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»Sie sind blaß«, sagte Julia. »Fühlen Sie sich nicht
gntut?«
Herter sah auf.
»Nicht besonders, ehrlich gesagt. Das hat man schon mal in
unserem Alter.«
»In unserem Alter? Sie sind doch noch ein junger
Hüpfer.«
Er nahm ihre faltige Hand und drückte auf altösterreichische
Art einen Kuß darauf.
»Nun gut«, sagte er zu Falk, »er ging also ins Haus – und
dann?«
Eine dreiviertel Stunde später klingelte in der Küche das
Telefon, Fräulein Braun war offenbar am Apparat, und in Begleitung
von Adjutant Krause ging er mit pochendem Herzen nach oben, in
seiner schwarzen Hose und der weißen Weste mit den goldenen
Epauletten, am Revers die SSRunen auf schwarzem, rautenförmigem
Grund und in den weiß behandschuhten Händen ein Tablett mit Tee und
Gebäck. Der Hitler, den er dort in seinem niedrigen, mit
Holzpaneelen verkleideten Arbeitszimmer neben dem übermannshohen,
gefliesten Ofen traf, war plötzlich eine völlig andere Person.
Erschöpft, amorph, in einem grauen Zweireiher mit herabgerutschten
Socken, die Haare noch naß vom Baden, lag er in einem geblümten
Sessel, nicht mehr als ein Schatten des dämonischen Akrobaten, der
vorhin angekommen war – und ohne jede Gemeinsamkeit mit dem in
hysterische Raserei verfallenden Volkstribun, den die Welt kannte.
Mit einem Zahnstocher pulte er zwischen seinen Zähnen herum.
»Offenbar war er so etwas wie eine unheilvolle
Dreifaltigkeit«, sagte Herter.
Fräulein Braun saß mit hochgezogenen Knien auf der Couch,
unter dem Porträt von Hitlers schon lange verstorbener Mutter, der
er sehr ähnlich sah: derselbe Medusenblick, derselbe kleine Mund.
Doch trotz seiner Erschöpfung bemerkte er sofort, daß Falk neu war.
Während Krause, die Hacken seiner Stiefel zusammenschlagend, ihn
mit kurzen Worten vorstellte, sah Hitler ihn mit seinen leicht
hervorstehenden, dunkelblauen Augen scharf an – und diesen Blick,
sagte Falk, werde er nie vergessen.
»Ich denke«, sagte Herter, »daß er Sie mit diesem berühmten
Blick in die vollkommene Unterwerfung zwang. Sie stellten eine
potentielle Gefahr für ihn dar, Sie waren in der Lage, ihn zu
vergiften; doch mit diesem Blick, der Ihnen immer im Gedächtnis
bleiben wird, lähmte er Sie wie die Schlange das Kaninchen.«
Während er dies äußerte, kam ihm eine Formulierung in den
Sinn, mit der Thomas Mann einmal Hitlers Blick charakterisiert
hatte: sein »Basiliskenblick«. Der Basilisk, ein geflügeltes
Fabeltier, zusammengesetzt aus dem gekrönten Kopf eines Hahns und
dem Unterleib einer Schlange mit Klauen, verbrennt alles, was er
betrachtet, sogar Steine zersplittern unter seinem Blick. Er kann
nur getötet werden, indem man ihm einen Spiegel vorhält, so daß
sein alles vernichtender Blick auf ihn selbst zurückfällt. Diese
Methode hatte also etwas von einem erzwungenen Selbstmord. Doch ein
Basilisk ist immerhin
noch etwas, das gespiegelt werden kann, während Hitler die
reine Negativität war. Wer ihm in die Augen sah, erlebte den
horror vacui.
»Hätte ich es nur getan«, sagte Falk.
»Hätten Sie was nur getan?«
»Ihn vergiftet. Doch als ich Grund dazu hatte, ging es nicht
mehr.«
Herter nickte schweigend. Es war klar, daß Falk jetzt an die
Dinge rührte, die ihm auf dem Herzen lagen, und Herter wollte ihn
nicht durch Fragen verunsichern. Er war dabei, sich von etwas zu
befreien, das er und Julia mehr als ein halbes Jahrhundert mit sich
herumgeschleppt hatten, und dafür mußte man ihnen Zeit geben.
Herter bemühte sich, seine Ungeduld nicht durch einen Blick auf die
Uhr zu verraten, denn so verstohlen man es auch tut, man bemerkt es
immer. Die Lösung dieses Problems bestand darin, auf die Uhr eines
anderen zu schauen, doch weder Falk noch Julia trugen eine. Er
schätzte, daß es auf zwölf zuging. Immer wenn der Chef der
Wilhelmstraße im hektischen Berlin entfloh und mit seiner Ankunft
sein Feriendomizil in das Führerhauptquartier verwandelte, ließen
sich auch andere Prominente mit ihren Familien auf dem Obersalzberg
nieder. Martin Bormann natürlich, der selbst ein großes Chalet im
innersten Kreis bewohnte und seinen Meister nie aus dem Auge
verlor: Er hatte es so bauen lassen, daß er von seinem Balkon aus
mit einem Fernglas kontrollieren konnte, wer bei Hitler ein und aus
ging. Auch Reichsmarschall Göring hatte ein Haus dort, ebenso
Albert Speer, Hitlers Leibarchitekt.
»In dessen Gestalt er also auch seinen Wiener Jugendtraum in
Reichweite hatte«, nickte Herter.
»Seinen Jugendtraum?« »Baumeister zu werden.«
»Baumeister …« wiederholte Julia verächtlich.
»Abrißunternehmer, könnte man besser sagen. Durch seine Schuld
wurde ganz Deutschland in Schutt und Asche gelegt, und nicht nur
Deutschland.«
Das Leben auf dem Berg, fuhr Falk fort, war von einer
seltsamen Öde, vor allem, wenn der Chef da war. Weil er als der
echte Bohemien, der er immer geblieben war, jeden Abend spät zu
Bett ging, durfte er erst um elf geweckt werden. Später, während
des Kriegs, hat dies Tausende Soldaten das Leben gekostet. Wenn
morgens um acht der Bericht von einem Durchbruch an der Ostfront
eintraf und rasch entschieden werden mußte, ob sich die Truppen
zurückziehen oder zum Gegenangriff übergehen sollten, wagte es
niemand, ihn zu wecken, auch Feldmarschall Keitel nicht. Der Führer
schlief! Ratlose Generäle in Rußland, aber der Führer schlief und
durfte nicht geweckt werden.
Ja, ja, ja, dachte Herter. Und wovon träumte er? Er gäbe wer
weiß was darum, das zu erfahren. »Hat er Ihnen vielleicht einmal
einen Traum erzählt, Herr Falk?« Falk lachte kurz auf.
»Dachten Sie etwa, er hätte jemanden an sich herangelassen?
Der Mann war in sich selbst gefangen … wie … wie … Doch einmal,
während des Kriegs, ich meine im Winter zweiundvierzig, da muß er
einen Alptraum gehabt haben. Ich wachte auf und hörte ihn schreien,
ich nahm meine Pistole und rannte im Schlafanzug zu seinem
Schlafzimmer.«
»Sie hatten eine Pistole?« Falk sah ihn von unten herauf
an.
»Es gab viele Waffen auf dem Obersalzberg, Herr Herter. Er war
allein, Fräulein Braun war für ein paar Tage auf Familienbesuch in
München. An der Tür standen bereits zwei Leibwachen von der SS mit
Maschinenpistolen, aber sie trauten sich nicht hinein, obwohl er
möglicherweise ermordet wurde. Die beiden wurden gleich am nächsten
Morgen an die Ostfront geschickt. Ich riß die Tür auf und sah ihn
im Nachthemd völlig aufgewühlt mitten im Zimmer stehen, triefend
vor Schweiß, mit blauen Lippen, zerzaustem Haar, und mit
angstverzerrtem Gesicht sah er mich an. Nie werde ich vergessen,
was er sagte: ›Er … er … er war hier …‹«
Er? Herter hob die Augenbrauen. Er, vor dem sich jeder
fürchtete, vor wem könnte er selbst sich gefürchtet haben? Wer war
dieser Er? Sein Vater? Wagner? Der Teufel?
»Aber wie konnten Sie seine Schreie hören?
Sagten Sie nicht, Sie wohnten in einem Mehrfamilienhaus auf
dem Gelände?«
Falk wechselte einen Blick mit Julia.
»Damals nicht mehr.«
Hitlers asketisches Schlafzimmer hatte keine Tür zum Gang hin,
sondern nur eine, die in sein Arbeitszimmer führte. Um elf Uhr
legte Falk dort die Zeitungen und ein paar Telegramme auf einen
Stuhl und rief: »Guten Morgen, mein Führer! Es ist Zeit!« Meistens
erschien der Chef dann in einem langen weißen Nachthemd und mit
Pantoffeln an den Füßen, doch einmal rief er Falk zu sich hinein.
Er saß auf der Bettkante, Fräulein Braun hockte in einem
blauseidenen Morgenrock auf dem Boden; sie hielt einen seiner Füße
in ihrem Schoß und schnitt ihm die Nägel. Falk fiel auf, wie weiß
der Fuß war.
»So weiß war er am ganzen Körper«, ergänzte Julia. »Noch vor
dem Krieg habe ich ihn einmal nackt gesehen, das muß achtunddreißig
gewesen sein …«
»Nein«, unterbrach Falk sie, »siebenunddreißig.«
Sie sah ihn unverwandt an und begriff offenbar plötzlich, was
er meinte.
»Ja, natürlich. Siebenunddreißig.«
Der Chef, sagte sie, blieb praktisch immer bis tief in die
Nacht auf, manchmal sogar bis sechs oder sieben Uhr morgens,
umgeben von seiner festen Clique, Bormann, Speer, seinem Leibarzt,
seinen Sekretärinnen, seinem Fotografen, seinem Chauffeur, seinem
Masseur, seiner jungen vegetarischen Köchin, ein paar Ordonnanzen
und anderen Mitarbeitern; nie mit der Elite seiner Partei, seiner
Wehrmacht oder seines Staates.
»Auch hierin blieb er der Wiener Bohemien«, nickte Herter.
