8
Sawyer blinzelte gegen das morgendliche Sonnenlicht an, während die DJs der Morning-Show auf ihrem Nachttisch lärmten. Sie schaltete den Radiowecker aus und setzte sich im Bett auf. Erst als sie sich die Augen gerieben hatte, nahm sie den Strauß babyrosa Röschen wahr, der auf ihrem Schreibtisch stand. Es waren die Blumen von der Küchenanrichte und Sawyer runzelte die Stirn, als sie auf dem Weg zum Bad daran vorbeiging, um sich für die Schule fertig zu machen. Als sie nach unten kam, sah sie Tara am Küchentisch sitzen, vor sich das geöffnete UPS-Paket des vorigen Abends. Neben dem Teller mit dem halb gegessenen trockenen Toast lag ein Päckchen Erdnüsse.
»Morgen, Tara.«
Tara schob den Teller von sich weg und wischte Toastkrümel von ihrem kugelrunden Bauch. »Guten Morgen, Sawyer. Geht es dir etwas besser? Als wir gestern nach Hause kamen, hast du schon geschlafen wie ein Murmeltier.«
Wie ein Murmeltier?
Sawyer zog eine Grimasse, versuchte sie aber hinter einem freundlichen Lächeln zu verbergen. Sie nickte. »Ja, mir geht es etwas besser. Und wie geht’s dir?«
Tara stöhnte und stützte den Kopf in die Hände. »Ist das nicht offensichtlich?«
»Doch. Du bist normalerweise nicht so … grün im Gesicht.« Sawyer fühlte sich mies, als sie sah, dass Tara errötete. »Tut mir leid. Gibt es … Kann ich irgendetwas für dich tun?«
»Außer dieses Baby für mich zu bekommen? Nein, ich glaube nicht.« Sie begann mit der Schwerstarbeit, sich selbst vom Stuhl hochzuhieven. »Wie wär’s, wenn ich dir ein paar Haferflocken mache, Liebes?«
Sawyer packte, ohne es wirklich zu wollen, der Zorn. Nur ihre Eltern – ihre richtigen Eltern – nannten sie »Liebes«.
»Nein danke.«
Tara, die mittlerweile stand, machte ein langes Gesicht. »Willst du gar nichts?«
»Mir geht es gut. Du solltest dich hinsetzen. Oh, und du hättest die Blumen nicht in mein Zimmer stellen müssen. Sie sind hübsch, aber du bist diejenige, die ihren Anblick genießen sollte.«
Tara nahm eine Tasse aus dem Schrank und goss sich etwas Wasser ein. »Weshalb? Es sind doch deine.«
Sawyer blinzelte. »Wie meinst du das?«
»Die sind gestern für dich abgegeben worden.«
In Sawyers Bauch begann es zu rumoren und sie musste schlucken. »Für mich? War eine Karte dabei?«
Tara dachte nach. »Ich hab keine gesehen. Aber der, der sie gebracht hat, hat deinen Namen genannt. Er hat gesagt: ›Die sind für Sawyer Dodd.‹«
»War es ein Junge? Etwa in meinem Alter?«
Tara trank von ihrem Wasser und zuckte mit den Schultern. »Ja, in deinem Alter, glaub ich. Weshalb? Hast du einen heimlichen Verehrer?«
Sawyer riss die Augen auf und im selben Moment schlug Tara sich auch schon die Hand vor den Mund. »Oh Sawyer, so hab ich das nicht gemeint – ich meine, ich weiß, dass Kevin und du lange zusammen wart und – ach, das war einfach blöd von mir.«
Sawyer trat einen Schritt zurück und warf sich den Rucksack über die Schulter. »Ich muss jetzt zur Schule.«
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Sawyer sah Chloe auf der steinernen Mauer sitzen, die die Schule umgab.
