Sie stand allein in der weiten Bahnhofshalle und wußte nicht, wie es weitergehen sollte.
Um sie herum hasteten die Menschen zu den Ausgängen, rangierten die Lokomotiven, brüllten Gleisarbeiter und zogen Wolken von Ölgestank, heißen Bremsen, Staub und Ruß über sie hinweg. Sie wurde angestoßen, man trat gegen ihre Koffer, ein höflicher Mann – der einzige – sagte im Vorbeirennen: »Pardon Signorina –«, und dann war wieder Kreischen um sie, Quietschen, Rattern, Schreien, Pfeifen.
Das ist also Venedig, dachte Ilse Wagner. Nicht anders als auf dem Bahnhof Zoo in Berlin. Es war enttäuschend. Mag sein, daß sich außerhalb dieser tosenden Bahnhofshalle der Zauber der Lagunen ausbreitete, und daß die erste Gondel mit dem geschnitzten, bunt bemalten Kiel die Romantik herbeizauberte … im Augenblick spürte sie nichts von der Stadt der Verliebten. Im Gegenteil, sie kam sich elend und verlassen vor, und ein wenig hilflos inmitten des lauten Lebens.
Sie hatte ein enges, hellgraues Reisekostüm an, eine Umhängetasche baumelte von ihrer linken Schulter, zwei hellbraune Koffer standen neben ihr, ein Schirm lag über ihnen, denn auch in Venedig soll es Regen geben … und sie hatte sich gefreut, als sie aus dem Zug gestiegen war, denn es war ihre erste große Auslandsreise.
Mit großen ratlosen Augen sah sie sich um. Ihre Hand fuhr durch die von der langen Reise zerdrückten braunen Locken und dann über das schmale, schöne Gesicht. Noch einmal drehte sie sich im Kreise und sah nach allen Richtungen in die weite Bahnhofshalle.
»Das ist dumm!« sagte sie laut und setzte sich auf den größeren ihrer Koffer. Ein Bahnbeamter blieb stehen, überlegte kurz, ob er etwas fragen sollte, musterte das Mädchen und entschied sich dafür, weiterzugehen. Der Zug, mit dem Ilse Wagner gekommen war, rasselte aus der Halle. Der Bahnsteig war leer. Es war der letzte Zug, der hier an diesem Tage einfuhr.
Ilse Wagner nahm einen Brief aus der Tasche ihres Kostüms und faltete ihn auseinander. Nein, es war kein Irrtum.
»Sonnabend, 21.15 Uhr …« stand darin.
Sie blickte auf die Bahnhofsuhr. 21.30 Uhr.
»Na also«, sagte sie laut und steckte den Brief wieder ein. »Ist ja richtig –«
Ein wenig verärgert, aber doch mit einem Gemisch von Ratlosigkeit und einer plötzlichen unbeschreibbaren Angst, verzog sie den Mund und wartete weiter. Sie beobachtete die Abfahrt eines Zuges nach Mailand auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig, lächelte über den temperamentvollen Abschied der Italiener, die sich umarmten, als gingen sie auf eine Weltreise, schüttelte den Kopf über das Einsteigen in den Zug, das mehr der Erstürmung einer Festung glich und blickte dann wieder auf die Bahnhofsuhr, unruhiger, unsicher und merklich ängstlicher.
Niemand kam. Zwei Frauen begannen, den Bahnsteig zu fegen und kehrten um sie herum, Ilse Wagner vorwurfsvoll anschauend. Als es 22 Uhr war, sprang sie auf, fuhr sich mit beiden Händen durch die braunen Locken … aber zu mehr war sie nicht fähig. Was tun, dachte sie nur immer wieder. Mein Gott, was soll ich denn tun? Nun stehe ich in Venedig und weiß nicht, wohin ich gehen soll, was ich hier suchen soll, was das überhaupt alles zu bedeuten hat! Ob in einer Großstadt oder in einer Wüste ausgesetzt, das blieb sich jetzt fast gleich.
Noch einmal las sie den Brief durch, der sie nach Venedig gerufen hatte. Dr. Berwaldt hatte ihn unterzeichnet, aber geschrieben hatte ihn ein anderer. Es war nicht der Briefstil Dr. Berwaldts. In Berlin, als sie ihn empfing, hatte sie sich keinerlei Gedanken darüber gemacht, sondern vor Freude singend ihre Koffer gepackt. Jetzt, allein in der Bahnhofshalle von Venedig, begann diese Frage plötzlich drückend zu werden: Wer hatte den Brief geschrieben, wer hatte die Fahrkarten geschickt?
Als sie den Brief wieder in die Tasche knüllte, spürte sie, wie sich jemand hinter ihrem Rücken näherte, zögerte und dann vollends auf sie zutrat. Eine tiefe, wohltönende Stimme sagte:
»Mylady … ist es wirklich wahr …«
Der Herr sprach englisch. Ilse Wagner drehte sich schnell herum und sah einen großen, schwarzhaarigen Herrn in einem weißen Wollanzug vor sich stehen. Er verbeugte sich und lächelte sie an, als seien sie alte gute Bekannte. Ilse Wagner schüttelte traurig den Kopf. »Sie irren, Sir! Ich bin nicht Ihre Lady … übrigens ein alter, dummer Trick! Ich warte –«
»Ah! Sie sind Deutsche?!« Der Herr lächelte stärker. Er verbeugte sich nochmals und schien sehr fröhlich zu sein. »Das wollte ich nur wissen.« Er sprach ein akzentfreies, ein wenig singendes Deutsch.
»Wieso?«
»Ich stehe hier nämlich schon eine ganze Weile und beobachte Sie.«
»Sie müssen sehr viel Zeit haben, daß Sie sie so nutzlos vertun!«
»Sie sollten abgeholt werden, und keiner ist gekommen, – stimmt's?!«
»Sie sollten als Hellseher auftreten.«
»Ich bin ein weichherziger Mensch. Ich sehe, daß Sie ratlos sind. Ich kann aber keine ratlosen Mädchen sehen! Das ist eine alte Schwäche von mir.«
»Dann wenden Sie sich ab, und sehen Sie sich die Züge an –«
»Und Sie?«
»Ich warte weiter.«
»Auf wen?«
»Auf meinen Chef.«
»Ein vergeßlicher, unpünktlicher Herr, nicht wahr? Wie kann man ein Mädchen wie Sie warten lassen!«
Ilse Wagner hob die Schultern. Sie sah sich wieder suchend um. Der Bahnhof starb aus … sie waren neben den beiden fegenden Frauen die einzigen, die noch auf dem Bahnsteig III standen. Ein Gefühl tiefster Verlorenheit kam in Ilse hoch. Sie schluckte mehrmals; wie ein Kloß saß ihr die Angst in der Kehle.
»Was nun?« fragte der Herr. Er war ernst geworden. Die Burschikosität, mit der er Ilse Wagner angesprochen hatte, war von ihm abgefallen. »Es muß doch etwas geschehen!«
»Aber was –?« sagte Ilse kläglich. »Es kommt keiner … Ich verstehe das einfach nicht –«
»Wenn es auch schwer ist und ich Ihnen völlig fremd bin: Bitte, haben Sie Vertrauen zu mir. Ich heiße Rudolf Cramer, in Zürich geboren, bin Opernsänger und kein Papagallo, der auf den Bahnhöfen herumschleicht, um junge Mädchen zu fangen. Wenn ich kann, will ich Ihnen helfen.«
»Danke –«, sagte Ilse Wagner. Sie sah Cramer von der Seite an. Ein Opernsänger, dachte sie. Aus der Schweiz. Wie soll er mir helfen? Warum ist Dr. Berwaldt nicht gekommen?
»Warum sind Sie nach Venedig gekommen?«
»Mein Chef hat mich herbefohlen. Mit einem Brief und einer fertig ausgeschriebenen Fahrkarte. Er wollte mich abholen –«
»Wer ist Ihr Chef?«
»Dr. Peter Berwaldt. Ein Arzt und Virusforscher. Er hat in Berlin-Dahlem ein großes Laboratorium, und ich bin seine Chefsekretärin. Wir haben 14 Angestellte, 21 Affen, 67 Meerschweinchen und 145 Ratten …«
»Danke, das genügt!« Rudolf Cramer lächelte. »Halten Sie mich jetzt bitte nicht für den 22. Affen – aber ich werde nicht klug aus der Sache.«
»Ich auch nicht –«, sagte Ilse kläglich.
»Ihr Chef holt Sie nach Venedig –«
»Geschäftlich! Er ist seit acht Wochen hier zu Versuchen und Besprechungen –«
»Aha! Nehmen wir einmal an, Ihr Chef ist verhindert … eine unvorhergesehene Konferenz oder sonst etwas … kurz: Er kann Sie nicht abholen!«
»Dann hätte er bestimmt jemanden geschickt.«
»Logisch! Aber es ist keiner da. Das ist die Tatsache. Wohin darf ich Sie also bringen?«
Ilse Wagner sah Cramer aus großen, braunen Augen an. Ihr Mund zitterte, und noch bevor sie sprach, hob sie die Schultern.
»Das ist es ja … ich weiß es nicht –«
»So etwas gibt's doch nicht! Sie müssen doch wissen, wohin Sie gehen sollen …«
»Nein! Bitte. Lesen Sie selbst.« Sie holte den Brief wieder aus der Tasche und hielt ihn Cramer hin. Er las ihn laut vor, und seine Stimme wurde immer verwunderter.
»… erwarte Sie Sonnabend, 21.15 Uhr, am Zug in Venedig. Akte siebzehn und dreiundzwanzig mitbringen. Ich werde am Zuge sein …«
»Und nun stehe ich hier –«, sagte Ilse leise.
Cramer drehte den Brief herum, nahm das Kuvert und schüttelte den Kopf. »Kein Absender – keine Adresse …«
»Das ist es ja!«
»Aber wohin gingen denn alle Briefe, die Sie in den vergangenen acht Wochen sicherlich geschrieben haben.«
»Postlagernd Venedig I.«
»Das ist die Hauptpost.«
»Ja.«
»Und warum?«
»Aus Geheimhaltungsgründen … Ich … ich kann Ihnen das nicht erklären! Ich darf es nicht –«
»Großer Forschungsknüller, was?«
»Ganz großer. Dr. Berwaldt glaubt, es könne damit eine Revolution in der Carcinombekämpfung geben. Aber solange das Präparat nicht über lange Untersuchungsreihen hin erprobt worden ist, soll Stillschweigen bewahrt werden. Deshalb die Vorsicht –« Ilse Wagner sah Cramer hilfesuchend an. »Was mache ich nun?«
»Zuerst werfen Sie alle Sorgen weit weg und lachen Sie! Es ist ein ungeheures Glück für Sie, daß gerade ich bei Ihnen bin!«
»O Gott!« seufzte Ilse.
»Sie werden es gleich anerkennen! Im Augenblick sind Sie wie ein in die Wildnis ausgesetztes Kind.«
»So ähnlich.«
Rudolf Cramer faßte Ilse Wagner an den Ärmel ihres Kostüms und bückte sich gleichzeitig zu den Koffern. »Avanti – gehen wir –«
Ilse stemmte die Füße fest auf den Betonboden. »Wohin denn?«
»Ins Hotel ›Excelsior‹.«
»Sie sind wohl übergeschnappt!«
»Ich wäre es, wenn ich Sie nicht ins Excelsior bringen würde.«
»Lassen Sie bitte diese dummen Reden! Was soll ich in diesem Hotel?«
»Essen, baden, schlafen, frühstücken, mich erwarten und mit mir Venedig kennenlernen – Ist das kein tolles Programm?!«
»Und sicherlich ist das ›Excelsior‹ das 1. Haus am Platze.«
»Natürlich.«
»So natürlich ist das nicht! Die Reisekosten nach Venedig bezahlte mein Chef. Ich stehe jetzt hier mit ganzen hundert Mark in der Tasche –«
»Ein Aschenputtel –«
»Ohne meinen Chef bin ich hier verloren! Die mir geschickte Fahrkarte war eine einfache Fahrt … keine Rückfahrkarte! Ich … ich weiß wirklich nicht, wie es weitergehen soll …« Ilse Wagner sah flehend zu Cramer empor. Jetzt war sie ein kleines, verzweifeltes Mädchen. Alle Sicherheit war von ihr abgefallen. »Sie wollen mir helfen, Herr Cramer –«
»Ich werde nichts anderes mehr tun –«
»Suchen Sie meinen Chef!«
Rudolf Cramer schob die Unterlippe vor und steckte die Hände in die Hosentaschen. Es war eine so hilflose Gebärde, daß sie irgendwie beruhigend auf Ilse wirkte.
»In Venedig einen Menschen suchen, ist etwa, als wolle man den Stillen Ozean nach einer Flaschenpost absuchen. Wo soll man anfangen? Beim Postamt I? Kleines Fräulein … wenn Sie Venedig kennen würden … Und überhaupt wird mir die Sache immer merkwürdiger! Warum ist dieser Dr. …«
»Dr. Peter Berwaldt …«
»… dieser Dr. Berwaldt nicht hier? Sagen Sie mal … was sind das für Mappen, Nummer 17 und 23?«
»Die Formeln des Präparates …«
»Und die haben Sie bei sich?«
»Ja – Dr. Berwaldt hat doch nur deswegen mich nach Venedig kommen lassen –«
»Kinder, Kinder … das kann ein faules Ei sein!« Rudolf Cramer sah Ilse Wagner nachdenklich an. Sein schönes, ebenmäßiges Gesicht war braun gebrannt und glänzte etwas in der Schwüle, die mit der Nacht über Venedig gekommen war. »Wo ist die Mappe?«
»Im Koffer.«
»Wir werden sie zuerst einmal in ein Bahnhofsschließfach tun.«
»Aber Dr. Berwaldt –«
»Wenn er ein logisch denkender Mann ist – und das muß er ja sein – wird er mir danken! Kommen Sie … machen Sie den Koffer auf und schließen wir die Formeln sicher weg!«
Ilse Wagner zögerte einen Augenblick. Kritisch sah sie Cramer an. Nur ein ganz kleiner Kreis Fachleute wußte, wie wertvoll und revolutionierend diese Formeln waren. Cramer nickte ihr stumm zu. Da bückte sie sich, schloß den Koffer auf; entnahm ihm eine flache Kollegmappe und reichte sie Cramer. Er schob sie unter den Arm und half Ilse, den Koffer wieder zu schließen.
»So!« sagte er. »Nun weg damit! Und dann fahren wir zum Excelsior.« Er legte Ilse beruhigend die Hand auf die Schulter, als sie etwas sagen wollte. »Bitte, keinen Protest! Wir müssen jetzt ganz klar denken. Das ›Excelsior‹ ist das Domizil der sogenannten ›großen Welt‹. Man bekommt dort ein Steak für 10 Mark, das woanders 3 Mark kostet … und auch nicht besser ist. Aber es ist möglich, daß wir dort etwas über Ihren Dr. Berwaldt erfahren. Vielleicht wohnt er sogar dort.«
»Dann wüßte ich es doch!«
»Das ist wirklich alles sehr, sehr verworren!« Cramer hob die Koffer auf, klemmte den Schirm unter den anderen Arm und nickte zum Ausgang hin. »Dort sind die Schließfächer. Und wenn sich Ihr Dr. Berwaldt morgen früh auch polizeilich nicht feststellen läßt, geben wir in alle Zeitungen eine Suchanzeige. Hübsche, verlassene Sekretärin sucht ihren Chef … es wird ein Rennen geben –«
»Lassen Sie doch bitte die dummen Witze …«, sagte Ilse fast weinerlich. »Wenn Sie wüßten, wie mir zumute ist –«
»Wir wollen zuerst einmal gut essen, gut trinken und dann gut schlafen. Morgen früh sieht Venedig wirklich wie ein Zauberreich aus … auch für Sie! Und Ihren Dr. Berwaldt kriegen wir … und wenn ich vierzehn Tage lang alle venezianischen Straßensänger in allen Kanälen seinen Namen singen lasse –«
»Halten Sie ein!« Ilse Wagner versuchte zu lachen. Aber es war ein klägliches, gequältes Lachen. »Mit hundert Mark in der Tasche –«
Rudolf Cramer stellte die Koffer wieder auf den Betonboden des Bahnsteiges. Sein Gesicht wechselte wieder vom Jungenhaften zum ernsten, männlich-harten Antlitz. »Ja, das wollte ich noch sagen. Fassen Sie es bitte nicht als unverschämt auf, sondern als echtes Hilfeangebot: Bis Sie Ihren Chef wiederhaben, seien Sie mein Gast –«
Ilse zögerte einen Augenblick. Ihre augenblickliche Lage war verzweifelt. Außerdem empfand sie Angst vor all den Unerklärlichkeiten, denen sie jetzt gegenüberstand. In dieser Lage war es ein Trost, eine Hilfe wie Rudolf Cramer neben sich zu haben. Ein Mann, zu dem sie Vertrauen hatte, ohne sagen zu können, wie sie zu diesem Vertrauen kam. Er hat blaue Augen, dachte sie plötzlich. Schwarze Haare und blaue Augen … welch ein Kontrast. Waren es diese Augen … oder sein Lächeln … oder sein ganzes Wesen, das eine Paarung von Frechheit und Logik war, von Burschikosität und Galanterie …?
»Nur, wenn ich Ihnen später alles zurückzahlen kann –« sagte sie leise.
»Einverstanden! Also auf ins ›Excelsior‹!«
Sie schlossen die dünne Kollegmappe mit den Formeln in ein Schließfach. Cramer gab Ilse den Sicherheitsschlüssel mit der eingravierten Nummer.
»Nummer 178! Behalten Sie sie, wenn Sie den Schlüssel verlieren sollten …«
»Ich werde ihn mir um den Hals hängen …«
»Ein beneidenswerter Schlüssel –«
Mit großen Schritten eilte er aus der Bahnhofshalle, die hellen Koffer in den Händen bei jedem Schritt hin und her schwingend. Ilse rannte ihm nach, sich immer wieder umsehend, ob nicht doch noch Dr. Berwaldt kam. Aber der Bahnsteig lag verlassen da, menschenleer, eine Öde, die bedrückend war.
Rudolf Cramer ging einem kleinen Seitenkanal, dem Rio della Croa, zu. Mit lauter Stimme rief er in die Nacht hinein: »Gondola! Gondola!« Es war mehr ein Singen, volltönend, kraftvoll, schön. Ilse Wagner hielt den Atem an. Aus dem Dunkel des Kanals, fast lautlos, glitt eine Gondel an den Kai. Das schwarze Wasser teilte sich vor dem geschnitzten Kiel und umspielte in zierlichen Wellen das schlanke Boot. Der Gondoliere nickte zu ihnen hin und bremste mit dem langen Ruder.
Cramer warf die Koffer zuerst ins Boot, dann sprang er nach, half Ilse in die Gondel, rückte auf dem Sitz ein Polster in ihren Rücken und warf dem Gondoliere geschickt eine Münze zu. Es war ein Dollar, und der Gondoliere lachte breit.
»Excelsior –«, sagte Cramer.
»Si, Signore … Sofort … oder mit Umweg …«
»Sofort!«
Der Gondoliere nickte. Leise glitt die Gondel den schmalen Kanal hinunter und bog in den Nannaregio ein, der bei San Geremia in den Canale Grande mündet.
Der Zauber, die unwirkliche Schönheit einer venezianischen Nacht lag vor Ilse Wagner.
