X

Vor dem Stadttor an der Avenue de Neuilly entspann sich an diesem späten Vormittag zwischen dem Kommandanten der dortigen Wache, einem Leutnant der Miliz, und einem wunderlich gekleideten, schwachbrüstigen und totenblassen Scholaren ein Streit. Letzterer begehrte Einlaß. Er behauptete – welcher Wahnsinn, welche Majestätsbeleidigung! – vom Dauphin ins Schloß eingeladen zu sein.

»Ich bin Alain Chartier«, setzte er hinzu.

Alain Chartier! Der Leutnant wollte sich fast vor Lachen biegen und blickte den Mann mit seinen wirren Haaren und dem Taillenrock wie einen Irren an. Alain Chartier, mit dessen Versen und Moralitätenlehren eine neue Richtung in der Literatur begann – parbleu, man sollte diesen Schwätzer da kurzerhand arretieren und wegen Hochstapelei vor den Richter schleifen!

»Wer willst du sein?« schrie der Leutnant.

»Alain Chartier.«

»Dann will ich der Papst in Rom sein!«

»Ich hätte nichts dagegen.«

Der Leutnant wandte sich an seine Untergebenen, die Zeugen der Szene waren und grinsten.

»Habt ihr das gehört? Er hätte nichts dagegen, wenn ich der Papst wäre. Oder der König von Portugal. Er hätte wohl auch nichts dagegen, wenn ich Gottvater wäre. Dafür soll ich, denkt er sicher, nichts dagegen haben, wenn er sich als Alain Chartier bezeichnet.«

Der Leutnant kehrte sich wieder dem Mann vor dem Tor zu.

»Ich habe aber etwas dagegen! Und wenn du jetzt nicht augenblicklich abhaust, wenn du nicht sofort deine Beine unter die Arme nimmst und verschwindest, werde ich dir zeigen, was ich dagegen habe! Du bekommst eine Tracht Prügel, die du dein ganzes Leben lang nicht vergessen wirst!«

»Ihr würdet Euch in Euer eigenes Unglück stürzen. Kam durch dieses Tor hier heute nicht schon der Marquis de Bérguérac mit einigen seiner Gardeoffiziere geritten?«

»Ja«, stieß der Leutnant überrascht hervor.

»Er hätte Euch sagen können, daß ich, Alain Chartier, auch noch hier erscheinen werde.«

Die Verblüffung des Leutnants wuchs.

»Wieso hätte der mir das sagen können?«

»Weil er von mir kam, nachdem er mit die Einladung des Dauphins überbracht hatte.«

Letzte Zweifel waren beseitigt. Der Kerl ist eindeutig wahnsinnig, sagte sich der Leutnant. Und Wahnsinnige müssen mit Nachsicht behandelt werden.

»Weißt du überhaupt, von wem du sprichst?« fragte er nun väterlich den Geistesgestörten.

»Das sagte ich ja: vom Marquis de Bérguérac.«

»Und weißt du, wer das ist?«

»Der Kommandant der Königsgarde.«

»Sieh mal einer an, du weißt das. Und er, der Kommandant der Königsgarde, hat dir eine Einladung überbracht?«

»Ja.«

»Vom Dauphin?«

»Ja.«

»Ins Schloß?«

»Ja.«

Der Leutnant hielt das nicht mehr länger aus. Sein Vorsatz, Nachsicht zu üben, zerbrach.

»Ja, ja, ja!« fing er plötzlich wieder an zu brüllen. »Du wagst es, mich zum Narren zu halten! Wenn du noch ein einziges Mal ja sagst, schneide ich dir die Zunge aus dem Maul! Ist dir klar, warum?«

»Nein.«

»Sag nicht nein, du Idiot! Sag ja! Das muß doch klar sein!«

»Wenn ich ja sage, schneidet Ihr mir die Zunge aus dem Maul, habt Ihr gedroht.«

Der Leutnant traf Anstalten, seinen Degen aus der Scheide zu reißen, um eine Bluttat zu begehen. Diese Bluttat zu verhindern, lag im Interesse Chartiers, der deshalb rasch den Umschlag, in dem seine Einladung ins Schloß steckte, zum Vorschein brachte und ihn dem tobenden Offizier hinhielt.

Rot leuchtete das Siegel des Dauphins, das zwar erbrochen, aber immerhin noch vorhanden war.

Der Leutnant erstarrte. Sein Blick saugte sich an dem Siegel fest. Sekundenlang herrschte Schweigen.

»Was ist das?« krächzte er dann, zum Umschlag nickend, ohne ihn zu ergreifen.

