10

»Sie sind blaß«, sagte Julia. »Fühlen Sie sich nicht gntut?«
Herter sah auf.
»Nicht besonders, ehrlich gesagt. Das hat man schon mal in unserem Alter.«
»In unserem Alter? Sie sind doch noch ein junger Hüpfer.«
Er nahm ihre faltige Hand und drückte auf altösterreichische Art einen Kuß darauf.
»Nun gut«, sagte er zu Falk, »er ging also ins Haus – und dann?«
Eine dreiviertel Stunde später klingelte in der Küche das Telefon, Fräulein Braun war offenbar am Apparat, und in Begleitung von Adjutant Krause ging er mit pochendem Herzen nach oben, in seiner schwarzen Hose und der weißen Weste mit den goldenen Epauletten, am Revers die SSRunen auf schwarzem, rautenförmigem Grund und in den weiß behandschuhten Händen ein Tablett mit Tee und Gebäck. Der Hitler, den er dort in seinem niedrigen, mit Holzpaneelen verkleideten Arbeitszimmer neben dem übermannshohen, gefliesten Ofen traf, war plötzlich eine völlig andere Person. Erschöpft, amorph, in einem grauen Zweireiher mit herabgerutschten Socken, die Haare noch naß vom Baden, lag er in einem geblümten Sessel, nicht mehr als ein Schatten des dämonischen Akrobaten, der vorhin angekommen war – und ohne jede Gemeinsamkeit mit dem in hysterische Raserei verfallenden Volkstribun, den die Welt kannte. Mit einem Zahnstocher pulte er zwischen seinen Zähnen herum.
»Offenbar war er so etwas wie eine unheilvolle Dreifaltigkeit«, sagte Herter.
Fräulein Braun saß mit hochgezogenen Knien auf der Couch, unter dem Porträt von Hitlers schon lange verstorbener Mutter, der er sehr ähnlich sah: derselbe Medusenblick, derselbe kleine Mund. Doch trotz seiner Erschöpfung bemerkte er sofort, daß Falk neu war. Während Krause, die Hacken seiner Stiefel zusammenschlagend, ihn mit kurzen Worten vorstellte, sah Hitler ihn mit seinen leicht hervorstehenden, dunkelblauen Augen scharf an – und diesen Blick, sagte Falk, werde er nie vergessen.
»Ich denke«, sagte Herter, »daß er Sie mit diesem berühmten Blick in die vollkommene Unterwerfung zwang. Sie stellten eine potentielle Gefahr für ihn dar, Sie waren in der Lage, ihn zu vergiften; doch mit diesem Blick, der Ihnen immer im Gedächtnis bleiben wird, lähmte er Sie wie die Schlange das Kaninchen.«
Während er dies äußerte, kam ihm eine Formulierung in den Sinn, mit der Thomas Mann einmal Hitlers Blick charakterisiert hatte: sein »Basiliskenblick«. Der Basilisk, ein geflügeltes Fabeltier, zusammengesetzt aus dem gekrönten Kopf eines Hahns und dem Unterleib einer Schlange mit Klauen, verbrennt alles, was er betrachtet, sogar Steine zersplittern unter seinem Blick. Er kann nur getötet werden, indem man ihm einen Spiegel vorhält, so daß sein alles vernichtender Blick auf ihn selbst zurückfällt. Diese Methode hatte also etwas von einem erzwungenen Selbstmord. Doch ein Basilisk ist immerhin
noch etwas, das gespiegelt werden kann, während Hitler die reine Negativität war. Wer ihm in die Augen sah, erlebte den horror vacui.
»Hätte ich es nur getan«, sagte Falk.
»Hätten Sie was nur getan?«
»Ihn vergiftet. Doch als ich Grund dazu hatte, ging es nicht mehr.«
Herter nickte schweigend. Es war klar, daß Falk jetzt an die Dinge rührte, die ihm auf dem Herzen lagen, und Herter wollte ihn nicht durch Fragen verunsichern. Er war dabei, sich von etwas zu befreien, das er und Julia mehr als ein halbes Jahrhundert mit sich herumgeschleppt hatten, und dafür mußte man ihnen Zeit geben. Herter bemühte sich, seine Ungeduld nicht durch einen Blick auf die Uhr zu verraten, denn so verstohlen man es auch tut, man bemerkt es immer. Die Lösung dieses Problems bestand darin, auf die Uhr eines anderen zu schauen, doch weder Falk noch Julia trugen eine. Er schätzte, daß es auf zwölf zuging. Immer wenn der Chef der Wilhelmstraße im hektischen Berlin entfloh und mit seiner Ankunft sein Feriendomizil in das Führerhauptquartier verwandelte, ließen sich auch andere Prominente mit ihren Familien auf dem Obersalzberg nieder. Martin Bormann natürlich, der selbst ein großes Chalet im innersten Kreis bewohnte und seinen Meister nie aus dem Auge verlor: Er hatte es so bauen lassen, daß er von seinem Balkon aus mit einem Fernglas kontrollieren konnte, wer bei Hitler ein und aus ging. Auch Reichsmarschall Göring hatte ein Haus dort, ebenso Albert Speer, Hitlers Leibarchitekt.
»In dessen Gestalt er also auch seinen Wiener Jugendtraum in Reichweite hatte«, nickte Herter.
»Seinen Jugendtraum?« »Baumeister zu werden.«
»Baumeister …« wiederholte Julia verächtlich. »Abrißunternehmer, könnte man besser sagen. Durch seine Schuld wurde ganz Deutschland in Schutt und Asche gelegt, und nicht nur Deutschland.«
Das Leben auf dem Berg, fuhr Falk fort, war von einer seltsamen Öde, vor allem, wenn der Chef da war. Weil er als der echte Bohemien, der er immer geblieben war, jeden Abend spät zu Bett ging, durfte er erst um elf geweckt werden. Später, während des Kriegs, hat dies Tausende Soldaten das Leben gekostet. Wenn morgens um acht der Bericht von einem Durchbruch an der Ostfront eintraf und rasch entschieden werden mußte, ob sich die Truppen zurückziehen oder zum Gegenangriff übergehen sollten, wagte es niemand, ihn zu wecken, auch Feldmarschall Keitel nicht. Der Führer schlief! Ratlose Generäle in Rußland, aber der Führer schlief und durfte nicht geweckt werden.
Ja, ja, ja, dachte Herter. Und wovon träumte er? Er gäbe wer weiß was darum, das zu erfahren. »Hat er Ihnen vielleicht einmal einen Traum erzählt, Herr Falk?« Falk lachte kurz auf.
»Dachten Sie etwa, er hätte jemanden an sich herangelassen? Der Mann war in sich selbst gefangen … wie … wie … Doch einmal, während des Kriegs, ich meine im Winter zweiundvierzig, da muß er einen Alptraum gehabt haben. Ich wachte auf und hörte ihn schreien, ich nahm meine Pistole und rannte im Schlafanzug zu seinem Schlafzimmer.«
»Sie hatten eine Pistole?« Falk sah ihn von unten herauf an.
»Es gab viele Waffen auf dem Obersalzberg, Herr Herter. Er war allein, Fräulein Braun war für ein paar Tage auf Familienbesuch in München. An der Tür standen bereits zwei Leibwachen von der SS mit Maschinenpistolen, aber sie trauten sich nicht hinein, obwohl er möglicherweise ermordet wurde. Die beiden wurden gleich am nächsten Morgen an die Ostfront geschickt. Ich riß die Tür auf und sah ihn im Nachthemd völlig aufgewühlt mitten im Zimmer stehen, triefend vor Schweiß, mit blauen Lippen, zerzaustem Haar, und mit angstverzerrtem Gesicht sah er mich an. Nie werde ich vergessen, was er sagte: ›Er … er … er war hier …‹«
Er? Herter hob die Augenbrauen. Er, vor dem sich jeder fürchtete, vor wem könnte er selbst sich gefürchtet haben? Wer war dieser Er? Sein Vater? Wagner? Der Teufel?
»Aber wie konnten Sie seine Schreie hören?
Sagten Sie nicht, Sie wohnten in einem Mehrfamilienhaus auf dem Gelände?«
Falk wechselte einen Blick mit Julia.
»Damals nicht mehr.«
Hitlers asketisches Schlafzimmer hatte keine Tür zum Gang hin, sondern nur eine, die in sein Arbeitszimmer führte. Um elf Uhr legte Falk dort die Zeitungen und ein paar Telegramme auf einen Stuhl und rief: »Guten Morgen, mein Führer! Es ist Zeit!« Meistens erschien der Chef dann in einem langen weißen Nachthemd und mit Pantoffeln an den Füßen, doch einmal rief er Falk zu sich hinein. Er saß auf der Bettkante, Fräulein Braun hockte in einem blauseidenen Morgenrock auf dem Boden; sie hielt einen seiner Füße in ihrem Schoß und schnitt ihm die Nägel. Falk fiel auf, wie weiß der Fuß war.
»So weiß war er am ganzen Körper«, ergänzte Julia. »Noch vor dem Krieg habe ich ihn einmal nackt gesehen, das muß achtunddreißig gewesen sein …«
»Nein«, unterbrach Falk sie, »siebenunddreißig.«
Sie sah ihn unverwandt an und begriff offenbar plötzlich, was er meinte.
»Ja, natürlich. Siebenunddreißig.«
Der Chef, sagte sie, blieb praktisch immer bis tief in die Nacht auf, manchmal sogar bis sechs oder sieben Uhr morgens, umgeben von seiner festen Clique, Bormann, Speer, seinem Leibarzt, seinen Sekretärinnen, seinem Fotografen, seinem Chauffeur, seinem Masseur, seiner jungen vegetarischen Köchin, ein paar Ordonnanzen und anderen Mitarbeitern; nie mit der Elite seiner Partei, seiner Wehrmacht oder seines Staates.