Leise gluckerte das Wasser gegen die Bordwand. Die mächtigen Mauern der alten Paläste raunten von fernen Jahrhunderten. Von Abenteuern und Schicksalen, von Liebe und Tod, von Größe und Vergessen …
Es war ein Märchen, das Ilse Wagner still bestaunte, zurückgelehnt in die Polster, umrauscht von den schwarzen Wellen der Kanäle.
Plötzlich, unsagbar woher sie es empfand, hatte sie das Gefühl, glücklich zu sein.
Es war ihr, als glitten die Sorgen von ihr je näher sie dem steinernen Märchen des Dogenpalastes kamen und der Piazetta mit der schlanken Säule und dem geflügelten Löwen –
*
Was war aber in den vergangenen Wochen in Venedig geschehen? Es begann in Berlin. Dr. Peter Berwaldt fuhr sich mit beiden Händen über die müden Augen und schob das Mikroskop von sich weg. Ilse Wagner saß neben ihm, das Berichtsbuch auf den Knien, vor sich eine große Tasse dampfenden, starken Kaffee. Es war drei Uhr morgens … in dem großen Laboratorium brannte nur eine Lampe über dem Arbeitstisch.
»Nummer?« fragte Dr. Berwaldt müde.
»Versuch 794 –«
»Negativ –«
»Schade – Gerade der …«
»Ein Mist ist's, Wagnerchen … Los, packen Sie alles ein, gehen Sie ins Bett! Morgen fangen wir eine neue Reihe an …«
Dr. Berwaldt rückte das Mikroskop wieder zu sich heran und sah noch einmal durch das Okular, ehe er den Objektträger aus der Halterung schob. Mit einem Ruck umklammerte er die Tischkante, drehte an der Scharfeinstellung, hob den Kopf, starrte Ilse Wagner an und beugte sich wieder über das Mikroskop.
»Wagnerchen …«, stammelte er. »Das … das … Himmeldonnerwetter … Von wem ist das Präparat?«
»Von Leopold. Affe Nr. 17.«
»Die carcinomatöse Zelle zerfällt! Sie zerfällt! Bei Gott … sie bricht auseinander … Das müssen Sie sehen … kommen Sie her! Sehen Sie sich das an!«
Dr. Berwaldt rückte das Mikroskop zu Ilse Wagner hin. Sie verstand nicht viel von Medizin. Sie war Dr. Berwaldts Sekretärin und nahm im Stenogramm auf, was er ihr diktierte. Lange hatte sie gebraucht, bis sie die medizinischen und chemischen Fachausdrücke kannte. Die gläsernen Kolben und Retorten, die zischenden Glasschlangen und Brutschränke, die langen Reihen von Reagenzgläsern, in denen Blut- und Eiterabstriche, Zellverbände und vom Krebs zerfressene Haut- und Muskelfasern in verschieden farbigen Lösungen schwammen, vor allem aber die langen Käfige der Ratten und Mäuse in der Tierstation flößten ihr Ekel und später Schrecken ein, als sie erfuhr, wie ungeheuer giftig die Präparate waren. Einmal hatte Dr. Berwaldt ein kleines Reagenzglas hochgehalten, das mit ein paar Tropfen einer wasserhellen Flüssigkeit gefüllt war. »Damit können Sie hunderttausend Menschen unheilbar krank machen!« hatte er gesagt und das Glas in einen Panzerschrank verschlossen. Seit diesem Tag berührte Ilse Wagner nichts mehr, was auf den langen Labortischen stand.
Auch jetzt beugte sie sich zögernd über das Okular. Sie sah in vielhundertfacher Vergrößerung merkwürdige, in einer bläulichen Flüssigkeit schwimmende, runde, bizarre und stäbchenähnliche Körper, die hin und her zuckten, als tanzten sie. Dann plötzlich hielten sie still, und es war, als trockneten sie unter einer heißen Sonne weg. Sie lösten sich einfach in der bläulichen Lösung auf, zerfielen und vergingen.
»Wissen Sie, was Sie da beobachten, Wagnerchen?« fragte Dr. Berwaldt mit plötzlich belegter Stimme.
»Ja –«, stotterte Ilse Wagner.
»Das kann eine neue Zeit bedeuten!« Dr. Berwaldt lehnte sich zurück und schloß die brennenden Augen. »Wenn das da kein Einzelfall ist, wenn Gott es zuläßt … es kann die Rettung von Millionen Menschen bedeuten …«
»Die komischen Figuren lösen sich auf …«, sagte Ilse leise.
Dr. Berwaldt nickte mehrmals. Er legte beide Hände über die Augen und schwieg. Mein Gott, dachte er. Wenn das Wahrheit ist … wenn das keine Täuschung ist … wenn sich der Versuch immer und immer wiederholen läßt … Die Krebszellen zerfallen … Es ist einfach nicht zu fassen …
»Los! Neue Objekte, Wagnerchen!« Dr. Berwaldt sprang auf. Die bleierne Müdigkeit fiel von ihm ab. Ich bin am Ziel, dachte er immer wieder. Ich habe selbst nie daran geglaubt … aber nun scheint es wahr zu werden. »Kommen Sie mit zu den Tieren …«
Ilse Wagner überwand ihren Ekel und ihre Furcht. Sie lief Dr. Berwaldt in die Tierstation nach. Die Affen kreischten auf, als sie eintraten, die Ratten pfiffen widerlich und warfen sich gegen den Drahtkäfig. Nur die Meerschweinchen schliefen, dicht zusammengedrängt, ein Knäuel kleiner Pelze.
Bis zum Morgengrauen saß Ilse Wagner schaudernd neben Dr. Berwaldt und notierte die Nummern, Abnahmestelle und die Diagnose der einzelnen entnommenen Präparate. Dr. Berwaldt arbeitete wie im Fieber. Er narkotisierte Affen und Ratten, entnahm ihnen Krebsgewebe, aus der Haut, aus den Muskeln, aus den inneren Organen, vor allem von Ratten, die er auch, bevor er sie töten mußte, vorher narkotisierte. Mit einem Objektträgerwagen voll Präparaten kehrten sie dann ins Labor zurück.
Als die ersten Mitarbeiter gegen 8 Uhr morgens im Labor erschienen, hatte Dr. Berwaldt bereits den 32. Versuch seiner neuen Reihe vollendet. In den Brutöfen lagen die in wenigem stark verdünnte Tropfen der blauen Lösung eingelegten Krebszellen und wurden unter Körpertemperatur beobachtet. Die ersten Präparate zeigten schon nach drei Stunden deutliche Zerfallserscheinungen. Es war ein Blick in eine Zukunft, vor der die anderen Mitarbeiter Dr. Berwaldts stumm und ergriffen standen.
Nach drei Wochen wußte man es genau: Die neue Lösung war in stärkster, mehrtausendfacher Verdünnung ein wirksames und unschädliches Mittel gegen den Zellverfall durch bestimmte Krebssorten. Es griff keine gesunden Zellen an, schädigte weder das Blut noch das Nervensystem, griff die natürlichen Körperbakterien nicht an und hatte keine Rückwirkungen auf hormonale Vorgänge. Es war, als stürzten sich die Werkstoffe lediglich auf die erkrankten, krebsbefallenen Zellen und fraßen sie einfach auf. Es bildeten sich Ödeme mit einer trüben Flüssigkeit, die man aufschnitt, die Flüssigkeit ablaufen ließ, und die schnell wieder ohne Nachwirkungen verheilten. Der Körper schwemmte die Rückstände einfach aus.
Aber noch etwas anderes entdeckten Dr. Berwaldt und seine wie in einem Freudentaumel lebenden Mitarbeiter. Etwas Erschreckendes, etwas Grauenhaftes: Das neue Mittel war bei stärkeren Dosierungen absolut tödlich. Verdampfte man gar die Originallösung, so trat ein augenblicklicher Tod durch Lähmung des Nervensystems ein. Dr. Berwaldt beobachtete es mit 100 Ratten, die er in einen Nebel seines verdampften Präparates laufen ließ. Sie rannten in den luftdichten gläsernen Kasten, blieben stehen, als habe man sie vor den Kopf geschlagen, und fielen leblos um, ohne noch einmal zu zucken.
Dr. Berwaldt starrte ernst in den gläsernen Kasten.
»Das … das ist grauenvoller als die größte Atombombe …«, sagte er leise. »Mit zehn Gramm kann man ganze Provinzen entvölkern …«
Keiner um ihn herum gab eine Antwort. Sie alle spürten, daß hier, in einem unbekannten Laboratorium in Berlin-Dahlem, Tod und Untergang der Menschheit in einem kleinen, gläsernen Käfig demonstriert wurden.
Wenig später erschien der erste Aufsatz Dr. Berwaldts in einem Fachblatt. Er nannte ihn schlicht: ›Versuch über die Stabilisierung und Verminderung des carcinomatösen Zellwachstums‹. Einige Tabellen waren dafür gezeichnet worden, einige Fotos gemacht. Und ein kleiner Satz am Ende des Aufsatzes wies darauf hin, wie giftig das neue, noch in den Kinderschuhen der Erforschung und Erprobung steckende Präparat sein konnte.
Die Fachwelt nahm kaum Notiz von dieser Veröffentlichung. Alles, was mit Krebsforschung zusammenhängt und außerhalb der großen, anerkannten Labors und Kliniken entdeckt wird, betrachtete man mit Vorsicht, Mißtrauen und sogar wissenschaftlicher Abneigung. Der Glauben an eine Sternstunde der Menschheit war im bisher aussichtslosen Kampf gegen den Krebs verloren gegangen. Die Forschungen eines Außenseiters lockten daher nicht mehr hervor als ein mitleidiges Lächeln.
Nur ein Brief traf bei Dr. Berwaldt ein. Ilse Wagner öffnete ihn, wie sie alle Post öffnete und nach dem Wichtigkeitsgrad sortierte, ehe sie die Briefe Dr. Berwaldt vorlegte oder – bei weniger wichtigen Schreiben – von sich aus beantwortete. Diesen Brief aber legte sie zuoberst. Er kam aus Venedig und war unterzeichnet von einem Sergio Cravelli. Er lautete:
»Wir lasen mit größtem Interesse Ihre Ausführungen über das von Ihnen entwickelte neue Anticarcinom-Präparat. Ich vertrete die Interessen eines der größten chemisch-pharmazeutischen Konzerne der Welt, der eine Zweigstelle in Italien unterhält. Wir wären an einer Weiterentwicklung Ihrer wegweisenden Ideen sehr interessiert und bitten Sie um eine Kontaktaufnahme mit uns.
Wir schlagen Ihnen vor, daß sich unsere Herren von der medizinisch-wissenschaftlichen Abteilung mit Ihnen in Venedig treffen, wo wir – dessen bin ich sicher – den Rahmen für eine enge und der Menschheit fruchtbringende Zusammenarbeit abstecken können. Erwähnen darf ich noch im Namen der Generaldirektion, daß wir Ihnen alle Forschungsmöglichkeiten bieten können, unabhängig von allen Kosten, die damit verbunden sind –«
Dr. Berwaldt las den Brief mehrmals lange und genau durch.
Dann rief er die in dem Brief angegebene venezianische Telefonnummer an und unterhielt sich eine Viertelstunde lang. Ilse Wagner war dabei nicht zugegen … sie schrieb die endgültigen Formeln und Zusammensetzungen ab, die Dr. Berwaldt errechnet und ermittelt hatte. Auch den Namen Cravelli vergaß sie wieder. Ein Name mit ›i‹ am Ende, das war alles, was sie behielt.
»Ich fahre nach Venedig«, sagte Dr. Berwaldt einen Tag später. »Es kann sein, daß ich Sie dort brauche, Wagnerchen. Halten Sie sich bereit.« Er zögerte beim Hinausgehen aus dem Büro und drehte sich an der Tür noch einmal um. Sein Gesicht war ernst und nachdenklich. »Noch eins: Ein großer internationaler Konzern will unser Präparat aufkaufen und entwickeln.«
»Gratuliere, Herr Doktor«, sagte Ilse fröhlich.
Dr. Berwaldt blieb ernst. »Das kommt mir alles etwas plötzlich. Zu impulsiv für einen großen Konzern! Sie machen Angebote und kennen gar nichts! Das macht mich nachdenklich. Behalten Sie gut, Wagnerchen: Wenn ich Ihnen aus Venedig schreibe oder Sie anrufe, und Sie bitte, zu kommen und die Mappen 17 und 23 mitzubringen, dann kommen Sie sofort nach Venedig und bringen zwei Mappen mit leeren Blättern mit!«
»Mit leeren –«
»Ja. Ich kann Ihnen das jetzt noch nicht erklären. Es ist eine Vorsichtsmaßnahme. Vergessen Sie nicht: Mappe 17 und 23 leer!«
Am nächsten Tag fuhr Dr. Peter Berwaldt nach Venedig. Ilse Wagner und der Cheflaborant begleiteten ihn zum Zug. Von Frankfurt aus wollte Dr. Berwaldt dann weiter nach Venedig fliegen.
»Gute Reise!« rief Ilse, als sich der Interzonenzug schnaufend in Bewegung setzte.
»Und viel Erfolg!« schrie der Cheflaborant. »Ich drücke beide Daumen, daß wir bald Millionäre sind –«
Dr. Berwaldt winkte mit beiden Armen zurück. Dann saß er, nach der ersten Kontrolle durch die Vopos, am Fenster und blickte still über das vorbeirasende mitteldeutsche Land.
Venedig, dachte er. Wird Venedig die große Wende meines Lebens sein? Werde ich endlich alle geldlichen und räumlichen Möglichkeiten erhalten, mit einem Präparat, mit meinem Präparat die Menschheit von der Geißel Krebs zu befreien?!
Dr. Berwaldt lehnte sich zurück, drückte den Kopf an das Nackenpolster und schlief im gleichförmigen Rattern des Zuges ein. Er wurde erst wieder geweckt, als man am Zonenübergang die Pässe kontrollierte und zwei Vopos ihn an der Schulter rüttelten.
Sergio Cravelli stand auf dem Rollfeld, als die Maschine ausrollte und das Fallreep herangeschoben wurde. Er schwenkte einen riesigen Blumenstrauß und stürzte auf Dr. Berwaldt zu. Er kannte den deutschen Arzt nicht … aber mit dem geübten Blick eines Agenten erkannte er ihn sofort, als Berwaldt auf der Treppe erschien und sich suchend umblickte.
»Signore Dottore!« brüllte Cravelli und riß Berwaldt fast von der Treppe. »Willkommen in Italia und dem schönen Venezia! Hatten Sie eine gute Fahrt, einen ruhigen Flug, eine liebe Betreuung, haben Sie Wünsche, Beschwerden, fehlt Ihnen etwas –«
Dr. Berwaldt schüttelte lächelnd den Kopf. Der Wortwasserfall versiegte. Cravelli und Berwaldt sahen sich groß an. Eine schnelle, gründliche Musterung, die entschied, wie die kommenden Tage verlaufen würden.
Sergio Cravelli war ein großer, hagerer Mann Ende der Fünfzig mit einer weit ausladenden Adlernase und einem zerknitterten, pergamentähnlichen Gesicht. Die kurzgeschnittenen, ergrauten Haare gaben dem Kopf das Aussehen eines gerupften Vogels. Vor allem die Augen, die tief in dunklen, bräunlich-gelben Höhlen lagen, stießen etwas ab und verursachten wenig Sympathie. Auch die weißen Augäpfel waren gelblich, mit roten Äderchen durchzogen.
Er ist herz- und leberkrank, dachte Dr. Berwaldt. Und sicherlich lebt er nicht Diät, was er tun müßte. Man könnte Vertrauen zu ihm haben, wenn man seine Augen nicht sieht. Es ist, als sei er immer auf der Lauer. Aber vielleicht ist das der Blick aller Manager … Berwaldt wußte es nicht.
Sergio Cravelli hatte seine Musterung ebenfalls abgeschlossen. Ein netter, lieber Mensch, dachte er. Offen und ehrlich, mit dem treuen deutschen Blick, der uns ewig ein Rätsel bleiben wird, weil er so fern aller Wirklichkeitserkenntnis ist. Ein typischer Forscher, voller Ideale und Weltverbesserungsideen. Man wird ihn mühelos auf die geplante Seite ziehen können.
»Sie werden erstaunt sein, was wir alles für Sie vorbereitet haben!« sagte Cravelli enthusiastisch.
»Ich lasse mich überraschen.« Dr. Berwaldt nahm die Blumen und klemmte sie unter den Arm. »Ihr verheißungsvoller Brief –«
»Madonna mia! Das war nur ein Bruchteil dessen, was Sie hier erwartet! Sie ziehen ein als Unbekannter … und Sie werden nach Berlin zurückkehren als ein kleiner Kaiser!«
Dr. Berwaldt ging auf diese Lobreden nicht ein. Ein Manager ist schon eine Superlative von Mensch, aber ein italienischer Manager sucht noch nach einer Bezeichnung. Es gibt kein Wort dafür.
Sie gingen über das Rollfeld wie alte Freunde, passierten die Zollkontrolle, die Cravelli elegant mit einem unheimlichen Wortschwall umschiffte, und standen vor dem Fluggebäude einem riesigen amerikanischen Wagen gegenüber. Ein langer, überdürrer Herr in einem weißen Leinenanzug sprang heraus und steckte seine brennende Pfeife in die obere Jackentasche. Er hatte einen typischen amerikanischen Haarschnitt und grinste breit, als Cravelli auf ihn zusteuerte und Dr. Berwaldt vor sich herschob.
»Das ist Mr. Patrickson!« rief Cravelli. »Unser amerikanischer Repräsentant! Sie sehen, wir haben alles Ihretwegen zusammengetrommelt.«
»How?« sagte Patrickson und streckte Berwaldt die Hand entgegen. Eine dürre, knochige, kalte Hand, wie eine Mumie. »Nennen Sie mich James … das spricht sich leichter, Sir …«
Dr. Berwaldt hatte das Gefühl, eine Totenhand zu drücken, kalt, glatt, als läge sie, eben aus der Formalinlösung gekommen, auf dem Marmortisch der Anatomie.
»Ich freue mich«, sagte er. Es sollte ehrlich klingen, aber er glaubte nicht, daß es ihm jemand abnahm.
Sie stiegen in den riesigen Wagen und fuhren in schneller Fahrt nach Chioggia. Cravelli sprach die ganze Zeit auf Berwaldt ein, während James Patrickson lenkte. Er erzählte von dem Konzern, den Berwaldt dem Namen nach kannte und dessen Sitz in Dallas, Texas, war. Er sang eine Hymne auf das vor ihnen auftauchende Fischer-Städtchen Chioggia, auf Venedig, auf seine Frauen, auf die Nächte und auf die Ewigkeit Casanovas, dessen Geist noch immer zwischen den Mauern der Palazzi geisterte.
In Chioggia stiegen sie in eine weiße Motorjacht um, die ebenfalls James Patrickson steuerte. Am Bug leuchtete in goldenen Lettern der Name des Bootes. ›Königin der Meere‹. Berwaldt lächelte still vor sich hin. Sie verstehen ihr Geschäft, dachte er, während er sich auf dem Vorderschiff in einem blauen Sessel niederließ und Cravelli einen Aperitif mixte.