»Hey«, sagte Chloe und sprang auf den Boden. »Du hast gestern Abend nicht angerufen.«
»Was? Oh, tut mir leid.«
»Und ich hab dich nach der Schule nicht gesehen.«
»Ich bin früh nach Hause gegangen. Mir ging’s nicht gut.«
Chloe sah sie mitfühlend an. »Du weißt, dass du mir alles sagen kannst, Sawyer.«
»Meine Eltern wollen, dass ich mit dem Seelenklempner rede.«
Chloe verdrehte die Augen. »Immer noch?«
»Wieder.«
Sawyer blieb stehen und sah Chloe an. »Hey, fällt dir jemand ein, der mir Blumen schicken würde?«
Chloe schob sich einen Streifen Kaugummi in den Mund. »Was für Blumen?«
»Rosen.«
»Nein, ich meine, romantische Blumen oder Beerdigungsblumen oder, ich weiß nicht, entschuldige – künstliche Blumen wie dein Vater und deine Stiefmutter?«
Sawyer versuchte nicht zu lächeln. »Das ist ernst. Und ich weiß nicht, welche Art von Blumen. Einfach … Rosen.«
»Farbe?«
»Zuerst rote und dann rosafarbene.«
Chloe zog die Augenbrauen hoch. »Zwei Sträuße? Oh, là, là. Rot ist die Farbe der Liebe, Rosa bedeutet Wertschätzung.«
»Woher weißt du das?«
Chloe winkte mit dem Handy. »Datenautobahn. Du wirst also geliebt und geschätzt. Was stand auf den Karten?«
Sawyer biss sich auf die Lippe und warf ihrer Freundin einen Blick zu. Normalerweise hatte sie Chloe immer alles erzählt – jede Schwärmerei, jedes intime Detail ihrer Treffen mit Kevin –, aber ihr ›Verehrer‹ und die Nachrichten, die er ihr hinterließ, fühlten sich größer als all das an. »Nichts«, log sie. »Es gab keine Karten.«
Chloe machte eine Blase mit dem Kaugummi und sog sie wieder ein. »Was ist mit diesem Cooper? Er hatte dir doch auch eine Nelke geschickt, oder?«
Sawyer nickte. »Ja, aber weshalb sollte er mir direkt im Anschluss noch einen Strauß Rosen hinterherschicken?«
»Vielleicht hat er dir diese Nelke gar nicht schicken wollen. Vielleicht hat unsere liebe Maggie ihm das eingeredet. Du musst zugeben: Ein Dollar ist nicht viel Geld, wenn man sie damit nur zum Schweigen bringen kann.«
Sawyer dachte an Cooper, an sein scheues Lächeln, daran, dass sie so gut wie nichts über ihn wusste. »Ich schätze, das ist eine Möglichkeit. Oh, es klingelt schon. Bis nachher im Chor?«
Chloe nickte und machte noch eine Kaugummiblase. »Klar.«
Sawyer kramte gerade in ihrem Rucksack, als sie mit Logan zusammenstieß.
»Oh, hallo, Logan. Das tut mir echt leid, scheint bei mir ja langsam zur Gewohnheit zu werden.«
Logan grinste bis unter die Augenbrauen und wurde rot. »Kein Problem.« Er rührte sich nicht von der Stelle und Sawyer starrte ihn einen Moment lang an.
»Ähm«, sie deutete über seine Schulter, »du blockierst meinen Spind.«
»Oh.« Logan sprang zur Seite. »Entschuldige bitte.«
Sawyer öffnete das Schloss, während sich andere Schüler um sie drängten. Überall war Bewegung, sie wurde angerempelt und geschubst, und doch nahm sie eine gewisse Regungslosigkeit und Stille wahr – Logan war hinter ihr stehen geblieben, sie konnte seinen Blick im Rücken spüren. Sie griff sich ihr Geschichtsbuch und drehte sich langsam zu ihm um.
