XXI

Auch über Saba heulte der Sturm.

Er war so plötzlich gekommen, daß sich niemand mehr davor schützen konnte. Die Leute von Bottom, der kleinen ›Hauptstadt‹, verkrochen sich in ihre Steinhäuser, wer noch draußen auf den Felsterrassen war oder an den Hängen des Kraters, wo kleine fruchtbare Gärten angelegt worden waren, suchte Schutz in den Höhlen, von denen es hier eine Vielzahl in allen Größen gab.

Die Schiffe draußen auf Reede verstärkten ihre Anker mit Stahltrossen und schweren Treibankern; die ANNETTE I tanzte wie ein Gummiball auf den schäumenden Wellen. Die GOTLAND in der kleinen Bucht vor Luis de Vegas' Lagerhaus war gerade noch rechtzeitig von McDonald und seinen Männern mit dicken Nylontauen vertäut worden, bevor auch sie der Sturm erfaßte und beinahe an Land warf.

»Das kostet wieder Menschenleben!« sagte Dr. Meier XXIII prophetisch und steckte sich eine Zigarette an.

Er saß mit Joanna und Andreas Rainherr im Lagerhaus und starrte auf die vom Sturm umhergeworfene GOTLAND. McDonald und der Bärtige hielten als Bordwache auf ihr aus, die andere Mannschaft saß bei Bier und Pfeife in einem Nebenraum des Lagerschuppens.

»Ich liebe die Karibik … aber mit diesen Saustürmen habe ich mich immer noch nicht anfreunden können. Sie sind plötzlich da … kommen aus dem blauen Himmel gefallen und sind ebenso plötzlich wieder weg … Aber ihr Weg ist besät mit Trümmern und toten Menschen! Luis, ist nichts zu hören?«

Luis de Vegas hockte vor dem Funkgerät und hatte den Notruf eingestellt. Es krachte und knatterte im Lautsprecher, aber kein SOS rief um Hilfe. »Es ist nur ein begrenzter Sturm«, meinte Luis, »und zum Glück scheint niemand in diesem Gebiet zu sein.«

»Früher war das anders.« Dr. Meier trank einen Schluck Bier. Er brauchte kein Glas, er trank es gleich aus der gekühlten Dose. »Der Meeresgrund ist voll von gesunkenen spanischen Galeonen. Für sie war solch ein plötzlicher Sturm fast immer das Todesurteil. Rainherr … Wenn man bedenkt, wieviel Milliarden an Gold da unten auf dem Meeresboden liegen! Für immer!«

»Da ist etwas!« schrie Luis plötzlich.

Er drehte an verschiedenen Knöpfen, das Knattern und Rauschen verschob sich. »Verdammt! Ich habe doch was gehört … Ganz schwach nur …! Da … hören Sie es? Da ist es wieder …«

Im Lautsprecher, unterbrochen durch die atmosphärischen Störungen, ertönte dünn der Ruf: »MAYDAY! MAYDAY! MAYDAY!«

Der internationale Ruf um Hilfe.

Mit fliegenden Fingern stellte Luis de Vegas die Frequenz ein und antwortete:

»Wir hören! Wir hören! Wo sind Sie? Position bitte! Wer sind Sie?«

Im Lautsprecher war der Ton jetzt klarer. Eine Männerstimme …

»MAYDAY! MAYDAY! Hier Red Lawrence aus St. Barthélémy! Mußte mit meiner Maschine ins Wasser! Orientierung längst verloren. Treiben auf wilder See und können uns noch etwas halten. Waren im Anflug auf Saba. Müssen irgendwo in der Nähe von Saba sein. MAYDAY! MAYDAY! Kommt schnell, ehe die Maschine zerbricht. Habe ein Girl an Bord, Miss Annette Rainherr …«

Durch Andreas Rainherr zuckte es wie ein Schlag. Auch Dr. Meier XXIII zog plötzlich die Schultern hoch, als friere er. Luis starrte Rainherr hilflos an. Nur Joanna war aufgesprungen und rannte zur Tür.

»Annette …«, stotterte Rainherr. »Was macht denn Annette da draußen? Vor Saba?« Er drehte sich um, sah Joanna losrennen und schrie: »Wo willst du hin?«

»Aufs Boot!«

»Bist du wahnsinnig?«

»Willst du Annette etwa ertrinken lassen?«

Er sprang ebenfalls auf und schlug die Fäuste zusammen. »Bei diesem Sturm kann doch niemand auslaufen!«

»Es ist völliger Blödsinn!« rief auch Dr. Meier XXIII laut. »Joanna, auch Sie schaffen das nicht.«

»MAYDAY!« war noch einmal die Stimme aus dem Äther zu hören. »MAYDAY! Die Maschine schlägt voll. Das Leitwerk bricht gleich ab! Wir haben genug Bretter, um uns festzuhalten. Aber die Haie …«

»Die Haie …«, wiederholte Rainherr tonlos.