»Was sollen wir bloß von diesem Mann denken?«
Julia selbst durfte sich auch oft dazusetzen. Während Ullrich
Getränke und Häppchen servierte, wurde in dem großen Saal mit den
gigantischen Gobelins, Arno Brekers riesiger WagnerBüste und dem
größten Fenster der Welt, auf das Hitler so stolz war, ein Film
vorgeführt; nicht selten einer, den Goebbels verboten hatte. Sie
hörten auch Schallplatten, Wagner natürlich, aber auch Operetten
wie zum Beispiel Franz Léhars Lustige Witwe, und
anschließend hielt der Chef einen jener endlosen Monologe, die sich
von der fernsten Vergangenheit bis in die fernste Zukunft
erstreckten, während seine Gäste kaum noch die Augen offenhalten
konnten, nicht zuletzt deshalb, weil sie das alles schon häufiger
gehört hatten. Anschließend ging er noch stundenlang in seinem
Arbeitszimmer hin und her, während er im Sommer oft noch bis
Sonnenaufgang auf dem Balkon seines Arbeitszimmers saß, um in der
Stille der Berge und Sterne nachzudenken. »Oder um nicht schlafen
zu müssen«, sagte Herter, »denn sonst würde er ihm vielleicht
wieder begegnen. Man darf übrigens nicht dran denken, worüber er
dort auf dem Balkon nachdachte.« »Das stimmt«, sagte Falk. »Nur
gut, daß die Amerikaner das ganze Spukschloß, beziehungsweise das,
was nach ihrem Bombardement davon noch übrig war, nach dem Krieg in
die Luft gesprengt und dem Erdboden gleichgemacht haben.«
Fräulein Braun aber, fuhr Julia fort, zog sich häufig bereits
gegen eins auf ihr Zimmer zurück, wo sie ihr dann noch einen Becher
Kakao servierte. Eines Nachts klopfte sie an, doch weil Blondi in
Hitlers Arbeitszimmer bellte, um die Aufmerksamkeit ihres Herrchens
auf sich zu lenken, hörte Julia nicht, ob Fräulein Braun wie sonst
immer »Herein« gesagt hatte. Sie öffnete die Tür und sah die beiden
mitten im Zimmer stehen, einander zärtlich umarmend, sie im offenen
Morgenmantel, einem schwarzen diesmal, er unbekleidet. Sein
fleischiger, weißer Körper, hatte etwas Lebloses, noch nie war er
der Sonne ausgesetzt gewesen; nur seine Wangen und sein Hals
besaßen etwas Farbe, doch die endete abrupt, so daß es aussah, als
gehörte sein Kopf zu einem anderen Körper. Julia erinnerte sich
noch daran, daß aus der offenen Badezimmertür Dampf und das
Geräusch von fließendem Wasser kam. Was die beiden genau machten,
konnte sie nicht sehen. Er wandte ihr den Rücken zu und war
offenbar erregt. »Patscherl …« hörte sie ihn stöhnen. »Patscherl?«
wiederholte Herter.
»Er hatte eine ganze Reihe von Kosenamen für sie«, sagte
Julia. »Feferl, zum Beispiel.«
»Tschapperl«, fügte Falk mit unbewegter Miene hinzu.
»Schnacksi.«
Fräulein Braun sah sie über seine Schulter an und riß
erschrocken die Augen auf. Daraufhin schloß sie schnell und
geräuschlos die Tür. Zum Glück hatte er nichts bemerkt.
»Das hätte ein böses Ende nehmen können«, sagte Falk. »Wenn
die beiden nur eine Viertelumdrehung anders gestanden hätten, hätte
uns das vielleicht innerhalb von zehn Minuten das Leben gekostet.«
Er betupfte mit einem Taschentuch seine Augen, doch der Grund dafür
waren nicht Emotionen, sondern allein das Alter.
Jemand klopfte an die Tür, und ohne auf eine Antwort zu warten
erschien ein kleiner bärtiger Mann in einem braunen Kittel. Nach
einem raschen Blick durchs Zimmer fragte er mit einem Lächeln, das
Herter nicht wirklich gefiel: »Besuch?«
»Wie Sie sehen«, sagte Falk, ohne ihn anzuschauen.
Der Mann wartete kurz auf eine nähere Erklärung; als die
ausblieb, holte er den Müllbeutel aus einem Küchenschrank und
verschwand wortlos.
Ruhe setzte ein, die Herter mit Absicht nicht störte. Für die
meisten Lebenden war Hitler in zwischen nur noch eine Figur aus
Actionfilmen oder Komödien, doch diese beiden, Julia und Ullrich
Falk, steckten noch voller Erinnerungen an die versunkene Zeit, sie
waren dabeigewesen, für sie war alles wie gestern, und sie konnten
noch endlos über ihn weitererzählen, und sei es auch nur, um das,
was sie eigentlich sagen wollten, hinauszuzögern. Als die Stille
peinlich zu werden begann, passierte, was Herter erhofft hatte. Die
beiden wechselten einen Blick, und dann stand Falk auf und sah kurz
auf dem Gang nach, ob niemand an der Tür lauschte. Er setzte sich
wieder hin und sagte:
»Eines Tages, im Mai achtunddreißig, kurz nach dem Anschluß,
kamen Gäste; zusammen mit Frau Mittlstrasser, der Gattin des
Hausmeisters, deckten wir gerade den Tisch für das Mittagessen. Das
mußte immer sehr sorgfältig geschehen, denn manchmal kniete der
Chef sich hin und kontrollierte mit einem zugekniffenen Auge, ob
alle Gläser sauber in einer Reihe standen.«
»Das war sein architektonischer Blick«, nickte Herter. »Auf
diese Weise betrachtete er auch Speers Modelle von Germania und
seine in Formation angetretenen Truppen.«
»Plötzlich erschien Linge im Speisesaal und meldete, der
Führer wolle uns sprechen.« »Linge?« fragte Herter. »Das war der
Nachfolger von Krause.«
»Wir waren zu Tode erschrocken«, sagte Julia. »Wenn er etwas
von uns wollte, rief er immer selbst an, wir wurden nie offiziell
zu ihm gerufen.«
Oben, in seinem Arbeitszimmer, wo er mit Schreien und
Drohungen ganze Länder in die Knie gezwungen hatte, saß eine kleine
Gesellschaft auf der breiten Couch und in den Sesseln: der Chef und
Fräulein Braun, Bormann, der massige Hofmarschall Brückner und der
Hausmeister, auch ein Offizier. Ängstlich blieben die beiden
stehen; die Spannung in dem Zimmer war greifbar, doch Brückner gab
Linge Order, zwei Stühle aus der Bibliothek zu holen. Das war auf
jeden Fall beruhigend, machte die Situation jedoch nur noch
unerklärlicher. Was sollten sie beide, zwei untergeordnete
Hausangestellte in den Zwanzigern, bei all den hohen Herren? Als
sie auf den geraden Bauernstühlen Platz genommen hatten, warf
Brückner Linge einen unmißverständlichen Blick zu, der ihm befahl,
das Zimmer auf der Stelle zu verlassen.
Während seine zierliche Hand auf dem Nacken Blondis ruhte, die
mit gespitzten Ohren neben seinem Sessel saß wie ein stolzes Wesen
aus einer anderen, unschuldigeren Welt, sagte Hitler, dies sei
zweifellos der wichtigste Tag in ihrem Leben, denn er habe
beschlossen, eine welthistorische Aufgabe auf ihre Schultern zu
legen. Er schwieg einen Moment und sah zur Chefin, die blaß
zwischen den beiden Offizieren Brückner und Mittlstrasser auf der
Couch saß.
»Herr Falk, gnädige Frau«, sagte Hitler förmlich, »ich werde
Ihnen ein Staatsgeheimnis verraten: Fräulein Braun erwartet ein
Kind.«
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»Nein!« rief Herter. »Das ist nicht wahr!« War das möglich?
Fassungslos versuchte er, sich diese Mitteilung klarzumachen.
Hatten diese beiden steinalten Menschen hier in diesem Altersheim
vor mehr als sechzig Jahren tatsächlich diese Worte aus dem Mund
unter dem viereckigen Schnurrbart vernommen? Diese Nachricht war
vielleicht nicht welthistorisch, auf jeden Fall aber
welterschütternd. Hitler hatte ein Kind! Auf die Idee wäre er im
Leben nicht gekommen – doch so funktionierte die Wirklichkeit eben:
Sie war der Phantasie immer einen Schritt voraus. Am liebsten
erführe er jetzt in zehn Sätzen, wie die Geschichte weiterging. Wo
war das Kind? Lebte es noch? Doch sein Instinkt sagte ihm, daß er
die beiden das Tempo bestimmen lassen mußte; sie waren alt, alles
ging dann langsamer vonstatten, auch das Erzählen einer
Geschichte.
»Wir waren genauso erschüttert wie Sie«, sagte Julia. »Wir
wußten nicht, was das alles sollte. Daß Fräulein Braun ein Kind vom
Chef erwartete, war an und für sich nicht so außergewöhnlich.
Solche Dinge passieren nun mal, auch in herrschaftlichen Kreisen,
dort besonders, vermutlich. Mir war im übrigen schon aufgefallen,
daß sie in den letzten Wochen immer wieder Appetit auf Heringe und
saure Gurken hatte. Aber was hatten wir damit zu tun? Was war das
für eine Aufgabe, die auf unsere Schultern gelegt werden
sollte?«
Das erklärte ihnen in den folgenden Minuten
Bormann. Das Problem sei, sagte er, daß alle deutschen Frauen
gerne ein Kind vom Führer hätten. Ihre Söhne nannten sie sowieso
schon Adolf. Wenn er jetzt Fräulein Braun heiratete und sich dann
auch noch herausstellte, daß er Vater eines Kindes wurde, das
angeblich zwei Monate zu früh zur Welt kam, dann würden die Frauen
das Gefühl haben, von ihm betrogen worden zu sein, und das sei aus
politischen Gründen nicht wünschenswert – denn schließlich seien es
seinerzeit vor allem die Frauen gewesen, die ihn an die Macht
gebracht hätten. Brückner fing laut an zu lachen und sagte, der
Reichsleiter verstehe es doch immer wieder, die Sachen auf den
Punkt zu bringen. Fräulein Braun ärgerte sich offensichtlich
darüber, doch auch der Chef mußte kurz lachen, wobei sich für einen
Moment seine Augen völlig verdrehten, als sähen sie in sein
Innerstes, in die Finsternis seines Schädels hinein.
»Und worin bestand Ihre Aufgabe?« fragte Herter, der sich von
seinem Erstaunen immer noch nicht völlig erholt hatte.
»Darin, daß es so aussehen sollte, als sei das Kind von uns«,
sagte Falk.
Herter seufzte. Seine eigene Geschichte konnte er jetzt wohl
vergessen, seinen literarischen Sohn Otto eingeschlossen, aber das
war ihm egal. Er wollte jetzt nur noch ihrer Geschichte lauschen.
An jenem Vormittag kümmerte der Chef sich nicht weiter um die
Sache. Apathisch, als ginge ihn das alles nichts an, naschte er mit
hängenden Schultern vom Kuchen und schaute aus dem Fenster hinüber
zum zerklüfteten, respekteinflößenden Felsmassiv des Untersbergs,
das über der Baumgrenze grau wie Zigarettenasche war, hier und da
lag noch Schnee. Einer süddeutschen Sage zufolge schlief darin der
Staufenkaiser Friedrich Barbarossa, bis er seine Augen wieder
aufschlagen würde, um in einer Endabrechnung mit dem jüdischen
Antichrist das Tausendjährige Reich wiederzuerrichten, wobei in der
Ebene von Salzburg das Blut bis zu den Knöcheln stehen sollte.
Vermutlich hatte der Führer sich bereits damals den Kodenamen für
den drei Jahre später stattfindenden Überfall auf die Sowjetunion
ausgedacht: Unternehmen Barbarossa.
Das Drehbuch, das er und seine Vertrauten offenbar entworfen
hatten, wurde in den folgenden Monaten und Jahren Schritt für
Schritt realisiert. Zunächst, noch in derselben Woche, mußten
Ullrich und Julia in den Berghof selbst umziehen. Zwei Gästezimmer
in dem Flur, wo auch die Zimmer des Chefs und der Chefin lagen, die
bis dahin ausschließlich für persönliche Gäste und Angehörige der
Chefin bestimmt waren, wurden ausgeräumt und für sie eingerichtet.