»Kann ich dir irgendwie helfen, Logan?«
»Ähm.« Er verdrehte die Hände ineinander und steckte sie dann in seine Hosentaschen. »Hast du meine Rosen bekommen?«
Eiswasser schoss durch Sawyers Venen. Sie spürte Hitze und Kälte, alles zur selben Zeit. »Was hast du gesagt?«
»Die Rosen. Die waren von mir. Ich hab doch das richtige Haus erwischt?«
Sawyer legte das Buch zurück in den Spind. »Du hast mir Blumen geschickt.«
»Rosen. Rosa Rosen. Nur um, du weißt schon«, Logan sah auf seine Schuhe und trat mit der Spitze gegen den Linoleumboden, »Danke zu sagen.«
»Woher wusstest du, wo ich wohne?«
Logan zuckte die Achseln, ein schüchternes Lächeln auf den Lippen. »Du hast gesagt, es sei die neue Siedlung hinter dem Cassini Market. Ich wusste, dass sie Blackwood Hills heißt, und da ist es dann nicht schwer zu finden. Ihr wohnt doch in dem einzigen fertiggestellten Haus dort, oder?«
Sawyer nickte, sie konnte ihr Blut pulsieren hören. »Du hast mir nur die rosa Rosen geschickt?«
Logan sah sie erstaunt an. »Ja, so sollte es sein. Warum? Haben sie noch etwas anderes gebracht? Ich habe ja nicht so viel Geld, also …«
Sawyer hob die Hand. »Also du hast mir nur die rosa Rosen geschickt?«
»Tut mir leid, ich dachte, das würde genügen …«
»Nein, nein«, Sawyer musste lachen, »entschuldige, das ist sehr lieb von dir. Sie waren hübsch, richtig hübsch. Es ist nur – ich bin … Danke, Logan. Das war sehr nett. Aber du hättest das nicht tun müssen.«
Sawyer schnappte sich ihre Bücher und schlug die Spindtür zu. Der kalte Schweiß unter ihren Kleidern ließ sie frösteln.
»Und ich hab mich gefragt, ob …«
Wieder drehte sie sich zu Logan um. Wieder verdrehte er die Hände, das Rosa seiner Wangen war einem flammenden Rot gewichen. »Ich habe mich gefragt, ob …«, begann er wieder, »du vielleicht mal mit mir ausgehen würdest.«
»Oh. Oh.« Sawyer tat der Junge leid, aber allein die Idee, mit irgendjemand auszugehen – einschließlich Cooper –, schien auf einmal leichtsinnig, bedenklich, gefährlich.
Und womöglich tödlich.
»Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du fragst, Logan, aber die Wahrheit ist, ich bin einfach noch nicht bereit für Verabredungen.« Sie lächelte entschuldigend und kam sich dabei gleichzeitig etwas dumm vor. Schließlich hatte Logan sie und Cooper knutschend unter der Tribüne erwischt. Logan lächelte immer noch. Er nickte zu allem, was sie sagte, und Sawyer erkannte in seinem Verhalten und in seinem Lächeln eine freundliche Maske – die freundliche Maske, die auch die Läuferin aufsetzt, die den zweiten Platz gemacht hat, bis sie abseits der anderen endlich in Tränen ausbrechen kann. Er tat Sawyer schrecklich leid.
Der Schultag verlief ohne weitere Zwischenfälle, aber Sawyer war immer noch angespannt, prüfte jeden genau, der ihr einen Blick zuwarf, zuckte beim kleinsten Geräusch zusammen und schauderte, wenn sie an ihrem Spindschloss gedreht hatte und die Tür öffnete. Sie stand gerade in der beinahe leeren Mädchenumkleide in der Turnhalle, um sich für ihren Trainingslauf umzuziehen, als sie hörte, wie die schwere Eingangstür aufgestoßen wurde. Sawyer richtete sich auf, die Angst bohrte sich wie ein Finger in ihre Wirbelsäule.
»Ich kann sie nicht ausstehen«, hörte sie Maggie sagen.
»Weißt du, Kevin war ihr eigentlich ziemlich egal. Er war ihr Ticket zur Beliebtheit. Ich meine, überleg doch mal: Sie ist gleich danach wieder zur Schule gekommen. Ich dagegen war am Boden zerstört, und wir sind nicht einmal mehr zusammen gewesen.« Maggie schniefte, als sie um die Ecke bog und an den Spinden entlang auf Sawyer zukam. Maggies Groupies folgten ihr auf dem Fuß, sie liefen mit verschränkten Armen an Sawyer vorbei und warfen ihr herausfordernde Blicke zu.