Er fuhr sich mit beiden Händen über die Augen und warf sich dann herum.

Joanna hatte die Tür aufgerissen und schrie durch die Lagerhalle: »Alle Mann an Bord! Sofort an Bord! Wir laufen aus!«

»Halten Sie sie fest, Luis!« rief Meier XXIII und umklammerte seine Bierdose. »Ich bin ein alter Mann, ich kann's nicht mehr … Aber Sie, Luis! Schlagen Sie Rainherr und Joanna auf den Kopf, schnell, ehe es …«

»Ich habe schon Taifune überlebt!« schrie Joanna.

Sie duckte sich, als Luis auf sie zukam. »Bleib stehen, Luis! Du kennst mich! Mit einem Karateschlag zerbreche ich dir das Genick! Bleib stehen, du!«

Luis de Vegas ging nicht weiter. Hilflos knirschte er mit den Zähnen, als Rainherr und Joanna das Haus verließen und hinunter zur Bucht hetzten. Der Sturm riß sie fast um …

Da faßten sie sich an der Hand und rannten gemeinsam, sich gegenseitig festhaltend, zu dem auf den Wellen tanzenden Schiff.

Hinter ihnen keuchte die andere Mannschaft und stemmte sich gegen die Gewalt des Sturmes.

McDonald fluchte gottserbärmlich, als plötzlich sein Käpten vor ihm stand und sich triefnaß auf dem Sitz im Kommandostand festband. Neben Joanna klammerte sich Rainherr an das Gestänge des großen Kompaß. Die Yacht schlingerte wild nach allen Seiten.

»Käpten, das ist Irrsinn!« brüllte Jim, der Steuermann. »Wir kommen nie ins freie Wasser!«

»Wir kommen!«

Joanna gab den Befehl, volle Kraft auf beide Motoren. Sie legte den Rückwärtsgang ein und beobachtete, wie zwei Matrosen die Trossen lösten und den Anker einholten. Kaum war die GOTLAND von der Fesselung befreit, machte sie einen gewaltigen Satz rückwärts. Eine riesige Welle schlug über das Deck.

»Wenn du zu feige bist, Jim, los … spring über Bord, und schwimm an Land! Ich brauche dich nicht …«

»Wo wollen Sie denn hin, Käpten?« stotterte McDonald. Sein vom roten Bart überwuchertes Gesicht zuckte wild.

»Da! Hör dir das an!«

Sie stellte den Notruf an und fand die fremde Stimme nach wenigen Sekunden.

Red Lawrence hatte neue Meldungen: »MAYDAY! MAYDAY! MAYDAY! Das Leitwerk ist abgerissen. Die Maschine hält sich nur noch durch die Tragflächen. Bei uns ist der Sturm vorbeigezogen, wir können wieder Himmel vom Meer unterscheiden. Aber die See spielt noch verrückt! Haushohe Wellen! Wir tanzen darauf herum. Positionsangabe unmöglich. Komme nicht mehr an den Navigator heran. Wir sitzen oben auf dem Rumpf. Nach meiner Berechnung müssen wir nordwestlich von Saba schwimmen … nicht weit von der Insel entfernt! MAYDAY! MAYDAY! MAYDAY!«

»Ist das nun klar!« schrie Joanna den starren McDonald an. Die Yacht jagte wie schwerelos durch die tobende See und zerhieb die Wellen, die ihr entgegenrollten.

»Wir kennen aber doch die Position nicht«, sagte Jim dumpf.

»Wir müssen vor allem aus dem Sturm heraus!« Joanna umklammerte das Steuerruder. »Dann haben wir schon viel erreicht.«

»Das gelingt uns nie, Käpten! Dazu müssen wir doch erst mitten hindurch!«

Joanna antwortete nicht mehr. Mit der Hand drückte sie den Gashebel auf äußerste Kraft.

Seufzend lehnte sich McDonald gegen die Wand und starrte Andreas Rainherr wie hilfesuchend an. »Und Sie, Sir, Sie stehen hier herum wie ein Schwachsinniger …«, stammelte er endlich.

Rainherr nickte. Tonlos sagte er.

»Sie haben recht, Jim. Ich bin am Ende. Da draußen, an dem Flugzeug, hängt meine Tochter Annette. Wenn sie schwimmen muß, dann kommen die Haie …«

Sie durchbrachen die Sturmschranke und kamen aus den so furchtbar kreiselnden Wassernebeln heraus in ein wildbewegtes, aber wieder von blauem Himmel überwölbtes Meer.