Leise summend glitt die weiße Jacht ›Königin der Meere‹ aus dem Hafen von Chioggia hinüber nach Venedig. Das Wasser des Canale di San Marco schäumte silbern in der Sonne vor dem Kiel. Neben ihnen glitt, wie mit Gold Übergossen, die Isola di San Giorgio Maggiore vorbei, vor ihnen hob sich Venedig gegen den wolkenlosen blauen Himmel ab, ein steinernes Märchen, das ihnen entgegenkam. Am Punta della Saluta bogen sie dann in den Canale Grande ein …
Cravelli seufzte tief, als er das Glas mit dem Aperitif hob.
»Ist es nicht ein Zauber, Signore Dottore?« sagte er schwärmerisch. »Diese Stadt! Diese ins Meer gebaute Liebeserklärung: Nur wer hier lebt, weiß wirklich, was Leben ist –«
»Es ist imponierend!«
»Imponierend! O ihr steifen Nordländer! Auf die Knie sollte man fallen vor soviel Schönheit! Wenn Gott nur Venedig geschaffen hätte, reichte es aus, ihn ewig anzubeten!«
Das Gewühl der Gondeln schluckte sie. In der Ferne schimmerten die runden Kuppeln von Santa Maria della Salute, unwirklich, im Dunst des Sonnentages schwebend wie eine Fata Morgana.
Beim Anblick des Markusplatzes, der Piazzetta und den Säulengängen des Dogenpalastes verringerte Patrickson die Geschwindigkeit und stellte schließlich den Motor ganz ab. Um die Kuppeln des Markusdomes flatterten Schwärme weißer Tauben, wie flüssiges Gold lag der Sonnenschein über Marmor und Mosaiken.
»Wir haben Ihnen eine Zimmerflucht im ›Excelsior‹ reservieren lassen, Sir«, sagte Patrickson und klopfte seine Pfeife an der Bordwand aus. »Dort liegt es.«
Er zeigte mit dem Pfeifenstiel auf einen Palast, vor dem an blauweißen Haltepfählen Gondeln mit vergoldeten Galionsfiguren warteten. Cravelli hob wie beschwörend beide Hände.
»Darf ich Sie bitten, heute abend Gast und Star einer kleinen Gesellschaft zu sein? Wir haben einen Saal im ›Excelsior‹ gemietet. Dort werden wir Sie den Herren vorstellen. Auch Prof. Dr. Panterosi wird zugegen sein.«
»Panterosi? Der Chirurg?« fragte Dr. Berwaldt.
Er riß sich von dem Anblick des berühmten Venedigpanoramas los. Diese neue Mitteilung veränderte auf einen Schlag die vorausgeahnte Situation. Wenn Prof. Panterosi anwesend war, bedeutete dies ein akutes Interesse der Schulmedizin an den Forschungen eines Außenseiters. Eine Anerkennung Prof. Panterosis öffnete das weite Feld der klinischen Erprobungen, war ein Sieg des Präparates, war wie eine Lebenserfüllung.
Cravelli bemerkte die starke innere Erregung Berwaldts. Er goß noch ein Glas Aperitif ein.
»Da staunen Sie, nicht wahr?« rief er.
»Das hätte ich nicht erwartet«, sagte Dr. Berwaldt ehrlich.
»Sie werden staunen, was Sie alles noch erwartet!« sagte James Patrickson trocken. Er stellte den Motor wieder an, und die weiße Jacht ›Königin der Meere‹ glitt dem Palast des Hotels ›Excelsior‹ entgegen.
In diesem Augenblick war Dr. Berwaldt davon überzeugt, daß er einer der glücklichsten in Venedig war.
Die Bekanntschaft mit dem großen Chirurgen Panterosi war kurz. Wie alle berühmten Männer seines Fachs hielt auch Panterosi wenig von vielen Worten. Er gab Dr. Berwaldt die Hand, sah ihn mit zusammengezogenen Brauen an und sagte:
»Sie also sind der Wundermann?! Sie wollen den Stein der Weisen gefunden haben?«
»Nein«, hatte Berwaldt geantwortet. »Ich wage es nur, zu hoffen, daß man dem Carcinom in absehbarer Zeit nicht mehr so hilflos gegenübersteht.«
»Wir sind nicht hilflos, junger Mann!« Prof. Panterosi klopfte mit den Knöcheln seiner Hand gegen die Brust Berwaldts. »Wir haben die ausgefeiltesten Operationsmethoden und die differenziertesten Strahlungen –«
»Und trotzdem sterben jedes Jahr über 3 Millionen Menschen an Krebs … allein in Amerika!«
»Und Sie wollen es ändern? Haben Sie das Wundermittel?«
»Ja, Herr Professor.«
»Wieviel?«
»Eine Lösung mit 10 Milligramm Wirkstoff.«
»Wollen Sie eine Maus behandeln?«
»Es reicht für über tausend Menschen.«
Prof. Panterosi schwieg. Aber man sah seinem Blick an, daß er Berwaldt nicht glaubte. Cravelli und Patrickson standen um ihn herum und schwiegen ebenfalls. 10 Milligramm, dachte Cravelli erschrocken. Daß ich ihn nicht gleich gefragt habe, wieviel er mitgenommen hat. Das war ein grober Fehler! Was sollen wir mit 10 Milligramm anfangen?! Er sah an den Augen Patricksons, daß er das gleiche dachte.
»Ich will mich überraschen lassen!« Prof. Panterosi beklopfte wieder mit seinen Knöcheln die Brust Berwaldts. »Kommen Sie übermorgen zu mir in die Klinik. Ich habe in der Krebsforschungsabteilung drei unheilbar kranke Meerkatzen.«
»Tierversuche habe ich genug gemacht –«, sagte Berwaldt.
Prof. Panterosi zog das Kinn an.
»Glauben Sie, ich lasse Sie auf die Menschen los?« sagte er grob. Dann wandte er sich um und ging davon. Berwaldt, Cravelli und Patrickson sahen ihm nach, bis er in der Halle des ›Excelsior‹ im Gewimmel der Menschen unterging.
»Ein Riesenerfolg!« sagte Cravelli aufatmend. »Sie sind der erste Ausländer, der in sein Forschungszentrum darf!«
»Warum haben Sie nur 10 Milligramm mitgebracht?« fragte Patrickson.
»Es reicht vollkommen. Unverdünnt kann es einige tausend Menschen töten …«
»Ach so!«
Cravelli und Patrickson sahen sich schnell an. In ihren Mundwinkeln lag ein zufriedenes Lächeln.
»Gehen wir an die Bar!« rief Cravelli aufgeräumt. »In wenigen Minuten kommt Dacore, der Chefchemiker unseres Konzerns. Er landete vor drei Stunden, aus Tanger kommend.«
»Aus Tanger?«
»Wir haben dort ein Entwicklungslabor, in dem Dacore gerade einen neuen Kunststoff ausbaut. Eine Kunstfaser, die von reiner Wolle nicht mehr zu unterscheiden ist. Sie sehen, wir spielen auf allen Klavieren –«
Cravelli lachte und schob Berwaldt zur Bar. Patrickson folgte ihnen still und nachdenklich. 10 Milligramm reichen aus für einige tausend Menschen. Welche Wirkung hat dann ein ganzes Gramm? Es ist ungeheuerlich.
James Patrickson bekam plötzlich einen trockenen Hals und bestellte sich einen doppelten Whisky mit viel Eis, den er hastig austrank.
Auf dem Marmortisch mit der Ablaufrinne lag apathisch und mit großen, glänzenden Augen ein kleines, hellbraunes Äffchen. Es war so abgemagert und schwach, daß es an keine Gegenwehr dachte. Vor ihm standen in weißen Mänteln und langen, braunen Gummischürzen einige Männer und betrachteten einige Röntgenbilder, die ein junger Arzt gegen das starke Licht der über dem Marmortisch hängenden Lampe hielt.
»Ein Magencarcinom im inoperablen Zustand«, sagte Prof. Panterosi. »Wir haben Julio vor 9 Monaten mit Krebszellen geimpft und auch die Magenwand damit präpariert. Die Ausbreitung war sehr schnell. Das Herdcarcinom metastasierte bald und bildete Tochtercarcinome in der Lunge, an den Rippen und streut gegenwärtig ins Gehirn.« Prof. Panterosi nickte kurz, der junge Assistent senkte die Röntgenbilder. »So … nun zeigen Sie Ihre Kunst!«
Dr. Berwaldt sah auf den kleinen, armen Affen. Er lag ruhig auf dem Marmortisch und griff zaghaft nach dem Finger, den ihm ein Wärter entgegenhielt. Hinter Berwaldt, mit weißen Tüchern zugedeckt, lagen einige Spritzen und ein rundes Glasgefäß mit einer bläulichen Flüssigkeit auf einem fahrbaren Tisch. Cravelli hatte einmal kurz das Tuch hochgehoben und neugierig die zartblaue Flüssigkeit angestarrt.
Das ist sie, dachte er. Sein Herz schlug bis zum Hals. Ein Rippenstoß Patricksons zwang ihn, das Tuch wieder über das Gefäß fallen zu lassen. Er sah sich um und blickte in die kalten Augen des Amerikaners.
»Lassen Sie das!« murmelte er. Und Cravelli nickte und trat zur Seite, hinter Prof. Panterosi.
»Für Julio genügt 1 ccm«, sagte Berwaldt und griff nach einer der kleinen Spritzen. »Ich injiziere i.v., und zwar ganz langsam, wie bei Calcium …«
Der Tierwärter setzte dem kleinen Affen schnell eine Maske auf das Gesicht. Nach ein paar Zügen war Julio narkotisiert … der junge Assistent präparierte die Vene frei und trat zur Seite.
Berwaldt zog aus dem runden Gefäß seine Spritze auf. Fast spöttisch sah ihm Prof. Panterosi zu und klopfte gegen den Glasbehälter.
»Verdünnte Tinte?« fragte er. Niemand lachte, nur Berwaldt lächelte.
»Es wäre herrlich, wenn es so einfach ginge.«
Er beugte sich über den kleinen Affen, stach die feine Nadel in die Vene, zog ein paar Tropfen Blut an und drückte dann ganz langsam die hellblaue Flüssigkeit in die Blutbahn des Tieres.
»Was nun?« Prof. Panterosi lehnte sich an die Kante des Seziertisches.
»Wir werden bei Julio dreimal injizieren. An drei aufeinanderfolgenden Tagen, das genügt bei ihm. Immer 1 ccm.«
»Und dann?«
»Dann warten wir.«
»Bis er tot ist.«
»Ich hoffe, daß er weiterleben wird.«
»Er hofft es!« Prof. Panterosi drehte sich zu den anderen um. »Haben Sie das gehört, meine Herren! Der junge Herr injiziert blaue Tinte in eine Vene, und ein inoperabler, hoffnungsloser Krebsfall soll weiterleben! Und er sagt es, als sei es selbstverständlich.« Er wandte sich zu Berwaldt um und klopfte ihm wieder mit den Knöcheln gegen die Brust. »Junger Mann, wenn die Krebsbehandlung in Zukunft so einfach wird, schließen wir die Universitäten und Kliniken und bilden nur noch Spritzengeber aus! Das ist ja lächerlich –« Er wandte sich ab und verließ grußlos den Sezierraum. Der Assistent, die anderen Ärzte, Cravelli, Patrickson und auch Dr. Berwaldt sahen ihm betroffen nach.
»Er ist tatsächlich wütend!« sagte Cravelli leise. »Es ist auch unbegreifbar, was Sie da sagen, Berwaldt.«
»Ich habe selbst einige Zeit gebraucht, bis ich es begriff. Aber es wird so sein …« Berwaldt wandte sich an den Assistenten. Er hatte ein Pflaster über den Veneneinstich geklebt; der Tierwärter trug den Affen Julio gerade hinaus zu den Käfigkammern. »Bitte, beachten Sie eins, Kollege: Es werden sich bald unter der Haut große Quaddeln bilden, die sich zu Ödemen ausweiten. Wenn diese Ödeme prall voll sind, öffnen Sie sie, lassen die Flüssigkeit ablaufen und legen einen kleinen Drain ein, um die Abflußstellen offen zu halten. Aus diesen sich bildenden Ödemen fließen die Rückstände der zerstörten Carcinomzellen ab. Während dieser Zeit geben sie bitte keine eiweißhaltige Kost, sondern viel Kohlehydrate, Rohgemüse und milchsaures Gemüse. Und viel Flüssigkeit! Der Körper muß regelrecht durchgespült werden.«
»Toll!« sagte Cravelli ehrlich. »Wenn das alles wahr ist –«
Der Assistent schrieb sich die Anweisungen Berwaldts in einem Berichtsbuch auf. Dann sah er seinen deutschen Kollegen nachdenklich an. Man sah, daß er zögerte, etwas auszusprechen, aber dann sagte er es doch.
»Der Herr Professor weiß nichts davon … aber sollten wir nicht außer Julio auch noch andere Tiere behandeln? Ein mehrfacher Erfolg – hoffen wir es, Kollege – wird ihn eher überzeugen. Wir haben noch 92 krebskranke Tiere in den Ställen …«
»Es wird auch so gehen!« James Patrickson drängte sich nach vorn. Nur 10 Milligramm hat er bei sich, dachte er. Wenn er sie alle wegspritzt, bleibt uns nichts mehr in der Hand! Unsere Versuche werden anders sein als diese lächerlichen Injizierungen. Bei unseren Interessenten geht es um mehr als 1 ccm pro Tag! Wir könnten einen Liter brauchen … oder ein Faß voll … Es geht um andere Dinge als um Lebensverlängerung einiger Hunderttausend.
»Ich halte es aber für besser –«, sagte der Assistent. Patrickson winkte schroff ab.
»Panterosi wird sich mit diesem Demonstrationsfall zufrieden geben! Wir können ja später in größerem Maß fortfahren! Es geht hier nur darum, daß man irgendeine Reaktion sieht … und die wird man sehen!«
»Wie Sie wollen, meine Herren!« Der Assistent hob die Schultern. »Ich wollte dem deutschen Kollegen nur behilflich sein.«
Dr. Berwaldt zögerte. Vier Heilerfolge überzeugten mehr als einer, das war klar. Die stark verdünnte Lösung reichte für viele Versuche aus. Niemand hier in diesem Kreise ahnte ja, wie ungeheuer giftig das Präparat in seiner Konzentration war. 10 Milligramm reiner Wirkstoff, verdampft auch noch, reichten aus, einige hundert Menschen zu töten.
Sergio Cravelli drängte sich vor. »Wir sollten wirklich erst den einen Versuch abwarten!« sagte er laut. »Dottore Berwaldt hat im Rahmen unserer Forschung noch Gelegenheit genug, zu demonstrieren. Gehen wir also, meine Herren –«
Sie verließen das Krebsforschungsinstitut ohne noch einmal Prof. Panterosi gesehen zu haben. Der Portier berichtete ihnen, der Chef habe vor einer halben Stunde ziemlich ärgerlich das Haus verlassen und sei weggefahren. Mit einem der weißen Motorboote, die die Krankenwagen ersetzten.
»Machen Sie sich nichts daraus, bester Dottore!« sagte Cravelli, als sie wieder auf dem Deck der ›Königin der Meere‹ saßen. »Auch Panterosi wird überzeugt werden. Zunächst werden wir in den kommenden Tagen uns um unsere Interessen kümmern! Wir glauben an Ihre Entdeckung, dessen können Sie gewiß sein!«
Dr. Berwaldt nickte dankbar, aber er sagte nichts. Er starrte angeekelt auf das schmutzige Wasser, das aus den dunklen und lichtlosen Seitenkanälen in den Canale Grande floß. Obstschalen, Papier, Schmutz, Kot und tote, aufgequollene Ratten klatschten gegen die alten Kaimauern, als die Wellen ihres Motorbootes das Wasser aufwühlten.
Venedig kam ihm plötzlich nicht mehr so leuchtend vor. Die Märchenfassade blätterte ab. Auch im Paradies ist der Alltag der gleiche wie überall auf der Welt. Mißtrauen, Kampf, Anfeindungen … nur die Umgebung war eine andere.
»Einen Hunger habe ich!« sagte Cravelli und rieb sich den Leib. »Vor allem nach diesem muffigen Loch von Seziersaal! Madonna mia, wer sein ganzes Leben dort verbringen muß …«
Dr. Berwaldt entschuldigte sich, als sie wieder im Hotel ›Excelsior‹ waren. Er ging auf sein Zimmer, bestellte eine Karaffe Orangensaft und legte sich aufs Bett.
Berwaldt atmete tief auf und verschränkte die Arme im Nacken. Er starrte gegen die stuckverzierte Decke, über die Sonnenkringel wie goldene Spiralen krochen.
Cravelli, Patrickson und ihr Konzern … sie können mir alle Türen aufstoßen. Hinter ihnen steht ein unermeßliches, internationales Kapital. Mit ihrer Hilfe kann ich alle Zweifel zerschlagen, dachte er. Ich werde auf ihre Vorschläge eingehen. So schlief er ein, von der Hitze ermüdet und von den neuen Eindrücken besiegt.
In Venedig flammten die Lichter auf, glänzten die Hotelpaläste, schaukelten die Laternen der Gondeln an den geschnitzten Bügen und den mit seidenen Schirmen überspannten Sitzen. Markusplatz, Dom, Dogenpalast, Piazzetta und Markussäule lagen im gleißenden Scheinwerferlicht. Weit in der Ferne, unter einem milchigen Mond, schimmerten die Kuppeln von Santa Maria della Salute.
Man hielt den Atem an vor soviel Schönheit … und man vergaß, daß hinter dem Zauber die engen, schmutzigen, dunklen, stinkenden Wasserwege lagen, die schweigenden Kanäle, die niemand sah und sehen wollte.
Julio, das winzige, sterbende Äffchen, lebte am nächsten Tage noch. Und am übernächsten Tage atmete es auch noch und fraß tapfer das rohe Gemüse und trank, von Durst geplagt, zwei große Flaschen voll milchsaurem Gurkensaft.
Was niemand wußte und der Assistent auch für sich behielt: Prof. Panterosi selbst machte die anderen beiden Injektionen bei Julio. Dann verließ er wortlos wieder die Sezierstation.
In diesen Tagen hatte man Dr. Berwaldt in das Haus Sergio Cravellis eingeladen. Es lag am Canale Santa Anna, einem jener alten, düsteren Seitenkanäle, die kein Fremder kennt und in denen die Jahrhunderte an den Fassaden kleben geblieben sind.
Auch Cravellis Haus – Palazzo Barbarino – war ein verwittertes, hohes Steingebilde mit einer Renaissance-Fassade, mit Löwenköpfen verzierten Balkonen und einer Anlegetreppe, deren Geländer aus eisernen Schlangen bestand. Träge und schmutzig schwappte das Wasser über die Stufen, die einmal leuchtend weißer Marmor gewesen waren.
Es war ein weiträumiges, tiefes Haus mit Gängen, überbrückten Innenhöfen, unter dem Wasser liegenden Kellern und plötzlich aufsteigenden, teppichbelegten Freitreppen. Ein Unbekannter mußte sich in diesem Palazzo Barbarino verlaufen … es war ein Irrgarten von Zimmern und Gängen, vor dem selbst der oft zu Gast weilende Patrickson kapitulierte.
Hier hauste Sergio Cravelli, und wer ihn in diesem Palast sah, glaubte wirklich, in die Renaissance zurückversetzt zu sein.