»Weshalb ist es dir so wichtig, was ich tue, Maggie?«, wollte Sawyer wissen.
Maggie versuchte sich an einem unschuldigen Augenaufschlag. »Ich weiß gar nicht, was du meinst. Wir hatten hier gerade eine ganz private Unterhaltung. Kann es sein, dass du gelauscht hast, Sawyer?« Sie rümpfte die Stupsnase. »Eine ganz üble Angewohnheit.«
Sawyer zog ihre Sportschuhe an und knallte die Spindtür zu. »Wie du meinst.«
»Weißt du, Kevin hat nie wirklich auf sie gestanden«, sagte Maggie nun etwas leiser, aber gerade noch laut genug, um Sawyer einen Stich zu versetzen.
»Fahr zur Hölle, Maggie. Er hat dich verlassen, um mit mir zusammen zu sein. Wenn er also nie wirklich auf mich stand, muss er zumindest mit dir längst fertig gewesen sein, als ihr noch zusammen wart.« Sawyer verschränkte die Arme und neigte den Kopf in gespieltem Mitleid zur Seite. »Oh, das muss aber wehgetan haben.«
Maggie blieb der Mund offen stehen, genauso wie ihren Lakaien. »Du bist so eine Schlampe!«, schrie Maggie mit geblähten Nasenlöchern und weit aufgerissenen, feuchten Augen.
Sawyer zuckte die Achseln und ging aus der Umkleide. Sie hörte noch, wie sich die Mädchen um Maggie versammelten, ihr den Rücken tätschelten und einvernehmlich gurrten: »Sie hat doch keine Ahnung« und »Sie ist einfach nur eine eifersüchtige Kuh, Maggie«.
Sobald Sawyer den Fuß auf die Aschenbahn setzte, sich darauf einließ und loslief, fühlte sie sich frei, schwerelos, unberührbar. Die Belastung durch Kevins Tod, durch Maggie und die baldige Ankunft ihrer Halbschwester fielen einfach von ihr ab, sobald sie zu schwitzen begann. Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr provoziert und fertiggemacht, und nach der dritten Runde ließ sie auch die Karten und die Blumen hinter sich – ein Zufall, redete sie sich ein – ein Zufall zu einem unglücklichen Zeitpunkt. Aber egal wie schnell oder wie lange ihre Beine sich bewegten, es gelang Sawyer doch nicht, die dünne, quälende Stimme in ihrem Hinterkopf auszuschalten: Aber was sollte das mit dem Erdnussöl-Etikett? Was war mit der »Gern geschehen«-Karte?
Sawyer ballte die Hände, sie stieß ihre Beine noch kraftvoller ab und boxte mit den Fäusten in die Luft, während sie lief. Ihre Beine brannten mittlerweile, aber sie genoss den Schmerz regelrecht. Dadurch fühlte sie sich wieder lebendig.
Niemand wusste etwas über die Geschichte zwischen mir und Kevin, sagte sie sich. Niemand wusste etwas über die Sache mit Mr Hanson.
Sie lief eine weitere Runde. Als sie in die Nähe der Tribüne kam, sah sie ihn in einer der oberen Zuschauerreihen sitzen, in einer zu großen Jacke und mit hochgezogener Kapuze. Sie wurde langsamer und beobachtete ihn. Logan sah nicht zu ihr hin, er hatte den Kopf über ein Notizbuch gesteckt, in das er schrieb. Einmal hob er den Kopf und ihre Blicke trafen sich, sie sah, wie seine Augen groß wurden und seine Wangen sich röteten. Er senkte den Kopf sofort wieder und widmete sich weiter seinem Stift und seinen Notizen. Sawyer rannte an ihm vorbei, aber eine gewisse Schwere lag von nun an auf ihr.
Logan war draußen vor der Schule gewesen, als sie von Mr Hanson gekommen war.
Ich habe ihm gar nichts erzählt … Aber vielleicht hat er es auch so gemerkt?