»Auch hierin blieb er der Wiener Bohemien«, nickte Herter. »Was sollen wir bloß von diesem Mann denken?«
Julia selbst durfte sich auch oft dazusetzen. Während Ullrich Getränke und Häppchen servierte, wurde in dem großen Saal mit den gigantischen Gobelins, Arno Brekers riesiger WagnerBüste und dem größten Fenster der Welt, auf das Hitler so stolz war, ein Film vorgeführt; nicht selten einer, den Goebbels verboten hatte. Sie hörten auch Schallplatten, Wagner natürlich, aber auch Operetten wie zum Beispiel Franz Léhars Lustige Witwe, und anschließend hielt der Chef einen jener endlosen Monologe, die sich von der fernsten Vergangenheit bis in die fernste Zukunft erstreckten, während seine Gäste kaum noch die Augen offenhalten konnten, nicht zuletzt deshalb, weil sie das alles schon häufiger gehört hatten. Anschließend ging er noch stundenlang in seinem Arbeitszimmer hin und her, während er im Sommer oft noch bis Sonnenaufgang auf dem Balkon seines Arbeitszimmers saß, um in der Stille der Berge und Sterne nachzudenken. »Oder um nicht schlafen zu müssen«, sagte Herter, »denn sonst würde er ihm vielleicht wieder begegnen. Man darf übrigens nicht dran denken, worüber er dort auf dem Balkon nachdachte.« »Das stimmt«, sagte Falk. »Nur gut, daß die Amerikaner das ganze Spukschloß, beziehungsweise das, was nach ihrem Bombardement davon noch übrig war, nach dem Krieg in die Luft gesprengt und dem Erdboden gleichgemacht haben.«
Fräulein Braun aber, fuhr Julia fort, zog sich häufig bereits gegen eins auf ihr Zimmer zurück, wo sie ihr dann noch einen Becher Kakao servierte. Eines Nachts klopfte sie an, doch weil Blondi in Hitlers Arbeitszimmer bellte, um die Aufmerksamkeit ihres Herrchens auf sich zu lenken, hörte Julia nicht, ob Fräulein Braun wie sonst immer »Herein« gesagt hatte. Sie öffnete die Tür und sah die beiden mitten im Zimmer stehen, einander zärtlich umarmend, sie im offenen Morgenmantel, einem schwarzen diesmal, er unbekleidet. Sein fleischiger, weißer Körper, hatte etwas Lebloses, noch nie war er der Sonne ausgesetzt gewesen; nur seine Wangen und sein Hals besaßen etwas Farbe, doch die endete abrupt, so daß es aussah, als gehörte sein Kopf zu einem anderen Körper. Julia erinnerte sich noch daran, daß aus der offenen Badezimmertür Dampf und das Geräusch von fließendem Wasser kam. Was die beiden genau machten, konnte sie nicht sehen. Er wandte ihr den Rücken zu und war offenbar erregt. »Patscherl …« hörte sie ihn stöhnen. »Patscherl?« wiederholte Herter.
»Er hatte eine ganze Reihe von Kosenamen für sie«, sagte Julia. »Feferl, zum Beispiel.«
»Tschapperl«, fügte Falk mit unbewegter Miene hinzu. »Schnacksi.«
Fräulein Braun sah sie über seine Schulter an und riß erschrocken die Augen auf. Daraufhin schloß sie schnell und geräuschlos die Tür. Zum Glück hatte er nichts bemerkt.
»Das hätte ein böses Ende nehmen können«, sagte Falk. »Wenn die beiden nur eine Viertelumdrehung anders gestanden hätten, hätte uns das vielleicht innerhalb von zehn Minuten das Leben gekostet.« Er betupfte mit einem Taschentuch seine Augen, doch der Grund dafür waren nicht Emotionen, sondern allein das Alter.
Jemand klopfte an die Tür, und ohne auf eine Antwort zu warten erschien ein kleiner bärtiger Mann in einem braunen Kittel. Nach einem raschen Blick durchs Zimmer fragte er mit einem Lächeln, das Herter nicht wirklich gefiel: »Besuch?«
»Wie Sie sehen«, sagte Falk, ohne ihn anzuschauen.
Der Mann wartete kurz auf eine nähere Erklärung; als die ausblieb, holte er den Müllbeutel aus einem Küchenschrank und verschwand wortlos.
Ruhe setzte ein, die Herter mit Absicht nicht störte. Für die meisten Lebenden war Hitler in zwischen nur noch eine Figur aus Actionfilmen oder Komödien, doch diese beiden, Julia und Ullrich Falk, steckten noch voller Erinnerungen an die versunkene Zeit, sie waren dabeigewesen, für sie war alles wie gestern, und sie konnten noch endlos über ihn weitererzählen, und sei es auch nur, um das, was sie eigentlich sagen wollten, hinauszuzögern. Als die Stille peinlich zu werden begann, passierte, was Herter erhofft hatte. Die beiden wechselten einen Blick, und dann stand Falk auf und sah kurz auf dem Gang nach, ob niemand an der Tür lauschte. Er setzte sich wieder hin und sagte:
»Eines Tages, im Mai achtunddreißig, kurz nach dem Anschluß, kamen Gäste; zusammen mit Frau Mittlstrasser, der Gattin des Hausmeisters, deckten wir gerade den Tisch für das Mittagessen. Das mußte immer sehr sorgfältig geschehen, denn manchmal kniete der Chef sich hin und kontrollierte mit einem zugekniffenen Auge, ob alle Gläser sauber in einer Reihe standen.«
»Das war sein architektonischer Blick«, nickte Herter. »Auf diese Weise betrachtete er auch Speers Modelle von Germania und seine in Formation angetretenen Truppen.«
»Plötzlich erschien Linge im Speisesaal und meldete, der Führer wolle uns sprechen.« »Linge?« fragte Herter. »Das war der Nachfolger von Krause.«
»Wir waren zu Tode erschrocken«, sagte Julia. »Wenn er etwas von uns wollte, rief er immer selbst an, wir wurden nie offiziell zu ihm gerufen.«
Oben, in seinem Arbeitszimmer, wo er mit Schreien und Drohungen ganze Länder in die Knie gezwungen hatte, saß eine kleine Gesellschaft auf der breiten Couch und in den Sesseln: der Chef und Fräulein Braun, Bormann, der massige Hofmarschall Brückner und der Hausmeister, auch ein Offizier. Ängstlich blieben die beiden stehen; die Spannung in dem Zimmer war greifbar, doch Brückner gab Linge Order, zwei Stühle aus der Bibliothek zu holen. Das war auf jeden Fall beruhigend, machte die Situation jedoch nur noch unerklärlicher. Was sollten sie beide, zwei untergeordnete Hausangestellte in den Zwanzigern, bei all den hohen Herren? Als sie auf den geraden Bauernstühlen Platz genommen hatten, warf Brückner Linge einen unmißverständlichen Blick zu, der ihm befahl, das Zimmer auf der Stelle zu verlassen.
Während seine zierliche Hand auf dem Nacken Blondis ruhte, die mit gespitzten Ohren neben seinem Sessel saß wie ein stolzes Wesen aus einer anderen, unschuldigeren Welt, sagte Hitler, dies sei zweifellos der wichtigste Tag in ihrem Leben, denn er habe beschlossen, eine welthistorische Aufgabe auf ihre Schultern zu legen. Er schwieg einen Moment und sah zur Chefin, die blaß zwischen den beiden Offizieren Brückner und Mittlstrasser auf der Couch saß.
»Herr Falk, gnädige Frau«, sagte Hitler förmlich, »ich werde Ihnen ein Staatsgeheimnis verraten: Fräulein Braun erwartet ein Kind.«


11

»Nein!« rief Herter. »Das ist nicht wahr!« War das möglich? Fassungslos versuchte er, sich diese Mitteilung klarzumachen. Hatten diese beiden steinalten Menschen hier in diesem Altersheim vor mehr als sechzig Jahren tatsächlich diese Worte aus dem Mund unter dem viereckigen Schnurrbart vernommen? Diese Nachricht war vielleicht nicht welthistorisch, auf jeden Fall aber welterschütternd. Hitler hatte ein Kind! Auf die Idee wäre er im Leben nicht gekommen – doch so funktionierte die Wirklichkeit eben: Sie war der Phantasie immer einen Schritt voraus. Am liebsten erführe er jetzt in zehn Sätzen, wie die Geschichte weiterging. Wo war das Kind? Lebte es noch? Doch sein Instinkt sagte ihm, daß er die beiden das Tempo bestimmen lassen mußte; sie waren alt, alles ging dann langsamer vonstatten, auch das Erzählen einer Geschichte.
»Wir waren genauso erschüttert wie Sie«, sagte Julia. »Wir wußten nicht, was das alles sollte. Daß Fräulein Braun ein Kind vom Chef erwartete, war an und für sich nicht so außergewöhnlich. Solche Dinge passieren nun mal, auch in herrschaftlichen Kreisen, dort besonders, vermutlich. Mir war im übrigen schon aufgefallen, daß sie in den letzten Wochen immer wieder Appetit auf Heringe und saure Gurken hatte. Aber was hatten wir damit zu tun? Was war das für eine Aufgabe, die auf unsere Schultern gelegt werden sollte?«
Das erklärte ihnen in den folgenden Minuten
Bormann. Das Problem sei, sagte er, daß alle deutschen Frauen gerne ein Kind vom Führer hätten. Ihre Söhne nannten sie sowieso schon Adolf. Wenn er jetzt Fräulein Braun heiratete und sich dann auch noch herausstellte, daß er Vater eines Kindes wurde, das angeblich zwei Monate zu früh zur Welt kam, dann würden die Frauen das Gefühl haben, von ihm betrogen worden zu sein, und das sei aus politischen Gründen nicht wünschenswert – denn schließlich seien es seinerzeit vor allem die Frauen gewesen, die ihn an die Macht gebracht hätten. Brückner fing laut an zu lachen und sagte, der Reichsleiter verstehe es doch immer wieder, die Sachen auf den Punkt zu bringen. Fräulein Braun ärgerte sich offensichtlich darüber, doch auch der Chef mußte kurz lachen, wobei sich für einen Moment seine Augen völlig verdrehten, als sähen sie in sein Innerstes, in die Finsternis seines Schädels hinein.
»Und worin bestand Ihre Aufgabe?« fragte Herter, der sich von seinem Erstaunen immer noch nicht völlig erholt hatte.
»Darin, daß es so aussehen sollte, als sei das Kind von uns«, sagte Falk.
Herter seufzte. Seine eigene Geschichte konnte er jetzt wohl vergessen, seinen literarischen Sohn Otto eingeschlossen, aber das war ihm egal. Er wollte jetzt nur noch ihrer Geschichte lauschen. An jenem Vormittag kümmerte der Chef sich nicht weiter um die Sache. Apathisch, als ginge ihn das alles nichts an, naschte er mit hängenden Schultern vom Kuchen und schaute aus dem Fenster hinüber zum zerklüfteten, respekteinflößenden Felsmassiv des Untersbergs, das über der Baumgrenze grau wie Zigarettenasche war, hier und da lag noch Schnee. Einer süddeutschen Sage zufolge schlief darin der Staufenkaiser Friedrich Barbarossa, bis er seine Augen wieder aufschlagen würde, um in einer Endabrechnung mit dem jüdischen Antichrist das Tausendjährige Reich wiederzuerrichten, wobei in der Ebene von Salzburg das Blut bis zu den Knöcheln stehen sollte. Vermutlich hatte der Führer sich bereits damals den Kodenamen für den drei Jahre später stattfindenden Überfall auf die Sowjetunion ausgedacht: Unternehmen Barbarossa.