In der Bibliothek des Palazzo Barbarino, umgeben von bis zur Decke reichenden, geschnitzten Regalen, in denen tausende Bücher verstaubten, saß James Patrickson vor einem alten, riesigen Globus und trank Whisky. Cravelli telefonierte.
»Er ist weggefahren!« sagte er, als er den Hörer wieder auflegte. »Er hat sich eine Gondel gemietet und wollte hinüber zur Madonna.« Patrickson trank in kleinen, schnellen Zügen seinen Whisky aus. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund und zog die Nase kraus.
»Wir müssen heute abend endlich weiterkommen, Sergio!« sagte er hart. »Diese dumme Inszenierung mit dem senilen Panterosi ist zum Kotzen! Verdammt noch mal … es geht um andere Dinge! Was interessiert uns, ob er Krebskranken auf die Beine hilft?!«
»Immerhin ist es ein nettes Nebengeschäft.« Cravelli drehte den alten Globus und ließ seine Finger über die Welt gleiten. »Auf der einen Seite können wir Millionen machen mit einem Anticarcinommittel … auf der anderen Seite –« Er schwieg und sah Patrickson sinnend an. »Die Möglichkeiten sind gar nicht ausdenkbar!«
»Ich denke an sie«, sagte Patrickson trocken. »Die Spitze der Menschheit wird aus zwei Köpfen bestehen.«
»Ist das nicht ungeheuerlich?!«
»Wie man's nimmt! Mich macht es glücklich.«
»Und wenn wir uns verrechnen?«
»Das ist nicht mehr möglich! Die dämlichen 10 Milligramm, die er mitgebracht hat, soll er nicht an Affen verplempern! Hat er überhaupt die Formeln mit?«
»Ich habe nicht danach gefragt. Er ist mißtrauisch.«
Patrickson goß sich ein neues Glas Whisky voll. Sinnend starrte er in die goldgelbe Flüssigkeit.
»Wenn er die Formel nicht bei sich hat …«
»Dann wird er sie holen!«
Patrickson sah Cravelli fast mitleidig an. Seine Augen strahlten dabei aber eine Kälte aus, daß Cravelli unwillkürlich die Schultern zusammenzog, als friere er.
»Als ob er zurückkäme, wenn er Venedig wieder verlassen hat –«
»Aber ohne Formel … nur mit 10 Milligramm …« Cravelli schob die Unterlippe vor.
»Wir werden heute abend weitersehen.« Patrickson lächelte wieder. »Es gibt bei allen Menschen eine Grenze der Widerstandskraft … physisch und psychisch! Auch Berwaldt hat sie. Es wird an uns liegen, sie zu finden … und so schonend wie möglich –«
Sergio Cravelli nickte. Jetzt fror er wirklich und drehte sich zu den hohen Bücherwänden um, um Patrickson nicht ansehen zu müssen.
*
Im großen Saal des Palazzo Barbarino war eine Festtafel gedeckt. Zwei Diener in schwarzer Livree bedienten von silbernen Tellern, Platten und Schüsseln. Nur vier Personen saßen an dem mit weißem Damast gedeckten langen Tisch, auf dem drei vierarmige, vergoldete Leuchter mit dunkelvioletten Kerzen standen, deren Licht über die geschliffenen Gläser und Karaffen zitterte: Sergio Cravelli, James Patrickson, Dr. Berwaldt und ein kleiner, dicker, schwarzlockiger ungeheuer kurzsichtiger und lebendiger Mann: der Chemiker Tonio Dacore, der aus Tanger herübergeflogen war. Durch seine dicken, geschliffenen Brillengläser sah er während des Essens öfter zu Dr. Berwaldt hinüber, ihn musternd und wie einen Gegenstand, den man kaufen will oder der zur Versteigerung angeboten wird, abschätzend und taxierend.
Cravelli hatte ihn mit den Worten vorgestellt: »Hier treffen zwei Genies aufeinander: Dottore Berwaldt … Dottore Dacore. Aus dieser Begegnung müßte so etwas wie eine Sternstunde der Menschheit entstehen!«
Man hatte sich höflich begrüßt, die Hand gedrückt und ein paar allgemeine Worte über die Schönheit Venedigs gewechselt. Dacore berichtete von Tanger. Die Kunststoff-Forschung mache gute Fortschritte. In ein paar Jahren würden alle Menschen nur noch Stoffe aus der Konzernretorte tragen.
»Weich wie Merinowolle ist die Faser!« sagte Dacore. Seine Äuglein glitzerten unter den dicken Brillengläsern. »Und zehnmal zerreißfester. Wir haben sie zwei Monate in konzentriertes Salzwasser gelegt … Ergebnis gleich Null! Der Stoff wurde getrocknet, gebügelt und sah wie neu aus der Webmaschine gekommen aus!«
»Ein Riesenerfolg!« rief Cravelli und prostete nach allen Seiten mit einem Glas dunkelrotem Marsala. Dacore winkte mit beiden Händen ab.
»Noch nicht! Noch nicht! Eine unangenehme Eigenschaft hat die Faser immer noch … aber das bekommen wir auch weg!«
»Und das wäre?« fragte Patrickson uninteressiert.
»Die Faser erzeugt auf der menschlichen Haut eine leichte Allergie. Wo sie längere Zeit aufliegt, beginnt es zu jucken!«
»Großartig!« schrie Cravelli gutgelaunt. »Die erste Produktionsserie beginnen wir mit Damenschlüpfern!«
Tonio Dacore wieherte laut. Patrickson verzog schief den Mund, Berwaldt lachte mit. Nichts an der fröhlichen Männerstimmung verriet, daß im Hintergrund eine endgültige Entscheidung lauerte. Zehn Meter von ihnen entfernt war etwas vorbereitet, von dem Dr. Berwaldt nichts ahnte. Cravelli hielt es für übereilt, aber Patrickson hatte keine Geduld. So ruhig er nach außen hin wirkte, so wild hatte ihn ein Rausch im Inneren erfaßt, wenn er die Möglichkeiten überdachte, die ihm Dr. Berwaldts Entdeckung erschließen konnte. Nach dem Essen und einer Zigarre mit Mokka erhob sich denn auch Patrickson als erster und zog seinen Rock gerade.
»Zur Sache«, sagte er mit der Nüchternheit der Amerikaner. »Gehen wir, meine Herren.«
Cravelli ging ihnen voraus, über einen Flur, über eine Treppe, durch einen glasüberdachten Innenhof, wieder durch eine Diele … Berwaldt gab sich größte Mühe, den Weg zu behalten, aber es gelang ihm nicht. Der Grundriß des Palazzo Barbarino mußte wie der eines Labyrinthes sein.
Cravelli blieb vor einer dicken, geschnitzten Tür stehen, zog einen Sicherheitsschlüssel aus dem Rock und schloß auf. Lautlos schwang die Tür nach innen auf. Ein großer, heller Raum lag dahinter, eingetaucht in die Strahlenbündel großer Neonlampen. Er war fensterlos, aber ein leises Rauschen verriet eine gut arbeitende Klimaanlage. Auf langen, breiten Tischen waren alle Geräte aufgebaut, die ein vollkommen eingerichtetes Labor brauchte.
Dr. Berwaldt blieb erstaunt stehen. »Das ist eine Überraschung! In einem Renaissance-Palast ein Labor von morgen –«
»Hier werden unter Ausschluß aller anderen Mitarbeiter die ganz großen Konzernpatente demonstriert und in der Retorte zu Ende geführt«, sagte Patrickson. Er ging voraus in den blitzenden Raum und machte eine alles umfassende Handbewegung. »Das alles steht auch Ihnen zur Verfügung, Doc Berwaldt!«
»Wozu?«
Berwaldt trat in das Labor. Die schwere Tür schloß sich hinter ihnen. Sergio Cravelli wischte sich über das Raubvogelgesicht.
»Ja, wozu?« fragte er zurück und sah dabei Patrickson an. Der Amerikaner schob die Unterlippe vor.
»Zur Forschung!«
»Die Entwicklung meines Präparates ist aus dem Stadium des Labors heraus! Es geht mir jetzt um die Auswertung –« Dr. Berwaldt ging die Tischreihen entlang. Es fehlte nichts. Die kompliziertesten Meßinstrumente waren vorhanden, sogar ein kleines Elektronenmikroskop stand in einem durch Glaswände abgeteilten Winkel des Raumes.
Cravelli war der erste, der die Sekunden der unerträglichen Spannung überbrückte. Er lachte plötzlich und nickte mehrmals.
»Natürlich geht es um die Auswertung. Aber ehe wir etwas auswerten, müssen wir erst sehen, was wir da kaufen. Ich schlage vor, daß die Herren Berwaldt und Dacore uns einige Experimente zeigen.« Er zeigte auf eine Tür im Hintergrund des großen Labors. Sie war, wie ein Eisschrank, durch einen großen Hebel gesichert. »Wenn Sie Tiere brauchen … dort haben wir alles!«
In der folgenden Stunde verwandelte sich der helle Raum in einen kleinen Hörsaal. Berwaldt hielt einen Vortrag über die Zeit der Suche und der Entwicklung, legte Bildserien vor und Berechnungen. Tonio Dacore ließ unterdessen in einen großen Glaskasten, der luftdicht verschlossen werden konnte, hundert weiße Mäuse laufen.
Es war ein ähnlicher Kasten wie in Berwaldts Berliner Labor, in dem er die ungeheure Giftigkeit des Präparates bewiesen hatte.
Geduldig hörten Cravelli und Patrickson dem Vortrag zu. Erst bei dem Punkt der Gasgiftigkeit wurden sie lebendiger.
»Man riecht es nicht?« fragte Cravelli leichthin.
»Nein. Es ist völlig geruchlos.«
»Man sieht es nicht?« fragte Patrickson.
»Im Labor ja. Aber wenn wir – angenommen – größere Mengen in die freie Luft verdampfen, löst sich der Nebel auf, ohne daß die Giftigkeit nachläßt. Man atmet das Gas ein wie normalen Sauerstoff und ist in kürzester Zeit gelähmt.«
»Schrecklich!« sagte Patrickson. Aber es klang fast wie ein Jubelruf.
»Und das machen Sie uns jetzt vor?«
»Ungern.«
Berwaldt sah auf die vorbereiteten Mäuse. Dacore stand über den Glaskasten gebeugt und warf durch die noch offene runde Abdeckung kleine Brotstückchen in die weißen Pelzknäuel.
»Es würde uns sehr interessieren –«, sagte Cravelli plötzlich heiser.
»Wie Sie wünschen.« Berwaldt trat zögernd neben den Glaskasten. Er schloß eine gläserne Schlange, die fest mit einem Erlenmeyerkolben verbunden war, an die runde Öffnung an. Dacore kontrollierte den festen und luftdicht schließenden Sitz der Gummimanschette und nickte zufrieden. Durch einen ebenfalls mit einem Gummi abzuschließenden Einguß schüttet Berwaldt einige ccm seiner hellblauen Flüssigkeit. Dann knipste Dacore den Bunsenbrenner an und schob die kleine, zischende Flamme unter den Kolben.
Schon nach wenigen Augenblicken begann die Flüssigkeit zu brodeln. Sie kochte, entwickelte einen leicht bläulichen Dampf und verdunstete schließlich völlig. Der Dampf zog wie ein Nebel durch die gläserne Schlange und breitete sich in dem Glaskasten aus. Schon bei dem ersten, kaum sichtbaren Nebelschleier wurden die Bewegungen der Mäuse still. Es war, als lauschten sie auf ein nur ihnen vernehmbares Geräusch. Dann – als sich der Nebel vollends über sie senkte, fielen sie ohne weitere Regungen um.
Patrickson, Dacore und Cravelli starrten fasziniert auf die toten Mäuse.
»Drei Sekunden –«, sagte Patrickson. Er hielt eine Stoppuhr in der leicht bebenden Hand.
»Und was nun?« Dacore trat zurück. »Wie beherrschen wir das Gas? Was machen wir jetzt mit ihm?«
»Das eben weiß ich noch nicht!« sagte Berwaldt hart.
Cravelli sprang auf. In seinen Augen lag blankes Entsetzen.
»Das … das wissen Sie noch nicht?« Er zeigte auf den Glaskasten, in dem man keinen Nebel mehr sah. »Was … was geschieht damit …«
»Das wäre eine neue Forschungsaufgabe. Ich möchte es nicht darauf ankommen lassen, das Gefäß an die Luft zu tragen und zu öffnen!« Berwaldt setzte sich neben den Glaskasten mit den toten Mäusen. »Die hier erzeugte Menge Gas genügt, um hundert Menschen zu töten –«
»Und Sie wissen nicht, was Sie jetzt mit dem Gas tun sollen?« schrie Cravelli.
»Nein.«
»Was haben Sie denn in Berlin getan?«
»Ich habe meinen Glasbehälter, so, wie er war, drei Meter tief vergraben und einen Meter dick mit gemahlener Kohle zugedeckt. Außerdem habe ich das Gefäß in einen Zinnkasten gestellt, den wir zulöteten.«
»Mein Gott … dann tun Sie es doch jetzt auch! Dacore, helfen Sie ihm, das Teufelszeug aus dem Haus zu bringen.« Cravelli rang die Hände und war bis zur Tür zurückgewichen. Patrickson saß noch immer sinnend auf seinem Stuhl und starrte an die Decke.
»Man sollte vielleicht aus der chemischen Konstruktionsformel etwas erkennen können. Für jedes Gift gibt es ein Gegengift. Dacore ist ein hervorragender Chemiker. Wenn wir einmal alle Formeln durchgehen … natürlich wird es wochenlange Arbeit kosten …«
»Ich habe die Formel nicht bei mir«, sagte Berwaldt. Patrickson sah kurz zu ihm hin. »Warum nicht?«
»Ich betrachtete unsere Zusammenkunft als eine Art Vorbesprechung.«
»Dann hat sich Signore Cravelli in seinem Schreiben unglücklich ausgedrückt. Wir wollen einsteigen, Doc! Mit allen Mitteln unseres Konzerns! Mit 25 Millionen Dollar!«
Dr. Berwaldt verschlug es einen Augenblick die Sprache. Über 100 Millionen DM, dachte er, ehrlich erschrocken. Sie werfen hier mit Zahlen herum, die unwahr klingen.
»Soviel wird die Weiterentwicklung nicht kosten …«, sagte er stockend.
Patrickson lächelte breit. »Weiterentwicklung? Wir verstehen uns falsch, Doc. Wir bieten Ihnen, über einen Zahlraum von 5 Jahren hinweg, 25 Millionen Dollar … für Sie allein! Als Ankaufssumme für Ihr Präparat!«
Berwaldt sprang auf. »Das ist doch ein Witz, Mr. Patrickson!« rief er.
»Ich scherze nie mit Zahlen … dazu sind sie zu ernst und gegenwärtig! Wenn Sie uns die Formeln bringen, machen wir den Vertrag, und 5 Millionen Dollar als erste Rate zahlen wir Ihnen aus! Allerdings gehen dann auch alle Rechte an uns über!«
Dr. Berwaldt schwieg. Irgendein unbestimmbares Gefühl hinderte ihn, sofort ja zu sagen. Es war so stark, daß es sogar seine Freude dämmte, ein hundertfacher Millionär werden zu können. Patrickson verstand das Zögern anders. Er nickte und schlug sich auf die Schenkel.
»Sie sind ein cleverer Bursche, Doc! Also gut: 25 Millionen und dazu 5 % vom Umsatz! Soviel kann ein Mensch allein gar nicht ausgeben! Wie alt sind Sie jetzt?«
»Siebenundvierzig Jahre«, sagte Berwaldt heiser vor Erregung.
»Wenn es gut geht, leben Sie noch dreißig Jahre. In diesen Jahren wird es für Sie keine unerfüllbaren Wünsche geben!«
Berwaldt atmete tief. Es war ihm, als verdünne sich die Luft in dem strahlenden Labor.
»Bitte, haben Sie Verständnis, wenn ich nicht sofort zugreife. Ich komme mir vor wie ein Zirkusbesucher, der sich auf das Seil eines Seiltänzers verirrt hat –«
»Aber Sie werden auf einen goldenen Berg fallen!«
Tonio Dacore wusch sich im Hintergrund die Hände. Er war der einzige, der keine innere Erregung zeigte.
»Der ganze Handel ist sinnlos, wenn wir nicht entdecken, wie wir das Gas, wenn es zu Gas geworden ist, bändigen können!«
»Wozu?« Berwaldt sah sich im Kreise um. »Wir wollen doch kein Giftgas entwickeln, das Millionen Menschen töten kann, sondern wir wollen doch ein zytostatisches Therapie-Mittel auf den Markt bringen!«
»Das schon! Wenn aber bei der Fabrikation ein Unglück entsteht … wenn durch einen dummen Zufall etwas verdampft …« Patrickson hatte sich so in der Gewalt, daß er Berwaldt wie verzeihend anlächeln konnte. »Wir müssen an alles denken, mein Lieber! Wer soll Ihnen die 25 Millionen zahlen, wenn wir alle im Gas umfallen? Ich halte es für das beste, sofort an dieses Problem zu gehen.«
Dr. Berwaldt nickte. Was Patrickson sagte, war logisch. Und doch hielt ihn eine innere Abwehr ab, sofort zuzugreifen. Es war ihm alles zu glatt gegangen, zu unkompliziert, zu ›filmisch‹ fast. Man warf mit unwahrscheinlichen Zahlen um sich und kannte von ihm und seinem Präparat nichts weiter als einen Fachzeitschriften-Artikel, einen Versuch bei Prof. Panterosi, einen Vortrag und eine Demonstration der ungeheuren Giftigkeit. Dafür 25 Millionen Dollar zu bieten, kam Berwaldt merkwürdig vor.
Ich muß Zeit gewinnen, dachte er. Einen kleinen Abstand von den Eindrücken, die mich jetzt noch überwältigen. Vor allem ist es notwendig, sich über diesen internationalen Konzern zu erkundigen. So freundlich Patrickson und Cravelli waren, soviel Reichtum sie demonstrieren … Berwaldt schien es, als müßten die Repräsentanten eines solchen Konzerns anders aussehen. Wie sie aussehen sollten, das konnte er nicht erklären … aber anders … irgendwie anders …
»Ich werde nach Berlin schreiben und mir die Formelmappe schicken lassen«, sagte er. Er sah nicht, wie hinter seinem Rücken Cravelli sichtbar aufatmete.
»Und bis dahin seien Sie weiter unser lieber Gast.« Patrickson war zufrieden. In einer Woche regiere ich die Welt, dachte er.
»Gehen wir in einen gemütlicheren Raum!« sagte Cravelli. Er starrte wieder auf den gasgefüllten Glaskasten und die Gefährlichkeit, die er im Hause hatte. »Dacore kann dafür sorgen, daß dieses Teufelszeug verschwindet –«
»In Venedig wird man wohl kaum ein Fleckchen Erde finden, wo man es vergraben kann –« sagte Dacore sarkastisch.
»Dann versenken Sie es in einem der kleinen, hinteren Kanäle. Oder besser … fahren Sie aufs Meer hinaus …«
Dacore nickte. »Ich werde alles erst in Gips und dann in Beton eingießen …«
Schnell verließ Cravelli das Labor und rannte fast durch die Irrgänge zurück in die Bibliothek. Auch bei seinem Rückweg verlor Dr. Berwaldt die Orientierung. Es war unmöglich, anhand einer Zeichnung die Lage des Labors festzuhalten.