Als Grund hierfür sollte angegeben werden, der Führer und Fräulein
Braun wollten ihre persönlichen Bediensteten in größerer Nähe
haben. Für die restliche Zeit des Kriegs wurde Falk vom
Militärdienst freigestellt. Auch mußten sie sehr bald ihre Eltern
benachrichtigen, daß sie ein Kind erwarteten. Diese Briefe mußten
Bormann vorgelegt werden, der auch künftig ihre ganze abgehende
Post kontrollieren würde. Außerdem gab er ihnen zu verstehen, daß
sie nicht auf den Gedanken kommen sollten, selbst auch Kinder in
die Welt zu setzen – dies würde als Insubordination aufgefaßt. Es
hätte nahegelegen, Hitlers Leibarzt, Dr. Morell, ein ehemaliger
Modearzt am Kurfürstendamm und Spezialist für die
Geschlechtskrankheiten der feinen Gesellschaft, mit der Behandlung
von Fräulein Braun zu betrauen, doch das hätte Mißtrauen erwecken
können; das übrige Personal war auf den Arzt der SS-Garnison
angewiesen, doch der war zu nah am Geschehen. Darum faßte man den
Entschluß, den Berchtesgadener Hausarzt Dr. Krüger hinzuzuziehen,
einen bereits etwas älteren, distinguierten Herrn mit einem
gepflegten weißen Schnurrbart und einer Fliege, dessen Patientin
eine gewisse Frau Falk wurde. Bormann persönlich nahm ihm einen Eid
ab und schüchterte ihn mit versteckten Drohungen ein. Fräulein
Braun war über diese Lösung sehr froh, denn ein Arzt in Uniform
widerstrebte ihr; außerdem fand sie, daß Morell stank.
Dann ließ man den Dingen ihren Lauf. Nach ungefähr vier
Monaten, im Juli, als der Bauch von Fräulein Braun auch durch
Kleider nicht mehr unauffällig verhüllt werden konnte, trat Phase
Zwei des Plans in Kraft. Eines Nachmittags, als der Chef sich in
Berlin aufhielt, fuhr ein Wagen mit einem unbekannten Chauffeur
vor, der ihre leeren Koffer einlud, während sie sich von den
Sekretärinnen und Julia verabschiedete, um sich auf eine längere
Reise durch Italien zu begeben, wo sie die Kunstdenkmäler studieren
wollte. Auch die Sekretärinnen glaubten das nicht – zwischen ihr
und dem Führer war es natürlich aus und vorbei, aber keiner wagte,
dahingehende Anspielungen zu machen. Tränen flossen, doch Fräulein
Braun hielt sich tapfer. Für den Chauffeur, natürlich ein
Gestapo-Mann, der gelernt hatte, keine Fragen zu stellen, war sie
ein gewisses Fräulein Wolf; er fuhr sie nach Linz, wo sie im
Ratskeller eine Kleinigkeit aßen, und mitten in der Nacht kehrten
sie zurück auf den Berghof, ohne von einem der zahllosen Posten
angehalten zu werden. Das alles hatte Fräulein Braun Julia
persönlich berichtet. Herter mußte sich zwingen, nicht mit offenem
Mund zuzuhören; seit seiner Kinderzeit hatte keine Geschichte ihn
mehr so in ihren Bann geschlagen. Aber es war keine Geschichte –
das heißt, sie war nicht ausgedacht, sie war, wie Kinder sagen,
»echt passiert«, denn es war unvorstellbar, daß diese beiden
uralten Menschen hier in Eben Haëzer sich dergleichen hätten
ausdenken können. Bis zu ihrer Niederkunft im November durfte
Fräulein Braun jetzt den Führerflügel nicht mehr verlassen. Sie
durfte sich nicht an den Fenstern zeigen, und abends durfte in
ihrem Zimmer kein Licht zu sehen sein. Nur die Eingeweihten hatten
noch Zugang zu ihr, und von dieser Zeit an mußte Julia die Rolle
der Schwangeren spielen. Jeden Morgen stellte sie sich mit Fräulein
Braun vor den Spiegel und stopfte allerlei Lappen, Handtücher und
später Kissen unter ihre Kleider, um das Heranwachsen des
Führerkinds naturgetreu nachzuahmen. Dabei ging es immer sehr
fröhlich zu, und Fräulein Braun wollte auch immer genau erfahren,
wie man unten auf Julias gesegneten Zustand reagierte. Vor allem
Hitler selbst bereitete es Vergnügen, sich in Gesellschaft zu
erkundigen, wie sie sich fühle. Auch pflegte er sie in Anbetracht
ihres Zustands früh zu Bett zu schicken.
»Ich mußte natürlich aufpassen«, sagte Falk, »daß meine Frau
nicht wirklich schwanger wurde, denn dann wäre der ganze Plan
zusammengebrochen und Bormann hätte uns umgebracht. Das war früher
schwieriger als heute – nicht das Umbringen, meine ich, sondern das
Nichtschwanger-Werden.« »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen«,
seufzte Herter, »das habe ich alles noch miterlebt. Und was machte
Fräulein Braun während all der Monate tagsüber?«
Weil sie natürlich im November irgend etwas erzählen mußte und
lieber nicht behauptete, sie habe auf der Piazza San Marco in
Florenz Kaffee getrunken und in Rom die Uffizien besichtigt,
versorgte der zukünftige Vater sie mit Baedekern, Bildbänden und
den Standardwerken von Burckhardt, Die Kultur der Renaissance
in Italien und Cicerone. Blondi zu ihren Füßen,
studierte sie täglich in diesen Büchern – wenn er nicht da war,
meistens an Hitlers riesigem Eichenholzschreibtisch. Doch um ihr zu
helfen, hielt er sich während dieser Monate oft auf dem
Obersalzberg auf. Das war auch der Grund, weshalb er während der
Vorbereitungen für die Zerschlagung der Tschechoslowakei
Chamberlain nicht nach Berlin, sondern auf den Berghof kommen ließ.
Neben ihrem Bett lag Goethes Italienische Reise. Den ganzen
Tag über zog sie den Morgenmantel nicht aus, ihre Wäsche wusch
Julia im Badezimmer. Weil Julia, schwanger wie sie war, lieber in
Ruhe auf ihrem Zimmer aß, sie dennoch aber großen Hunger hatte,
trug Falk immer eine dreifache Portion hinauf. Außerdem ließ der
Majordomus Mittlstrasser eines ihrer Zimmer jetzt mit einer
altdeutschen Wiege und einer durch bayrische Schnitzarbeiten
verzierten Kommode als Kinderzimmer einrichten.
»Am Ende«, sagte Julia, nachdem sie sich eine neue Zigarette
angezündet hatte, »fühlte ich mich wirklich, als stünde meine
Entbindung unmittelbar bevor. Während der letzten Wochen mußte ich
alles ruhiger angehen lassen, so wie Dr. Krüger es der angeblichen
Frau Falk empfohlen hatte, denn ich wurde ja angeblich schneller
müde, und ich weiß noch, daß ich manchmal beleidigt war, wenn der
Arzt einen Kontrollbesuch machte und mich natürlich gar nicht zu
sehen bekam.«
Immer wenn er den Berghof mit seinem blubbernden Zweitakt-DKW
besuchte, dessen Karosserie aus Pappmaché zu bestehen schien,
brachte er eine Atmosphäre der Zivilisiertheit ins Haus. Und dann,
am Nachmittag des 9. November, setzten die Wehen ein. Schon den
ganzen Tag über herrschte eine gewisse Unruhe im Haus; offenbar
waren wieder irgendwelche politischen Aktionen im Gange. Unten im
großen Saal, wo eine Reihe von Funktionären sich versammelt hatte,
telefonierte Hitler ununterbrochen, auch mit Göring und Himmler in
Berlin; das konnte Falk hören, weil er sie mit ihrem Nachnamen
ansprach und »Sie« sagte; der einzige, den er je geduzt hatte,
schien Röhm gewesen zu sein, der Führer der SA, doch den hatte er
bereits vor ein paar Jahren ermorden lassen. Auch Bormann war
natürlich anwesend. Währenddessen führte man Fräulein Braun in das
Apartment der Falks, denn die Schreie von Mutter und Kind mußten
aus der richtigen Richtung kommen. Außerdem stand neben dem Berghof
ein Krankenwagen der SS bereit, für den Fall, daß es Probleme gab
und Frau Falk nach Salzburg ins Krankenhaus gebracht werden mußte.
Julia hatte sich von den Tüchern und Kissen befreit und half Dr.
Krüger bei der Entbindung, die kurz vor Mitternacht
stattfand.
»Und?« fragte Herter.
»Ein Junge«, sagte Julia. Sie blickte kurz zu dem Foto auf dem
Fernseher hinüber, und plötzlich hatte sie Tränen in den Augen.
Fragend sah Herter zu Falk, der nickte.
»Da war bereits Krieg. Das Foto hat Fräulein Braun
gemacht.«
»Darf ich kurz?«
Herter stand auf und betrachtete das Foto aus der Nähe.
Bekleidet mit einem weißen Hemd, einer kurzen weißen Hose und
weißen Kniestrümpfen, stand der kleine Junge breitbeinig und
selbstbewußt auf einer Terrasse und biß in ein Butterbrot. Der
Blick in seinen Augen erinnerte tatsächlich ein wenig an den
durchbohrenden Blick, der so typisch für seinen Vater war. Sein
Vater? War das wirklich Hitlers Sohn? Der Gedanke schien Herter
immer noch völlig absurd, aber warum eigentlich? »Auf seinem
Butterbrot war Zucker«, sagte Julia. »Ich habe es ihm selbst
gemacht. An seiner Seite, das bin ich.«
Jetzt, wo er es wußte, erkannte er sie. Die schlanke junge
Frau von Ende Zwanzig schimmerte noch immer durch Julia hindurch,
wie eine Gestalt hinter Mattglas, während man umgekehrt noch nichts
von der dicken, uralten Dame ahnte, die sie werden würde. Herter
wandte sich um. »Wie hieß er?«
»Siegfried«, sagte Falk mit einem Seufzer, der gleichzeitig
ein Seufzer der Erleichterung zu sein schien, weil er nun endlich
von dem Geheimnis befreit war, das er sein Leben lang mit sich
herumgetragen hatte.
»Natürlich«, sagte Herter, während er kurz seine Hand hob und
wieder Platz nahm. »Siegfried. Ich hätte es mir denken können. Der
große germanische Held, der das Fürchten nicht kannte. So hat
Wagner seinen Sohn auch genannt. Und wie reagierte der Chef auf die
Geburt seines Sohns?« Hofmarschall Brückner hatte ihn unten über
die Geburt informiert, erzählte Frank, und als er bleich das Zimmer
betrat, Bormann folgte ihm auf dem Fuß, und sein Patscherl dort mit
dem Kind an der Brust liegen sah, schien es, als sei ihm nicht
recht bewußt, was dort geschah. Er war mit seinen Gedanken ganz
woanders – nämlich bei seinem ersten Pogrom, das er für dieselbe
Nacht befohlen hatte. Wie sie am nächsten Tag hörten, brannten
überall in Deutschland und Österreich die Synagogen, und die
Fenster jüdischer Geschäfte wurden zerschlagen.
»Reichskristallnacht« nannte man das Ereignis später – es war
derselbe
9. November, an dem 1918 der deutsche Kaiser abgedankt hatte,
an dem 1923 Hitlers Putsch in München gescheitert war und an dem
1989 die Berliner Mauer fiel.