Das Drehbuch, das er und seine Vertrauten offenbar entworfen hatten, wurde in den folgenden Monaten und Jahren Schritt für Schritt realisiert. Zunächst, noch in derselben Woche, mußten Ullrich und Julia in den Berghof selbst umziehen. Zwei Gästezimmer in dem Flur, wo auch die Zimmer des Chefs und der Chefin lagen, die bis dahin ausschließlich für persönliche Gäste und Angehörige der Chefin bestimmt waren, wurden ausgeräumt und für sie eingerichtet. Als Grund hierfür sollte angegeben werden, der Führer und Fräulein Braun wollten ihre persönlichen Bediensteten in größerer Nähe haben. Für die restliche Zeit des Kriegs wurde Falk vom Militärdienst freigestellt. Auch mußten sie sehr bald ihre Eltern benachrichtigen, daß sie ein Kind erwarteten. Diese Briefe mußten Bormann vorgelegt werden, der auch künftig ihre ganze abgehende Post kontrollieren würde. Außerdem gab er ihnen zu verstehen, daß sie nicht auf den Gedanken kommen sollten, selbst auch Kinder in die Welt zu setzen – dies würde als Insubordination aufgefaßt. Es hätte nahegelegen, Hitlers Leibarzt, Dr. Morell, ein ehemaliger Modearzt am Kurfürstendamm und Spezialist für die Geschlechtskrankheiten der feinen Gesellschaft, mit der Behandlung von Fräulein Braun zu betrauen, doch das hätte Mißtrauen erwecken können; das übrige Personal war auf den Arzt der SS-Garnison angewiesen, doch der war zu nah am Geschehen. Darum faßte man den Entschluß, den Berchtesgadener Hausarzt Dr. Krüger hinzuzuziehen, einen bereits etwas älteren, distinguierten Herrn mit einem gepflegten weißen Schnurrbart und einer Fliege, dessen Patientin eine gewisse Frau Falk wurde. Bormann persönlich nahm ihm einen Eid ab und schüchterte ihn mit versteckten Drohungen ein. Fräulein Braun war über diese Lösung sehr froh, denn ein Arzt in Uniform widerstrebte ihr; außerdem fand sie, daß Morell stank.
Dann ließ man den Dingen ihren Lauf. Nach ungefähr vier Monaten, im Juli, als der Bauch von Fräulein Braun auch durch Kleider nicht mehr unauffällig verhüllt werden konnte, trat Phase Zwei des Plans in Kraft. Eines Nachmittags, als der Chef sich in Berlin aufhielt, fuhr ein Wagen mit einem unbekannten Chauffeur vor, der ihre leeren Koffer einlud, während sie sich von den Sekretärinnen und Julia verabschiedete, um sich auf eine längere Reise durch Italien zu begeben, wo sie die Kunstdenkmäler studieren wollte. Auch die Sekretärinnen glaubten das nicht – zwischen ihr und dem Führer war es natürlich aus und vorbei, aber keiner wagte, dahingehende Anspielungen zu machen. Tränen flossen, doch Fräulein Braun hielt sich tapfer. Für den Chauffeur, natürlich ein Gestapo-Mann, der gelernt hatte, keine Fragen zu stellen, war sie ein gewisses Fräulein Wolf; er fuhr sie nach Linz, wo sie im Ratskeller eine Kleinigkeit aßen, und mitten in der Nacht kehrten sie zurück auf den Berghof, ohne von einem der zahllosen Posten angehalten zu werden. Das alles hatte Fräulein Braun Julia persönlich berichtet. Herter mußte sich zwingen, nicht mit offenem Mund zuzuhören; seit seiner Kinderzeit hatte keine Geschichte ihn mehr so in ihren Bann geschlagen. Aber es war keine Geschichte – das heißt, sie war nicht ausgedacht, sie war, wie Kinder sagen, »echt passiert«, denn es war unvorstellbar, daß diese beiden uralten Menschen hier in Eben Haëzer sich dergleichen hätten ausdenken können. Bis zu ihrer Niederkunft im November durfte Fräulein Braun jetzt den Führerflügel nicht mehr verlassen. Sie durfte sich nicht an den Fenstern zeigen, und abends durfte in ihrem Zimmer kein Licht zu sehen sein. Nur die Eingeweihten hatten noch Zugang zu ihr, und von dieser Zeit an mußte Julia die Rolle der Schwangeren spielen. Jeden Morgen stellte sie sich mit Fräulein Braun vor den Spiegel und stopfte allerlei Lappen, Handtücher und später Kissen unter ihre Kleider, um das Heranwachsen des Führerkinds naturgetreu nachzuahmen. Dabei ging es immer sehr fröhlich zu, und Fräulein Braun wollte auch immer genau erfahren, wie man unten auf Julias gesegneten Zustand reagierte. Vor allem Hitler selbst bereitete es Vergnügen, sich in Gesellschaft zu erkundigen, wie sie sich fühle. Auch pflegte er sie in Anbetracht ihres Zustands früh zu Bett zu schicken.
»Ich mußte natürlich aufpassen«, sagte Falk, »daß meine Frau nicht wirklich schwanger wurde, denn dann wäre der ganze Plan zusammengebrochen und Bormann hätte uns umgebracht. Das war früher schwieriger als heute – nicht das Umbringen, meine ich, sondern das Nichtschwanger-Werden.« »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen«, seufzte Herter, »das habe ich alles noch miterlebt. Und was machte Fräulein Braun während all der Monate tagsüber?«
Weil sie natürlich im November irgend etwas erzählen mußte und lieber nicht behauptete, sie habe auf der Piazza San Marco in Florenz Kaffee getrunken und in Rom die Uffizien besichtigt, versorgte der zukünftige Vater sie mit Baedekern, Bildbänden und den Standardwerken von Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien und Cicerone. Blondi zu ihren Füßen, studierte sie täglich in diesen Büchern – wenn er nicht da war, meistens an Hitlers riesigem Eichenholzschreibtisch. Doch um ihr zu helfen, hielt er sich während dieser Monate oft auf dem Obersalzberg auf. Das war auch der Grund, weshalb er während der Vorbereitungen für die Zerschlagung der Tschechoslowakei Chamberlain nicht nach Berlin, sondern auf den Berghof kommen ließ. Neben ihrem Bett lag Goethes Italienische Reise. Den ganzen Tag über zog sie den Morgenmantel nicht aus, ihre Wäsche wusch Julia im Badezimmer. Weil Julia, schwanger wie sie war, lieber in Ruhe auf ihrem Zimmer aß, sie dennoch aber großen Hunger hatte, trug Falk immer eine dreifache Portion hinauf. Außerdem ließ der Majordomus Mittlstrasser eines ihrer Zimmer jetzt mit einer altdeutschen Wiege und einer durch bayrische Schnitzarbeiten verzierten Kommode als Kinderzimmer einrichten.
»Am Ende«, sagte Julia, nachdem sie sich eine neue Zigarette angezündet hatte, »fühlte ich mich wirklich, als stünde meine Entbindung unmittelbar bevor. Während der letzten Wochen mußte ich alles ruhiger angehen lassen, so wie Dr. Krüger es der angeblichen Frau Falk empfohlen hatte, denn ich wurde ja angeblich schneller müde, und ich weiß noch, daß ich manchmal beleidigt war, wenn der Arzt einen Kontrollbesuch machte und mich natürlich gar nicht zu sehen bekam.«
Immer wenn er den Berghof mit seinem blubbernden Zweitakt-DKW besuchte, dessen Karosserie aus Pappmaché zu bestehen schien, brachte er eine Atmosphäre der Zivilisiertheit ins Haus. Und dann, am Nachmittag des 9. November, setzten die Wehen ein. Schon den ganzen Tag über herrschte eine gewisse Unruhe im Haus; offenbar waren wieder irgendwelche politischen Aktionen im Gange. Unten im großen Saal, wo eine Reihe von Funktionären sich versammelt hatte, telefonierte Hitler ununterbrochen, auch mit Göring und Himmler in Berlin; das konnte Falk hören, weil er sie mit ihrem Nachnamen ansprach und »Sie« sagte; der einzige, den er je geduzt hatte, schien Röhm gewesen zu sein, der Führer der SA, doch den hatte er bereits vor ein paar Jahren ermorden lassen. Auch Bormann war natürlich anwesend. Währenddessen führte man Fräulein Braun in das Apartment der Falks, denn die Schreie von Mutter und Kind mußten aus der richtigen Richtung kommen. Außerdem stand neben dem Berghof ein Krankenwagen der SS bereit, für den Fall, daß es Probleme gab und Frau Falk nach Salzburg ins Krankenhaus gebracht werden mußte. Julia hatte sich von den Tüchern und Kissen befreit und half Dr. Krüger bei der Entbindung, die kurz vor Mitternacht stattfand.
»Und?« fragte Herter.
»Ein Junge«, sagte Julia. Sie blickte kurz zu dem Foto auf dem Fernseher hinüber, und plötzlich hatte sie Tränen in den Augen. Fragend sah Herter zu Falk, der nickte.
»Da war bereits Krieg. Das Foto hat Fräulein Braun gemacht.«
»Darf ich kurz?«
Herter stand auf und betrachtete das Foto aus der Nähe. Bekleidet mit einem weißen Hemd, einer kurzen weißen Hose und weißen Kniestrümpfen, stand der kleine Junge breitbeinig und selbstbewußt auf einer Terrasse und biß in ein Butterbrot. Der Blick in seinen Augen erinnerte tatsächlich ein wenig an den durchbohrenden Blick, der so typisch für seinen Vater war. Sein Vater? War das wirklich Hitlers Sohn? Der Gedanke schien Herter immer noch völlig absurd, aber warum eigentlich? »Auf seinem Butterbrot war Zucker«, sagte Julia. »Ich habe es ihm selbst gemacht. An seiner Seite, das bin ich.«
Jetzt, wo er es wußte, erkannte er sie. Die schlanke junge Frau von Ende Zwanzig schimmerte noch immer durch Julia hindurch, wie eine Gestalt hinter Mattglas, während man umgekehrt noch nichts von der dicken, uralten Dame ahnte, die sie werden würde. Herter wandte sich um. »Wie hieß er?«
»Siegfried«, sagte Falk mit einem Seufzer, der gleichzeitig ein Seufzer der Erleichterung zu sein schien, weil er nun endlich von dem Geheimnis befreit war, das er sein Leben lang mit sich herumgetragen hatte.
»Natürlich«, sagte Herter, während er kurz seine Hand hob und wieder Platz nahm. »Siegfried. Ich hätte es mir denken können. Der große germanische Held, der das Fürchten nicht kannte. So hat Wagner seinen Sohn auch genannt. Und wie reagierte der Chef auf die Geburt seines Sohns?« Hofmarschall Brückner hatte ihn unten über die Geburt informiert, erzählte Frank, und als er bleich das Zimmer betrat, Bormann folgte ihm auf dem Fuß, und sein Patscherl dort mit dem Kind an der Brust liegen sah, schien es, als sei ihm nicht recht bewußt, was dort geschah. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders – nämlich bei seinem ersten Pogrom, das er für dieselbe Nacht befohlen hatte. Wie sie am nächsten Tag hörten, brannten überall in Deutschland und Österreich die Synagogen, und die Fenster jüdischer Geschäfte wurden zerschlagen. »Reichskristallnacht« nannte man das Ereignis später – es war derselbe
9. November, an dem 1918 der deutsche Kaiser abgedankt hatte, an dem 1923 Hitlers Putsch in München gescheitert war und an dem 1989 die Berliner Mauer fiel.
»Das endgültige Ende seines Wirkens und dessen Folgen«, sagte Herter, »kam also Sechsundsechzig Jahre nach dem Beginn. Beinah die Zahl der Bestie. Genau hundert Jahre nach seiner Geburt.« Auf unheimliche Weise stimmte bei Hitler immer alles.