An diesem Abend noch, nachdem man ihn zum ›Excelsior‹ zurückgebracht hatte, schrieb Dr. Berwaldt den Brief an Ilse Wagner. Er legte die ausgefüllte Fahrkarte bei, die das im Hotel befindliche Reisebüro ausstellte, und gab als Absender Venedig I, postlagernd an. Er tat dies auf einen Rat Cravellis hin, auch wenn ihm die Argumentation sehr abenteuerlich vorkam.
»Wir möchten alle Konkurrenz ausschalten!« hatte Cravelli gesagt. »Wenn man weiß, wo Sie wohnen, werden andere Interessengruppen kommen. Sie tun uns einen großen Gefallen, wenn Sie bis zum Abschluß unseres Vertrages Ihre Post über postlagernd Venedig I leiten lassen …«
Berwaldt hatte sich darüber gewundert, aber er tat es. Er war ein in dieser Richtung etwas weltfremder Gelehrter, der die Spielregeln internationaler Konzerne nicht kannte. Es ist fast wie in einem Kriminalreißer, dachte er nur.
In seinem Schreiben an Ilse Wagner gab er die Anweisung, die Mappen 17 und 23 mitzubringen. Mappen mit leeren Blättern. Daß er Ilse Wagner überhaupt nach Venedig kommen ließ, war eine plötzliche Reaktion. Er wollte einen ihm seit Jahren vertrauten Menschen bei den Verhandlungen um sich haben, einen unbestechlichen Zeugen. Die leeren Mappen, die sie mitbrachte, waren nur eine Staffage für Cravelli und Patrickson.
Im Tresor des Hotels lag ein mittelgroßes, unscheinbares Kuvert. Berwaldt hatte es gleich am ersten Tag abgegeben.
Niemand wußte davon.
Es waren die Formeln, die 25 Millionen Dollar wert waren … Rettung für Millionen Krebskranke oder Untergang einer ganzen Menschheit –
Erst am nächsten Nachmittag kam Sergio Cravelli wieder in das ›Excelsior‹ und holte Dr. Berwaldt zu einer Spazierfahrt mit der ›Königin der Meere‹ ab.
Cravelli sah blaß und übernächtigt aus. Seine Augäpfel waren gelber als sonst, und unter den Augen hingen dicke Tränensäcke. Er muß etwas für seine Leber tun, dachte Berwaldt. Sein Hausarzt sollte ihm alles verbieten … Alkohol, Rauchen und Frauen! In die Berge sollte er einmal fahren und in einem Diätheim zwei Monate nichts anderes tun als sich auszuruhen und an nichts zu denken.
Es schien Dr. Berwaldt, als sei Cravelli irgendwie verstört und halte nur mit Mühe seine Fröhlichkeit aufrecht. Am Steuer der ›Königin der Meere‹ stand auch nicht James Patrickson, sondern ein schlanker, junger Italiener in einer weißen Uniform.
»Allein? Ohne Mr. Patrickson?« fragte Berwaldt, als die Jacht durch den Canale Grande glitt und Cravelli einen Martini mit Gin mixte. Cravelli zuckte leicht zusammen.
»Signore Patrickson ist heute morgen für ein paar Tage zur Zentrale geflogen. Er hat Dacore mitgenommen. Dem Teufelskerl Dacore ist es gelungen, eine Probe Ihres verfluchten Gases aus dem Glasbehälter abzuziehen und umzufüllen. Mit diesem Muster sind sie los, um der Konzernversammlung einen Schrecken einzujagen.«
Berwaldt stellte sein Glas abrupt auf den festgeschraubten, weißlackierten Tisch. »Ich weiß nicht, was Sie an der für uns völlig nutzlosen Nebenwirkung finden, Cravelli!« sagte er laut. »Ich habe ein Präparat zur Vernichtung von Krebszellen entwickelt, kein menschentötendes Gas! Das hat sich durch Zufall ergeben!«
»Aber es ist nun einmal da, und wir müssen mit ihm rechnen! Natürlich ist das zytostatische Mittel vorrangig! Haben Sie die Formeln angefordert?«
»Ja. Der Brief ist schon unterwegs. Wenn alles normal geht, können die Formeln in vier Tagen eintreffen.«
»Postlagernd Venedig I!«
»Wie Sie wünschen! Obwohl ich nicht einsehe …«
»Das werden Sie sofort, Signore Dottore.« Cravelli ließ sich in einen Sessel neben Berwaldt fallen. Die große innere Erregung schien sich bei ihm zu verflüchtigen. »Es ist klar, daß wir Ihr Labor und die Konkurrenz überwachen lassen –«
»So klar ist das gar nicht!« rief Berwaldt. Er wollte aufspringen, aber Cravelli hielt ihn am Ärmel fest.
»Sie wissen nicht, was Ihr unscheinbarer Artikel in der Fachzeitschrift für einen Wirbel ausgelöst hat! Es hatte ein heimliches Wettrennen begonnen … zum Glück für uns und für Sie waren wir die ersten! Wir sind unterrichtet, daß mindestens drei Interessengruppen nach Ihrem derzeitigen Aufenthaltsort fahnden. Man hat Ihre Sekretärin unter fingiertem Namen angerufen, um es zu erfahren. Aber sie hält dicht. Ein gutes Mädchen.«
»Auf Fräulein Wagner kann ich mich verlassen.«
»Unsere Branche gilt als seriös.« Cravelli lächelte versonnen. »Aber der Kampf im Hintergrund ist der schonungsloseste, den es gibt. Wissen Sie, daß ich hier nur als Grundstücksmakler bekannt bin?«
»Was?« Dr. Berwaldt starrte Cravelli ungläubig an.
»Eine Tarnung, lieber Dottore! Als Grundstücksmakler kann ich überall hinkommen, muß Reisen unternehmen, habe einen großen Interessentenverkehr. Es fällt nie auf, wenn viele Besucher kommen … und selbst die Neugier der Nachbarn erlahmt, weil eben nichts passiert als ein ewiger Besucherstrom im Palazzo Barbarino.«
»Mir kommt das alles merkwürdig vor, Signore Cravelli …«
Berwaldt starrte auf den Lido von Venedig, an dessen Badestrand sie langsam vorbeiglitten. Ein Meer von bunten Sonnenschirmen glänzte in der Sonne, ein Gewimmel von Körpern schob sich durch den Sand und in das tintenblaue Wasser. Ein Heer nackter, schreiender Ameisen.
»Für 25 Millionen Dollar darf Ihnen schon manches unerklärlich vorkommen, Dottore!« lachte Cravelli. »Ich kann Ihnen mit Freude sagen, daß ich Ihnen heute abend den Vertragsentwurf vorlegen kann. Eine Rohfassung nur, über die wir sprechen müssen …«
Die ›Königin der Meere‹ machte einen weiten Bogen und kehrte nach Venedig zurück.
Im ›Excelsior‹ holte Dr. Berwaldt einen kleinen Koffer ab. Er enthielt einige Metallkästen mit Objektträgern, auf denen in einzelnen Phasen der Zellverfall einer carcinogenen Zelle festgehalten war. Krebszellen von Mäusen, Ratten, Meerschweinchen, Affen … und Menschen. An Krebs gestorbenen Menschen, deren Tod posthum von Dr. Berwaldt besiegt worden war. Cravelli hatte um dieses Material gebeten, weil es dem Vertrage beigelegt werden sollte.
Es war das letztemal, daß man Dr. Berwaldt in Venedig sah.
Von dieser Stunde an verschwand er in den schweigenden Kanälen.
Ilse Wagner stand allein in der Bahnhofshalle, mit hundert Mark in der Tasche. Ein hilfloses Mädchen in einer zauberhaften Stadt.
Daß sie mit dem Sänger Rudolf Cramer zusammentraf, war einer jener Zufälle, die zum Schicksal wurden. Aber davon ahnte damals noch niemand etwas –
In der palmengeschmückten, riesigen Halle des Hotels ›Excelsior‹ stürzten drei livrierte Pagen auf Ilse Wagner und Rudolf Cramer und nahmen ihnen die Koffer und Taschen ab.
Während Cramer an der Rezeption mit dem Geschäftsführer verhandelte und ein Zimmer mit dem Blick auf den Canale Grande bestellte, sah sich Ilse zaghaft um. Der plötzliche Eintritt in das Vorzimmer der ›Großen Welt‹ verwirrte sie. Die Sesselgruppen, mit Damast bezogen, die geschliffenen Marmorböden und die Marmorsäulen, die traumhaft schönen Abendkleider der Damen und der Blick in die im Hintergrund der Halle liegende Bar mit goldgerahmten alten venezianischen Spiegeln und glitzernden Muranoglas-Kronleuchtern, dieser Reichtum auf engstem Raum, das Feuer großkarätiger Brillanten an weißen Hälsen und schlanken Fingern und Handgelenken, war eine Wirklichkeit, die wie ein bunter Film vor ihren Augen vorbeilief. Als Cramer sie an den Arm faßte, zuckte sie zusammen, als habe sie offenen Auges geträumt … aber das Bild blieb, die Musik, der Glanz, das greifbare Märchen.
»Kommen Sie. Ich habe für Sie noch ein schönes Zimmer ergaunert. In der Saison!«
Ilse Wagner blieb stehen, als Cramer sie zum Lift ziehen wollte. »Bitte, gehen wir in ein anderes Hotel«, sagte sie leise. »Hier gehöre ich nicht hin. Hier falle ich auf –«
»Das mag sein!« Cramer gab einem Boy einen Wink. Die Koffer wurden weggetragen. »Sie werden auffallen, weil Sie die Schönste sind –«
»Jetzt reden Sie wieder Dummheiten!«
»Sehen Sie sich doch genau um, bitte.« Rudolf Cramer machte eine weite Handbewegung. »Was Sie hier bewundern, sind auch nur Menschen. Weiter nichts. Sie lagen wie Sie in nassen Windeln und werden wie Sie in einem engen Holzkasten liegen, zwei Meter Erde über sich. Was dazwischen liegt, das sogenannte ›Leben‹, sollte Sie nicht faszinieren! Diese Menschen hier haben das große Glück, ihren Neigungen leben zu können. Teils aus eigener Kraft, teils, weil sie reiche Väter oder Mütter hatten. Dieser ganze Zauber ist mit einer Hand zu greifen … ein Abendkleid, ein bißchen Schminke und Puder, ein selbstbewußtes Lächeln auf den rotgeschminkten Lippen, ein hoheitsvoller Gang, eine zur Schau getragene Unnahbarkeit, die anreizend wirkt … und auch Sie, Ilse Wagner aus Berlin-Dahlem, werden von diesen Weltenbummlern nicht zu unterscheiden sein.«
Ilse Wagner lächelte schwach. »Das alte Spiel von ›My fair Lady‹, dem Aschenputtel im goldenen Kleid.«
»Sie werden in einer Stunde anders sprechen. Sie kennen noch nicht die Zauberformel Venedigs: Alles in meinen Mauern ist Glück! Von Ihrem Zimmer aus werden Sie es sehen – Sie haben Nr. 81.«
Mit einem leise surrenden Lift fuhren sie nach oben. Ein Boy riß die Tür auf und begleitete sie bis zur Zimmertür. Cramer schloß auf und ließ Ilse Wagner zuerst eintreten. Es war ein großes, mit weißen, goldverzierten Möbeln eingerichtetes Zimmer. Über dem Bett schwebte ein Baldachin aus Tüll und Seide. Eine große Flügeltür führte auf einen Balkon.
»Sehen Sie erst, ehe Sie sprechen …«, sagte Cramer leise in ihr Ohr. Sie nickte, preßte die Hände auf das Herz und trat langsam hinaus auf den Balkon.
Breit und im Widerschein tausender Lichter schimmernd lag der Canale di San Marco vor ihr. Rechts mündete der Canale Grande, und dort, wo die beiden großen Wasserstraßen verschmolzen, auf der Punta della Salute, glitzerten schwach die Kuppeltürme von Santa Maria della Salute, der Märchenkirche von Venedig. Weit in der Ferne, eingehüllt in einen Lichtnebel, lag die Laguna viva mit dem berühmten Lido und dem Litorale di Malamocco. Die Inselkirche San Clemente hob sich schwarz gegen den fahlen Himmel ab. Nur wenige wußten, daß sich hinter ihren prächtigen Mauern das Grauen verbarg … die Irrenanstalt des Paradieses Venedig.
»Herrlich …«, flüsterte Ilse Wagner und lehnte sich gegen das schmiedeeiserne Gitter des Balkons. »Wunderschön … Es ist ein Märchen … Man möchte träumen und nie mehr erwachen –« Da sie keine Antwort erhielt, drehte sie sich um.
Sie war allein. Unbemerkt war Rudolf Cramer gegangen.
Nach dem Auspacken badete sie. In dem großen Spiegel, der fast die ganze Wand des Badezimmers einnahm, sah ihr ein schmales, müdes, bleiches Gesicht entgegen. Es erinnerte sie daran, warum sie in Venedig war und durch welchen rätselhaften Anlaß sie zu einer Prinzessin im Himmelbett geworden war.
Sie zog sich hastig an und stand dann ebenso verlassen wie auf dem Bahnhof in dem weiten Prunkzimmer. Die alte Frage tauchte wieder auf und überdeckte allen Zauber der venezianischen Nacht. Wie sollte es weitergehen? Wo war Dr. Berwaldt?
Eine Frage, auf die es für Ilse Wagner im Augenblick keine Antwort gab, nicht einmal eine Ahnung, wie es sein könnte. Vielleicht klärte sich am nächsten Morgen alles auf, und man würde herzlich lachen können über all die Sorgen, die auf einen eingestürmt waren und die zerplatzten wie eine Seifenblase.
Ilse Wagner zwang sich, daran zu glauben, daß sich morgen alle Irrtümer erklären ließen. Mit dieser Beruhigung kam ein bohrendes Gefühl in ihren Magen zurück.
Mein Gott, dachte sie. Ich habe Hunger. Ich habe seit fast 10 Stunden nichts mehr gegessen. Ich habe einen Hunger, daß ich dem ersten Kellner die Platte aus den Händen reißen könnte …
Sie lief wieder ins Badezimmer und kämmte sich. Dadurch überhörte sie das Klopfen an der Tür. Erst, als es stärker klopfte, kam sie verwundert ins Zimmer zurück und rief: »Ja, bitte –«
Ein Boy trat ein und verbeugte sich tief.
Über dem Arm trug er ein Abendkleid. Ein Zimmermädchen folgte ihm und knickste. Ihr rundes, von schwarzen Locken umkräuseltes Puppengesichtchen leuchtete.
»Bon soir, Mademoiselle …«, sagte sie. »Isch soll behilflich sein –«
Sie nahm das Kleid vom Arm des Boys und trug es wie einen wertvollen Schatz auf das Bett. Ein weißes Duchessekleid mit goldenen Stickereien.
»Das ist ein Irrtum.« Ilse Wagner sah mit großen Kinderaugen auf das Abendkleid. »Es gehört mir nicht. Sie müssen sich in der Zimmernummer geirrt haben.«
»O non, Mademoiselle.« Das Zimmermädchen schob den Boy aus dem Zimmer und schloß die Tür. »Isch bin Françoise. Aus Cannes, Mademoiselle. Monsieur Cramer hat misch beauftragt, alles für Sie zu tun …«
»Aber das Kleid –«
»Ist bestellt für Mademoiselle.«
»Von wem!«
»Monsieur Cramer –« Franchise lächelte Ilse sonnig an. »Er erwartet Sie in halber Stunde unten in der Bar … Wir müssen uns beeilen, Mademoiselle –«
In seinem Zimmer im 2. Stockwerk des ›Excelsior‹ stand Cramer dem 2. Geschäftsführer des Hotels gegenüber. Der kleine, schlanke, schwarzlockige Italiener trug einen Cut und Lackschuhe, er sah feierlich aus und stand leicht nach vorne geneigt da, als wolle er jeden Augenblick einen neuen Diener machen.
»Signore bestanden darauf, daß ich selbst komme? Eine besondere Beschwerde? Es täte uns leid, wenn Signore –«
»Ich suche einen Mann!« sagte Cramer langsam.
»Wie bitte?« Die flinken Augen des Geschäftsführers erstarrten. Dann musterten sie Cramer. Nein, betrunken ist er nicht, dachte er. Wir haben Signore Cramer noch nie betrunken gesehen, und immerhin kommt er seit 11 Jahren jedes Jahr mindestens einmal in das ›Excelsior‹. Ein treuer, stiller Gast, ohne absurde Wünsche wie die meisten unserer Gäste. Noch nie hat er in den 11 Jahren eine Beschwerde gehabt. O Madonna, was hat er bloß heute?
»Einen Mann vermisse ich –«
»Das ist sehr interessant, Signore.« Der Italiener klapperte mit den Lidern. »Was soll ich dabei tun?«
»Der Mann heißt Berwaldt und kommt aus Berlin-Dahlem.«
»Dottore Berwaldt?« Der Geschäftsführer atmete hörbar auf. »Er wohnt doch bei uns!«
»Das habe ich geahnt!« Cramer trat auf den kleinen Italiener zu und zog ihm, ohne zu fragen, das dicke Gästebuch, das er unter den Arm geklemmt hatte, weg.
»Signore – das ist ein Hotelgeheimnis!« rief der Geschäftsführer. Er wollte das Buch aus Cramers Händen reißen, aber Cramer trat ein paar Schritte zurück und wich ihm aus.
»Wenn ein Mann plötzlich verschwindet, ist das nicht mehr ein Hotelgeheimnis!«
»Bei uns verschwindet kein Mann!« rief der Italiener beleidigt. »Signore Dottore ist verreist, für ein paar Tage. Er hat die Miete im voraus bezahlt und will wiederkommen. Solange reservieren wir sein Appartement! Was ist da merkwürdig?«
»Alles, mein Lieber. Ich erkläre es Ihnen gleich.« Cramer blätterte in dem Gästebuch weit zurück. Endlich fand er die Eintragung. »Hier steht es: Dr. P. Berwaldt. Berlin-Dahlem. Zimmer 8-10.«
»Es wurde telegraphisch vorbestellt.«
»Und für Ilse Wagner wurde kein Zimmer bestellt?«
»Aber nein! Sie haben doch selbst die Signorina gebracht und nur, weil wir Sie so gut kennen –«
»Sehen Sie, und hier wird's merkwürdig! Dr. Berwaldt hat nämlich Fräulein Wagner nach Venedig kommen lassen. Sie ist seine Sekretärin. Glauben Sie, daß man jemanden von Berlin nach Venedig kommen läßt, ohne ein Zimmer reservieren zu lassen?«
»Kaum, Signore.«
»Aber hier ist es der Fall.«
»Gelehrte sind oft vergeßlich …«
»Lieber Direktor … man kann einen Schirm vergessen, aber keinen Menschen! Ein Mädchen, das man mit wichtigen Dokumenten erwartet! Hier ist etwas faul!«
»Es wird sich alles aufklären, Signore.« Der Geschäftsführer streckte die Hand aus. »Kann ich unser Gästebuch wiederhaben?«
»Bitte.« Cramer reichte ihm das Buch hin. Der Italiener schob es schnell unter den Arm und klemmte es so sichtbar fest, als wolle er es ein zweites Mal mit seinem Leben verteidigen.