»Das endgültige Ende seines Wirkens und dessen Folgen«, sagte
Herter, »kam also Sechsundsechzig Jahre nach dem Beginn. Beinah die
Zahl der Bestie. Genau hundert Jahre nach seiner Geburt.« Auf
unheimliche Weise stimmte bei Hitler immer alles.
Aber der Chef fing sich rasch, und es sah so aus, als habe er
sein Pogrom mit einemmal vergessen. Fräulein Braun war sehr
glücklich, daß sie ihm keine Tochter geboren hatte, und nachdem er
ihr einen steifen Handkuß gegeben hatte, legte Julia ihm vorsichtig
das Kind in den Arm. Er wußte nicht so recht, wie er es halten
sollte, drückte Siegfried gegen das Eiserne Kreuz auf seiner
Brust, sah sich in einer Art ungeschickter Ekstase um und
sagte feierlich. »Ein Kind ward hier geboren.«
Hausmeister Mittlstrasser flüsterte ehrfürchtig, dies sei ein
Zitat aus einer Oper von Wagner. Nur Bormann, berichtete Julia,
schien irgendwie von der Geburt des Kindes nicht erbaut zu sein; er
betrachtete es, als würde er am liebsten nach seinem Ausweis
fragen.
Dann kam wieder eine Zeit, die nicht ungefährlich war: Ullrich
fuhr mit Mittlstrasser nach Berchtesgaden zum Standesamt, um das
Kind anzumelden: Siegfried Falk – anstatt Siegfried
Braun. Im Wochenbett empfing Julia während der nächsten Tage
den Besuch der Sekretärinnen und des anderen Personals, wobei ihr
Zimmer sich in einen Blumenladen verwandelte. Auch ihre Eltern
durften sie auf dem Berghof besuchen. Das sei, sagte Julia, für sie
der schwerste Moment in der ganzen Komödie gewesen: als ihre Mutter
vor Glück weinend ihren angeblichen Enkel in die Arme nahm. Ihren
Vater hingegen, der seine SS-Uniform trug, schien das Heilige der
Heiligen, in dem er sich befand, mehr zu faszinieren als sein
Enkel. Nach einer Woche erlaubte Dr. Krüger der angeblichen Frau
Falk, und damit auch Julia, langsam wieder mit der Arbeit
anzufangen. Fräulein Braun, die ihrem Kind heimlich die Brust gab,
kehrte um diese Zeit geschwächt und müde von ihrer langen Reise
heim – in tiefster Nacht, wie sie sich ausdrückte, und in gewisser
Weise stimmte das. Die großen Brüste, die sie jetzt plötzlich
hatte, mußte Julia ihr nach dem Stillen mit einem seidenen Schal
schnüren; außerdem trug sie weite Wollpullover, denn auf dem
Berghof war es kalt im Vergleich zu Sizilien, wo sie vor kurzem
noch den Vesuv bestiegen hatte. Falk erzählte, Speer habe beim
Begrüßungsessen verwundert wiederholt: »Der Vesuv? Auf Sizilien?
Sie meinen natürlich den Ätna.« Natürlich, den Ätna, hatte Fräulein
Braun errötend gesagt, der Vesuv, der Ätna … die verwechsle sie
immer. Woraufhin der Chef zwischen zwei Bissen von seinem aus
Gemüse zusammengesetzten Schnitzelersatz sagte, diese beiden
Vulkane seien in gewisser Weise die Erscheinungsformen ein und
desselben Urvulkans, genau wie er selbst und Napoleon.
12
Es klopfte erneut, doch diesmal öffnete sich die Tür erst,
nachdem Julia »Herein« gerufen hatte. Eine gedrungene Frau zwischen
Vierzig und Fünfzig mit Waden wie umgedrehte Champagnerflaschen,
trat ins Zimmer.
»Herr Herter«, stellte Falk ihn vor. »Frau Brandtstätter. Frau
Brandtstätter ist unsere Direktorin.« Herter stand auf und gab ihr
die Hand, woraufhin sie ihn ein paar Sekunden lang erstaunt ansah,
als sei er der letzte, den sie erwartet hätte. »Hab ich Sie nicht
vorgestern im Fernsehen gesehen?«
Herter war sofort klar, daß er sich auf der Stelle eine
Erklärung für seine Anwesenheit einfallen lassen mußte. Was machte
ein berühmter ausländischer Schriftsteller, der sogar im Fernsehen
interviewt wurde, bei diesem armen alten Ehepaar in ihrem
Altersheim im hintersten Winkel Wiens? Das mußte ihr dubios
erscheinen; vermutlich wußte sie, wer da bei ihr wohnte – auch wenn
sie nicht wußte, was er nun wußte –, und wollte die beiden
beschützen.
»Genau wie Herr und Frau Falk. Wir frischen alte Erinnerungen
auf. Herr und Frau Falk sind zu meiner Lesung gekommen, um in
Erfahrung zu bringen, ob ich der junge Schriftsteller bin, den sie
vor vierzig Jahren einmal zufällig kennengelernt haben.«
»Und?« fragte die Direktorin, während sie von einem zum
anderen sah.
»Ich ändere mich nie«, sagte Herter mit so etwas Ähnlichem wie
einem Lächeln. Sie sagte, sie wolle nicht weiter stören, und
verabschiedete sich, ohne zu erwähnen, weswegen sie eigentlich
gekommen war.
»Falls Frau Brandtstätter noch fragen sollte, wie wir uns
kennengelernt haben«, sagte Herter, nachdem sie gegangen war,
»müssen Sie sich selbst etwas einfallen lassen. Ich weiß nicht, wie
Ihre Lebensumstände vor vierzig Jahren waren.« »Die waren damals
wieder recht gut«, sagte Falk, »nachdem sie eine Zeitlang weniger
gut gewesen waren. Nach dem Krieg haben wir zwei Jahre in einem
amerikanischen Internierungslager gesessen.«
Julia stand auf, drückte ihre Zigarette aus und fragte:
»Möchten Sie vielleicht ein Butterbrot? Es ist mir unangenehm,
daß wir Sie so lange aufhalten.« Herter sah auf seine Uhr. Viertel
vor eins. Eigentlich müßte er wohl Maria kurz anrufen, doch es
erschien ihm nicht klug, die Intimität der Atmosphäre zu
zerstören.
»Ja, gerne. Es wäre doch merkwürdig, wenn ich sagte, es würde
nun langsam Zeit für mich zu gehen, jetzt, wo ich erfahren habe,
daß Hitler einen Sohn hatte. Wissen Sie, was für eine Sensation Sie
mir da erzählt haben? Wenn Sie diese Geschichte dem Spiegel
und zehn anderen Magazinen auf der ganzen Welt angeboten hätten,
man hätte Ihnen Millionen dafür gegeben. Dann würden Sie nicht in
einem kleinen Apartment in Eben Haëzer wohnen, sondern in einer
Villa so groß wie der Berghof, mit eigenem Personal.«
Falks Blick wurde plötzlich irgendwie kühl.
»Dasselbe gilt für Sie. Aber auch Sie haben vorhin einen Eid
geschworen.« Mit nicht einmal gespielter Scham neigte Herter kurz
den Kopf. Falk hatte ihm einen Rüffel verpaßt. Und überhaupt: Wer
würde ihm glauben? Und nach dem Tod der Falks, ohne Zeugen, würde
seine Geschichte noch unglaubwürdiger sein. Man würde ihn wegen
seiner Phantasie loben, und vielleicht bekäme er wieder einen
Literaturpreis, doch glauben würde ihm niemand.
»Außerdem«, sagte Falk, »haben Sie bisher nicht einmal die
Hälfte der Geschichte gehört.« In der Küche preßte Julia mit der
linken Hand ein großes rundes Brot gegen ihre Brust und schnitt mit
einem langen Messer dünne Scheiben auf eine Weise ab, die ihn
erschaudern ließ. Nirgendwo auf der Welt rückte man dem Brot so zu
Leibe. Sie schenkte ihm auch ein Glas Bier ein, und als er in die
mit Gänseschmalz und Meerrettich bestrichene und ausgiebig mit Salz
bestreute Scheibe biß, überkam ihn wieder jenes Gefühl von
Ursprung, das er nur in Österreich verspürte. Es schmeckte ihm
besser als ein sündhaft teures Mittagessen in einem
Drei-Sterne-Restaurant in Riquewihr. »Und dann?« fragte er: die
zentrale Frage allen Erzählens.
Dann begann die glücklichste Zeit ihres Lebens. Natürlich
wurden sie schärfer beobachtet als früher, und Familienbesuche in
Wien waren ausgeschlossen. Alle halbe Jahre durften die betrogenen
Großeltern für einen Nachmittag auf den Berghof kommen, und
jedesmal war Julias Vater enttäuscht, daß er seinen Führer nicht zu
sehen bekam. Eigentlich lief es darauf hinaus, daß sie Gefangene
waren, doch ihr Siggi, der nicht ihr Siggi war, machte das alles
wieder gut. Während der ersten drei Jahre, in denen er zehn Länder
eroberte, war der Chef häufiger auf dem Berghof als in Berlin. Dort
empfing er Könige und Präsidenten, denen er drohte und die er
beschimpfte, daß man es bis in die Küche hören konnte; anschließend
bat der plötzlich höchst liebenswürdige Führer zu Tisch, und dann
gingen die Gäste, immer noch zitternd vor Angst, an der
SS-Ehrengarde mit präsentiertem Gewehr vorüber zu ihrem Wagen, in
dem Wissen, daß ihr Land verloren war. Zu Fräulein Brauns Verdruß
interessierte sich ihr Verlobter anfänglich nicht besonders für
seinen Sohn. Er war zwar der mächtige Führer, der die
Weltherrschaft erobern wollte, doch das Vatersein war ihm
offensichtlich nicht in die Wiege gelegt worden: dafür war er
selber viel zu sehr ein Muttersöhnchen. Außerdem war ihm das Kind
vermutlich noch zu klein und zu austauschbar mit anderen Babys und
Kleinkindern.
Falk gegenüber erwähnte er einmal, daß aus dem Jungen
vermutlich nichts Rechtes werden würde, denn große Männer bekämen
immer unbedeutende Söhne: Das sähe man an August, Goethes Sohn.
Doch seine Unbedeutendheit gehe in diesem Fall auf Falks Konto. Daß
es Siegfried überhaupt gebe, habe er den Bitten von Fräulein Braun
zu verdanken, die er wegen seiner vielfältigen Aufgaben im Dienste
des deutschen Volks viel zu häufig allein lassen müsse. Er verbot
Falk, Fräulein Braun von seinen Bemerkungen zu berichten, doch
Julia war ebenso entsetzt darüber, wie Fräulein Braun es gewesen
wäre. Im Laufe der Jahre hatte sie übrigens immer stärker das
Gefühl, das Kind sei tatsächlich ihr Kind, denn so behan delten es
alle, in der Öffentlichkeit auch die sieben Eingeweihten. Als
Siegfried zu Frau Podlech in den Kindergarten durfte, den Bormann
auf dem Berghof für seine eigenen Kinder, für die Speers und für
andere Kinder aus der Führungselite, wie zum Beispiel Görings
Töchterchen, eingerichtet hatte, war sie bestimmt stolzer als die
wirkliche Mutter. Gesprochen wurde darüber nicht, doch vielleicht
kämpfte Fräulein Braun mit demselben Gefühl von Eifersucht. Wenn
Siggi Schmerzen oder Kummer hatte, weinte er sich nicht bei ihr,
sondern bei Julia aus; wenn er einen Alptraum hatte, kroch er zu
Julia ins Bett und nicht zu seiner Mutter.