Aber der Chef fing sich rasch, und es sah so aus, als habe er sein Pogrom mit einemmal vergessen. Fräulein Braun war sehr glücklich, daß sie ihm keine Tochter geboren hatte, und nachdem er ihr einen steifen Handkuß gegeben hatte, legte Julia ihm vorsichtig das Kind in den Arm. Er wußte nicht so recht, wie er es halten sollte, drückte Siegfried gegen das Eiserne Kreuz auf seiner
Brust, sah sich in einer Art ungeschickter Ekstase um und sagte feierlich. »Ein Kind ward hier geboren.«
Hausmeister Mittlstrasser flüsterte ehrfürchtig, dies sei ein Zitat aus einer Oper von Wagner. Nur Bormann, berichtete Julia, schien irgendwie von der Geburt des Kindes nicht erbaut zu sein; er betrachtete es, als würde er am liebsten nach seinem Ausweis fragen.
Dann kam wieder eine Zeit, die nicht ungefährlich war: Ullrich fuhr mit Mittlstrasser nach Berchtesgaden zum Standesamt, um das Kind anzumelden: Siegfried Falk – anstatt Siegfried Braun. Im Wochenbett empfing Julia während der nächsten Tage den Besuch der Sekretärinnen und des anderen Personals, wobei ihr Zimmer sich in einen Blumenladen verwandelte. Auch ihre Eltern durften sie auf dem Berghof besuchen. Das sei, sagte Julia, für sie der schwerste Moment in der ganzen Komödie gewesen: als ihre Mutter vor Glück weinend ihren angeblichen Enkel in die Arme nahm. Ihren Vater hingegen, der seine SS-Uniform trug, schien das Heilige der Heiligen, in dem er sich befand, mehr zu faszinieren als sein Enkel. Nach einer Woche erlaubte Dr. Krüger der angeblichen Frau Falk, und damit auch Julia, langsam wieder mit der Arbeit anzufangen. Fräulein Braun, die ihrem Kind heimlich die Brust gab, kehrte um diese Zeit geschwächt und müde von ihrer langen Reise heim – in tiefster Nacht, wie sie sich ausdrückte, und in gewisser Weise stimmte das. Die großen Brüste, die sie jetzt plötzlich hatte, mußte Julia ihr nach dem Stillen mit einem seidenen Schal schnüren; außerdem trug sie weite Wollpullover, denn auf dem Berghof war es kalt im Vergleich zu Sizilien, wo sie vor kurzem noch den Vesuv bestiegen hatte. Falk erzählte, Speer habe beim Begrüßungsessen verwundert wiederholt: »Der Vesuv? Auf Sizilien? Sie meinen natürlich den Ätna.« Natürlich, den Ätna, hatte Fräulein Braun errötend gesagt, der Vesuv, der Ätna … die verwechsle sie immer. Woraufhin der Chef zwischen zwei Bissen von seinem aus Gemüse zusammengesetzten Schnitzelersatz sagte, diese beiden Vulkane seien in gewisser Weise die Erscheinungsformen ein und desselben Urvulkans, genau wie er selbst und Napoleon.






12

Es klopfte erneut, doch diesmal öffnete sich die Tür erst, nachdem Julia »Herein« gerufen hatte. Eine gedrungene Frau zwischen Vierzig und Fünfzig mit Waden wie umgedrehte Champagnerflaschen, trat ins Zimmer.
»Herr Herter«, stellte Falk ihn vor. »Frau Brandtstätter. Frau Brandtstätter ist unsere Direktorin.« Herter stand auf und gab ihr die Hand, woraufhin sie ihn ein paar Sekunden lang erstaunt ansah, als sei er der letzte, den sie erwartet hätte. »Hab ich Sie nicht vorgestern im Fernsehen gesehen?«
Herter war sofort klar, daß er sich auf der Stelle eine Erklärung für seine Anwesenheit einfallen lassen mußte. Was machte ein berühmter ausländischer Schriftsteller, der sogar im Fernsehen interviewt wurde, bei diesem armen alten Ehepaar in ihrem Altersheim im hintersten Winkel Wiens? Das mußte ihr dubios erscheinen; vermutlich wußte sie, wer da bei ihr wohnte – auch wenn sie nicht wußte, was er nun wußte –, und wollte die beiden beschützen.
»Genau wie Herr und Frau Falk. Wir frischen alte Erinnerungen auf. Herr und Frau Falk sind zu meiner Lesung gekommen, um in Erfahrung zu bringen, ob ich der junge Schriftsteller bin, den sie vor vierzig Jahren einmal zufällig kennengelernt haben.«
»Und?« fragte die Direktorin, während sie von einem zum anderen sah.
»Ich ändere mich nie«, sagte Herter mit so etwas Ähnlichem wie einem Lächeln. Sie sagte, sie wolle nicht weiter stören, und verabschiedete sich, ohne zu erwähnen, weswegen sie eigentlich gekommen war.
»Falls Frau Brandtstätter noch fragen sollte, wie wir uns kennengelernt haben«, sagte Herter, nachdem sie gegangen war, »müssen Sie sich selbst etwas einfallen lassen. Ich weiß nicht, wie Ihre Lebensumstände vor vierzig Jahren waren.« »Die waren damals wieder recht gut«, sagte Falk, »nachdem sie eine Zeitlang weniger gut gewesen waren. Nach dem Krieg haben wir zwei Jahre in einem amerikanischen Internierungslager gesessen.«
Julia stand auf, drückte ihre Zigarette aus und fragte:
»Möchten Sie vielleicht ein Butterbrot? Es ist mir unangenehm, daß wir Sie so lange aufhalten.« Herter sah auf seine Uhr. Viertel vor eins. Eigentlich müßte er wohl Maria kurz anrufen, doch es erschien ihm nicht klug, die Intimität der Atmosphäre zu zerstören.
»Ja, gerne. Es wäre doch merkwürdig, wenn ich sagte, es würde nun langsam Zeit für mich zu gehen, jetzt, wo ich erfahren habe, daß Hitler einen Sohn hatte. Wissen Sie, was für eine Sensation Sie mir da erzählt haben? Wenn Sie diese Geschichte dem Spiegel und zehn anderen Magazinen auf der ganzen Welt angeboten hätten, man hätte Ihnen Millionen dafür gegeben. Dann würden Sie nicht in einem kleinen Apartment in Eben Haëzer wohnen, sondern in einer Villa so groß wie der Berghof, mit eigenem Personal.«
Falks Blick wurde plötzlich irgendwie kühl.
»Dasselbe gilt für Sie. Aber auch Sie haben vorhin einen Eid geschworen.« Mit nicht einmal gespielter Scham neigte Herter kurz den Kopf. Falk hatte ihm einen Rüffel verpaßt. Und überhaupt: Wer würde ihm glauben? Und nach dem Tod der Falks, ohne Zeugen, würde seine Geschichte noch unglaubwürdiger sein. Man würde ihn wegen seiner Phantasie loben, und vielleicht bekäme er wieder einen Literaturpreis, doch glauben würde ihm niemand.
»Außerdem«, sagte Falk, »haben Sie bisher nicht einmal die Hälfte der Geschichte gehört.« In der Küche preßte Julia mit der linken Hand ein großes rundes Brot gegen ihre Brust und schnitt mit einem langen Messer dünne Scheiben auf eine Weise ab, die ihn erschaudern ließ. Nirgendwo auf der Welt rückte man dem Brot so zu Leibe. Sie schenkte ihm auch ein Glas Bier ein, und als er in die mit Gänseschmalz und Meerrettich bestrichene und ausgiebig mit Salz bestreute Scheibe biß, überkam ihn wieder jenes Gefühl von Ursprung, das er nur in Österreich verspürte. Es schmeckte ihm besser als ein sündhaft teures Mittagessen in einem Drei-Sterne-Restaurant in Riquewihr. »Und dann?« fragte er: die zentrale Frage allen Erzählens.
Dann begann die glücklichste Zeit ihres Lebens. Natürlich wurden sie schärfer beobachtet als früher, und Familienbesuche in Wien waren ausgeschlossen. Alle halbe Jahre durften die betrogenen Großeltern für einen Nachmittag auf den Berghof kommen, und jedesmal war Julias Vater enttäuscht, daß er seinen Führer nicht zu sehen bekam. Eigentlich lief es darauf hinaus, daß sie Gefangene waren, doch ihr Siggi, der nicht ihr Siggi war, machte das alles wieder gut. Während der ersten drei Jahre, in denen er zehn Länder eroberte, war der Chef häufiger auf dem Berghof als in Berlin. Dort empfing er Könige und Präsidenten, denen er drohte und die er beschimpfte, daß man es bis in die Küche hören konnte; anschließend bat der plötzlich höchst liebenswürdige Führer zu Tisch, und dann gingen die Gäste, immer noch zitternd vor Angst, an der SS-Ehrengarde mit präsentiertem Gewehr vorüber zu ihrem Wagen, in dem Wissen, daß ihr Land verloren war. Zu Fräulein Brauns Verdruß interessierte sich ihr Verlobter anfänglich nicht besonders für seinen Sohn. Er war zwar der mächtige Führer, der die Weltherrschaft erobern wollte, doch das Vatersein war ihm offensichtlich nicht in die Wiege gelegt worden: dafür war er selber viel zu sehr ein Muttersöhnchen. Außerdem war ihm das Kind vermutlich noch zu klein und zu austauschbar mit anderen Babys und Kleinkindern.
Falk gegenüber erwähnte er einmal, daß aus dem Jungen vermutlich nichts Rechtes werden würde, denn große Männer bekämen immer unbedeutende Söhne: Das sähe man an August, Goethes Sohn. Doch seine Unbedeutendheit gehe in diesem Fall auf Falks Konto. Daß es Siegfried überhaupt gebe, habe er den Bitten von Fräulein Braun zu verdanken, die er wegen seiner vielfältigen Aufgaben im Dienste des deutschen Volks viel zu häufig allein lassen müsse. Er verbot Falk, Fräulein Braun von seinen Bemerkungen zu berichten, doch Julia war ebenso entsetzt darüber, wie Fräulein Braun es gewesen wäre. Im Laufe der Jahre hatte sie übrigens immer stärker das Gefühl, das Kind sei tatsächlich ihr Kind, denn so behan delten es alle, in der Öffentlichkeit auch die sieben Eingeweihten. Als Siegfried zu Frau Podlech in den Kindergarten durfte, den Bormann auf dem Berghof für seine eigenen Kinder, für die Speers und für andere Kinder aus der Führungselite, wie zum Beispiel Görings Töchterchen, eingerichtet hatte, war sie bestimmt stolzer als die wirkliche Mutter. Gesprochen wurde darüber nicht, doch vielleicht kämpfte Fräulein Braun mit demselben Gefühl von Eifersucht. Wenn Siggi Schmerzen oder Kummer hatte, weinte er sich nicht bei ihr, sondern bei Julia aus; wenn er einen Alptraum hatte, kroch er zu Julia ins Bett und nicht zu seiner Mutter.