»Brauchen Sie mich noch?«
»Nein. Und schweigen Sie bitte über unsere Unterredung.«
Der Geschäftsführer zog ein beleidigtes Gesicht. »Ich werde doch alles vermeiden, den Ruf unseres Hauses zu stören.«
»Hoffentlich läßt es sich auch weiterhin vermeiden.« Cramer trat an das Fenster und sah hinaus auf einen der stillen, schmutzigen Seitenkanäle.
Die Tür hinter ihm schloß sich leise. Er war allein. Sinnend lehnte er die Stirn gegen die Scheibe. Der Abend, die wenigen Stunden, seit denen er Ilse Wagner kannte, zogen noch einmal an ihm vorüber. Und je mehr er darüber nachdachte, um so größer wurde eine logische Lücke: Wenn Dr. Berwaldt seine Sekretärin nach Venedig rief, war es einfach undenkbar, daß er ohne weitere Nachricht für ein paar Tage Venedig verließ! Er würde nie ein Mädchen in einer unbekannten Stadt lassen … ohne Schutz, ohne Zimmer, ohne Geld, ohne Anweisungen. Hier stimmte etwas nicht. Ein Ereignis mußte eingetreten sein, das alle Pläne Dr. Berwaldts zunichte gemacht hatte. Ein Ereignis, das es ihm sogar unmöglich machte, Nachricht zu geben!
Je länger Cramer darüber nachdachte, um so stärker wuchs in ihm ein Gedanke. Es war ein häßlicher Verdacht, aber er paßte plötzlich in das verworrene Bild und gab ihm eine Gestalt.
Hatte man Ilse Wagner nach Venedig gelockt, um sie in ein noch unbekanntes Verbrechen zu verwickeln? Wie lange kannte sie überhaupt diesen Dr. Berwaldt? Wie war sie zu der Anstellung als Privatsekretärin gekommen? Woher nahm Berwaldt die bestimmt hohen Summen für seine Forschungen, für die Unterhaltung des Labors, für die Gehälter seiner Angestellten? Als Arzt war er nicht mehr tätig … verbarg sich hinter dem Antlitz eines stillen Wissenschaftlers die Finanzmacht einer Interessengruppe? Wer waren diese Hintermänner?
Fragen über Fragen, die Cramer plötzlich bestürmten.
Mit einem Ruck drehte er sich vom Fenster weg, ergriff das Telefon und ließ sich mit Zimmer 81 verbinden.
Eine Zeitlang mußte er warten, bis sich jemand im Zimmer 81 meldete. Es war Françoise, die kleine Zofe, die gerade einige Abnäher an dem Abendkleid angebracht hatte.
»Bittä?!« fragte sie.
»Ist Fräulein Wagner im Zimmer?«
»Ja –«
»Ich möchte sie gerne sprechen …«
»Augenblick, Monsieur –«
Dann sprach Ilse Wagner. Aber weiter als »Mit dem Abendkleid haben Sie –« kam sie nicht. Cramer schnitt ihr das Wort ab.
»Nur eine kurze Frage: Wie lange sind Sie bei Dr. Berwaldt?«
»Seit fast drei Jahren.«
»Nicht länger?!« Cramer wölbte die Unterlippe vor. »Wie kamen Sie zu ihm?«
»Ist etwas mit Dr. Berwaldt?« fragte Ilse ängstlich.
»Nein, nein … bitte antworten Sie.«
»Mein früherer Chef empfahl mich ihm. Er verlegte seinen Chemiebetrieb nach Südamerika, weil ihm in Deutschland die hohen Steuern ein produktives Weiterarbeiten nicht gestatteten. So kam ich zu Dr. Berwaldt.«
Cramer schüttelte den Kopf. Diese Antwort paßte nicht in das Bild, das sich bei ihm zu vollenden begann. Er wurde wieder unsicherer. »War Dr. Berwaldt viel auf Reisen?«
»Kaum! In den drei Jahren, die ich ihn kenne, fast nie!«
»Woher hatte er das Geld, sich ein Privatlabor zu leisten?«
»Er ist sehr vermögend. Von seiner Mutter Seite her. Und außerdem stellt das Labor die erforderlichen Fachgutachten aus, Medikamentenprüfungen, Analysen für die Industrie. Dr. Berwaldt verdient sehr gut daran.«
Wieder schüttelte Cramer fast verzweifelt den Kopf. Das alles paßt nicht zu meinen Vermutungen, dachte er. Es muß ein falscher Weg sein, den ich einschlagen wollte. Alles ist so natürlich, so offen, so einleuchtend bei diesem Dr. Berwaldt! Und plötzlich ist es anders, und er vergißt seine bestellte Sekretärin!
»Ist … ist etwas mit Dr. Berwaldt?« fragte Ilse Wagner wieder. Ihre Stimme zitterte deutlich.
»Nein, nein, gar nichts …« Cramer steckte sich nervös eine Zigarette an. »Ich dachte nur, durch diese Fragen Anhaltspunkte für das unlogische Verhalten Ihres Chefs zu finden. Es war ein Holzweg, ich erkenne es jetzt. Schade. Wir sind der Rätsellösung weiter als zuvor entfernt. Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Wir sehen uns gleich in der Halle, nicht wahr? Auf Wiedersehen bis gleich –«
Er legte auf und wanderte unruhig im Zimmer hin und her.
Als ich sie auf dem Bahnsteig ansprach, hätte es ein Abenteuer werden können, dachte er. Wer konnte wissen, daß es plötzlich so tiefernst und vielleicht sogar tragisch werden konnte? Schon einmal war Venedig zu seinem Schicksal geworden … vor zehn Jahren … und niemand, außer einem in der Märchenstadt, wußte, warum er jedes Jahr nach Venedig kam und durch die schweigenden Kanäle fuhr, weitab des Touristentrubels auf den bunten Postkartenstraßen der Lagunenstadt. Er sprach mit niemanden darüber … nur die Erinnerung wurde immer so stark, als seien keine Jahre verstrichen, sondern alles geschehe heute, wenn er mit einer gemieteten Gondel vor einem alten Palazzo hielt und die reich verzierte Fassade hinaufschaute.
Sollte Venedig zum zweitenmal zu seinem Schicksal werden? Und wiederum mit einem Mädchen?
Rudolf Cramer blieb stehen und starrte auf den dunklen Kanal vor seinem Fenster. Zimmer 8-10 bewohnte Dr. Berwaldt, dachte er. In seinem Appartement könnte man einen Weg finden. Es war nicht anzunehmen, daß Berwaldt alles auf seiner merkwürdigen Reise mitgenommen hatte. Wenn dies doch der Fall war, schien alles klar zu sein.
Nach einem kurzen Zögern fuhr Cramer mit dem Lift hinunter zum ersten Stockwerk, der bel etage, in der die teuersten Zimmer und Appartements lagen, die Fürstenräume und die großen Marmorbäder. Die Flure waren mit dicken, roten, handgeknüpften Teppichen bedeckt, die jeden Schritt wie Watte aufsaugten. Die Lautlosigkeit auf dieser Etage war vollkommen.
Vor Zimmer 8-10 blieb Cramer stehen und sah sich um. Dann klopfte er vorsichtshalber, obwohl er wußte, daß niemand in den Zimmern war. Nach einem kurzen Blick nach beiden Seiten des leeren Ganges drückte er die Klinke herunter und wunderte sich nicht, daß sie nachgab. Auch die zweite Innentür war unverschlossen. Schnell schlüpfte Cramer in das dunkle Appartement, schloß hinter sich die Türen und drehte dann das Licht an.
Der unvorstellbare Luxus der Einrichtung, der der eines Renaissancefürsten sein konnte, interessierte ihn nicht. Was er wahrnahm, war der leichte Geruch von kaltem Tabakqualm, Juchtenparfüm und einer Art Karbol. Die dicken Samtportieren waren vor die hohen Fenstertüren zum Balkon gezogen. Das Bett war aufgedeckt, der Schlafanzug Dr. Berwaldts in neckischer Art auf die Bettdecke drapiert … es war alles so, als müsse jeden Augenblick der Arzt ins Zimmer kommen und sich zum Schlafen umziehen.
Mit schnellen Griffen öffnete Cramer die Schranktüren. Die Anzüge hingen korrekt auf den Bügeln, die Leibwäsche war sauber gestapelt in den Fächern, Schuhe, Strümpfe, Taschentücher und Hemden, sogar das Rasierzeug war im angrenzenden Bad. Es deutete nichts darauf hin, daß der Bewohner dieses Luxusappartements verreist war.
Im Aschenbecher des Salons lagen einige halb gerauchte amerikanische Zigaretten, ein noch nicht ausgepackter, mit Lederriemen besonders verschnürter Koffer stand zwischen Schreibtisch und Wand, der Papierkorb neben dem Tisch war mit Kuverts und zerknüllten Schriftstücken halb gefüllt.
Auch das ist rätselhaft, fand Cramer und setzte sich in den Schreibtischsessel. Jeden Tag werden die Zimmer zweimal von den Zimmermädchen gesäubert, die Aschenbecher und Papierkörbe geleert … schon der gefaltete Schlafanzug auf dem aufgeschlagenen Bett bewies, daß vor Beginn der Nachtschicht im Hotel das Zimmer betreten worden war … Und trotzdem lagen jetzt Zigarettenreste in den Aschenbechern und war der Papierkorb halb voll.
Es mußte jemand nach dem Zimmermädchen in dem Appartement gewesen sein! War es Dr. Berwaldt selbst? Und wenn er es war, warum hatte er seine Sekretärin nicht – wie versprochen – am Bahnhof abgeholt? Wo war er jetzt? Für die Hotelleitung war er verreist … man hätte ihn bemerkt, wenn er das Hotel betreten hätte! Und wenn der Schlafanzug schon drei oder mehr Tage so gefaltet auf dem Bett lag, so waren doch die Zigarettenreste neu und der gefüllte Papierkorb.
Cramer hob den Papierkorb auf den Schreibtisch und leerte ihn aus. Blatt für Blatt sah er durch, Kuvert nach Kuvert … es waren Notizen, meistens lange Zahlenreihen, von denen er nichts verstand, Formelgleichungen, chemische Berichte … warum man sie zerknüllt und weggeworfen hatte, konnte er sich nicht erklären. Vielleicht waren es falsche Berechnungen. Auch die Kuverts waren alte Umschläge, meistens an die Berliner Adresse adressiert.
Kurz vor dem Ende des Papierberges hob Cramer ein Kuvert hoch, das vorne eine italienische Briefmarke trug. Als er es umdrehte, stutzte er, fuhr aus dem Sessel hoch und beugte sich zu der Schreibtischlampe vor, um besser lesen zu können.
»Sieh an!« sagte er leise. Das Kuvert in seiner Hand begann zu zittern. Er setzte sich wieder und starrte auf den Absender. »Was hat das zu bedeuten –«
Der Absender auf dem Umschlag lautete: Sergio Cravelli. Canale Santa Anna. Palazzo Barbarino. Venezia.
Cravelli, dachte Cramer und schloß die Augen. Was hat Cravelli mit Dr. Berwaldt zu tun? Wie kommt es zu dieser absurden Verbindung?
Er stopfte die Papiere zurück in den Korb, zögerte, warf dann auch das Kuvert dazu und verließ mit größter Vorsicht die Zimmer 8-10. Bevor er auf den Gang trat, wartete er im Dunkeln, beobachtete durch einen Spalt der geöffneten Tür den Gang und schlüpfte dann hinaus.
So wie ich hat vor mir auch jemand diese Zimmer verlassen, dachte er. War es Sergio Cravelli? Und warum?
Er fuhr mit dem Lift hinunter in die Halle, rannte durch den Palmengarten und rief schon von weitem nach einer Gondel.
An dem verwirrten Portier vorbei wirbelte er durch die Drehtür und sprang in den ersten Kahn, der vor ihm auf dem Canale Grande schaukelte.
Im Palazzo Barbarino am Canale Santa Anna gingen hinter den verhangenen breiten Fenstern die letzten Lichter aus. Die Dienerschaft tauchte in dem Gewirr der Flure und Gänge irgendwo in der Tiefe des Palastes unter, wo vermutlich die Schlafräume des Personals lagen.
Sergio Cravelli wartete in der Halle. Der Butler war der letzte, der sich verabschiedete. Seine Schritte hallten eine Zeitlang wider, bis sie in der Ferne des Labyrinths verklangen.
Trotzdem wartete Cravelli noch ein paar Minuten, bis er zurück in seine Bibliothek ging. Der große Raum wurde von zwei Stehlampen, deren seidene Schirme das Licht gedämpft ausstrahlten, nur schwach erleuchtet.
Vor dem Schreibtisch, neben dem alten Globus, saß in einem geschnitzten Sessel Dr. Berwaldt.
Aber er saß nicht wie ein Gast dort. Seine Beine und Arme waren fest an den Körper gefesselt; ein Knebel hinderte ihn, zu sprechen. Mit großen Augen starrte er Cravelli an, als dieser in die Bibliothek trat, hinter sich abschloß und um den Schreibtisch herum zu seinem Sessel ging. Im Vorbeigehen riß er den Knebel aus Berwaldts Mund und lächelte ihm nickend zu.
»Die Dienerschaft schläft. Wir brauchen nicht mehr stumm zu sein. Wenn Sie das Bedürfnis haben, zu schreien … bitte! Es hört Sie niemand. Aber es befreit von dem inneren Druck –«
Dr. Berwaldt schwieg. Er sah, wie Cravelli einen kleinen Medizinkasten aufklappte, eine Injektionsspritze herausnahm, eine Ampulle, die Nadel fachmännisch auf die Spritze setzte und alles auf eine Lage steriler Watte legte.
»Was soll das?« fragte Dr. Berwaldt heiser.
Cravelli beugte sich etwas vor. »Es ist eine bedauerliche Tatsache, Signore Dottore, daß wir nicht mehr miteinander reden können –«
»Das hätten Sie vorher wissen müssen!«
»Wer denkt daran, daß ein Mensch, dem man 25 Millionen Dollar bietet, so verrückt ist, Ideale zu haben? Ethik ist ein Zauberwort für Arme, die an ihm herumlutschen und davon satt werden … von einer bestimmten Summe Geld ab wird es das dümmste Wort im menschlichen Sprachschatz.«
Mit einer kleinen Stahlfeile sägte Cravelli die Spitze der Ampulle ab und zog die wasserhelle Flüssigkeit in den Glaskolben der Spritze. Dann drückte er die Luft aus der Nadel und legte die injektionsbereite Spritze wieder auf die Watte zurück.
»Sie hätten sich alle Unannehmlichkeiten ersparen können, Dottore! Ich habe Ihnen Vorschläge gemacht, wie sie nicht besser sein können! Die Formel Ihres Präparates ist das Gold der ganzen Welt wert! Leider haben wir es nicht … aber mit Ihrer Formel werden wir es bekommen!«
»Sie sind ein Satan, Cravelli! Ich möchte mit Patrickson sprechen …«
»Der gute Patrickson.« Cravelli sah auf seine gefüllte Spritze. »Ob der wohl in den Himmel gekommen ist?«
Über Berwaldt kroch es eiskalt. Er senkte den Kopf und spürte, wie er wie im Schüttelfrost zitterte.
»Und … und Dacore …«
»Er wird als Chemiker leicht feststellen, daß die Milchstraße nicht aus Milch besteht –«
»Sie Mörder!« schrie Dr. Berwaldt und bäumte sich auf. Cravelli lächelte nachsichtig.
»Die Stricke sind bestes Nylon, Dottore. Sie halten um so besser, je mehr sie daran zerren. Und die Bezeichnung Mörder ist etwas unglücklich. James Patrickson war ein Gauner größten Stils. Er träumte – wie übrigens auch ich – von der Weltherrschaft mit Hilfe Ihres Präparates. Aber die Welt kann nur einer beherrschen. Zwei sind schon zu viel, weil sie doppelt denken. Also mußte Patrickson aufgeben. Ich rechne es mir als eine große Tat an, ihn dazu gebracht zu haben.« Cravelli legte seine Hände wie schützend über die Spritze. »Und Dacore? Der gute Dacore? Daß er aus Tanger kam, war natürlich gelogen! Ein kleiner Trick. Er ist der dritte Mann gewesen, der Wissenschaftler von uns Weltregierern. Leider wollte er nach Patricksons Aufgabe an dessen Stelle treten. Sie geben zu, daß dies ein unmögliches Verlangen war …«
»Sie Miststück!« sagte Berwaldt aus tiefster Seele.
»Das Leben ist hart, Dottore. Siebzig oder achtzig Jahre schenkt uns die Natur, und man muß diese kurze Zeit ausnützen. Die meisten Jahre habe ich herum … Sie haben die Mitte überschritten … wir sollten uns wirklich fragen, ob es nicht für den Rest unseres Lebens gut sei, wenn wir zwei, Sie, der Erfinder, und ich, der Stratege, die Welt für uns privat aus den Angeln heben und sie regieren! Welche Möglichkeiten!«
»Meine Entdeckung sollte dem Frieden dienen! Sie wollen die Menschheit damit knechten!«
Sergio Cravelli schüttelte wie betrübt den Kopf.
»Sie begreifen es nie, Dottore. Die beste Friedenstaube ist die ohnmächtige Angst. Die Welt ist schlecht … Ihr Krebspräparat hätte sie nicht besser gemacht. Nur voller, ein Gedanke, der absurd ist, weil unser Lebensraum begrenzt ist. Sie besiegen den Krebs … aber in 100 Jahren fressen sich die Menschen gegenseitig auf! Dies zu verhindern, bin ich hier! Das ist ein großes Wort, das lächerlich wirkt, wenn man nichts in der Hand hat. Aber ich habe Sie, ich habe Ihr Präparat, ich habe es in meiner Hand, ganze Völker auszurotten!« Cravelli fuhr sich mit der Zungenspitze über die trocken werdenden Lippen. »Bedenken Sie doch: an allen Enden brennt unser Globus. Wo Sie hinblicken: Revolutionen, Kriege, Aufstände, Streiks, Morde, Attentate, größenwahnsinnige Nationalisten … das ist unsere Menschheit, die sich Gott zum Ebenbild schuf! Die Furcht vor der Atombombe läßt nach … man konstruiert Abwehrraketen, man kriecht unter die Erde … man hofft zu überleben. Und wer hofft, kennt nur noch die Hälfte der Furcht. Wie herrlich ist da Ihr Mittel! Mit 10 Gramm die Vernichtung von 20 Millionen! Alle Lebewesen, alle Pflanzen … hier gibt es keine Rettung mehr! Dottore – wir haben die Welt in der Hand!«
»Bitte stopfen Sie mir die Ohren zu, damit ich Sie nicht mehr höre …«, schrie Dr. Berwaldt.
»Sie sind sehr unklug, Signore. Sie halten eine Weltmacht in den Händen und träumen von Carcinomkranken. Das sind doch idiotische Träume! Jeder Staat würde Ihnen für Ihr Präparat Milliarden bieten … nicht, um die Krankenhäuser zu leeren, sondern um mit dem Schrecken zu regieren.«
»Ich habe nie, nie –«
Cravelli nickte und wischte die Worte von Berwaldts Mund.
