamte Inselstreifen zwischen ihm und
der Küste lag offen vor seinem Blick, mit Bahamas Steinterrassen
und dem Rauch seiner Schornsteine mystisch im Hintergrund. Und
jenseits davon das grenzenlose Süd-Meer mit all seinen wunderlichen
Geheimnissen.
Bis jetzt hatte sich der Weg dicht am Berg
entlanggewunden, sodaß die abgelegene und behauene Flanke noch
immer verborgen blieb. Carter entdeckte nun einen nach links
aufsteigenden Sims, der in die gewünschte Richtung zu führen
schien, und diesen Pfad schlug er in der Hoffnung ein, daß er sich
als kontinuierlich erwies. Nach zehn Minuten erkannte er, daß er
wirklich keine Sackgasse gewählt hatte, sondern daß der Weg in
einem steilen Bogen weiterlief und ihn endete er nicht unvermittelt
oder wechselte seinen bisherigen Verlauf nach einer Stunde
Kletterei zu jenem unbekannten Südhang bringen mußte, der nur die
desolaten Klippen und das verfluchte Lavatal überschaute. Als unter
ihm neues Land auftauchte, sah er, daß es kahler und wilder war,
als die seewärts liegenden Landstriche, die er durchquert hatte.
Auch die Berghalde bot ein etwas anderes Bild; sie war hier von
merkwürdigen Höhlen und Spalten durchsetzt, die auf dem direkten
Weg, den er verlassen hatte, fehlten. Einige lagen über und einige
unter ihm, alle öffneten sich auf schiere, lotrechte Kliffe und
waren für Menschen unerreichbar. Die eiskalte Luft störte Carter
nicht, denn das Klettern strengte sehr an. Nur daß sie immer dünner
wurde, bereitete ihm Sorge, und er überlegte, ob hierin nicht
vielleicht die Ursache für die Schwindelanfälle anderer Reisender
und die daraus erwachsenden, absurden Geschichten über die
Dunkel-Dürren zu sehen war, mit denen sie das Verschwinden jener
Kletterer erklärten, die von diesen gefahrvollen Pfaden abstürzten.
Die Erzählungen der Reisenden beeindruckten ihn nicht sonderlich,
und für den Fall, daß es Schwierigkeiten geben sollte, trug er
einen guten Krummsäbel bei sich. Alle nebensächlichen Gedanken
verloren sich in dem Wunsch, jenes gemeißelte Gesicht zu sehen, das
ihn möglicherweise auf die Spur der Götter oben auf dem unbekannten
Kadath setzte.
In der furchtbaren Kälte der oberen Bergregion
schließlich fand er sich der geheimnisumwitterten Seite des Ngranek
gegenüber, und sah in unendlichen Abgründen unter sich die kleinen
Klippen und sterilen Lavaschlünde, die vom alten Zorn der Großen
kündeten. Nach Süden zu dehnte sich eine gewaltige Landfläche; aber
die Gegend war wüst und ohne freundliche Felder oder Cottagekamine,
und sie schien kein Ende nehmen zu wollen. In dieser Richtung
fehlte jede Spur vom Meer, denn Oriab ist eine große Insel.
In den fast vertikalen Abstürzen gähnten
weiterhin zahllose schwarze Kavernen und unheimliche Spalten, aber
für einen Kletterer waren sie unerreichbar. Oben ragte jetzt ein
mächtiger Felsüberhang, der den Blick versperrte, und Carter wurde
einen Moment lang von der Furcht befallen, daß er unüberwindlich
sei. In dieser windgepeitschten Ungewißheit, Meilen über der Erde,
mit nichts als leerem Raum und Tod auf einer und glatten Felswänden
auf der anderen Seite, durchlebte er für Augenblicke die Angst, die
die Menschen die verborgene Seite des Ngranek meiden läßt. Umkehren
konnte er nicht, denn die Sonne stand bereits tief am Horizont.
Führte kein Weg hinauf, würde ihn die Nacht noch immer hier kauern
finden und die Morgenfrühe gar nicht mehr.
Aber es gab einen Weg, und er entdeckte ihn
rechtzeitig. Nur ein äußerst erfahrener Träumer hätte diese
unmerklichen Felsvorsprünge zu nutzen verstanden, doch für Carter
reichten sie aus. Nachdem er den überhängenden Felsen bezwungen
hatte, stellte er fest, daß der darüberliegende Hang wesentlich
leichter war, als der untere, denn das Abschmelzen eines großen
Gletschers hatte einen großzügig bemessenen, von Simsen überzogenen
Lehmbodenstreifen zurückgelassen. Linkerhand fiel eine Steilklippe
aus unabsehbaren Höhen senkrecht in unabsehbare Tiefen; der
schwarze Mund ihrer Höhle lag über ihm und außer Reichweite. An
anderen Stellen jedoch wich der Berg stark zurück und ließ Carter
sogar Platz, um sich anzulehnen und auszuruhen.
Der Frost bewies ihm, daß er sich dicht
unterhalb der Schneegrenze befinden mußte, und er blickte nach
oben, um zu sehen, welche glitzernden Gipfelzinnen im späten,
rotgoldenen Sonnenlicht leuchten würden. Richtig, dort oben
erstreckten sich die Schneefelder unzählige tausend Fuß weit, und
unter ihnen klebte eine ebensolche große, vorspringende Klippe, wie
er sie gerade überstiegen hatte; mit kühn geschwungenen Umrissen
hing sie dort für alle Zeiten. Und als er die Klippe sah, keuchte
er und schrie laut auf und klammerte sich in Schrecken an den
zerklüfteten Felsen; denn die titanische Ausbuchtung hatte nicht
die Form bewahrt, die sie im Anfang der Erde erhalten hatte,
sondern glühte im Sonnenuntergang rot und bestürzend mit den
gemeißelten und polierten Zügen eines Gottes.
Streng und entsetzlich leuchtete das Gesicht,
über das der Sonnenuntergang sein Feuer goß. Wie riesig es war,
wird nie jemand ermessen können, doch Carter wußte sofort, daß es
niemals von Menschenhand geformt sein konnte.