Ach, diese herrlichen, blendend weißen Tage im Winter 1941/42,
der meterhohe Schnee, vor den Fenstern die durchsichtigen Reißzähne
der Eiszapfen, und die gemütlichen Silvesterabende mit Bleigießen,
an denen Dr. Goebbels auch einmal teilnahm. Gab es diese Tradition
in den Niederlanden auch?
»In den Niederlanden nicht«, sagte Herter, »doch bei uns zu
Hause schon.«
Auf dem Speicher wurde nach einem Stück Bleirohr gesucht, das
dann in einem alten Kochtopf auf dem Herd erhitzt wurde. Immer noch
sah er die graue Haut auf dem geschmolzenen Blei und wie sein Vater
ihm den Zinnlöffel reichte, mit dem er etwas von der Flüssigkeit
nehmen und in eine Schüssel mit Wasser gießen sollte. Das Gebilde,
das dann unter lautem Zischen entstand, wurde herausgefischt, und
jeder durfte es interpretieren, denn es sagte die Zukunft
vorher.
Falk wandte sich halb um und kramte kurz in einer Schublade.
Er nahm einen länglichen, glän zenden Gegenstand heraus, nicht
größer als ein kleiner Finger, und gab ihn Herter. »Das hier stammt
von Hitler. Ich habe es aufgehoben. Was sagen Sie dazu? Ich
erinnere mich noch daran, daß er nicht sehr glücklich darüber
war.«
Fasziniert betrachtete Herter das bizarre Gebilde. Natürlich
wußte er, daß es nach den Gesetzen des Zufalls entstanden war – das
heißt, abhängig von der Höhe, in der sich der Löffel über dem
Wasser befand, und von der Geschwindigkeit, mit der das Blei
hineingegossen worden war, und daß auch jeder andere Mensch es
hergestellt haben könnte. Doch gleichzeitig wußte er, daß es nicht
von jemand anders, sondern von Hitler stammte. Er hatte es gemacht,
und er hatte es nicht gemacht. Entfernt erinnerte es ihn an den
Basilisken, von dem Thomas Mann geschrieben hatte – doch er war
sich nicht sicher, ob ihm dieser Gedanke auch gekommen wäre, wenn
man ihm gesagt hätte, Gandhi habe das Ding gemacht. Irgendwie
erinnerte ihn der Anblick dieses Metallstücks an Hitlers
todesbleiche Stirn. Als er es ohne Kommentar zurückgeben wollte,
sagte Falk: »Ich schenke es Ihnen.«
Herter nickte und steckte das Metallstück schweigend in die
Brusttasche seines Oberhemds. Etwas hielt ihn davon ab, sich bei
Falk zu bedanken.
Und dann die langen Sommernachmittage auf der großen Terrasse
über der Garage oder im Schwimmbad von Görings Villa … Außerdem
unternahm Fräulein Braun hin und wieder Reisen zu ihren Verwandten
in München oder zu einer Freundin in Italien, während deren sie auf
Julia nicht verzichten konnte, die wiederum ihren Sohn nicht allein
lassen konnte; vorne im Wagen saßen der Chauffeur und ein
Gestapo-Mann, während sie auf dem Rücksitz zu dritt Spiele machten,
Siggi wuchs zu einem äußerst lebhaften Jungen heran, der nicht
einen Moment seinen Mund halten oder ruhig sitzen konnte. Er redete
in einem fort, auch mit Blondi und den Hündchen von Fräulein Braun;
wenn er etwas machte, dann sagte er außerdem, daß er es tue;
während er sich zugleich rückwärts in einen Sessel fallen ließ, die
Kissen knuffte, einen Purzelbaum vollführte, einen Kopfstand machte
oder wie ein kleines Monster über den Fußboden kroch, wobei er
gleichzeitig der Mama oder Tante Effi oder Onkel Wolf fragend
zurief, ob sie auch sähen, was er gerade machte. Onkel Wolf,
wiederholte Herter in Gedanken. Was faszinierte Hitler bloß so an
Wölfen? Nur die Tatsache, daß auch sie Raubtiere waren? Während der
zwanziger Jahre war »Wolf« sein Deckname, seine später erbauten
Hauptquartiere in Ostpreußen, Rußland und Nordfrankreich hießen
»Wolfsschanze«, »Werwolf« und »Wolfsschlucht«. Auch Blondi sah
einem Wolf ähnlich; einen der Welpen, die sie gegen Ende des Kriegs
warf, und den er selbst aufziehen wollte, hatte er »Wölfi« genannt.
Homo homini lupus – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.
Steckte diese Selbsterkenntnis dahinter?
Im Sommer '41 hatte das Unternehmen Barbarossa begonnen – doch
was ihn selbst angehe, sagte Falk, so sei das eigentlich an ihm
vorbeigegangen. Auch er hatte einmal als kleiner politischer
Aktivist mit der Pistole in der Hand angefangen, doch seit sich die
große Politik unter seinen Augen vollzog, während er Kaffee und
Kuchen servierte, konnte er sie nicht mehr begreifen, und er verlor
das Interesse daran. Erst nach dem Krieg ist ihm klargeworden, was
der Chef während der Zeit alles angerichtet hatte, was er zum
Beispiel mit Himmler auf ihren langen Wanderungen zum Teehaus, mit
Wanderstöcken und Sonnenbrillen, besprochen hatte, außer Hörweite
des Gefolges. Nicht einmal Fegelein nahm je daran teil. »Fegelein?«
wiederholte Herter. »Wer war Fegelein?«
»SS-Gruppenführer Fegelein«, sagte Falk. »Ein charmanter,
junger Offizier im Generalsrang, Himmlers persönlicher
Stellvertreter bei Hitler. Er wurde ›Himmlers Auge‹ genannt. Auf
Hitlers Drängen hin hatte er Fräulein Brauns Schwester Gretl
geheiratet. Das war natürlich geschehen, um Fräulein Brauns Ansehen
am Hof zu steigern, als Schwägerin von General Fegelein. Anläßlich
ihrer Hochzeit veranstaltete Hitler ein großes Fest, doch Gretl war
Fegelein ziemlich egal.« »Er war weiterhin hinter jedem Rock her«,
sagte Julia mit einer Miene, die zum Ausdruck brachte, daß es
unterschiedliche Grade von Niedertracht gab. »Fürchterliche Szenen
waren das jedesmal.« An der Ostfront, fuhr Falk fort, wurden schon
damals hinter den Linien Zehntausende ermordet, und im Sommer '42
fuhren die ersten Züge zu den Vernichtungslagern durch Europa. Er
schüttelte kurz den Kopf, als könne er immer noch nicht glauben,
was er sagte.
»Alles verlief, wie er sich das von Anfang an vorgenommen
hatte. Mit jedem Tag kam er seinem großen Lebensziel näher, der
totalen Vernichtung des Judentums, ohne daß jemand von uns davon
auch nur etwas geahnt hätte. Auch Fräulein Braun nicht.« »Im
nachhinein glauben wir«, sagte Julia, »daß er damals in einem
Zustand des Rauschs war. Er war fest überzeugt, bis in alle
Ewigkeit als Retter der Menschheit und größte Gestalt der
Weltgeschichte verehrt zu werden. Dadurch veränderte sich auch das
Verhältnis zu seinem Sohn.«
Es fiel allen auf, daß er Siggi mit der Zeit mehr
Aufmerksamkeit schenkte, jedenfalls wenn keine Außenstehenden in
der Nähe waren. Falk hatte einmal gesehen, wie er in seinem
Arbeitszimmer Siggi auf dem Arm trug und ihm, wobei er auf den
Untersberg deutete, etwas erzählte. Oder Siggi saß auf seinem
Schoß, und Hitler zeichnete für ihn ein naturgetreues Stadtbild
Wiens, was er sehr gut konnte, denn er hatte Talent und ein
fotografisches Gedächtnis; dabei hatte er seine Lesebrille auf, von
deren Existenz Deutschland nichts wissen durfte. Ein andermal –
kurz nach dem vernichtenden Bombenangriff auf Hamburg im Juli '43 –
kniete er auf dem Fußboden, und die beiden spielten zusammen mit
einem Schuco-Auto, das er ihm geschenkt hatte: ein Spielzeugauto
von damals, das man aufziehen und mit einem Draht, der aus dem Dach
ragte, steuern konnte. Um kein Mißtrauen zu erregen, konnte er ihm
natürlich nur sehr einfache Geschenke machen. Und Julia hörte
einmal, wie er auf der Terrasse im Beisein von Fräulein Eva zu
Bormann sagte:
»Vielleicht gründe ich eine Dynastie. Dann adoptiere ich
Siegfried, so wie Julius Cäsar den späteren Kaiser Augustus.«
Er sagte das lachend, doch vielleicht war es mehr als ein
Scherz. Er war zu allem fähig.
13
Immer häufiger zog Hitler sich für
Wochen oder Monate in sein Hauptquartier in Ostpreußen zurück. An
der russischen Front kamen seit der Schlacht um Stalingrad die
jüdisch-bolschewistischen Untermenschen besorgniserregend näher,
und auch in Nordafrika lief es nicht wie gewünscht, so daß man sich
Jerusalem, das jüdische Ziel dieses Feldzugs, leider aus dem Kopf
schlagen mußte; gleichzeitig verwandelten sich unter den
angloamerikanischen Terrorbombardements auch die deutschen Städte
der Reihe nach in Ruinen, mit Hunderttausenden von Toten, doch
niemand vom Personal wollte der Wahrheit ins Auge blicken, nicht
einmal nach der Invasion im Juni '44: Solange der Führer felsenfest
an den Endsieg glaubte, brauchte man sich um die eigene ehrenvolle
Stellung am Hof keine Gedanken zu machen. Die Geheimwaffe, die, wie
Goebbels verlauten ließ, gerade entwickelt wurde, würde sehr bald
das Kriegsglück wenden. In Wirklichkeit wurde diese Waffe damals in
Amerika geschmiedet, wie das Wagnerische Schwert Nothung, wobei aus
Deutschland vertriebene jüdische Gelehrte federführend waren.
Währenddessen, erfuhr Herter, begann das Regime unter Leitung von
Bormann, sich unter die Erde zu verkriechen. Seit einem Jahr waren
Hunderte von ausländischen Zwangsarbeitern Tag und Nacht damit
beschäftigt, unter dem ganzen Areal ein kilometerlanges Labyrinth
aus Gängen und Bunkern anzulegen, das alle Gebäude miteinander
verband und mit allem Notwendigen ausgestattet war, von
edelholzgetäfelten Räumlichkeiten für den Chef und die Chefin bis
hin zu einem Zwinger für Blondi, Küchen, Vorratsräumen,
Kinderzimmern, Büros, Archiven, einem Hauptquartier, Telexräumen,
einer Gestapo-Zentrale und Maschinengewehrnestern an strategisch
wichtigen Punkten des Komplexes; oberirdisch krönten Geschütztürme
mit Schnellfeuerkanonen das Ganze. Auch Fräulein Braun schloß die
Augen vor der Wirklichkeit des Kriegs, die auf dem Obersalzberg nur
in gedämpften unterirdischen Detonationen spürbar war. Vereinzelt
gab es Fliegeralarm, was offensichtlich dem Chef sofort gemeldet
wurde, denn garantiert rief er ein paar Minuten später an und legte
Fräulein Braun dringend ans Herz, in den Luftschutzkeller zu gehen.