Ihr Hals wurde trocken und sie musste husten, das Zwerchfell zog sich schmerzhaft zusammen und ihre Beine schienen sich nur noch unkontrolliert zu bewegen. Sie stürzte. Instinktiv streckte sie die Arme aus und landete mit dem Oberkörper auf der Aschenbahn, roter Staub stob in kleinen Wölkchen auf. Sawyer rollte auf den Rücken, würgte, hustete. Plötzlich stand ihr jemand im Licht.
»Alles in Ordnung, Sawyer?«
Sawyer blinzelte, dann kniff sie die Augen zusammen. »Logan?«
Er hielt ihr die Hand hin und Sawyer betrachtete sie einen Augenblick, bevor sie einschlug und sich von ihm nach oben ziehen ließ. Sie war überrascht, wie stark er war. Sawyer klopfte den roten Staub von ihren aufgeschürften Knien und hustete wieder. »Es geht mir gut.«
»Ich hol dir was zu trinken.«
Logan verschwand und kam kurz darauf mit einer eisgekühlten Wasserflasche zurück. Er öffnete den Verschluss, gab sie an Sawyer weiter und beobachtete sie, während sie trank. Sawyer nahm einen großen Schluck und behielt ihn kurz im Mund, bevor sie ihn die Kehle hinunterlaufen ließ. Die kühle Flüssigkeit linderte den Schmerz auf ihrem Zwerchfell.
»Danke«, sagte sie und stieß einen Eisatem aus. »Das ist genau das, was ich gebraucht habe.«
»Du bist schnell«, sagte Logan lächelnd.
Sawyer nickte. »Was machst du denn hier draußen?«
Logan sah verlegen aus. »Ich habe wieder den früheren Bus verpasst. Aber es ist nicht so, dass ich will, dass du mich nach Hause fährst oder so. Ich wusste nicht, dass du hier draußen zum Laufen bist. Ich mag es einfach manchmal, hier rauszukommen und ein bisschen nachzudenken, zu schreiben oder was auch immer.«
Sawyer zeigte auf das rote Notizbuch, das er sich unter den Arm geklemmt hatte. »Hast du das eben auch gemacht? Geschrieben?«
»So etwas in der Art. Egal, ich bin froh, dass es dir gut geht. Das war ein ganz schöner Bauchplatscher. Eigentlich ein typischer Logan-Bauchplatscher.« Aus Logans verlegenem Lächeln wurde ein schiefes, albernes Grinsen. Auch Sawyer musste lächeln.
»Danke, Logan«, sagte sie. »Es geht mir wirklich gut. Ich bin nur abgelenkt worden. Ich neige immer zum Stolpern, wenn ich abgelenkt bin. Bist du sicher, dass ich dich nicht nach Hause bringen soll?«
Logan schien sich auf etwas hinter Sawyer zu konzentrieren. Sie sah, wie sein albernes Grinsen in sich zusammenbrach, wie er bleich wurde.
»Logan?«
Er setzte wieder ein Lächeln auf, das diesmal weniger albern war, aber auch sehr viel unnatürlicher. »Nein danke, Sawyer. Ich komm schon klar. Ich muss jetzt gehen.«
»Hey.« Sie streckte den Arm aus und erwischte einen Zipfel seines Sweatshirts. »Alles in Ordnung mit uns?«
»Hä? Ja.« Er sah sie immer noch nicht an. »Ich hab’s verstanden. Du bist noch nicht bereit, dich zu verabreden.« Bei den letzten Worten hatte er sich umgedreht, und Sawyer war so, als hätte er noch leise »mit mir« hinzugefügt. Aber als sie das realisiert hatte, lief er bereits wieder die Tribüne hinauf. Sie sah, wie Logan sich seinen Rucksack aus der Zuschauerreihe holte und dann in den Schatten unterhalb der Tribüne verschwand.