Hinter ihnen, eine graue Wand bis in die Unendlichkeit, raste der Sturm weiter. McDonald wischte sich kurz über das nasse Gesicht. Es sah aus, als wringe er seinen roten Bart aus.

»Der Teufel hole das alles!« sagte er laut. »So etwas ist auch nur in der Karibik möglich! Auf der ganzen Welt gibt es so etwas nicht. Eine Sturmnebelwand, wie mit dem Messer zugeschnitten! Verfluchtes Meer!«

»Hier irgendwo muß es sein!« sagte Joanna.

Die GOTLAND durchschnitt die hohen Wellen und fuhr – immer noch mit äußerster Kraft – in großen Kreisen das Gebiet ab.

Der Seenotruf schwieg. Red Lawrence meldete sich nicht mehr.

Entweder hatte das Meer die Funkanlage bereits geschluckt, oder das kleine Fahrzeug war gesunken, und Lawrence und Annette schwammen schon um ihr Leben.

Joanna blickte Andreas an. Er stand, das Gesicht gegen die Scheibe des Kommandoraums gepreßt, und starrte auf die wilde See. Er schien um Jahre gealtert.

»Wir finden sie, Liebling …«, sagte Joanna mit unendlicher Zärtlichkeit in der Stimme. »Wir finden sie rechtzeitig …«

»Die Haie …«, stöhnte er.

»Solange sie noch ein Brett haben, können sie sich vor ihnen retten.«

»Wenn sie noch eins haben …«

Es war ein Tag, wie ihn nur der Satan machen kann. Während das Meer noch tobte, begann die wundervollste Abenddämmerung, die Rainherr je gesehen hatte. Der ganze Himmel vergoldete sich, durchzogen von orangenen Streifen. Wie ein riesiger Blutfleck schwamm die Sonne im goldschimmernden Himmel.

McDonald hatte sich auf das Dach des Kommandoraums gesetzt, mit einem Strick an dem gekappten Radarmast festgebunden, und suchte mit dem Fernglas die See ab. Sie waren jetzt 50 Meilen von Saba entfernt und kreisten in nordwestlicher Richtung.

Wenn das Flugzeug von St. Barthélémy in einem Bogen herübergekommen war, konnte es nur dieses Gebiet sein.

Die Abenddämmerung ging in ein von Feuern durchleuchtetes Violett über. Noch eine halbe Stunde – und die Nacht hatte gesiegt … und mit ihr der Sturm! Dann gab es keine Hoffnung mehr, Flugzeugtrümmer und zwei Menschen zu finden.

»Ich sehe was!« brüllte McDonald plötzlich auf dem Dach. »Hart Backbord! Da treibt etwas. Sieht aus wie ein Flugzeugflügel! Hart Backbord!«

Das schnelle Schiff schwenkte sofort zur Seite. Mit aufrauschenden Bugwellen jagte es durch das Meer. Dann sahen es auch Joanna und Rainherr …

Auf den Wogen, leicht hinauf- und hinuntergeworfen, trieb ein Flugzeugflügel, und auf dem Flügel lagen, an das Leichtmetall gepreßt, die aufgeblasenen Schwimmwesten um den Hals, zwei Menschen.

»Annette …«, stammelte Andreas Rainherr. »Mein Gott, sie lebt noch …«

Joanna drosselte den Motor. Mit halber Kraft arbeitete sie sich an die Überreste des Flugzeugs heran. Red Lawrence lag auf dem Bauch und klammerte sich mit einer Hand an einer Flügelklappe fest, mit der anderen Hand hielt er die bis zum Tod erschöpfte Annette fest. Er hatte sie an sich gezogen, und als er jetzt den Kopf hob und das Schiff sah, lächelte er elend und schloß dann die Augen. Mit der Stirn schlug er auf den Flügel.

Gerettet, dachte er, gerettet in letzten Augenblick! Ich hätte Annette nicht mehr zehn Minuten halten können …

Er hörte, wie das Schiff stoppte, er fühlte, wie man längsseits zog … Dort lag er auf dem Rücken, öffnete die Augen und sagte schwach:

»Wenn ihr mir einen Whisky gebt, stehe ich in einer Minute wieder auf den Beinen …«

McDonald und Rainherr trugen die ohnmächtige Annette sofort hinunter in Joannas Schlafzimmer. Red Lawrence bekam noch an Deck seinen Whisky, aber er kam nicht auf die Beine, sondern fiel in sich zusammen.