Ach, diese herrlichen, blendend weißen Tage im Winter 1941/42, der meterhohe Schnee, vor den Fenstern die durchsichtigen Reißzähne der Eiszapfen, und die gemütlichen Silvesterabende mit Bleigießen, an denen Dr. Goebbels auch einmal teilnahm. Gab es diese Tradition in den Niederlanden auch?
»In den Niederlanden nicht«, sagte Herter, »doch bei uns zu Hause schon.«
Auf dem Speicher wurde nach einem Stück Bleirohr gesucht, das dann in einem alten Kochtopf auf dem Herd erhitzt wurde. Immer noch sah er die graue Haut auf dem geschmolzenen Blei und wie sein Vater ihm den Zinnlöffel reichte, mit dem er etwas von der Flüssigkeit nehmen und in eine Schüssel mit Wasser gießen sollte. Das Gebilde, das dann unter lautem Zischen entstand, wurde herausgefischt, und jeder durfte es interpretieren, denn es sagte die Zukunft vorher.
Falk wandte sich halb um und kramte kurz in einer Schublade. Er nahm einen länglichen, glän zenden Gegenstand heraus, nicht größer als ein kleiner Finger, und gab ihn Herter. »Das hier stammt von Hitler. Ich habe es aufgehoben. Was sagen Sie dazu? Ich erinnere mich noch daran, daß er nicht sehr glücklich darüber war.«
Fasziniert betrachtete Herter das bizarre Gebilde. Natürlich wußte er, daß es nach den Gesetzen des Zufalls entstanden war – das heißt, abhängig von der Höhe, in der sich der Löffel über dem Wasser befand, und von der Geschwindigkeit, mit der das Blei hineingegossen worden war, und daß auch jeder andere Mensch es hergestellt haben könnte. Doch gleichzeitig wußte er, daß es nicht von jemand anders, sondern von Hitler stammte. Er hatte es gemacht, und er hatte es nicht gemacht. Entfernt erinnerte es ihn an den Basilisken, von dem Thomas Mann geschrieben hatte – doch er war sich nicht sicher, ob ihm dieser Gedanke auch gekommen wäre, wenn man ihm gesagt hätte, Gandhi habe das Ding gemacht. Irgendwie erinnerte ihn der Anblick dieses Metallstücks an Hitlers todesbleiche Stirn. Als er es ohne Kommentar zurückgeben wollte, sagte Falk: »Ich schenke es Ihnen.«
Herter nickte und steckte das Metallstück schweigend in die Brusttasche seines Oberhemds. Etwas hielt ihn davon ab, sich bei Falk zu bedanken.
Und dann die langen Sommernachmittage auf der großen Terrasse über der Garage oder im Schwimmbad von Görings Villa … Außerdem unternahm Fräulein Braun hin und wieder Reisen zu ihren Verwandten in München oder zu einer Freundin in Italien, während deren sie auf Julia nicht verzichten konnte, die wiederum ihren Sohn nicht allein lassen konnte; vorne im Wagen saßen der Chauffeur und ein Gestapo-Mann, während sie auf dem Rücksitz zu dritt Spiele machten, Siggi wuchs zu einem äußerst lebhaften Jungen heran, der nicht einen Moment seinen Mund halten oder ruhig sitzen konnte. Er redete in einem fort, auch mit Blondi und den Hündchen von Fräulein Braun; wenn er etwas machte, dann sagte er außerdem, daß er es tue; während er sich zugleich rückwärts in einen Sessel fallen ließ, die Kissen knuffte, einen Purzelbaum vollführte, einen Kopfstand machte oder wie ein kleines Monster über den Fußboden kroch, wobei er gleichzeitig der Mama oder Tante Effi oder Onkel Wolf fragend zurief, ob sie auch sähen, was er gerade machte. Onkel Wolf, wiederholte Herter in Gedanken. Was faszinierte Hitler bloß so an Wölfen? Nur die Tatsache, daß auch sie Raubtiere waren? Während der zwanziger Jahre war »Wolf« sein Deckname, seine später erbauten Hauptquartiere in Ostpreußen, Rußland und Nordfrankreich hießen »Wolfsschanze«, »Werwolf« und »Wolfsschlucht«. Auch Blondi sah einem Wolf ähnlich; einen der Welpen, die sie gegen Ende des Kriegs warf, und den er selbst aufziehen wollte, hatte er »Wölfi« genannt. Homo homini lupus – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Steckte diese Selbsterkenntnis dahinter?
Im Sommer '41 hatte das Unternehmen Barbarossa begonnen – doch was ihn selbst angehe, sagte Falk, so sei das eigentlich an ihm vorbeigegangen. Auch er hatte einmal als kleiner politischer Aktivist mit der Pistole in der Hand angefangen, doch seit sich die große Politik unter seinen Augen vollzog, während er Kaffee und Kuchen servierte, konnte er sie nicht mehr begreifen, und er verlor das Interesse daran. Erst nach dem Krieg ist ihm klargeworden, was der Chef während der Zeit alles angerichtet hatte, was er zum Beispiel mit Himmler auf ihren langen Wanderungen zum Teehaus, mit Wanderstöcken und Sonnenbrillen, besprochen hatte, außer Hörweite des Gefolges. Nicht einmal Fegelein nahm je daran teil. »Fegelein?« wiederholte Herter. »Wer war Fegelein?«
»SS-Gruppenführer Fegelein«, sagte Falk. »Ein charmanter, junger Offizier im Generalsrang, Himmlers persönlicher Stellvertreter bei Hitler. Er wurde ›Himmlers Auge‹ genannt. Auf Hitlers Drängen hin hatte er Fräulein Brauns Schwester Gretl geheiratet. Das war natürlich geschehen, um Fräulein Brauns Ansehen am Hof zu steigern, als Schwägerin von General Fegelein. Anläßlich ihrer Hochzeit veranstaltete Hitler ein großes Fest, doch Gretl war Fegelein ziemlich egal.« »Er war weiterhin hinter jedem Rock her«, sagte Julia mit einer Miene, die zum Ausdruck brachte, daß es unterschiedliche Grade von Niedertracht gab. »Fürchterliche Szenen waren das jedesmal.« An der Ostfront, fuhr Falk fort, wurden schon damals hinter den Linien Zehntausende ermordet, und im Sommer '42 fuhren die ersten Züge zu den Vernichtungslagern durch Europa. Er schüttelte kurz den Kopf, als könne er immer noch nicht glauben, was er sagte.
»Alles verlief, wie er sich das von Anfang an vorgenommen hatte. Mit jedem Tag kam er seinem großen Lebensziel näher, der totalen Vernichtung des Judentums, ohne daß jemand von uns davon auch nur etwas geahnt hätte. Auch Fräulein Braun nicht.« »Im nachhinein glauben wir«, sagte Julia, »daß er damals in einem Zustand des Rauschs war. Er war fest überzeugt, bis in alle Ewigkeit als Retter der Menschheit und größte Gestalt der Weltgeschichte verehrt zu werden. Dadurch veränderte sich auch das Verhältnis zu seinem Sohn.«
Es fiel allen auf, daß er Siggi mit der Zeit mehr Aufmerksamkeit schenkte, jedenfalls wenn keine Außenstehenden in der Nähe waren. Falk hatte einmal gesehen, wie er in seinem Arbeitszimmer Siggi auf dem Arm trug und ihm, wobei er auf den Untersberg deutete, etwas erzählte. Oder Siggi saß auf seinem Schoß, und Hitler zeichnete für ihn ein naturgetreues Stadtbild Wiens, was er sehr gut konnte, denn er hatte Talent und ein fotografisches Gedächtnis; dabei hatte er seine Lesebrille auf, von deren Existenz Deutschland nichts wissen durfte. Ein andermal – kurz nach dem vernichtenden Bombenangriff auf Hamburg im Juli '43 – kniete er auf dem Fußboden, und die beiden spielten zusammen mit einem Schuco-Auto, das er ihm geschenkt hatte: ein Spielzeugauto von damals, das man aufziehen und mit einem Draht, der aus dem Dach ragte, steuern konnte. Um kein Mißtrauen zu erregen, konnte er ihm natürlich nur sehr einfache Geschenke machen. Und Julia hörte einmal, wie er auf der Terrasse im Beisein von Fräulein Eva zu Bormann sagte:
»Vielleicht gründe ich eine Dynastie. Dann adoptiere ich Siegfried, so wie Julius Cäsar den späteren Kaiser Augustus.«
Er sagte das lachend, doch vielleicht war es mehr als ein Scherz. Er war zu allem fähig.