»Dieser Typ ist echt schräg.«
Sawyer fuhr blitzschnell herum, wobei sich das eiskalte Wasser aus der Flasche über ihrem ohnehin schon nassen Shirt ergoss und bis hinüber zu Cooper spritzte. »Oh, Scheiße.«
Cooper zog die Augenbrauen hoch. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.«
Sawyers Herz klopfte ihr bis zum Hals. »Hast du nicht«, quiekte sie. »Okay, vielleicht doch.« Sie betrachtete die Spritzer auf seinem Shirt. »’tschuldige – tut mir leid wegen dem Wasser.«
Cooper war beinahe genauso angezogen wie Sawyer. Er trug das grün-weiße Trikot des Läuferteams der Hawthorne High – eine Furcht einflößende, mit geballten Fäusten kämpfende Hornisse auf einem Tanktop aus Nylon. Erst auf den zweiten Blick fiel ihr Coopers Oberkörper auf – seine breiten Schultern, die gewölbten Muskeln seiner nackten Oberarme. »Weshalb trägst du ein Läufertrikot?«
»Weil man das im Läuferteam trägt … Richtig?«
»Du bist im Team? Du läufst?«
»An meiner alten Schule war ich im Läuferteam und dachte, ich probiere das Team an dieser auch mal aus. Der Trainer hat mich aufgenommen, ohne mich zu testen. Meine bisherigen Zeiten waren wohl ganz gut, schätze ich.«
Sawyer betrachtete Cooper genauer, die Art, wie der dünne Stoff der Shorts über seine gebräunten Beine fiel – sie waren kräftig, mit deutlichen Muskeln. Es waren nicht die dünnen, athletisch durchtrainierten Beine eines Läufers.
»Ich weiß«, sagte Cooper lächelnd. »Ich sehe nicht so aus, als ob ich gut laufen könnte.« Er schien ihre Gedanken zu lesen und Sawyer spürte, wie sie ein Schauer überlief. Cooper wurde wieder ernst. »Bist du okay? Zieh lieber mein Trikot an.«
»Nein.« Sawyer legte eine Hand auf Coopers Arm. »Ist schon gut. Ich trage mein Erfrischungsgetränk eben direkt am Körper.«
Cooper lächelte lässig. »Ich ziehe es vor, meines zu trinken, aber wenn es bei dir so besser funktioniert … Also, Ungläubige«, er deutete mit dem Kinn zu der leeren Stadionbahn, »wie wär’s mit einem Gemeinschaftslauf? Oder einem richtigen Rennen?«
Sawyer nickte und holte tief Luft, um zu testen, ob ihr Zwerchfell immer noch schmerzte. Das Wasser schien es beruhigt zu haben und sie hatte sich nie vor einer Herausforderung gedrückt – laut ihrem Vater war das sowohl Sawyers beste als auch ihre schlechteste Eigenschaft. Sie beugte sich vor, stellte die Wasserflasche auf eine Bank und sah Cooper durch die langen Ponyfransen an, die ihr ins Gesicht fielen.
Dann startete sie durch.
In der nächsten Sekunde war sie schon auf der Bahn, ihre Beine pumpten, der Wind schlug ihr ins Gesicht und sie hörte Cooper hinter sich rufen: »Hey, du Betrügerin!«
Sie nahm vage war, wie er loslief, konnte sein wütendes Schnaufen hören, während er zu ihr aufschloss.
Als er links neben ihr auftauchte, keuchte er bereits. »Gewinnst du so etwa alle deine Rennen? Indem du schummelst?«
Sawyer behielt ihr Tempo bei, ihre Atemzüge wurden kürzer. »Du weißt also, dass ich all meine Rennen gewinne?«
»Und jetzt weiß ich auch, wie!« Cooper ballte seine Hände zu Fäusten und senkte den Kopf, stemmte sich gegen den stärker werdenden Wind, und als er Sawyer schließlich überholte, wirbelten seine Laufschuhe große rote Staubwolken auf. Erst war er ihr nur um Haaresbreite voraus, dann legte er zu und schließlich lag eine ganze Körperlänge zwischen ihnen. Sawyer hatte das Gefühl, als hätten ihre Beine Feuer gefangen, sie spürte, wie ihre Lunge sich weitete, und holte ihn wieder ein. Sie lief über die Ziellinie, stellte sich rückwärts ans Geländer zur Tribüne und stützte lässig die Unterarme auf. Als Cooper einige Sekunden nach ihr ankam, betrachtete sie gelangweilt ihre Nägel.
»Wo bleibst du denn?«, sagte sie, ohne aufzuschauen.