Sie war traurig, wenn ihr Adi auswärts weilte, aber jetzt hatte sie
ihren Sohn, und das Porträt ihres Geliebten brauchte Julia nicht
mehr neben ihren Teller zu stellen. Und doch konnte es auch ihr
nicht entgehen, daß die beklemmende Atmosphäre auf der Stelle aus
dem Berghof wich, wenn die Kolonne aus schwarzen Mercedes-Wagen,
begleitet von einer Motorradeskorte, um die Ecke verschwand – und
alles und jeden mitnahm, Bormann, Morell, Brückners Nachfolger
Schaub, Heinz Linge, die Sekretärinnen, die Köchin, Blondi und
zwanzig große Koffer mit dem Gepäck des Chefs: Man zündete sich
Zigaretten an, und plötzlich war hin und wieder Lachen zu hören,
auch aus den Quartieren der SS-Mannschaften; von irgendwoher
erklang sogar schon eine amerikanische Jazzplatte aus einem
Koffergrammophon, entartete Negermusik, so wie das Wasser eines
über die Ufer getretenen Flusses allmählich durch den Deich dringt.
Auch die anderen hohen Funktionäre verließen dann den Berg, der
plötzlich bedeutungslos geworden war. Julia erinnerte sich noch
daran, daß Frau Speer einmal beim Abschied von Fräulein Braun zu
ihr, Julia, sagte, Siggi sähe ihr immer ähnlicher. Fräulein Braun
mußte ein wenig lachen und verzog gleichzeitig ihren Mund zu einem
Schmollen. »Mitte Juli vierundvierzig«, sagte Falk, »Siggi war fast
sechs, reiste der Chef wieder einmal Richtung Wolfsschanze ab. Der
Abschied von Fräulein Braun und Siggi dauerte lang, als spürte er,
daß er den Berghof nie wiedersehen würde. Damals schon hatte er
sich in einen alten, gebückten Mann verwandelt.« Falk richtete sich
ein wenig auf und sah Herter fest in die Augen. Nach einem kurzen
Zögern sagte er: »In der Woche darauf verübte Graf Stauffenberg
sein Attentat. Fräulein Braun war verzweifelt, weil sie ihrem
Geliebten nicht beistehen und nur mit ihm telefonieren konnte, denn
er wollte, daß sie bei Siegfried blieb. Er schickte ihr aber seine
zerfetzte und blutige Uniform. Und dann, zwei Monate später, begann
auch für uns die Katastrophe.«
Herter sah, daß Falk plötzlich einen Entschluß gefaßt hatte,
wie jemand, der sich nicht traut, aus einem brennenden Haus in das
Sprungtuch zu springen, und es dann auf einmal doch tut. Neben sich
hörte er ein unterdrücktes Schluchzen Julias, doch er zwang sich,
nicht zu ihr hinzuschauen. »Es tut mir leid, Herr Herter, doch was
ich Ihnen jetzt erzähle, ist vollkommen unbegreiflich – nicht nur
für Sie, sondern auch für uns, immer noch. Der Chef hatte schon
seit ein paar Tagen nicht mehr angerufen, und wenn Fräulein Braun
versuchte, ihn zu erreichen, sagte man ihr stets nur, er habe viel
zu tun und keine Zeit, ans Telefon zu kommen. Das beunruhigte sie
sehr, doch was sollte sie machen? Am Freitag, dem
zweiundzwanzigsten September, einem strahlend schönen ersten
Herbsttag, ich werde es nie vergessen, fuhr gegen Mittag plötzlich
Bormann in einem geschlossenen Wagen an der großen Treppe vor,
begleitet von einem kleinen Gefolge in einem zweiten Wagen. Schon
das fand ich merkwürdig: Im Sommer fuhren die Herren sonst immer
mit offenem Verdeck. Und was konnte im übrigen passiert sein, daß
er bereit war, seinen Meister ein paar Tage aus den Augen zu
lassen? Ich hatte die Uniformen und Anzüge des Chefs zum Lüften auf
den Balkon gehängt und war dabei, seine Schuhe und Stiefel zu
putzen, denn ich wußte natürlich nicht, daß er all diese Sachen nie
wieder tragen würde; auch in Berlin und in den anderen
Hauptquartieren verfügte er über eine umfangreiche Garderobe. Alles
war auf Maß geschneidert, und ich wußte, wie genau er es mit seiner
Kleiderordnung nahm. Seine Uniformen, Mäntel, Mützen, alles entwarf
es selbst, genau wie seine Gebäude, seine Flaggen, Standarten und
Massenaufmärsche. Wenn es auch nur irgendwo eine kleine Falte gab,
die ihm nicht gefiel, ließ er Herrn Hugo kommen, seinen
Schneider.«
Es war deutlich, daß Falk immer noch versuchte, das, was er
sagen wollte, hinauszuzögern. Herter nickte.
»Er war ein Perfektionist.«
»Ullrich kam sofort und berichtete uns, was er gesehen hatte«,
sagte Julia. »Ich war mit Frau Köppe in der Bibliothek, die sich
auch im Obergeschoß befand. Wir klopften am offenen Fenster Bücher
aus, Fräulein Braun las aus Struwwelpeter vor, während Siggi
ununterbrochen Kopfstand machte oder sich der Länge nach rückwärts
auf die Couch fallen ließ. Die Bibliothek war der einzige Raum auf
dem Berghof, in dem es ein wenig gemütlich war. Hin und wieder
hörte man tief unten im Berg das Dröhnen des Dynamits.«
Falk betrachtete kurz das Lächeln, das auf Herters Gesicht
erschienen war und das er natürlich nicht verstand – Herter
lächelte, weil er sich plötzlich vorstellte, welche Bücher
damals am offenen Fenster gegeneinander geschlagen wurden:
Schopenhauer gegen Gobineau, Nietzsche gegen Karl May, Houston
Stewart Chamberlain gegen Wagner …
»Erschrocken sahen wir uns an«, sagte Falk, und es war, als
sei der Schreck nach über fünfzig Jahren wieder in seinen Augen zu
sehen. »Ein wenig später, vermutlich nachdem er mit Mittlstrasser
gesprochen hatte, kam Bormann nach oben. Ich weiß nicht … am
Stampfen seiner Stiefel auf der Treppe hörte ich irgendwie, daß
etwas nicht stimmte. Es klang ein klein wenig zu laut, als müsse er
sich selbst Mut machen. Auch Stasi und Negus witterten Unrat und
begannen zu bellen.
›Mein Gott‹, sagte Frau Köppe, ›was hat das zu
bedeuten?‹
Als er ins Zimmer trat, schlug er die Hacken zusammen, machte
den deutschen Gruß und sagte förmlich: ›Heil Hitler.‹ Das war nicht
üblich auf dem Berghof, und wir murmelten also auch irgend so was.
Nur Siggi sah ihn mit großen Augen an. Bormann nahm seine Mütze
nicht ab und fixierte Frau Köppe, die diesen Wink verstand und den
Raum verließ. Dann sagte er zu Fräulein Braun, der Führer habe den
Wunsch geäußert, sie in dieser schweren Zeit in seiner Nähe zu
haben.« »Uns fiel ein Stein vom Herzen«, fuhr Julia fort, »Fräulein
Brauns Miene hellte sich völlig auf. Sie fragte, wann sie abreisen
solle. Jetzt sofort, sagte Bormann; draußen warte ein Wagen, der
sie zum Flugplatz nach Salzburg bringen würde, wo eine Maschine
bereitstünde. ›Und Siggi?‹ höre ich sie noch fragen – Siggi fahre
doch sicher auch mit, genau wie Ullrich und ich? Nein, sagte
Bormann, der Führer habe beschlossen, der Junge solle bei seinen
gesetzlichen Eltern auf dem Berghof bleiben. Die Wolfsschanze sei
keine Umgebung für ein Kind; außerdem sei es zu gefährlich, so nah
an der Front.«
»Jetzt war sie natürlich in einem Konflikt«, sagte Falk, »doch
sie wußte auch, daß an einem Entschluß des Führers nicht zu rütteln
war. Bormann hatte sich immer noch nicht gerührt. Er sagte, sie
solle sofort packen; mir teilte er kurz angebunden mit, daß er mich
später noch zu sprechen wünsche. Dann drehte er sich auf dem Absatz
um und marschierte zum Zimmer hinaus.« Die Koffer, die den Berghof
bereits einmal leer verlassen hatten, wurden nun gepackt – vor
allem von Julia. Sie berichtete, daß Fräulein Braun währenddessen
die meiste Zeit auf dem Rand des Bettes saß, einen Arm um Siggis
Schultern gelegt, der mit einem kleinen Kompaß spielte. Sie hatte
Tränen in den Augen und sagte, sie werde ihn ganz oft besuchen.
Offensichtlich verstand er nicht, warum Tante Effi so schrecklich
traurig war, denn schließlich fuhr sie zu Onkel Wolf, der gerade
Krieg führte. Später, wenn er groß sei, hatte er einmal gesagt,
dann würde er selbst auch gern Krieg führen. Der Chef hatte damals
Tränen gelacht.
Fräulein Braun rief ihre Verwandten in München an, denn in der
Wolfsschanze war sie nicht zu erreichen. Kurze Zeit später waren
alle in der Halle angetreten – auch Frau Bormann und ihre Kinder,
die Bormann immer auf dem Obersalzberg zurückließ, so daß er freie
Hand bei den Mädchen im Hauptquartier hatte. Der Abschied war
förmlich. Fräulein Braun gab Julia und Ullrich die Hand, Siggi
bekam einen Kuß auf die Stirn, auch die Terrier wurden geküßt, von
der großen Treppe aus winkten sie ihr zu, als sie in den zweiten
Wagen stieg, wo neben dem Fahrer auch ein Gestapo-Mann saß.
»Eine Stunde später«, sagte Falk, »kam ein Adjutant von
Bormann und sagte, der Reichsleiter erwarte mich in seinem
Haus.«
»Ich weiß nicht, wieso«, sagte Julia, »doch ich hatte aus
irgendeinem Grund sofort das Gefühl, daß noch etwas in der Luft
lag. Ich ging mit Siggi in sein Zimmer, wo der Fußboden voller
Soldaten war, die gerade einen Sturmangriff machten. Ich weiß noch,
wie er sagte, er fände es langweilig, daß er nur deutsche Soldaten
habe; eigentlich brauche man doch auch russische, um gewinnen zu
können, doch die gebe es nicht. So, ohne Feind, könne man nicht
einmal verlieren.«
Herter mußte an Marnix denken. Auch der könnte das gesagt
haben, aber er spielte nicht mehr mit bewegungslosen Soldaten, er
spielte Computerspiele, bei denen man einen sichtbaren Feind
vernichten mußte. Er, Herter selbst, elf Jahre älter als Siegfried
Falk alias Braun alias Hitler, hatte vor dem Krieg auch noch mit
Soldaten gespielt, auch in deutschen Uniformen, ohne daß er je ein
feindliches Heer vermißt hätte. Offensichtlich war es ihm nicht so
sehr auf die Darstellung eines Kampfes angekommen, sondern auf den
Entwurf von imposanten Tableaux vivants, nicht wie ein General,
sondern wie ein Regisseur. Vielleicht hatte Hitler, der
Theatermann, der sich für den größten Feldherrn aller Zeiten hielt,
auch nur auf theatralische Weise mit Soldaten gespielt, allerdings
solchen aus Fleisch und Blut. Zu Bormanns Villa, die etwas kleiner
war als der Berghof, aber größer als Görings Chalet, ging man fünf
Minuten zu Fuß. Die Sonne beschien den Hang, den er hinaufging,
Gärtner mähten das Gras, Vögel sangen in den Bäumen – alles hätte
so idyllisch sein können, wäre da nicht überall in der Erde das
gedämpfte Lärmen der Preßlufthämmer zu hören gewesen. Auch er war
ein wenig beunruhigt, doch was sollte schon sein? Niemand hatte
etwas verbrochen. Als sein Kollege ihn einließ, hörte er irgendwo
in der Tiefe des Hauses das Lachen und Plappern von Bormanns
Kindern. Der Reichsleiter empfing ihn in seinem Arbeitszimmer, ein
wenig breitbeinig stand er da, die Hände in die Seiten gestemmt.