»Die Einladung des Dauphins. Bitte, lest sie.«

Nun blieb dem Leutnant nichts anderes übrig, als das zu tun, wozu er sich aufgefordert hörte. Nachdem er das Schreckliche, das sein berserkerhaftes Auftreten total ins Unrecht setzte, zur Kenntnis genommen hatte, wußte er nicht, wie er sich aus der Situation herauswinden sollte, bis ihm einfiel, daß ja noch seine Untergebenen vorhanden waren, die als Blitzableiter dienen konnten.

»Ihr Hundesöhne!« brüllte er sie an. »Was steht ihr herum und grinst und glotzt unverschämt? Ich bin mit euch geschlagen und verlerne es dadurch, den himmelweiten Unterschied zwischen euch und einem Auserwählten zu sehen! Werft euch zu Boden, damit der größte Dichter Frankreichs sich seine Schuhe an euren Visagen abputzen kann, ehe er die Stadt Paris betritt!«

Alain Chartier verzichtete auf diesen Genuß, den er als solchen nur empfunden hätte, wenn ihm dazu das Gesicht des Leutnants zur Verfügung gestanden wäre. Er winkte ab und durchschritt das Tor, das vor ihm plötzlich, wie von Geisterhand bewegt, aufflog.

Der Leutnant lief neben ihm noch ein paar hundert Meter in die Stadt hinein her und hörte nicht auf, ihm mit Klagen in den Ohren zu liegen über seine Leute, die an allem schuld seien.

»Habt Ihr schon einmal mit solchen bornierten Ochsen zu tun gehabt?« fragte er den Dichter, der nur knappe Antworten gab und seinen Schritt beschleunigte, um den Leutnant abzuschütteln.

»Nein.«

»Seid froh. Man wird selbst auch noch ganz blöd davon; das hat sich ja soeben gezeigt.«

»Ja.«

»Könnt Ihr mir verzeihen?«

»Ja.«

»Oder werdet Ihr Euch revanchieren, indem Ihr mich dem Marquis de Bréguérac meldet?«

»Nein.«

»Auch nicht dem Dauphin?«

»Nein, sage ich!«

Chartier wußte ja nicht einmal, ob er dazu kommen würde, überhaupt ein Wort mit dem Dauphin zu wechseln. Möglich war doch sogar, daß der ganze Ball, wie der Kommandant der Garde gemeint hatte, ausfiel.

Der Leutnant, ein unverschämter Mensch, wollte sich vergewissern und fuhr fort: »Ihr schwört mir das?«

»Was?«

»Daß Ihr Euch bei niemandem über mich beschwert?«

Chartiers Absicht, dem lästigen Kerl zu enteilen, mußte als gescheitert angesehen werden. Der kräftige, gutgenährte Offizier hielt mit Leichtigkeit an der Seite des verhungerten, von seiner Krankheit ausgehöhlten Dichters. Alain Chartier blieb stehen.

»Ihr geht mir auf die Nerven«, sagte er.

»Ihr habt mir doch«, legte der Leutnant von seiner Impertinenz Zeugnis ab, »soeben verziehen.«

»Ja, aber –«

»Auch nicht dem Dauphin.«

»Ja, aber –«

»Dann könnt Ihr mir das doch auch schwören.«

»Ja, das könnte ich, aber«, ließ sich Chartier endlich das Wort nicht mehr abschneiden, »es würde Euch nicht viel helfen.«

Der Leutnant erschrak.

»Warum nicht?«

»Weil es auch noch die Dauphine gibt, mit der zu sprechen sich eine Gelegenheit bieten wird.«

»Die Dauphine«, entsetzte sich der Leutnant, »eure besondere Gönnerin!«

Ihm war natürlich die Sache mit dem Kuß im Bois de Boulogne auch bekannt.

»Das wäre ja schlimmer«, fuhr er fort, »als wenn Ihr beim Dauphin oder beim Gardekommandanten über mich Beschwerde führen würdet.«

»Kann schon sein.«

»Und Ihr wollt das tun? Ihr wollt mich wirklich unglücklich machen?«

»Wenn Ihr nicht aufhört, mich zu belästigen, ja.«

»Schuld an allem sind doch meine stupiden Kerle, das habe ich Euch schon gesagt. Um Euch Genugtuung zu verschaffen, verspreche ich Euch, die Hundesöhne so lange auf Wasser und Brot zu setzen, bis ihnen alle Zähne ausgefallen sind – oder sie gleich verhungern zu lassen! Glaubt mir, ich mache das!«

»Das würde Euch ähnlich sehen.«

»Was«, entgegnete der Leutnant, der an seinem Zorn fast erstickt wäre; er mußte ihn ja bändigen, »soll das heißen?«

»Das soll heißen, daß ich genau das Gegenteil wünsche. Ihr habt die armen Kerle in Ruhe zu lassen. Wegen mir sollen die keine Repressalien erleiden müssen. Nur so könnt Ihr Euch meine Zusage einhandeln, mit der Dauphine nicht über Euch zu sprechen.«

»Einverstanden«, stieß der Offizier rasch hervor.