»Ich weiß, Sie haben nie daran gedacht. Aber ihre schöne Theorie vom Kampf gegen den Tod ist doch Idiotie. Kampf für den Tod … das versteht die Menschheit! Aber Sie wollen nicht verstehen.«
»Nein!«
»Sie wissen, was Ihr Nein bedeutet?«
Dr. Berwaldt schwieg. In seinen Augen lag Trotz, aber im Untergrund schwelte die Angst. Seit Cravelli ihn in der Kabine der ›Königin der Meere‹ niederschlug und in den Palazzo trug, fesselte und in der Bibliothek verbarg, hatte er immer nur einen Gedanken gehabt: Es ist alles sinnlos, was man redet und tut. Niemand kann mir helfen. Niemand! Denn niemand weiß ja, wo ich bin …
Cravelli hob vorsichtig die Spritze von der Watte. Er zeigte sie Berwaldt und tippte mit dem Zeigefinger der linken Hand gegen den Glaskolben.
»Wissen Sie, was das ist?«
»Nein.«
»Curare –«
»Was … was soll das …«, sagte Berwaldt tonlos.
»Es sind drei ccm. Reines Curare. Bereits ein Milligramm führt zu tödlichen Lähmungen des gesamten Organismus. Ich erzähle Ihnen da keine Neuigkeiten, Sie wissen das besser als ich. Es ist Ihre letzte Chance, Dottore.«
»Wozu?«
»Mir die Formel zu sagen. Ich bin mir nämlich durchaus nicht sicher, daß der Brief den Sie sich aus Berlin schicken lassen, auch die vollständige Formel enthält. In Ihrem Gepäck – ich erlaubte mir, es durchzusehen – sind auch keinerlei Anhaltspunkte.«
»Ich werde Ihnen die Formeln nie sagen!« schrie Dr. Berwaldt. Es war ein letztes Aufbäumen gegen sein Schicksal. Er wollte nicht kampflos untergehen.
Sergio Cravelli wiegte den Kopf hin und her. Seine Augen waren fast traurig.
»Es tut mir aufrichtig leid, Ihnen diese 3 ccm Curare injizieren zu müssen. Aber bleibt mir etwas anderes übrig? Mit der Formel wären wir unlösbare Kompagnons … so aber sind Sie eine Belastung, Dottore! Sie werden sich doch eingestehen, daß es für mich unmöglich ist, Sie jetzt noch freizulassen! Es gibt also keinen anderen Weg als Alternative! Gut, – Sie haben eine gewählt! Ich muß Ihnen das Curare geben –«
Dr. Berwaldt nickte. Plötzlich war es kalt und leer in ihm. Die Todesangst fiel von ihm ab.
»Ich möchte fast sagen: Bitte, tun Sie es schnell! Ich habe ein Präparat entdeckt, das nicht entdeckt werden durfte. Ich sehe es jetzt ein. Obwohl es Tausenden helfen wird, kann es Millionen töten. Das ist kein Risikoverhältnis, das ist produzierter Mord! Es ist fast eine Erlösung, wenn Sie mich töten …«
Cravelli erhob sich langsam. Er legte die Spritze in die linke Hand und kam um den Schreibtisch herum auf Berwaldt zu.
»Sie sind wirklich ein Narr!« sagte er hart. »Ein Idealist wie Sie darf gar nicht leben!« Er blieb vor Berwaldt stehen und sah ihn ernst an. »Sie werden sich nicht wehren?«
»Nein! Wozu? Nützte es etwas?«
»Wie schade um solch einen Logiker!« Cravelli beugte sich zu Berwaldt und schob dessen Rockärmel hoch. Er öffnete die Manschette des Hemdes, krempelte sie hoch und legte die Finger auf die Vene.
»Intravenös?« fragte Berwaldt. »Wozu das?«
»Es geht schneller …« Cravelli zögerte einen Moment, dann stieß er fachmännisch die Hohlnadel in die Vene und drückte die farblose Flüssigkeit in die Blutbahn.
Bereits als er die Spritze mit schnellem Ruck wieder herauszog, atmete Dr. Peter Berwaldt nur noch schwach und leise röchelnd …
Sergio Cravelli kam über eine enge, gewundene Treppe aus dem Keller und schloß hinter sich eine alte, mit eisernen Beschlägen gesicherte Eichentür ab, als es draußen an der Haustür laut klopfte. Cravelli blieb stehen und steckte hastig den Schlüsselbund in die Hosentasche. Der Palazzo Barbarino hatte, obwohl modern eingerichtet, keine Hausklingel. Wie zur Zeit seiner Entstehung und seines Glanzes zierte die dicke Haustür ein großer bronzener Löwenkopf, in dessen Maul der Klopfring hing. Wenn man mit ihm gegen das Holz schlug, geisterte der Ton hohl und geheimnisvoll durch die weite Eingangshalle und rief den Butler herbei.
Cravelli sah auf seine Armbanduhr. Die Diener hatten Ausgang und kamen vor Morgengrauen nicht aus den Tavernen zurück. Außerdem war es zu spät für einen Besuch.
Cravelli zögerte und wartete in der dunklen Halle an der kleinen, eben verschlossenen Tür unter der Treppe. Wer kann es sein, dachte er. Wer klopft an ein dunkles Haus, dem man von außen ansehen muß, daß alles in ihm schläft?!
Der hohle Klang des Klopfers ließ ihn zusammenschrecken. Herrisch, laut hieb jemand draußen an die Tür. Aber dieses Mal setzte er nicht nach vier Schlägen aus, sondern mit Ausdauer krachte der bronzene Klopfring in dem Löwenmaul gegen die Eichenbohlen.
Langsam ging Cravelli auf die Tür zu. Als das Klopfen einen Augenblick aufhörte, rief er laut: »Wer ist denn da draußen?«
Statt einer Antwort klopfte es weiter. Mit einem Fluch schob Cravelli den schweren Riegel zurück und öffnete die Tür einen Spalt, um hinauszusehen.
Unten, an der großen Marmortreppe, schaukelte eine alte Gondel. Das war das erste, was er sah. Dann schob sich ein Fuß von der Seite in den Türspalt und versuchte, sie aufzudrücken.
In Sergio Cravelli sprang eine wilde Angst hoch. Mit dem ganzen Gewicht seines Körpers stemmte er sich gegen die Tür, trat gegen den klemmenden Schuh und versuchte, die Tür zuzuschlagen. Aber der Unbekannte auf der Treppe war kräftiger. Ein Arm schob sich durch den Spalt, eine Hand drückte den vorstoßenden Kopf Cravellis weg, ein neuer, starker Ruck und die Tür schwang auf und krachte gegen die getäfelte Wand. Wie gelähmt stand Cravelli vor einer unkenntlichen dunklen Gestalt. Sie warf die Tür hinter sich wieder zu, schob den Riegel vor und ging an dem zitternden Cravelli vorbei in die Bibliothek. Er mußte sich gut auskennen in dem Gewirr von Türen, denn ohne Zögern öffnete er die richtige Tür, trat ein und knipste in der Bibliothek das Licht an.
Cravelli stürzte der Gestalt nach. Das plötzliche Licht machte ihm wieder Mut. Die bleierne Angst fiel von ihm ab. In der Tür zur Bibliothek blieb er stehen und starrte den unfreundlichen Besucher an. Er saß in einem der tiefen Sessel und hatte die Hände übereinander gelegt. Fast freundlich nickte er dem Italiener zu.
»Cramer –«, sagte Cravelli dumpf. »Rudolf Cramer –«
»Ich sehe, Sie wundern sich –«
»Zu so später Stunde, Signore! Und so unhöflich. Es ist nicht Ihre Art –«
»Lassen wir das, Cravelli!« Cramer sah Cravelli ernst an. Dieser wich seinem Blick aus und ging zu der eingebauten Bar, klappte die mit einem Spiegel belegte Mixplatte herunter und schob zwei Gläser und eine Flasche Whisky darauf.
»Whisky pur, wie immer?« fragte Cravelli. Seine Stimme war wieder fest und sicher wie immer. Cramer schüttelte den Kopf.
»Sie wissen … wenn ich trinke, gieße ich mir selbst ein!«
»Noch immer mißtrauisch, daß ich Sie vergifte?« lachte Cravelli. Er goß sich ein und machte eine zur Bar einladende Handbewegung. »Bitte, bedienen Sie sich, Signore. Sie sehen, ich trinke aus der gleichen Flasche –«
»Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten.«
»Jederzeit, Signore. Aber nicht mitten in der Nacht. Das ist eine Zeit, die ich ausklammern möchte. Ich bin ein alter Mann, und von einem bestimmten Uhrzeigerstand ab sehne ich mich nach meinem Bett.«
»Ein armer Greis, wenn man Sie so hört, Cravelli.« Cramer stützte den Kopf in beide Hände und sah Cravelli lange an. Der Italiener wich diesem Blick aus und hantierte mit den Flaschen in der Bar. »Sie wissen, was mich bisher abhielt, Sie einfach zu erwürgen. Ohne Reue! Es drängt mich, Ihnen das jährlich mindestens einmal zu sagen … vor allem am Jahrestag, Sie wissen …«
Cravelli lächelte verzerrt. Er trank sein Glas leer und goß Whisky nach.
»Sie müssen viel unausgefüllte Zeit haben, Cramer. Was soll diese Dummheit überhaupt? Können Sie mir etwas nachweisen? Sie haben nicht gesehen, daß ich Ilona –«
Cramer hob die Hand und unterbrach Cravelli mit einer energischen Bewegung. Ruckartig stand er auf, und Cravelli griff unwillkürlich zu einer großen, geschliffenen Kristallflasche, um sich wehren zu können. Aber Cramer ging um den alten, riesigen Globus herum, als sei er mit einem Seil an ihm festgebunden.
»Sie wissen, wie ich Ilona liebte«, sagte er leise. Cravelli neigte den Kopf vor, um jedes Wort verstehen zu können. »Sie war Tänzerin im Opernballett –«
»Signore, das haben Sie mir über zwanzigmal erzählt. Was soll's!«
»– wir kannten uns seit unserer Anfangszeit auf der Bühne. In Basel heirateten wir, in aller Stille. In den Theaterferien. Unsere Hochzeitsreise machten wir nach Venedig …«
»Sie langweilen mich, Signore …«, sagte Cravelli und lehnte sich gegen die Bücherwand.
»Wir waren glücklich, Venedig war für uns ein Märchen, das ein Zauberer für uns ausgebreitet hatte. Wir lagen am Lido und sonnten uns, wir schwammen ins Meer hinaus, wir mieteten uns ein Motorboot, und Ilona jauchzte hell, wenn sie mit den Wasserskiern über das blaue Wasser ritt. Es war ein Lachen, es war eine Jugend und ein Glück, Tage, die ich nie vergessen werde. Nichts in der Welt hätte ich für diese Stunden eingetauscht … ich war wirklich der glücklichste Mensch der Welt. Ich war wunschlos. Kennen Sie das, Cravelli?«
»Wenn Sie stundenlange Selbstgespräche führen wollen … bitte, ich stelle Ihnen meine Bibliothek dazu zur Verfügung. Mich aber entschuldigen Sie. Ich bin müde.«
Rudolf Cramer blieb stehen. Sein harter Blick zwang Cravelli, an der Bar auszuharren.
»Sie wissen, wie es weitergeht?«
»Sie haben es mir oft genug vorgesungen.«
»Und Sie werden es wieder hören, Cravelli! Ich sagte: Ich war der glücklichste Mensch auf der Erde! Und dann kam jener furchtbare Abend. Ilona wollte mich überraschen … mit einem Geschenk, mit einem Andenken aus Venedig, von einem Goldschmied in der Stadt … so sagte sie jedenfalls im Hotel. Sie bestieg eine Gondel und kehrte nie zurück –«
Cravelli nickte. »Tragisch. Ich kann Ihren Schmerz verstehen! Aber, um Gottes willen, warum kommen Sie jedes Jahr zu mir und erzählen mir das?«
»Ilonas letzte Spur führte seitlich vom Canale Grande ab. Man sah ihre Gondel noch in den Canale Santa Anna einbiegen. Man sah sogar, wie sie an der Treppe des Palazzo Barbarino hielt … dort unten an der Treppe vor Ihrer Tür, Cravelli. Von da ab ist Dunkel um sie … Keiner hat sie mehr gesehen!«
»Madonna mia!« Cravelli trank das zweite Glas leer. »Wie oft soll ich Ihnen sagen –«
»Auch die Gondel hat man nicht wiedergefunden. Ebensowenig wie den Gondoliere. Beide galten seit diesem Abend als vermißt! Vermißt in Venedig!«
»Das ist eine Aufgabe der Polizei, nicht meine!« Cravelli hob beide Hände. »Ich kann Ihnen immer nur das eine versichern: Ihre Gattin kam zu mir, um einen alten Familienring zu kaufen, den ich in der Zeitung angeboten hatte. Sie entschloß sich aber nicht zum Kauf und fuhr bald wieder mit der Gondel ab. Ich habe sie selbst noch bis zur unteren Treppenstufe begleitet und ihr in die Gondel geholfen! Das alles habe ich der Polizei gemeldet … vor zehn Jahren!«
»Aber keiner hat das gesehen, was Sie getan haben wollen! Gondel und Gondoliere sind verschwunden … aber die Leiche Ilonas wurde nach fünf Tagen am Ufer des Rio Marin angeschwemmt. Geschändet und erdrosselt. Von dieser Stunde an, als ich sie im Leichenhaus so liegen sah, schwor ich mir, jedes Jahr mindestens einmal nach Venedig zu kommen, bis ich den Mörder Ilonas kenne.«
»Und da kommen Sie zu mir?! Das ist eine Frechheit, Signore!«
»Sie waren der Letzte, der Ilona gesehen und gesprochen hat.«
Cravelli stellte das Glas hart auf die Spiegelplatte und ging mit stampfenden Schritten hinter seinen Schreibtisch. Sein Gesicht war rot angelaufen.
»Lassen Sie mich damit in Ruhe!« schrie er. »Sie haben Komplexe! Man sollte Sie einsperren!«
»Es sind Ahnungen, Cravelli. Und je mehr ich Sie in den vergangenen zehn Jahren beobachte, um so dichter rücken diese Ahnungen an die Gewißheit heran.«
»Man sollte Sie von der Polizei abholen lassen.«
»Warum rufen Sie nicht an?«
»Vielleicht aus einem Gefühl von Mitleid –«
»Soll ich lachen über diesen makabren Witz?«
Cravelli senkte den Kopf wie ein angreifender Stier. »Gehen Sie jetzt, Signore Cramer. Sie haben wie jedes Jahr Ihre traurige Geschichte angebracht … nun ist es gut. Ich möchte schlafen!«
Cramer setzte sich wieder in den Sessel und schlug die Beine übereinander. Cravelli kam um den Tisch herum und stellte sich an den Globus. Hätte ich nur einen der Diener hier, dachte er, wir würden ihn gemeinsam die Treppe hinunter in den Canale Santa Anna werfen. Oder wäre ich zwanzig Jahre jünger … ich hätte keine Angst vor ihm.
»Da ist noch etwas, Cravelli«, sagte Cramer langsam.
»Gehen Sie endlich.«
»Nur eine Frage ist es.«
»Wenn ich Sie damit loswerde … fragen Sie!«
Cramers Blick heftete sich fest an das Gesicht Cravellis. Jedes Mienenspiel war jetzt wichtig, jedes leichte Zucken in den Mundwinkeln, in den Augen, an den Wangenknochen. Und dann kam die Frage, plötzlich, laut, wie ein Hieb.
»Was halten Sie von Chemie?«
Sergio Cravellis Herzschlag setzte einen Augenblick aus. Eine Kälte durchzog ihn wie ein Eiswind. Aber weder sein Gesicht zuckte, noch seine Hände verkrampften sich. Nur seine Augenbrauen hoben sich in grenzenlosem Erstaunen. Es war eine lange und gründlich eingeübte Reaktion, und sie trat in Erscheinung, als habe man auf einen Auslöseknopf gedrückt.
»Chemie?« fragte Cravelli gedehnt.
»Ja. Chemie.«
»Was geht mich Chemie an? Ich bin Grundstücksmakler, das wissen Sie doch! Chemie ist für mich insofern interessant, daß ich feststelle, ob in einem Haus der Schwamm ist oder nicht.«
»Und Sie kümmern sich nicht um neue, sensationelle Präparate?«
»Ach! Haben Sie ein Mittel zur Bekämpfung des Holzbockes anzubieten?« Cravelli grinste breit. »Auch die Holzfäule macht uns Sorge … gerade in Venedig. Die Feuchtigkeit steigt von den Fundamenten auf und –«
Cramer sprang von seinem Sessel hoch. Er sah, daß Cravelli ihm an Beherrschung überlegen war. Das lächelnde Gesicht des Italieners bewies den Mißerfolg. Es war wie immer bei Cravelli: Mit dem Kopf allein konnte man die Wand nicht einrennen.
»Ich nehme mir einen Whisky«, sagte Cramer und ging steifbeinig zur Bar. Cravelli nickte.
»Bitte, die zweite Flasche von links. Daraus habe ich auch getrunken. Es ist sicherlich kein Gift drin …« Er lachte, und dieses Lachen war wie ein Triumphgeheul. Cramer kam es jedenfalls so vor, und es kostete ihn große Überwindung, nicht seine Hände gegen die Ohren zu pressen.
Mit bebenden Händen goß er sich das Glas voll und trank es in kurzen Zügen aus.
»Prost!« sagte Cravelli jovial. »Nun wird Ihnen besser sein, was? Sie könnten ein so fabelhafter Kerl sein, Signore Cramer, wenn Sie nicht diesen Detektiv-Spleen hätten. Aber irgendwo hat ja jeder Mensch seine Sonderheiten. Ich auch. Ich sammle alte Schreibmaschinen. Lächerlich, nicht wahr …«
Rudolf Cramer verließ den Palazzo Barbarino mit dem Gefühl, sich blamiert zu haben. Cravelli begleitete ihn bis zur Gondel, so wie er vor zehn Jahren Ilona begleitet haben wollte. Ein galanter, noch beim Abschied scherzender Gastgeber. Er winkte sogar Cramer nach, bis er um die Ecke ruderte.
Dann stand Sergio Cravelli allein und sinnend in der Dunkelheit auf seiner Treppe und starrte in das schwarze, nach Fäulnis riechende Wasser des Canale Santa Anna.
Die Frage, ob er Chemie liebe, war nicht von ungefähr gekommen, das wußte Cravelli. Aber es war ihm unbegreiflich, daß Cramer einen Zusammenhang mit Dr. Berwaldt ahnte.
»Man muß das feststellen«, sagte Cravelli und starrte in die Nacht. »Man hätte es sofort tun müssen –«
Er dachte an die vergangenen Tage, und er mußte sich eingestehen, daß er sich durchaus nicht wohlfühlte.
Es war schon eine schwere Last, eine Welt regieren zu wollen.
Die Gondel Cramers fuhr nicht weit.
Er ruderte sie um die Biegung des Canale Santa Anna herum und ließ sie im seichten Wasser liegen, während er an das Ufer kletterte und über die schmale Gasse zurück zur Rückseite des Palazzo Barbarino ging. Über die Hälfte des Cravelli-Hauses war auf dem Boden einer der vielen kleinen Inseln gebaut, die zusammen mit den Kanälen und Brücken das alte Venedig bilden. Vor allem die Hinterseite des Palazzo, dort, wo die Bediensteten wohnten, die Küche lag und die Wirtschaftsräume, ruhte auf diesem festen Grund.