»Falk«, hatte er gesagt, »wir können es kurz machen. Ermannen Sie
sich.« Falk konnte einen Moment lang nicht weitersprechen. Es war,
als würde er noch kleiner; er senkte sein Haupt, rieb sich mit
beiden Händen das Gesicht und sagte dann mit erstickter Stimme: »Er
sagte: ›Auf Befehl des Führers müssen Sie Siegfried töten.‹«
14
Herters Kinnlade klappte herunter. Wo war er? Das konnte
unmöglich wahr sein! Neben sich hörte er Julia in ihr Taschentuch
weinen. Hatte er es also tatsächlich getan? Das war doch
unvorstellbar! Und warum, warum mußte es geschehen? Als er
bemerkte, daß Falk zu Julia hinübersah, stand er auf und machte mit
einer Geste den Vorschlag, die Plätze zu tauschen. Nachdem Falk auf
der Couch Platz genommen hatte, legte er seine Hand auf Julias,
und, den beiden gegenübersitzend, spürte Herter in dem kleinen
Sessel Falks Wärme.
»Ich traue meinen Ohren nicht«, sagte er. »Sie sollten
Siegfried töten? Hitlers Sohn, nach dem er so verrückt war?
Warum bloß?«
»Das weiß ich bis heute nicht«, sagte Falk. »Ich hatte das
Gefühl, als verwandelte ich mich in eine Eissäule. Als ich die
Sprache wiedergefunden hatte, stellte ich natürlich auch diese
Frage, doch Bormann schnauzte mich an: ›Ein Befehl wird nicht
begründet, der wird erteilt. Der Führer ist der letzte, der sich
Ihnen gegenüber verantworten müßte.‹ Mir war klar, daß es keinen
Sinn hatte, weiter darüber zu reden. Der Chef hatte seinen
unergründlichen Entschluß gefaßt, und folglich mußte es geschehen.
Sie müssen wissen, daß damals ein Führerbefehl im buchstäblichen
Sinn Gesetzeskraft hatte. Ich wagte noch zu fragen, welche Folgen
es für mich hätte, wenn ich mich weigerte.«
»Und?« fragte Herter, als Falk nicht weiterredete. »Dann würde
Siegfried trotzdem sterben, denn er war zum Tode verurteilt. Das
war unumstößlich. Der Führer nahm nie einen Entschluß zurück.
Außerdem aber kämen Julia und ich in ein Konzentrationslager, und
ich könne mir doch wohl ausmalen, was das bedeutete. Wenn ich meine
Frau liebte, sagte er, dann sei es vielleicht klüger, wenn ich mich
nicht weigerte.«
»Und Fräulein Braun? Wußte sie davon?«
»Ich weiß es nicht, Herr Herter. Ich weiß nicht mehr als das,
was ich Ihnen erzähle.«
»Ich bin sprachlos«, sagte Herter. »Was waren das nur für
Wesen? Sie waren das, was sie von den Juden behaupteten:
Ungeziefer, das die Weltherrschaft an sich reißen wollte. Welcher
Abschaum. Aber das wußten wir ja bereits.« »Tja, das sagen Sie
heute, ich wußte es damals eigentlich nicht. Zum ersten Mal in all
den Jahren wurde mir in diesem Moment schockartig bewußt, mit was
für Leuten ich es zu tun hatte. In meiner Naivität waren sie für
mich nur das, was ich von ihnen zu sehen bekam. Hitler konnte toben
und wüten, wenn es um politische Dinge ging, doch das tat er
beruflich; ansonsten war er die Höflichkeit in Person, genauso wie
ein Profiboxer, der zu Hause ja auch niemanden niederschlägt.
Göring hat mir einmal jovial zugeblinzelt, und ich weiß noch, daß
dieser schreckliche Heydrich einmal während des Mittagessens eine
Rose aus der Vase zog und sie Julia galant überreichte. Weißt du
noch, Julia?« Sie nickte, ohne ihn anzusehen.
»Vor dem, was sie sonst noch so taten, verschloß ich die
Augen. Ich ahnte natürlich, daß schreck liche Dinge passierten,
denn man hörte dies oder jenes, doch wissen wollte ich es nicht.
Auch mit Julia redete ich nicht darüber. Nur Bormann, der sich nie
entspannen konnte, hatte immer so etwas Unheilverkündendes, obwohl
er doch gar nicht der größte Verbrecher in dieser Gesellschaft
war.« »Aber er war immer noch Verbrecher genug«, sagte Herter, »um
Sie mit dem Tod Ihrer Frau zu erpressen.«
»Natürlich. Er war Hitlers verlängerter Arm.« »Genau wie all
die anderen.«
»So ist es. Er hatte fast das gesamte deutsche Volk in sich
selbst verwandelt, und er wollte dies mit der ganzen Menschheit
tun. Seine Paladine taten genau das, was er wollte, auch ohne
Befehl. Sie konnten Menschen vernichten, weil sie zuvor menschlich
von ihm vernichtet worden waren.« »Sie formulieren das sehr
treffend, Herr Falk. Und wie ging es dann weiter?«
»Es sollte wie ein Unfall aussehen. Es würde keine
Ermittlungen geben, denn warum sollte ich meinen eigenen Sohn
umbringen? Wie ich es machte, da sollte ich mir selbst etwas
einfallen lassen. Es sollte frühestens in einer Woche geschehen –
natürlich weil dann niemand mehr einen Zusammenhang mit seiner
Anwesenheit herstellte –, aber spätestens in zwei. Dann sagte er
›Heil Hitler‹, und ich konnte gehen.« Herter verzog das
Gesicht.
»Von dem, was Sie da sagen, wird mir regelrecht übel, glauben
Sie mir. Was ging bloß in diesen Kerlen vor? Haben Sie mit Ihrer
Frau darüber gesprochen?«
Julia hatte wieder einen Zug von ihrer Zigarette genommen, und
bei jedem Wort kam etwas blaß blauer Rauch aus ihrem Mund, wie bei
einem Fabeltier. »Er hat mir erst gegen Ende des Krieges erzählt,
was passiert war, nachdem wir in Den Haag im Radio gehört hatten,
daß Hitler tot war.« »Einen Tag, nachdem er Eva Braun geheiratet
hatte«, sagte Herter. »Wie ist das alles nur möglich? Aus
irgendeinem Grund wollte er Siegfried ermorden lassen, wer weiß,
vielleicht hatte er erfahren, daß er nicht der Vater war, und am
Ende heiratet er die Mutter, die ihn möglicherweise betrogen hat,
die er jedoch am Leben ließ. Daraus soll einer schlau werden. Es
muß dafür noch einen ganz anderen Grund geben, das ist
offensichtlich.« Falk hob kurz beide Arme und ließ sie schlaff auf
die Schenkel sinken:
»Rätsel über Rätsel. Durch Nachdenken läßt sich keine
Erklärung finden. Niemand wird je die genauen Zusammenhänge
erfahren. Es lebt niemand mehr, der noch darüber berichten könnte.«
»Und Sie beide? Waren Sie nicht auch in Gefahr? Sie wußten doch
zuviel?«
»In dieser Hinsicht hatte ich keine Angst«, sagte Falk. »Dann
hätte man sich nicht so einen komplizierten Plan ausgedacht. Dann
hätte man uns drei einfach ermordet, damit hatten die Herren keine
Probleme, schon gar nicht an einem so hermetisch abgeriegelten Ort
wie dem Berghof. Nein, offenbar vertrauten sie uns, und wir hatten
Gnade vor ihren Augen gefunden, weil wir uns so gut um Siegfried
gekümmert hatten.«
»Wie haben Sie nur diese Tage überstanden?« Falk seufzte und
schüttelte den Kopf.
»Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, sehe ich absolut nichts.
Ich bin nach dem Krieg mal mit dem Auto verunglückt und hatte eine
Gehirnerschütterung; an den Unfall konnte ich mich später auch
nicht erinnern.«
Klein und alt hockten Julia und er auf der verschlissenen
Couch unter Brueghels vierhundert Jahre alter Bauernhochzeit, wie
zwei hyperrealistische Bilder eines amerikanischen Künstlers.
»Natürlich wollte ich nichts lieber, als mit Julia darüber reden«,
fuhr er fort, »doch welchen Sinn hatte das? Warum sollte ich sie
mit etwas so Grauenhaftem belasten, wenn sich daran doch nichts
ändern ließ? Ich hatte die Wahl zwischen einem und drei Toten – und
die einzige Möglichkeit, dem zu entgehen, war die Flucht, am besten
zu dritt. Aber das war ausgeschlossen: Niemand konnte das
Führerareal auf dem Obersalzberg betreten, aber es zu verlassen war
ebenso unmöglich. Überall standen Wachtposten. Und natürlich hatte
Bormann eine verschärfte Bewachung befohlen. Ich habe noch daran
gedacht, Dr. Krüger ins Vertrauen zu ziehen, denn das war ein
anständiger Mensch; vielleicht hätte er uns in seinem DKW
hinausschmuggeln können; doch dazu hätte ich ihn anrufen müssen,
und das Telefon wurde natürlich abgehört. Außerdem hätte ich dann
auch ihn in Lebensgefahr gebracht. Nein, die Situation war
hoffnungslos. Wie ich es auch eine Woche lang drehte und wendete,
ich hatte keine Wahl. Ich mußte es tun, und zwar für Julia. Darum
mußte es auch für sie wie ein Unfall aussehen.« Erneut setzte
Stille ein. Herter versuchte sich vorzustellen, er müsse seinen
kleinen Marnix ermorden, um zu verhindern, daß nicht nur er selbst,
sondern auch Maria sterben mußte. Schon bei dem Gedanken wurde ihm
übel. Wie würde er sich verhalten? Vermutlich käme er mit Maria zu
dem Ergebnis, daß es dann besser sei, zu dritt zu sterben. Denn wie
sollte man nach einer solchen Tat weiterleben, auch wenn sie unter
Zwang geschah? Aber vielleicht bestand der Unterschied darin, daß
Marnix ihr eigenes Kind war. »Wollen Sie hören, wie es weiterging?«
fragte Falk.
Nein, er wollte es nicht hören, aber Falk wollte es erzählen.