13

Immer häufiger zog Hitler sich für Wochen oder Monate in sein Hauptquartier in Ostpreußen zurück. An der russischen Front kamen seit der Schlacht um Stalingrad die jüdisch-bolschewistischen Untermenschen besorgniserregend näher, und auch in Nordafrika lief es nicht wie gewünscht, so daß man sich Jerusalem, das jüdische Ziel dieses Feldzugs, leider aus dem Kopf schlagen mußte; gleichzeitig verwandelten sich unter den angloamerikanischen Terrorbombardements auch die deutschen Städte der Reihe nach in Ruinen, mit Hunderttausenden von Toten, doch niemand vom Personal wollte der Wahrheit ins Auge blicken, nicht einmal nach der Invasion im Juni '44: Solange der Führer felsenfest an den Endsieg glaubte, brauchte man sich um die eigene ehrenvolle Stellung am Hof keine Gedanken zu machen. Die Geheimwaffe, die, wie Goebbels verlauten ließ, gerade entwickelt wurde, würde sehr bald das Kriegsglück wenden. In Wirklichkeit wurde diese Waffe damals in Amerika geschmiedet, wie das Wagnerische Schwert Nothung, wobei aus Deutschland vertriebene jüdische Gelehrte federführend waren. Währenddessen, erfuhr Herter, begann das Regime unter Leitung von Bormann, sich unter die Erde zu verkriechen. Seit einem Jahr waren Hunderte von ausländischen Zwangsarbeitern Tag und Nacht damit beschäftigt, unter dem ganzen Areal ein kilometerlanges Labyrinth aus Gängen und Bunkern anzulegen, das alle Gebäude miteinander verband und mit allem Notwendigen ausgestattet war, von edelholzgetäfelten Räumlichkeiten für den Chef und die Chefin bis hin zu einem Zwinger für Blondi, Küchen, Vorratsräumen, Kinderzimmern, Büros, Archiven, einem Hauptquartier, Telexräumen, einer Gestapo-Zentrale und Maschinengewehrnestern an strategisch wichtigen Punkten des Komplexes; oberirdisch krönten Geschütztürme mit Schnellfeuerkanonen das Ganze. Auch Fräulein Braun schloß die Augen vor der Wirklichkeit des Kriegs, die auf dem Obersalzberg nur in gedämpften unterirdischen Detonationen spürbar war. Vereinzelt gab es Fliegeralarm, was offensichtlich dem Chef sofort gemeldet wurde, denn garantiert rief er ein paar Minuten später an und legte Fräulein Braun dringend ans Herz, in den Luftschutzkeller zu gehen. Sie war traurig, wenn ihr Adi auswärts weilte, aber jetzt hatte sie ihren Sohn, und das Porträt ihres Geliebten brauchte Julia nicht mehr neben ihren Teller zu stellen. Und doch konnte es auch ihr nicht entgehen, daß die beklemmende Atmosphäre auf der Stelle aus dem Berghof wich, wenn die Kolonne aus schwarzen Mercedes-Wagen, begleitet von einer Motorradeskorte, um die Ecke verschwand – und alles und jeden mitnahm, Bormann, Morell, Brückners Nachfolger Schaub, Heinz Linge, die Sekretärinnen, die Köchin, Blondi und zwanzig große Koffer mit dem Gepäck des Chefs: Man zündete sich Zigaretten an, und plötzlich war hin und wieder Lachen zu hören, auch aus den Quartieren der SS-Mannschaften; von irgendwoher erklang sogar schon eine amerikanische Jazzplatte aus einem Koffergrammophon, entartete Negermusik, so wie das Wasser eines über die Ufer getretenen Flusses allmählich durch den Deich dringt. Auch die anderen hohen Funktionäre verließen dann den Berg, der plötzlich bedeutungslos geworden war. Julia erinnerte sich noch daran, daß Frau Speer einmal beim Abschied von Fräulein Braun zu ihr, Julia, sagte, Siggi sähe ihr immer ähnlicher. Fräulein Braun mußte ein wenig lachen und verzog gleichzeitig ihren Mund zu einem Schmollen. »Mitte Juli vierundvierzig«, sagte Falk, »Siggi war fast sechs, reiste der Chef wieder einmal Richtung Wolfsschanze ab. Der Abschied von Fräulein Braun und Siggi dauerte lang, als spürte er, daß er den Berghof nie wiedersehen würde. Damals schon hatte er sich in einen alten, gebückten Mann verwandelt.« Falk richtete sich ein wenig auf und sah Herter fest in die Augen. Nach einem kurzen Zögern sagte er: »In der Woche darauf verübte Graf Stauffenberg sein Attentat. Fräulein Braun war verzweifelt, weil sie ihrem Geliebten nicht beistehen und nur mit ihm telefonieren konnte, denn er wollte, daß sie bei Siegfried blieb. Er schickte ihr aber seine zerfetzte und blutige Uniform. Und dann, zwei Monate später, begann auch für uns die Katastrophe.«
Herter sah, daß Falk plötzlich einen Entschluß gefaßt hatte, wie jemand, der sich nicht traut, aus einem brennenden Haus in das Sprungtuch zu springen, und es dann auf einmal doch tut. Neben sich hörte er ein unterdrücktes Schluchzen Julias, doch er zwang sich, nicht zu ihr hinzuschauen. »Es tut mir leid, Herr Herter, doch was ich Ihnen jetzt erzähle, ist vollkommen unbegreiflich – nicht nur für Sie, sondern auch für uns, immer noch. Der Chef hatte schon seit ein paar Tagen nicht mehr angerufen, und wenn Fräulein Braun versuchte, ihn zu erreichen, sagte man ihr stets nur, er habe viel zu tun und keine Zeit, ans Telefon zu kommen. Das beunruhigte sie sehr, doch was sollte sie machen? Am Freitag, dem zweiundzwanzigsten September, einem strahlend schönen ersten Herbsttag, ich werde es nie vergessen, fuhr gegen Mittag plötzlich Bormann in einem geschlossenen Wagen an der großen Treppe vor, begleitet von einem kleinen Gefolge in einem zweiten Wagen. Schon das fand ich merkwürdig: Im Sommer fuhren die Herren sonst immer mit offenem Verdeck. Und was konnte im übrigen passiert sein, daß er bereit war, seinen Meister ein paar Tage aus den Augen zu lassen? Ich hatte die Uniformen und Anzüge des Chefs zum Lüften auf den Balkon gehängt und war dabei, seine Schuhe und Stiefel zu putzen, denn ich wußte natürlich nicht, daß er all diese Sachen nie wieder tragen würde; auch in Berlin und in den anderen Hauptquartieren verfügte er über eine umfangreiche Garderobe. Alles war auf Maß geschneidert, und ich wußte, wie genau er es mit seiner Kleiderordnung nahm. Seine Uniformen, Mäntel, Mützen, alles entwarf es selbst, genau wie seine Gebäude, seine Flaggen, Standarten und Massenaufmärsche. Wenn es auch nur irgendwo eine kleine Falte gab, die ihm nicht gefiel, ließ er Herrn Hugo kommen, seinen Schneider.«
Es war deutlich, daß Falk immer noch versuchte, das, was er sagen wollte, hinauszuzögern. Herter nickte.
»Er war ein Perfektionist.«
»Ullrich kam sofort und berichtete uns, was er gesehen hatte«, sagte Julia. »Ich war mit Frau Köppe in der Bibliothek, die sich auch im Obergeschoß befand. Wir klopften am offenen Fenster Bücher aus, Fräulein Braun las aus Struwwelpeter vor, während Siggi ununterbrochen Kopfstand machte oder sich der Länge nach rückwärts auf die Couch fallen ließ. Die Bibliothek war der einzige Raum auf dem Berghof, in dem es ein wenig gemütlich war. Hin und wieder hörte man tief unten im Berg das Dröhnen des Dynamits.«
Falk betrachtete kurz das Lächeln, das auf Herters Gesicht erschienen war und das er natürlich nicht verstand – Herter lächelte, weil er sich plötzlich vorstellte, welche Bücher damals am offenen Fenster gegeneinander geschlagen wurden: Schopenhauer gegen Gobineau, Nietzsche gegen Karl May, Houston Stewart Chamberlain gegen Wagner …
»Erschrocken sahen wir uns an«, sagte Falk, und es war, als sei der Schreck nach über fünfzig Jahren wieder in seinen Augen zu sehen. »Ein wenig später, vermutlich nachdem er mit Mittlstrasser gesprochen hatte, kam Bormann nach oben. Ich weiß nicht … am Stampfen seiner Stiefel auf der Treppe hörte ich irgendwie, daß etwas nicht stimmte. Es klang ein klein wenig zu laut, als müsse er sich selbst Mut machen. Auch Stasi und Negus witterten Unrat und begannen zu bellen.
›Mein Gott‹, sagte Frau Köppe, ›was hat das zu bedeuten?‹
Als er ins Zimmer trat, schlug er die Hacken zusammen, machte den deutschen Gruß und sagte förmlich: ›Heil Hitler.‹ Das war nicht üblich auf dem Berghof, und wir murmelten also auch irgend so was. Nur Siggi sah ihn mit großen Augen an. Bormann nahm seine Mütze nicht ab und fixierte Frau Köppe, die diesen Wink verstand und den Raum verließ. Dann sagte er zu Fräulein Braun, der Führer habe den Wunsch geäußert, sie in dieser schweren Zeit in seiner Nähe zu haben.« »Uns fiel ein Stein vom Herzen«, fuhr Julia fort, »Fräulein Brauns Miene hellte sich völlig auf. Sie fragte, wann sie abreisen solle. Jetzt sofort, sagte Bormann; draußen warte ein Wagen, der sie zum Flugplatz nach Salzburg bringen würde, wo eine Maschine bereitstünde. ›Und Siggi?‹ höre ich sie noch fragen – Siggi fahre doch sicher auch mit, genau wie Ullrich und ich? Nein, sagte Bormann, der Führer habe beschlossen, der Junge solle bei seinen gesetzlichen Eltern auf dem Berghof bleiben. Die Wolfsschanze sei keine Umgebung für ein Kind; außerdem sei es zu gefährlich, so nah an der Front.«
»Jetzt war sie natürlich in einem Konflikt«, sagte Falk, »doch sie wußte auch, daß an einem Entschluß des Führers nicht zu rütteln war. Bormann hatte sich immer noch nicht gerührt. Er sagte, sie solle sofort packen; mir teilte er kurz angebunden mit, daß er mich später noch zu sprechen wünsche. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und marschierte zum Zimmer hinaus.« Die Koffer, die den Berghof bereits einmal leer verlassen hatten, wurden nun gepackt – vor allem von Julia. Sie berichtete, daß Fräulein Braun währenddessen die meiste Zeit auf dem Rand des Bettes saß, einen Arm um Siggis Schultern gelegt, der mit einem kleinen Kompaß spielte. Sie hatte Tränen in den Augen und sagte, sie werde ihn ganz oft besuchen. Offensichtlich verstand er nicht, warum Tante Effi so schrecklich traurig war, denn schließlich fuhr sie zu Onkel Wolf, der gerade Krieg führte. Später, wenn er groß sei, hatte er einmal gesagt, dann würde er selbst auch gern Krieg führen. Der Chef hatte damals Tränen gelacht.
Fräulein Braun rief ihre Verwandten in München an, denn in der Wolfsschanze war sie nicht zu erreichen. Kurze Zeit später waren alle in der Halle angetreten – auch Frau Bormann und ihre Kinder, die Bormann immer auf dem Obersalzberg zurückließ, so daß er freie Hand bei den Mädchen im Hauptquartier hatte. Der Abschied war förmlich. Fräulein Braun gab Julia und Ullrich die Hand, Siggi bekam einen Kuß auf die Stirn, auch die Terrier wurden geküßt, von der großen Treppe aus winkten sie ihr zu, als sie in den zweiten Wagen stieg, wo neben dem Fahrer auch ein Gestapo-Mann saß.