»Seid aber gewiß, daß ich mich vergewissern werde, daß Ihr Euer Wort nicht brecht. Ihr werdet bestimmt nicht nur einmal erleben, daß ich an Eurem Tor wieder auftauche.«

Der Leutnant nickte ergebenst, innerlich dachte er jedoch: Du wirst nicht mehr oft, wenn ich dich so ansehe, bei uns auftauchen. Wo du auftauchen wirst, kann ich dir sagen – im Friedhof!

Rasch entfernte sich Chartier. Die Wünsche, die ihm von diesem Offizier nachgesandt wurden, waren keine guten.

Der Dichter zwang sich, an den ganzen Vorfall möglichst nicht mehr zu denken. Der Zauber, den die Stadt Paris nun wieder einmal auf ihn ausübte, erleichterte ihm dieses Vorhaben.

Wie gut kannte er doch jede Straße, jede Gasse, jeden Winkel – und doch war es ihm, als schenke sich die Stadt immer aufs neue dem Empfangsbereiten, der ihre Schönheit mit den Lippen kaum zu preisen wagte. Gedichte sind die Gärten, Himmelsodem ihre Schlösser, fuhr es dem lächelnden Chartier durch den Sinn. Und all dies zusammen, das herrliche Paris, die Königin der Städte, kann die schönste Hymne sein, die je ein Mensch aus seiner Fantasie zum Lobe Gottes sang und steinern erbaute.

Im hellen Sonnenlicht tanzten vor ihm kleine Ballen Staub, weiß fast wie dünne Flocken Schnee, und wie von einer Zauberhand berührt, verflog auf den Blüten in den Gärten Tautropfen um Tautropfen, hell funkelnd noch im Augenblick, ehe sie sich in das weite Reich des Äthers saugen ließen.

Traumverloren lief Alain Chartier durch die altbekannten Straßen, entdeckte jeden Garten neu und begrüßte ihn innerlich dennoch wie eine langentbehrte, langersehnte, herrliche Geliebte. Sein Blick liebkoste die ihm vertrauten Häuser und Monumente, und als ihm heiß wurde, stieg er eine Treppe hinunter zum Ufer der Seine und kühlte sich mit deren Wasser Hände und heiße Stirn. Zum Glück erzählten ihm die murmelnden Wellen nicht, welchen Leichnam sie vor kurzem fortgetragen hatten.

Es war, als wollte der Dichter noch einmal Stein für Stein der Stadt in seine Seele senken.

Wie hattest du doch geträumt, schmächtiger, stets hustender Chartier? Auf einer Bank im Park lagst du am See des Jardin d'Acclimatation. Ein Falter küßte dich und trug dich in die Sonne, und die Welt war unter dir, unbedeutend und klein. Schwindel erfaßte dich, du fühltest, daß du Grenzen hast in deinem Leben, daß es die Götter sind, die herrschen, nicht die Menschen.

Welch freien Traum der Seele träumtest du! Ob es die Blüten im Bois so wollten, als ihr Duft im Schlafe dich umwehte? Ob es der Wind mit seinem Schelmen lispeln wollte, als er die langen Zweige deiner Trauerweide in Bewegung hielt?

Ach ja, der See mit seinen schwarzen Schwänen! Wie blühten auf dem dunklen Wasser hell die Rosen, die weißen, denen jeder See den Namen gibt. Auf den breiten Rillenblättern quakten laut die Frösche. Bezaubernd schöne Insel dieser Welt – wer könnte deinen Atem trinken, ohne ein Poet zu werden?

Mit seinen zierlichen Schritten strebte Alain Chartier wieder zum unausweichlichen, ihn wie ein Magnet anziehenden Ziel. Wieder ging er die von Blüten eingesäumten Wege, begrüßte Schilf und Vögel, Trauerweide und die Schwaneninsel und sank mit müdem, aber glücklichen Seufzer auf die weiße Bank, um noch einmal seine Seele ganz im Schönen auszuspannen, ehe er ins Schloß treten würde, um dem Dauphin seine Kunst zu schenken.

Die schwarzen Schwäne zogen majestätisch durch das Wasser.