Herter machte eine kaum sichtbare Bewegung mit dem Kopf, woraufhin
Julia aufstand und ins Schlafzimmer ging. Nachdem sie die Tür
hinter sich zugemacht hatte, schloß Falk die Augen, um sie während
seines ganzen Berichts nicht mehr zu öffnen. Als würde auch Herter
in die Finsternis hinter Falks Augenlidern aufgenommen, wo dieser
das Drama noch einmal abrollen sah, lauschte er der leisen Stimme,
wobei ihn das Gefühl überkam, als versinke Haus Eben Haëzer, als
sei er durch die Worte hindurch körperlich im Erzählten zugegen,
dort an diesem verfluchten, vor mehr als einem halben Jahrhundert
zerstörten Ort – alles sieht, alles hört … Eine Minute bevor der
Wecker klingelt, schlägt Falk die Augen auf. Sofort bricht ihm der
Schweiß aus. Heute. Unzählbar oft hat er es sich während der zwei
Wochen vorgestellt, aber jetzt, da es soweit ist, der letzte Tag,
ist es vollkommen anders. Er schaltet den Wecker aus und schaut auf
Julias Hinterkopf. Sie schläft ruhig atmend. Verwirrt, am ganzen
Leib zitternd, steigt er aus dem Bett und zieht die Vorhänge auf.
Ein naßkalter, grauer Herbsttag, die Gipfel der Alpen unsichtbar
geworden im heranziehenden Winter. Die Welt hat ein anderes Gesicht
bekommen. Er fühlt sich wie ein Todkranker, der beschlossen hat,
daß heute sein letzter Tag sein wird. Nachher kommt heimlich der
Arzt mit der Spritze. Jetzt schläft er noch, der befreundete Arzt,
der bereit ist, das Risiko auf sich zu nehmen, oder er liest die
Zeitung, eine Tasse Kaffee in der Hand. Russische Offensive im
Memelgebiet. Überall stirbt man seit Jahr und Tag in Massen.
Sterben ist unbedeutend geworden. Führerbefehl hat
Gesetzeskraft. Die Unwiderruflichkeit dieses Gesetzes ist
härter als der Granit der Alpen. In ein paar Stunden muß er diesem
Gesetz gehorchen.
Gähnend dreht Julia sich auf den Rücken und verschränkt die
Hände unter dem Kopf.
»Ist was, Ullrich?«
»Ich habe schlecht geschlafen.«
»Ist Siggi schon wach?«
»Ich glaube, ich habe ihn schon gehört. Ich habe versprochen,
ihm heute den Schießstand zu zeigen. Er bettelt schon seit Wochen
darum.«
Seufzend schlägt Julia die Decke beiseite und steht auf.
»Warum seid ihr Männer nur immer so auf diese dumme Gewalt
versessen? Wenn Siggi ein Mädchen wäre, hätte sie nicht darum
gebettelt.« »Dieser Unterschied hat eine lange Geschichte, glaube
ich.«
Siggi hat sich bereits angezogen. In seiner kurzen
Hirschlederhose mit Hornknöpfen sitzt er auf dem Fußboden und
bewegt langsam einen roten Magneten um seinen Kompaß herum.
»Schau mal, Papa, die Nadel ist verrückt geworden. Und weißt
du, warum? Weil der Magnet die Form eines Hufeisens hat. Die Nadel
will sich losreißen und glücklich werden, denn ein Hufeisen
bringt Glück, aber sie hängt fest, wie ein Hund an der
Kette.«
Marnix. Genau dasselbe hätte Marnix auch sagen können.
Dieses Kind! Falk hat das Gefühl, seine Adern füllten sich mit
flüssigem Blei. In den dreiunddreißig Jahren seines Lebens ist ihm
noch nie ein solcher Gedanke gekommen. Was ist das nur für eine
Welt? Es ist doch unglaublich, daß er dieses kleine Leben nachher
vernichten wird! Muß er nicht auf der Stelle seine Pistole nehmen
und sich selbst eine Kugel durch den Kopf jagen? Doch was geschieht
mit Julia? Plötzlich muß er daran denken, daß er schon einmal auf
jemanden geschossen hat, vor neun Jahren, im Bundeskanzleramt in
Wien, während des mißglückten Putschversuchs. In dem Chaos und dem
Lärm von Schüssen, Schreien, explodierenden Handgranaten und
zersplitterndem Glas sah er auf einmal in einem verlassenen
Eckzimmer Dollfuß vornüber auf dem Teppich liegen, stöhnend und
nach einem Priester rufend: Er erkannte ihn sofort, der
Bundeskanzler war nur wenig größer als Siegfried. Er blutete aus
einer Wunde unter dem linken Ohr. In diesem Moment kroch die Gewalt
auch in ihn, und ehe er es wußte, hatte er einen Schuß auf ihn
abgefeuert. Ein paar Tage später gab Otto Planetta zu, den ersten,
vermutlich schon tödlichen Schuß abgegeben zu haben; er wurde
innerhalb einer Woche verurteilt und aufgehängt. Der zweite Schuß,
von einem anderen Kaliber, blieb immer ein Rätsel, über das bis
heute spekuliert wird. Aus Scham hatte er nie jemandem davon
erzählt, auch Julia nicht, auch nicht, als die Putschisten nach dem
Anschluß als Helden verehrt wurden, und nach dem Krieg ebensowenig.
Er versuchte sich einzureden, es habe sich um einen Gnadenschuß
gehandelt; als ihm das nicht gelang, begrub er die Erinnerung in
sich und dachte nie wieder daran.
Er steckt seine Pistole ein und geht in die Küche, wo Siggi
ein Stück Butter und einen halben Riegel Vollmilchschokolade in
seinen Haferbrei rührt, wie er es von seinem Vater gelernt hat.
Henkersmahlzeit. Wozu noch essen? Er wird nicht einmal mehr Zeit
haben, es zu verdauen. Zeit! Julia hat sich bereits ihre ersten
Ukraina angezündet und geht leise singend umher:
»Es gebt
alles vorüber, Es geht alles vorbei.«
Die Zeit ist härter als der Granit, der das
Haus umgibt, nicht die kleinste Schramme kann man hineinkratzen.
Das Bewußtsein, daß sie, ohne es auch nur zu ahnen, das Kind jetzt
zum letzten Mal sieht, schneidet ihm fast noch tiefer in die Seele
als der Gedanke an das, was er nachher tun muß. Abrupt steht er
auf. »Wir müssen gehen.«
»Zieh auch deinen Schal an, Siggi, erkälte dich nicht. Und
paßt um Gottes willen auf.« Als sie nach draußen kommen, ist die
Luft voller glitzernder Eisnadeln, die bewegungslos in der
naßkalten Luft zu schweben scheinen.
»Schau Papa, die Mutter unseres lieben Herrgott hat ihr
Nadelkissen aus der Hand fallen lassen.« Ein Schluchzen
durchzittert Falks Brust, und er nimmt Siggi an die Hand. Während
sie die Almwiese hinaufgehen, macht der Junge pausenlos wilde
Bocksprünge, als wolle er fliegen. Zwischen den Tannen werden sie
mit einem »Heil Hitler« von einer SS-Patrouille mit angeleintem
Schäferhund und Karabinern über der Schulter angehalten. Nachdem
Falk seinen Passierschein gezeigt hat, der ihm von Mittlstrasser
ausgestellt wurde, fragt Siggi: »Papa, wie ist das Wasser
entstanden?« »Das weiß ich nicht.« »Ob Onkel Wolf das vielleicht
weiß?«
»Bestimmt. Onkel Wolf weiß immer alles.«
»Aber nicht, daß Tante Effi raucht, wenn er nicht da
ist.«
»Das vielleicht auch.«
Gebrüllte Befehle sind jetzt zu hören, doch Siggi scheint sie
nicht zu bemerken. Während sie weitergehen, schaut er nachdenklich
zu Boden und sagt nach einer kleinen Weile:
»Aber wenn man alles weiß, woher weiß man dann, daß man
wirklich ›alles‹ weiß?« »Auch das weiß ich nicht, Siggi.«
»Ich weiß auch eine ganze Menge, doch wie kann ich erfahren,
was ich alles weiß?«
Falk antwortet nicht. Welche Martern! Die Welt dürfte nicht
existieren, die Welt ist ein schrecklicher Irrtum, eine sinnlose
Mißgeburt – so sinnlos, daß nichts, absolut nichts einen Sinn hat.
Alles wird vergessen werden und schließlich verschwinden und dann
nie geschehen sein. Und es ist dieser Gedanke, der ihm die
lasterhafte Kraft gibt, das zu tun, was er tun muß. Er holt tief
Luft und läßt Siggis Hand los.
Der große Exerzierplatz ist von Kasernen, Kantinen, Garagen
und Verwaltungsgebäuden umgeben. Flankiert von einer
Hakenkreuzfahne und einer schwarzen SS-Fahne, sind behelmte Truppen
angetreten und bewegen sich kollektiv mit derselben Disziplin wie
der Körper des Chefs in der Öffentlichkeit. Durch die Turnhalle
gehen sie zu der Treppe, die zum unterirdischen Schießstand führt,
und Falk denkt: – Was macht es schon, daß er jetzt zum letzten Mal
das Tageslicht gesehen hat. Eine Stahltür, deren Aufgabe vor allem
darin besteht, daß der Chef in seinen welthistorischen Reflexionen
nicht gestört wird, schließt sich hinter ihnen.
»Das hier ist vielleicht doch nicht der richtige Ort für
Kinder«, sagt der diensthabende Untersturmführer kopfschüttelnd in
das Knallen und Rattern hinein, nachdem er Mittlstrassers
Bescheinigung gelesen hat. »Aber gut, heutzutage ist ganz
Deutschland ein einziges Tohuwabohu.« Ja, Mittlstrasser, der ist
natürlich auch in das Komplott eingeweiht, vielleicht aber auch
nicht; es ist Falk egal. Siggi ist über den Lärm in diesem Raum aus
Beton begeistert, er ruft etwas, das Falk nicht versteht. Auf dem
größten der drei Schießstände, der um die hundert Meter lang und in
grelles elektrisches Licht getaucht ist, liegen zwei Soldaten im
Kampfanzug hinter ratternden Maschinengewehren, während Ausbilder
mit Ferngläsern die Ergebnisse kontrollieren. Der zweite
Schießstand, wo mit Gewehren geschossen wird, ist kürzer; der
dritte, noch kürzere, wird zur Zeit nicht benutzt. Ein
Unterscharführer ruft im Vorbeigehen mit Blick auf Siggi:
»Haben sie diesen Jahrgang jetzt auch schon eingezogen?«
Falk holt seine durchgeladene 7.65er Pistole hervor und zeigt
Siggi das Magazin mit den Kugeln. Breitbeinig stellt er sich in
Position, hält die Waffe mit beiden Händen und feuert einen Schuß
ab, der die schematische Gestalt am Ende der Bahn in den Bauch
trifft. Daraufhin ruft Siggi: »Darf ich auch mal, darf ich auch
mal?«
Die Welt existiert nicht. Das alles ist gar nicht wahr. Nichts
existiert. Er geht in die Knie und zeigt ihm noch einmal, wie er
die Pistole halten muß. Zum Spaß richtet er den Lauf aus nächster
Nähe auf Siggis Stirn. Als dieser zu lachen beginnt, drückt er
ab.
Voller Blutspritzer schaut er weiterhin auf die Stelle, wo
soeben noch Siggis Lachen war. Niemand hat etwas gehört oder
gesehen. Er schließt die Augen und läßt langsam die Pistole sinken,
bis der Lauf den leblosen Körper berührt, und denkt: Nicht ich habe
ihn getötet, Hitler hat ihn getötet. Nicht ich, Hitler. Ich.
Hitler.