»Eine Stunde später«, sagte Falk, »kam ein Adjutant von Bormann und sagte, der Reichsleiter erwarte mich in seinem Haus.«
»Ich weiß nicht, wieso«, sagte Julia, »doch ich hatte aus irgendeinem Grund sofort das Gefühl, daß noch etwas in der Luft lag. Ich ging mit Siggi in sein Zimmer, wo der Fußboden voller Soldaten war, die gerade einen Sturmangriff machten. Ich weiß noch, wie er sagte, er fände es langweilig, daß er nur deutsche Soldaten habe; eigentlich brauche man doch auch russische, um gewinnen zu können, doch die gebe es nicht. So, ohne Feind, könne man nicht einmal verlieren.«
Herter mußte an Marnix denken. Auch der könnte das gesagt haben, aber er spielte nicht mehr mit bewegungslosen Soldaten, er spielte Computerspiele, bei denen man einen sichtbaren Feind vernichten mußte. Er, Herter selbst, elf Jahre älter als Siegfried Falk alias Braun alias Hitler, hatte vor dem Krieg auch noch mit Soldaten gespielt, auch in deutschen Uniformen, ohne daß er je ein feindliches Heer vermißt hätte. Offensichtlich war es ihm nicht so sehr auf die Darstellung eines Kampfes angekommen, sondern auf den Entwurf von imposanten Tableaux vivants, nicht wie ein General, sondern wie ein Regisseur. Vielleicht hatte Hitler, der Theatermann, der sich für den größten Feldherrn aller Zeiten hielt, auch nur auf theatralische Weise mit Soldaten gespielt, allerdings solchen aus Fleisch und Blut. Zu Bormanns Villa, die etwas kleiner war als der Berghof, aber größer als Görings Chalet, ging man fünf Minuten zu Fuß. Die Sonne beschien den Hang, den er hinaufging, Gärtner mähten das Gras, Vögel sangen in den Bäumen – alles hätte so idyllisch sein können, wäre da nicht überall in der Erde das gedämpfte Lärmen der Preßlufthämmer zu hören gewesen. Auch er war ein wenig beunruhigt, doch was sollte schon sein? Niemand hatte etwas verbrochen. Als sein Kollege ihn einließ, hörte er irgendwo in der Tiefe des Hauses das Lachen und Plappern von Bormanns Kindern. Der Reichsleiter empfing ihn in seinem Arbeitszimmer, ein wenig breitbeinig stand er da, die Hände in die Seiten gestemmt. »Falk«, hatte er gesagt, »wir können es kurz machen. Ermannen Sie sich.« Falk konnte einen Moment lang nicht weitersprechen. Es war, als würde er noch kleiner; er senkte sein Haupt, rieb sich mit beiden Händen das Gesicht und sagte dann mit erstickter Stimme: »Er sagte: ›Auf Befehl des Führers müssen Sie Siegfried töten.‹«


14

Herters Kinnlade klappte herunter. Wo war er? Das konnte unmöglich wahr sein! Neben sich hörte er Julia in ihr Taschentuch weinen. Hatte er es also tatsächlich getan? Das war doch unvorstellbar! Und warum, warum mußte es geschehen? Als er bemerkte, daß Falk zu Julia hinübersah, stand er auf und machte mit einer Geste den Vorschlag, die Plätze zu tauschen. Nachdem Falk auf der Couch Platz genommen hatte, legte er seine Hand auf Julias, und, den beiden gegenübersitzend, spürte Herter in dem kleinen Sessel Falks Wärme.
»Ich traue meinen Ohren nicht«, sagte er. »Sie sollten Siegfried töten? Hitlers Sohn, nach dem er so verrückt war? Warum bloß?«
»Das weiß ich bis heute nicht«, sagte Falk. »Ich hatte das Gefühl, als verwandelte ich mich in eine Eissäule. Als ich die Sprache wiedergefunden hatte, stellte ich natürlich auch diese Frage, doch Bormann schnauzte mich an: ›Ein Befehl wird nicht begründet, der wird erteilt. Der Führer ist der letzte, der sich Ihnen gegenüber verantworten müßte.‹ Mir war klar, daß es keinen Sinn hatte, weiter darüber zu reden. Der Chef hatte seinen unergründlichen Entschluß gefaßt, und folglich mußte es geschehen. Sie müssen wissen, daß damals ein Führerbefehl im buchstäblichen Sinn Gesetzeskraft hatte. Ich wagte noch zu fragen, welche Folgen es für mich hätte, wenn ich mich weigerte.«
»Und?« fragte Herter, als Falk nicht weiterredete. »Dann würde Siegfried trotzdem sterben, denn er war zum Tode verurteilt. Das war unumstößlich. Der Führer nahm nie einen Entschluß zurück. Außerdem aber kämen Julia und ich in ein Konzentrationslager, und ich könne mir doch wohl ausmalen, was das bedeutete. Wenn ich meine Frau liebte, sagte er, dann sei es vielleicht klüger, wenn ich mich nicht weigerte.«
»Und Fräulein Braun? Wußte sie davon?«
»Ich weiß es nicht, Herr Herter. Ich weiß nicht mehr als das, was ich Ihnen erzähle.«
»Ich bin sprachlos«, sagte Herter. »Was waren das nur für Wesen? Sie waren das, was sie von den Juden behaupteten: Ungeziefer, das die Weltherrschaft an sich reißen wollte. Welcher Abschaum. Aber das wußten wir ja bereits.« »Tja, das sagen Sie heute, ich wußte es damals eigentlich nicht. Zum ersten Mal in all den Jahren wurde mir in diesem Moment schockartig bewußt, mit was für Leuten ich es zu tun hatte. In meiner Naivität waren sie für mich nur das, was ich von ihnen zu sehen bekam. Hitler konnte toben und wüten, wenn es um politische Dinge ging, doch das tat er beruflich; ansonsten war er die Höflichkeit in Person, genauso wie ein Profiboxer, der zu Hause ja auch niemanden niederschlägt. Göring hat mir einmal jovial zugeblinzelt, und ich weiß noch, daß dieser schreckliche Heydrich einmal während des Mittagessens eine Rose aus der Vase zog und sie Julia galant überreichte. Weißt du noch, Julia?« Sie nickte, ohne ihn anzusehen.
»Vor dem, was sie sonst noch so taten, verschloß ich die Augen. Ich ahnte natürlich, daß schreck liche Dinge passierten, denn man hörte dies oder jenes, doch wissen wollte ich es nicht. Auch mit Julia redete ich nicht darüber. Nur Bormann, der sich nie entspannen konnte, hatte immer so etwas Unheilverkündendes, obwohl er doch gar nicht der größte Verbrecher in dieser Gesellschaft war.« »Aber er war immer noch Verbrecher genug«, sagte Herter, »um Sie mit dem Tod Ihrer Frau zu erpressen.«
»Natürlich. Er war Hitlers verlängerter Arm.« »Genau wie all die anderen.«
»So ist es. Er hatte fast das gesamte deutsche Volk in sich selbst verwandelt, und er wollte dies mit der ganzen Menschheit tun. Seine Paladine taten genau das, was er wollte, auch ohne Befehl. Sie konnten Menschen vernichten, weil sie zuvor menschlich von ihm vernichtet worden waren.« »Sie formulieren das sehr treffend, Herr Falk. Und wie ging es dann weiter?«
»Es sollte wie ein Unfall aussehen. Es würde keine Ermittlungen geben, denn warum sollte ich meinen eigenen Sohn umbringen? Wie ich es machte, da sollte ich mir selbst etwas einfallen lassen. Es sollte frühestens in einer Woche geschehen – natürlich weil dann niemand mehr einen Zusammenhang mit seiner Anwesenheit herstellte –, aber spätestens in zwei. Dann sagte er ›Heil Hitler‹, und ich konnte gehen.« Herter verzog das Gesicht.
»Von dem, was Sie da sagen, wird mir regelrecht übel, glauben Sie mir. Was ging bloß in diesen Kerlen vor? Haben Sie mit Ihrer Frau darüber gesprochen?«
Julia hatte wieder einen Zug von ihrer Zigarette genommen, und bei jedem Wort kam etwas blaß blauer Rauch aus ihrem Mund, wie bei einem Fabeltier. »Er hat mir erst gegen Ende des Krieges erzählt, was passiert war, nachdem wir in Den Haag im Radio gehört hatten, daß Hitler tot war.« »Einen Tag, nachdem er Eva Braun geheiratet hatte«, sagte Herter. »Wie ist das alles nur möglich? Aus irgendeinem Grund wollte er Siegfried ermorden lassen, wer weiß, vielleicht hatte er erfahren, daß er nicht der Vater war, und am Ende heiratet er die Mutter, die ihn möglicherweise betrogen hat, die er jedoch am Leben ließ. Daraus soll einer schlau werden. Es muß dafür noch einen ganz anderen Grund geben, das ist offensichtlich.« Falk hob kurz beide Arme und ließ sie schlaff auf die Schenkel sinken:
»Rätsel über Rätsel. Durch Nachdenken läßt sich keine Erklärung finden. Niemand wird je die genauen Zusammenhänge erfahren. Es lebt niemand mehr, der noch darüber berichten könnte.« »Und Sie beide? Waren Sie nicht auch in Gefahr? Sie wußten doch zuviel?«
»In dieser Hinsicht hatte ich keine Angst«, sagte Falk. »Dann hätte man sich nicht so einen komplizierten Plan ausgedacht. Dann hätte man uns drei einfach ermordet, damit hatten die Herren keine Probleme, schon gar nicht an einem so hermetisch abgeriegelten Ort wie dem Berghof. Nein, offenbar vertrauten sie uns, und wir hatten Gnade vor ihren Augen gefunden, weil wir uns so gut um Siegfried gekümmert hatten.«
»Wie haben Sie nur diese Tage überstanden?« Falk seufzte und schüttelte den Kopf.
»Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, sehe ich absolut nichts. Ich bin nach dem Krieg mal mit dem Auto verunglückt und hatte eine Gehirnerschütterung; an den Unfall konnte ich mich später auch nicht erinnern.«
Klein und alt hockten Julia und er auf der verschlissenen Couch unter Brueghels vierhundert Jahre alter Bauernhochzeit, wie zwei hyperrealistische Bilder eines amerikanischen Künstlers. »Natürlich wollte ich nichts lieber, als mit Julia darüber reden«, fuhr er fort, »doch welchen Sinn hatte das? Warum sollte ich sie mit etwas so Grauenhaftem belasten, wenn sich daran doch nichts ändern ließ? Ich hatte die Wahl zwischen einem und drei Toten – und die einzige Möglichkeit, dem zu entgehen, war die Flucht, am besten zu dritt. Aber das war ausgeschlossen: Niemand konnte das Führerareal auf dem Obersalzberg betreten, aber es zu verlassen war ebenso unmöglich. Überall standen Wachtposten. Und natürlich hatte Bormann eine verschärfte Bewachung befohlen. Ich habe noch daran gedacht, Dr. Krüger ins Vertrauen zu ziehen, denn das war ein anständiger Mensch; vielleicht hätte er uns in seinem DKW hinausschmuggeln können; doch dazu hätte ich ihn anrufen müssen, und das Telefon wurde natürlich abgehört. Außerdem hätte ich dann auch ihn in Lebensgefahr gebracht. Nein, die Situation war hoffnungslos. Wie ich es auch eine Woche lang drehte und wendete, ich hatte keine Wahl. Ich mußte es tun, und zwar für Julia. Darum mußte es auch für sie wie ein Unfall aussehen.« Erneut setzte Stille ein. Herter versuchte sich vorzustellen, er müsse seinen kleinen Marnix ermorden, um zu verhindern, daß nicht nur er selbst, sondern auch Maria sterben mußte. Schon bei dem Gedanken wurde ihm übel. Wie würde er sich verhalten? Vermutlich käme er mit Maria zu dem Ergebnis, daß es dann besser sei, zu dritt zu sterben. Denn wie sollte man nach einer solchen Tat weiterleben, auch wenn sie unter Zwang geschah? Aber vielleicht bestand der Unterschied darin, daß Marnix ihr eigenes Kind war. »Wollen Sie hören, wie es weiterging?« fragte Falk.