Drei Männer trugen ihn unter Deck und zogen ihn aus, massierten ihn und rollten ihn dann in Wolldecken. Er schnaufte, öffnete kurz die Augen und sagte laut: »Und wer ersetzt mir meine Maschine?« Dann fiel er in einen tiefen Schlaf der totalen Erschöpfung.

Nach zehn Minuten Massieren wachte auch Annette auf. Sie seufzte tief, breitete die Arme aus und hob den Kopf. Ihr Blick traf Rainherr und Joanna, die nebeneinander saßen und sich um sie bemühten.

»Mein Mädchen …«, sagte Rainherr rauh. Es war ihm unangenehm, daß ihm jetzt Tränen über die Wangen rollten. »Was machst du bloß für Sachen …«

»Paps!« Sie hob die Arme … dann sah sie Joanna an und zog ihren Kopf zu sich herunter.

»Ich danke dir, Mary-Anne«, sagte sie leise. »Vergiß alles, was war. Ich bin … bin ja nur zu dir gekommen, um dir das zu sagen …«

Die Arme um Joannas Hals geschlungen, fiel sie wieder zurück und schlief sofort ein. Aber ihr Atem war ruhig und fest wie bei einem Menschen, der mit sich zufrieden ist.

Über zwei Dinge sprach man in den nächsten Wochen an zwei verschiedenen Plätzen der Karibik viel.

Die Exportfirma Tolkins & Dalques wurde liquidiert, nachdem Fernando Dalques von einem Flug über das Meer nicht zurückgekehrt war. Er blieb verschollen.

Dafür ging bei der Regierung von Belize eine äußerst großzügige Spende ein: 15 Millionen Dollar, die zu dem ausschließlichen Zweck zur Verfügung gestellt wurden, ein Urwaldkrankenhaus zu bauen, um die Indianerbevölkerung vor dem Aussterben zu retten. Die Spende war anonym, und die Aufsicht über das aufwendige Projekt übernahm der Rechtsanwalt Dr. Ernano Casillas, der später auch zum Ersten kaufmännischen Direktor der Urwaldklinik bestellt wurde. Es sollte ein Krankenhaus mit den modernsten medizinisch-technischen Anlagen werden. Auch der Name stand schon fest: CLÍNICA ALTUN HA.

Das zweite Ereignis war mehr lokaler Natur und betraf die Cayman Islands. Dr. Meier XXIII traf ein!

Er landete mit dem Flugzeug auf Grand Cayman und ließ sich als erstes das Telefonbuch geben.

»Das ist unfair!« schrie er. »Andreas, Sie haben mich beschissen. Es gibt schon einen Dr. Meier auf Cayman! Ist es denn nicht möglich, irgendwo einmal Meier I zu sein?«

»Lesen Sie doch richtig, Doktor«, meinte Dr. Rainherr lachend. »Auf Grand Cayman lebt doch ein Dr. Meyer … mit y! Sie aber haben doch ein i in der Mitte!«

»Ich werd's überleben, Rainherr!« Meier I gab das Telefonbuch zurück. »Wie geht's den Damen?«

»Gut! Annette und Joanna sind dicke Freundinnen geworden. Ein Glück, daß Sie zu uns kommen. Ich habe zu Hause nichts mehr zu sagen!«

»Das schadet Ihnen gar nichts. Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen helfe! Nur Trauzeuge möchte ich sein – das haben Sie mir versprochen.« Dr. Meier lächelte glücklich. »Sehen Sie das menschliche Leben an meinem Beispiel, Andreas. Bei mir ist der Unterschied zwischen y und i wichtig. Das Leben schrumpft oft auf ein Wort, sogar nur auf einen Buchstaben zusammen. Meier I! Das Ypsilon … Bei Ihnen ist es das Wort ›Liebe‹! Was kann man sich mehr vom Leben wünschen? Ein Wort, ein Buchstabe wird zur ganzen Welt! Sind wir glücklich, Andreas?«

»Ja, wir sind glücklich!« sagte Andreas Rainherr aus voller Seele. »Das Leben ist herrlich!«

»Und ein kühles Bier erst recht!« Dr. Meier I schnalzte mit der Zunge. »Wann heiratet ihr?«

»In fünf Tagen.«

»So schnell?«

»Wegen der Moral!« Andreas Rainherr lachte wie ein übermutiger Junge. »In acht Monaten wird ein neuer Rainherr zur Welt kommen …«

»Das Kind der Korsarin …«

»Nein!« Dr. Rainherr zog Dr. Meier I aus der Flugzeughalle. »Das Kind einer wunderbaren Frau, die einen verdammt langen und schweren Weg zurücklegen mußte, um das Glück zu finden.«