Cooper nahm sie zum Schein in den Schwitzkasten. »Betrügerinnen. Jede einzelne von euch Hawthorne-Bienen!«
Sawyer befreite sich lachend aus dem Schwitzkasten. »Heißen Bienen?«
Coopers Wangen röteten sich. »Hawthorne-Bienen. Ich sagte Hawthorne-Bienen.«
»Wir sind Hornissen!« Mit dem Zeigefinger simulierte sie einen Hornissenstich in Coopers Bein, aber als er sie daraufhin zum Spaß packen wollte, zuckte sie plötzlich zurück. Es war ein Reflex. Ihre Muskeln reagierten so, wie es sich bei den Treffen mit Kevin in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. Den Treffen, bei denen nie klar gewesen war, was ihn in Rage bringen konnte und wann. Sawyer war ihre Reaktion vor Cooper unglaublich peinlich.
Er hatte sie sofort losgelassen. »Hey, tut mir leid.«
»Was?« Sawyer bemerkte erst jetzt, dass sie vor Nervosität zitterte. Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und rang sich zu einem Lachen durch, das selbst in ihren eigenen Ohren falsch klang. »Ich hab doch nur Spaß gemacht. Lass uns was trinken gehen.«
Sawyer schämte sich und war plötzlich extrem angespannt – hatte sie mittlerweile schon vor jedem Menschen Angst? Cooper folgte ihr schweigend.
Als sie auf die Umkleiden zuliefen, trank Cooper den letzten Schluck Wasser aus seiner Flasche und stopfte sie dann in die Tasche. »Ich schätze, hier werde ich dich wohl verlassen müssen.«
Sawyer zog eine Augenbraue hoch. »Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, dass ich normalerweise nicht in der Mädchenkabine dusche.« Er machte eine Bewegung mit dem Kopf hin zu dem Schild mit der Aufschrift Umkleide Damen.
»Oh«, sagte sie mit einem verlegenen Grinsen, »richtig.«
Einen Augenblick lang standen sie in unangenehmem Schweigen da. Dann nickte Cooper, gab ihr einen kumpelhaften Klaps auf die Schulter und versprach ihr, dass er sie das nächste Mal ganz sicher besiegen werde. Sawyer grinste und grinste, und sie grinste auch dann noch, als Cooper schon längst in der Männerumkleide verschwunden war. Schließlich lief sie in ihre eigene.
Die Umkleideräume waren leer, als Sawyer eintrat, das immer noch nasse Laufshirt klebte an ihrem Sport-BH, ihre Wangen waren erhitzt und gerötet. Sie zog die Kleider aus, nahm sich ein Handtuch und schlüpfte in ihre Flip-Flops. Dann ging sie in den Duschraum und drehte das Wasser so heiß auf, wie es ging. Als sich Dampf breitmachte, ihre Knie einhüllte und gegen ihren Brustkorb drückte, stellte sie sich unter den Strahl und ließ das heiße Wasser über sich strömen, sog es mit der Haut auf. Sie stellte sich vor, wie das Wasser bis zu ihren schmerzenden Muskeln durchsickerte und in den Kopf und ins Gehirn drang. Sie wünschte, sie hätte die Erinnerungen an Kevins Gewaltausbrüche mit fortspülen können, wusste aber, dass diese Erinnerungen tief in ihr eingebrannt waren – so tief, dass sie unwillkürlich vor anderen zusammenzuckte –, und bald mischte sich das Wasser, das ihr über die Wangen lief, mit ihren salzigen Tränen. Sie schlug gegen die Duschwand, krümmte sich zusammen und heulte so lange, bis ihr der Bauch wehtat und ihre Haut durch das heiße Wasser ganz rot, roh und überhitzt war. Schließlich drehte sie das Wasser ab, wickelte sich in ihr Handtuch und schlurfte zum Spind.
Dort blieb sie wie angewurzelt stehen.
Es war still in der Umkleide – so still, dass Verlassenheit in der Luft zu hängen schien –, Sawyers Spind hingegen schrie geradezu. In zornigen roten Buchstaben war das Wort Hure quer über die Tür gesprüht worden.