Nein, er wollte es nicht hören, aber Falk wollte es erzählen. Herter machte eine kaum sichtbare Bewegung mit dem Kopf, woraufhin Julia aufstand und ins Schlafzimmer ging. Nachdem sie die Tür hinter sich zugemacht hatte, schloß Falk die Augen, um sie während seines ganzen Berichts nicht mehr zu öffnen. Als würde auch Herter in die Finsternis hinter Falks Augenlidern aufgenommen, wo dieser das Drama noch einmal abrollen sah, lauschte er der leisen Stimme, wobei ihn das Gefühl überkam, als versinke Haus Eben Haëzer, als sei er durch die Worte hindurch körperlich im Erzählten zugegen, dort an diesem verfluchten, vor mehr als einem halben Jahrhundert zerstörten Ort – alles sieht, alles hört … Eine Minute bevor der Wecker klingelt, schlägt Falk die Augen auf. Sofort bricht ihm der Schweiß aus. Heute. Unzählbar oft hat er es sich während der zwei Wochen vorgestellt, aber jetzt, da es soweit ist, der letzte Tag, ist es vollkommen anders. Er schaltet den Wecker aus und schaut auf Julias Hinterkopf. Sie schläft ruhig atmend. Verwirrt, am ganzen Leib zitternd, steigt er aus dem Bett und zieht die Vorhänge auf. Ein naßkalter, grauer Herbsttag, die Gipfel der Alpen unsichtbar geworden im heranziehenden Winter. Die Welt hat ein anderes Gesicht bekommen. Er fühlt sich wie ein Todkranker, der beschlossen hat, daß heute sein letzter Tag sein wird. Nachher kommt heimlich der Arzt mit der Spritze. Jetzt schläft er noch, der befreundete Arzt, der bereit ist, das Risiko auf sich zu nehmen, oder er liest die Zeitung, eine Tasse Kaffee in der Hand. Russische Offensive im Memelgebiet. Überall stirbt man seit Jahr und Tag in Massen. Sterben ist unbedeutend geworden. Führerbefehl hat Gesetzeskraft. Die Unwiderruflichkeit dieses Gesetzes ist härter als der Granit der Alpen. In ein paar Stunden muß er diesem Gesetz gehorchen.
Gähnend dreht Julia sich auf den Rücken und verschränkt die Hände unter dem Kopf.
»Ist was, Ullrich?«
»Ich habe schlecht geschlafen.«
»Ist Siggi schon wach?«
»Ich glaube, ich habe ihn schon gehört. Ich habe versprochen, ihm heute den Schießstand zu zeigen. Er bettelt schon seit Wochen darum.«
Seufzend schlägt Julia die Decke beiseite und steht auf.
»Warum seid ihr Männer nur immer so auf diese dumme Gewalt versessen? Wenn Siggi ein Mädchen wäre, hätte sie nicht darum gebettelt.« »Dieser Unterschied hat eine lange Geschichte, glaube ich.«
Siggi hat sich bereits angezogen. In seiner kurzen Hirschlederhose mit Hornknöpfen sitzt er auf dem Fußboden und bewegt langsam einen roten Magneten um seinen Kompaß herum.
»Schau mal, Papa, die Nadel ist verrückt geworden. Und weißt du, warum? Weil der Magnet die Form eines Hufeisens hat. Die Nadel will sich losreißen und glücklich werden, denn ein Hufeisen
bringt Glück, aber sie hängt fest, wie ein Hund an der Kette.«
Marnix. Genau dasselbe hätte Marnix auch sagen können.
Dieses Kind! Falk hat das Gefühl, seine Adern füllten sich mit flüssigem Blei. In den dreiunddreißig Jahren seines Lebens ist ihm noch nie ein solcher Gedanke gekommen. Was ist das nur für eine Welt? Es ist doch unglaublich, daß er dieses kleine Leben nachher vernichten wird! Muß er nicht auf der Stelle seine Pistole nehmen und sich selbst eine Kugel durch den Kopf jagen? Doch was geschieht mit Julia? Plötzlich muß er daran denken, daß er schon einmal auf jemanden geschossen hat, vor neun Jahren, im Bundeskanzleramt in Wien, während des mißglückten Putschversuchs. In dem Chaos und dem Lärm von Schüssen, Schreien, explodierenden Handgranaten und zersplitterndem Glas sah er auf einmal in einem verlassenen Eckzimmer Dollfuß vornüber auf dem Teppich liegen, stöhnend und nach einem Priester rufend: Er erkannte ihn sofort, der Bundeskanzler war nur wenig größer als Siegfried. Er blutete aus einer Wunde unter dem linken Ohr. In diesem Moment kroch die Gewalt auch in ihn, und ehe er es wußte, hatte er einen Schuß auf ihn abgefeuert. Ein paar Tage später gab Otto Planetta zu, den ersten, vermutlich schon tödlichen Schuß abgegeben zu haben; er wurde innerhalb einer Woche verurteilt und aufgehängt. Der zweite Schuß, von einem anderen Kaliber, blieb immer ein Rätsel, über das bis heute spekuliert wird. Aus Scham hatte er nie jemandem davon erzählt, auch Julia nicht, auch nicht, als die Putschisten nach dem Anschluß als Helden verehrt wurden, und nach dem Krieg ebensowenig. Er versuchte sich einzureden, es habe sich um einen Gnadenschuß gehandelt; als ihm das nicht gelang, begrub er die Erinnerung in sich und dachte nie wieder daran.
Er steckt seine Pistole ein und geht in die Küche, wo Siggi ein Stück Butter und einen halben Riegel Vollmilchschokolade in seinen Haferbrei rührt, wie er es von seinem Vater gelernt hat. Henkersmahlzeit. Wozu noch essen? Er wird nicht einmal mehr Zeit haben, es zu verdauen. Zeit! Julia hat sich bereits ihre ersten Ukraina angezündet und geht leise singend umher:
»Es gebt alles vorüber, Es geht alles vorbei.«
Die Zeit ist härter als der Granit, der das Haus umgibt, nicht die kleinste Schramme kann man hineinkratzen. Das Bewußtsein, daß sie, ohne es auch nur zu ahnen, das Kind jetzt zum letzten Mal sieht, schneidet ihm fast noch tiefer in die Seele als der Gedanke an das, was er nachher tun muß. Abrupt steht er auf. »Wir müssen gehen.«
»Zieh auch deinen Schal an, Siggi, erkälte dich nicht. Und paßt um Gottes willen auf.« Als sie nach draußen kommen, ist die Luft voller glitzernder Eisnadeln, die bewegungslos in der naßkalten Luft zu schweben scheinen.
»Schau Papa, die Mutter unseres lieben Herrgott hat ihr Nadelkissen aus der Hand fallen lassen.« Ein Schluchzen durchzittert Falks Brust, und er nimmt Siggi an die Hand. Während sie die Almwiese hinaufgehen, macht der Junge pausenlos wilde Bocksprünge, als wolle er fliegen. Zwischen den Tannen werden sie mit einem »Heil Hitler« von einer SS-Patrouille mit angeleintem Schäferhund und Karabinern über der Schulter angehalten. Nachdem Falk seinen Passierschein gezeigt hat, der ihm von Mittlstrasser ausgestellt wurde, fragt Siggi: »Papa, wie ist das Wasser entstanden?« »Das weiß ich nicht.« »Ob Onkel Wolf das vielleicht weiß?«
»Bestimmt. Onkel Wolf weiß immer alles.«
»Aber nicht, daß Tante Effi raucht, wenn er nicht da ist.«
»Das vielleicht auch.«
Gebrüllte Befehle sind jetzt zu hören, doch Siggi scheint sie nicht zu bemerken. Während sie weitergehen, schaut er nachdenklich zu Boden und sagt nach einer kleinen Weile:
»Aber wenn man alles weiß, woher weiß man dann, daß man wirklich ›alles‹ weiß?« »Auch das weiß ich nicht, Siggi.«
»Ich weiß auch eine ganze Menge, doch wie kann ich erfahren, was ich alles weiß?«
Falk antwortet nicht. Welche Martern! Die Welt dürfte nicht existieren, die Welt ist ein schrecklicher Irrtum, eine sinnlose Mißgeburt – so sinnlos, daß nichts, absolut nichts einen Sinn hat. Alles wird vergessen werden und schließlich verschwinden und dann nie geschehen sein. Und es ist dieser Gedanke, der ihm die lasterhafte Kraft gibt, das zu tun, was er tun muß. Er holt tief Luft und läßt Siggis Hand los.
Der große Exerzierplatz ist von Kasernen, Kantinen, Garagen und Verwaltungsgebäuden umgeben. Flankiert von einer Hakenkreuzfahne und einer schwarzen SS-Fahne, sind behelmte Truppen angetreten und bewegen sich kollektiv mit derselben Disziplin wie der Körper des Chefs in der Öffentlichkeit. Durch die Turnhalle gehen sie zu der Treppe, die zum unterirdischen Schießstand führt, und Falk denkt: – Was macht es schon, daß er jetzt zum letzten Mal das Tageslicht gesehen hat. Eine Stahltür, deren Aufgabe vor allem darin besteht, daß der Chef in seinen welthistorischen Reflexionen nicht gestört wird, schließt sich hinter ihnen.
»Das hier ist vielleicht doch nicht der richtige Ort für Kinder«, sagt der diensthabende Untersturmführer kopfschüttelnd in das Knallen und Rattern hinein, nachdem er Mittlstrassers Bescheinigung gelesen hat. »Aber gut, heutzutage ist ganz Deutschland ein einziges Tohuwabohu.« Ja, Mittlstrasser, der ist natürlich auch in das Komplott eingeweiht, vielleicht aber auch nicht; es ist Falk egal. Siggi ist über den Lärm in diesem Raum aus Beton begeistert, er ruft etwas, das Falk nicht versteht. Auf dem größten der drei Schießstände, der um die hundert Meter lang und in grelles elektrisches Licht getaucht ist, liegen zwei Soldaten im Kampfanzug hinter ratternden Maschinengewehren, während Ausbilder mit Ferngläsern die Ergebnisse kontrollieren. Der zweite Schießstand, wo mit Gewehren geschossen wird, ist kürzer; der dritte, noch kürzere, wird zur Zeit nicht benutzt. Ein Unterscharführer ruft im Vorbeigehen mit Blick auf Siggi:
»Haben sie diesen Jahrgang jetzt auch schon eingezogen?«
Falk holt seine durchgeladene 7.65er Pistole hervor und zeigt Siggi das Magazin mit den Kugeln. Breitbeinig stellt er sich in Position, hält die Waffe mit beiden Händen und feuert einen Schuß ab, der die schematische Gestalt am Ende der Bahn in den Bauch trifft. Daraufhin ruft Siggi: »Darf ich auch mal, darf ich auch mal?«
Die Welt existiert nicht. Das alles ist gar nicht wahr. Nichts existiert. Er geht in die Knie und zeigt ihm noch einmal, wie er die Pistole halten muß. Zum Spaß richtet er den Lauf aus nächster Nähe auf Siggis Stirn. Als dieser zu lachen beginnt, drückt er ab.
Voller Blutspritzer schaut er weiterhin auf die Stelle, wo soeben noch Siggis Lachen war. Niemand hat etwas gehört oder gesehen. Er schließt die Augen und läßt langsam die Pistole sinken, bis der Lauf den leblosen Körper berührt, und denkt: Nicht ich habe ihn getötet, Hitler hat ihn getötet. Nicht ich, Hitler. Ich. Hitler.