In die Nische eines alten, unbewohnten, verfallenen Hauses gedrückt, wartete Cramer, bis seiner Ansicht nach Cravelli eingeschlafen sein mußte. Dann ging er zu den drei hinteren Türen, die für die Lieferanten und Angestellten waren, und drückte jede einzelne Klinke herunter. Sie waren verschlossen. Eingehend untersuchte Cramer die Schlösser. Es waren uralte, aber ungemein sichere Verriegelungen, denen kein moderner Dietrich etwas anhaben konnte. Mit einem großen Schlüssel, der innerhalb des Schlosses zugleich als Hebel diente, bewegte man eine Eisenstange seitlich weg, die im geschlossenen Zustand zentimetertief in die dicke Steinmauer rastete.
Enttäuscht trat Cramer in die Nische zurück. Es war unmöglich, heimlich in das Haus zu kommen. Mit zusammengezogenen Brauen starrte er die hohe, dunkle Sandsteinwand herauf. In diesem Haus ist etwas, dachte er. Hinter diesen verwitterten Mauern verbirgt sich ein Geheimnis, das die Sonne des venezianischen Zaubers zu fürchten hat.
Langsam ging Cramer zu seiner Gondel zurück und fuhr aus den engen Kanälen hinaus auf die breiten Wasserstraßen, dem Stolz Venedigs.
Am Gemüsemarkt legte er an und stieg an Land. Wie vor hunderten Jahren Dante, so stand auch er jetzt in der Dunkelheit der Nacht, sah empor zum samtenen Himmel und auf die im milchigen Mondschein wie eine Theaterdekoration liegende Rialtobrücke. Wie mit Musik erfüllt war die Nacht, selbst das träge Klatschen des Wassers an den Kai war eine Melodie. Ein paar unbeleuchtete Gondeln mit verhängten Bänken zogen langsam durch das silberne Wasser. Die Liebesgondeln von Venedig, von denen schon Casanova träumte …
Er schreckte auf, als sich schlurfende Schritte näherten. Vom benachbarten Fischmarkt kam ein Händler auf ihn zu. Um den Hals trug er an einem Lederriemen einen breiten ›Bauchladen‹. Knöpfe, Zwirn, Gipsfiguren, kleine, bunt bemalte Gondeln, die Rialtobrücke in Messing, Aschenbecher mit dem Campanile, Zigaretten, Marzipan, Tabak, seidene Kopftücher mit dem aufgedruckten Dogenpalast und einige grelle Mutter-Gottes-Bilder lagen neben gezuckerten Feigen und einem Gewirr goldener dünner Kettchen und flacher Anhänger mit dem Markus-Dom.
Der Händler nickte mehrmals, ehe er an Cramer herantrat und sich neben ihn an das eiserne Geländer lehnte. Sein dunkles, von der Sonne gegerbtes Gesicht war von einem breiten Lächeln durchschnitten.
»Signore sind traurig?« fragte er mit einer weichen Stimme. »Wer kann in Venedig traurig sein? Wegen einer Signorina, – o, man kennt das! Aber es gibt viele hübsche Mädchen in Venedig, Signore …«
Cramer lächelte und schüttelte den Kopf. »Wenn du wüßtest, mein Lieber –«, sagte er.
»Ich weiß nichts, Signore. Nur etwas weiß ich: Gegen Traurigkeit helfen gezuckerte Feigen. Sie werden die Süße des Lebens auf der Zunge spüren –«
»Du verstehst dein Geschäft.« Cramer nahm ein Paket Feigen aus dem Bauchladen und warf einige Lire in den blechernen Geldkasten. »Die Süße des Lebens … mein König von Venedig … was wißt ihr vom Leben?«
Der Händler hob den Holzkasten an und stützte ihn auf das Geländer neben Cramer. Dann wischte er sich über die Stirn und schüttelte sich, als sei er eine Katze und käme aus dem Wasser.
»Sagen Sie das nicht, Signore. Wir haben ein schweres Leben. Und wir sehen das Leben – überall, jede Stunde, in allen Farben. An unseren Augen gehen Tausende Schicksale vorbei, und wir kennen die Menschen, wie wir jede Ratte in den Kanälen kennen.«
»Ein kleiner Rialto-Philosoph –«
»Man wird es, Signore.«
»Du kennst Venedig genau?«
»Wie meine Hose, Signore.«
»Auch einen Sergio Cravelli?«
Der Händler sah Cramer von unten herauf nachdenklich und vorsichtig an.
»Warum?«
»Du kennst ihn?«
»Den Geierkopf, natürlich. Er verkauft und kauft Häuser.«
»Mehr weißt du nicht?«
»Nein. Doch ja. Jedes Jahr macht er eine große Stiftung für die Erhaltung Venedigs. Sie wissen ja … die Stadt stirbt. Es gibt sogar eine internationale Stiftung mit Namen ›Rettet Venedig‹.«
»Und darin ist Cravelli?«
»Ja.«
Ein plötzlicher Gedanke kam in Cramer hoch. Er griff in die Rocktasche, holte ein paar riesige Lirescheine hervor, zählte ab und legte in den Blechkasten des Händlers 10.000 Lire. Verwundert verfolgte der Händler das Spiel von Cramers Finger.
»Was soll das, Signore?« fragte er und rührte das Geld nicht an.
»Mit schwebt ein kleines Geschäft vor. Wieviel verdienst du in der Woche?«
»Wenn es gut ist – 20.000 Lire«, sagte der Händler zögernd.
»Also gut. 20.000.« Cramer griff noch einmal in die Scheinbündel und legte noch einmal 10.000 Lire in den blechernen Kasten. »Ich möchte, daß du für mich arbeitest.«
»Als Händler? Was haben Sie zu verkaufen, Signore? Und im voraus: Ich mache keine dummen Sachen! Ich bin ein ehrlicher Mensch und ich bleibe es.«
»Du wirst von heute nacht ab etwas beobachten. Tag und Nacht. Du kannst dir noch Freunde dazuholen, denen ich ebenfalls 10.000 Lire in der Woche zahle.«
»Beobachten? Wen?«
»Sergio Cravelli …«
Der Händler pfiff durch die Zähne und stieg aus dem Lederriemen. Er stellte seinen ›Laden‹ vorsichtig auf den Boden und kratzte sich dann den lockigen Kopf.
»Warum?«
»Wer fragt, wenn er 20.000 Lire bekommt, mein Freund? Alle Personen, die im Palazzo Barbarino aus- und eingehen, Tag und Nacht, schreibst du auf. Du kannst schreiben?«
»Ich bin ein ausgebildeter Händler«, sagte der Italiener stolz und fast tadelnd.
»Um so besser. Also, du schreibst alles auf, auch wenn es immer die gleichen Leute sind. Geht Cravelli aus, fährt er mit der Gondel oder seinem Motorboot weg … ihr müßt ihm folgen, ganz gleich, wohin. Und jeden zweiten Tag berichtest du mir. Ich werde hier jeden zweiten Tag genau um die Mittagszeit auf dich warten. Wir verstehen uns?«
Der Händler faltete die Geldscheine zusammen und steckte sie in die Tasche.
»Und dafür erhalte ich 20.000 Lire?«
»Ja.«
»Und warum das alles, Signore?«
»Ich war verheiratet … unsere Hochzeitsreise ging nach Venedig … dann verschwand meine Frau … ermordet fand man sie wieder, ausgeschwemmt aus den schweigenden Kanälen … Und Cravelli war der Letzte, bei dem sie war –«
Der Händler schlug ein schnelles Kreuz und blickte hinüber zum Turm von San Giacoma di Rialto. Sein Gesicht war tiefernst.
»Sie glauben, Signore –«
»Ich weiß es fast. Nur die Beweise fehlen. Du sollst mir helfen, sie zu finden. Vor ein paar Tagen ist wieder ein Mensch verschwunden … ein deutscher Arzt und Forscher. Und wieder ist Cravellis Name dabei –«
»Merkwürdig, Signore.« Der Händler nickte. »Ich werde für Sie arbeiten.«
»Wenn etwas Besonderes ist … ich heiße Rudolf Cramer und wohne im ›Excelsior‹.«
»Ich bin Roberto Taccio.« Der Händler bückte sich und kroch wieder unter seinen Lederriemen. Mit einem Ruck hob er den ›Laden‹ wieder vor die Brust. »Wenn Sie mich suchen, können Sie jeden von uns fragen. Er wird Ihnen sofort sagen, wo ich bin. Fragen Sie nach Roberto II. – das genügt.«
»Roberto II.« Cramer gab Taccio die Hand. »Warum der Zweite?«
»Ein Titel, Signore. Weiter nichts –«
Etwas auf dem linken Fuß humpelnd, entfernte sich Taccio zum Rio di San Polo hin.
Rudolf Cramer blieb noch eine Weile am Rialto stehen, ehe er wieder in seine Gondel kletterte. Noch einmal fuhr er zurück zum Canale Santa Anna und starrte die schwarze Fassade des Palazzo Barbarino hinauf. In einem Seitenzimmer war trübes Licht. Der Butler ging zu Bett. Er war früher heimgekommen … der Film, den er besucht hatte, war anscheinend nicht nach seinem Geschmack gewesen.
Mit weiten Ruderschlägen fuhr Cramer zurück, über den Riva del Vino hinaus auf den Canale Grande. An der hell angestrahlten Piazetta machte er die Gondel fest und sprang an Land. Zu Fuß ging er zum Hotel und betrat es durch einen Seiteneingang.
Fröhliche Tanzmusik prallte ihm entgegen. In der Palmenhalle sah er sie tanzen, in weißen Smokings und glitzernden Abendkleidern, mit Geschmeiden und funkelnden Diademen.
Ilse Wagner, dachte Cramer. Mein Gott … sie war die ganze Zeit allein! Wenn das ein neuer Fehler gewesen war …
Mit langen Schritten rannte er die Treppe hinauf, vorbei an den verblüfften Boys und Kellnern.
Das Abendkleid saß wie eine zweite Haut, nachdem Françoise es mit einigen Abnähern passend gemacht hatte.
»Mon Dieu, wie schönn –«, rief sie und schlug die Hände zusammen. »Isch 'abe gesehen schon viele schöne Frauen – aber Sie sind wie eine princess …«
Ilse Wagner drehte sich vor dem Standspiegel. Das bin ich?, dachte sie. Dieses zauberhafte Wesen mit den braunen, kunstvoll frisierten Locken, die so raffiniert gelegt waren, daß ihr schmales Gesicht einen fast exotischen Reiz erhielt … dieser schlanke Körper in dem fließenden, glitzernden Kleid … das bin ich?
Immer wieder drehte sie sich vor dem großen Spiegel. Ich bin es, wahrhaftig … aber doch ist es ein anderer Mensch. Ein fremder Mensch. Ein in allem Glanz ängstlicher Mensch –
Sie senkte den Kopf und wandte sich ab. Ein Tag oder zwei Tage … länger wird es nicht sein. Vielleicht nur diese Nacht … dann war sie wieder die Sekretärin Ilse Wagner, ein unscheinbarer Punkt in der grauen Masse … Stenogramme aufnehmen, diktierte Tonbänder abhören, tippen, Telefongespräche verbinden, Briefmarken auf Kuverts kleben, von zwölf bis halb zwei Mittagspause … und dann wieder tippen, Telefon, Diktat. Von halb acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags … tagaus, tagein, immer dasselbe, acht Stunden lang … Fräulein – Stenogramm – Fräulein, wo ist der Brief vom 23. – Fräulein, zum Diktat … Fräulein, wo ist denn die Akte 19 … Fräulein, erinnern Sie mich noch an die Nummer 56 89 34 …
Ilse Wagner wandte sich vom Spiegel weg. Es tat ihr weh, noch weiter das glänzende Bild der anderen Ilse Wagner anzusehen. Es war fast wie ein Hohn.
»Sie sind ein neuer Mansch …«
»Es sieht nur so aus, Françoise.«
»Die Männer werden 'aben keine ruhige Minüt …«
Ilse versuchte zu lächeln. Sie nahm die kleine, silberne Abendtasche aus der Hand Françoise, überwand sich, nicht noch einmal in den Spiegel zu sehen und ging zur Tür.
»Es wird nicht spät werden –«, sagte sie, als sie die Tür öffnete.
»Isch werde warten, Mademoiselle –«
Ilse blieb erstaunt stehen. »Haben Sie keine anderen Zimmer zu versorgen, Françoise?«
»Sonst oh oui! Aber 'eute nur für Mademoiselle.«
Verwirrt strich sich Ilse Wagner über das Gesicht.
»Hat Herr Cramer das gewünscht?«
»Oui.« Françoise lachte keck. »Er ist eine reiche Mann –«
»Als Opernsänger?«
»Sagt er, Mademoiselle.« Françoise blinzelte geheimnisvoll. »Direktion 'at sich einmal in Zürich erkundigt, weil er immer kommt jedes Jahr. Ein Opernsänger Cramer ist in Zürich nischt bekannt … Aber er bezahlt immer alle Rechnungen … darum wir ihn nennen Monsieur Cramer –«
»Er … er heißt gar nicht so?« stotterte Ilse. Es war ihr, als krampfe sich ihr das Herz zusammen und drücke alles Blut in den Kopf.
»Wir nennen ihn so. Er ist für uns Monsieur Cramer. Bitte, verraten Sie misch nischt, Mademoiselle …«
»Nein, nein … bestimmt nicht.« Ilse schüttelte den Kopf und trat hinaus auf den Gang. Noch immer war das Herz nur ein zuckendes Bündel. Ein falscher Name, dachte sie. Wer ist er wirklich? Und warum kümmert er sich um mich?
Sie nahm sich vor, ihn zu fragen … jetzt sofort, wenn sie ihm gegenüberstand. »Wer sind Sie wirklich?« wollte sie fragen. »Und warum tragen Sie einen anderen Namen? Warum haben Sie mich belogen?«
Sie blieb mitten auf dem Gang stehen und überlegte, ob sie das Kleid nicht ausziehen und ihm so gegenübertreten sollte, wie sie gekommen war. Die kleine Sekretärin Ilse Wagner, die man auf dem Bahnhof von Venedig vergessen hatte … Oder gab es einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden Dr. Berwaldts und dem Mann, der sich der Opernsänger Rudolf Cramer nannte?
Bei diesem Gedanken empfand sie plötzlich Mut. Sie warf den Kopf in den Nacken und fuhr mit dem Lift hinunter in die Palmenhalle. Langsam glitt sie auch an der bel etage vorbei, wo die Zimmer 8-10 lagen, in denen Dr. Berwaldt gewohnt hatte und wo noch immer seine Koffer standen.
In der Halle empfing sie Tanzmusik und das Gewimmel eleganter Damen und sie umschwärmender Männer. Ilse Wagner blieb in der Nische neben dem Fahrstuhl stehen und überblickte das ihr nur aus Filmen und Romanen bekannte ›große Leben‹. Es war ihr, als müsse sie sich in einen brandenden Ozean stürzen, wissend, daß sie nicht lange würde schwimmen können und in den Wellen unterging. Der kleine, wendige Geschäftsführer kam zwischen einigen Palmenkübeln auf sie zu. Er hatte sie entdeckt und sah es als seine Pflicht an, eine Dame nicht warten zu lassen.
»Verzeihung Signorina«, sagte er mit einer Verbeugung und einem Räuspern, das die Betrachtung Ilse Wagners unterbrach. »Es soll keine Belästigung sein … aber ich nehme an, daß Sie auf Signore Cramer warten …«
Ilse zuckte zusammen. Warum fragt er, dachte sie. Ist etwas geschehen? Vor einer halben Stunde hat er doch noch angerufen … »Ja, ich … ich … Er wollte mich hier erwarten …«
»Herr Cramer verließ vor einer halben Stunde das Haus …«
»Aber er –«
»In großer Eile, Signorina. Er rief mit lauter Stimme nach einer Gondel …«
»Herr – Cramer ist abgereist?« Es verschlug ihr die Sprache. Er ist weg, dachte sie. Und ich sitze hier mit hundert Mark. Morgen früh wird man mich wie eine Zechprellerin auf die Straße werfen …
»Aber nein! Nein!« Der Geschäftsführer hob beschwörend beide Hände. »Signore Cramer schien eine dringende Bestellung zu haben. Er wird bald zurückkommen. Es ist alles reserviert, Signorina …«
»Was ist reserviert?«
»Ihr Tisch im kleinen Salon, das Souper, die Weine … wenn Signorina jetzt speisen wollen –« Er winkte einem wartenden Boy in roter Uniform, der sofort herbeilief. »Tisch 12 im Salon«, sagte der Geschäftsführer und machte zu Ilse Wagner eine einladende Handbewegung. »Der Boy wird Signorina führen.«
Ilse Wagner nickte schwach. Was tun, dachte sie und blieb stehen. Wieder nach oben gehen … oder soupieren? Was war, wenn Rudolf Cramer nicht wiederkam … wenn alles ein übler Scherz gewesen war?
Eine wahnsinnige Angst stieg in ihr auf. Wie in einem unwahrscheinlichen, luxuriösen Gefängnis fühlte sie sich, in einem goldenen Labyrinth, aus dem es kein Entrinnen gab.
Was tun, was tun, was tun?, sagte sie sich immer wieder vor. Einfach weglaufen … wie dieser Cramer …? Aber wohin, mein Gott, wohin?
Der kleine Boy stand neben ihr und sah sie mit großen, erstaunten Augen an. Als sie auf ihn niederblickte, machte er einen tiefen Diener.
»Prego, Signorina –«
Flüchten, dachte sie wieder. Ich muß flüchten … es geht einfach nicht anders. In einer kleinen, billigen Pension übernachten, dann zu dem deutschen Konsul nach Mailand fahren … dafür reichte das Geld noch.
Und Dr. Berwaldt? Wo war Dr. Berwaldt?
Dieser neue Gedanke ließ alles Planen in ihr zusammenfallen. Ein winziger Funken Hoffnung war noch in ihr, und er glomm auf und bestimmte ihr weiteres Handeln: Vielleicht ist er morgen da … vielleicht konnte er wirklich nicht kommen und rechnete damit, daß ich so selbständig war, mich in Venedig für eine Nacht einzuquartieren. Morgen dann traf man sich um die gleiche Zeit wieder im Bahnhof … und alle Sorgen zerplatzten wie ein zu prall aufgeblasener Luftballon –
»Prego, Signorina …«, sagte der kleine Boy noch einmal.
Ilse Wagner nickte müde. Sie ging dem Boy nach, sah nicht mehr die kostbaren Gobelins an den Wänden, die kristallenen Murano-Leuchter, die alten venezianischen Spiegel, sie sah nicht die kritischen und abschätzenden Blicke der Frauen und das erwachende Interesse der Männer für die unbekannte Schönheit … mechanisch ging sie dem Rot der kleinen Pagenuniform nach, setzte sich auf einen weichen Stuhl, den man ihr unterschob und sah eine braune Hand, die aus einer mit einer weißen Serviette umwickelten Flasche tiefroten Wein in ein geschliffenes Glas goß.
Hundert Mark, dachte sie wieder. Ich werde nicht einmal die Rechnung dieses Soupers bezahlen können. Jeder Schluck von diesem Wein sind einige Mark Zechprellerei.
Ein Ober servierte in einer winzigen Tasse eine Suppe. Sie war scharf, kleine helle Fleischstückchen schwammen darin herum. Schildkrötenfleisch. Ilse Wagner löffelte sie, ohne zu wissen, was sie aß.
Ein Telegramm an Anny, dachte sie. Anny war Chefsekretärin in einem Industriebetrieb. Sie konnte ihr 300 Mark leihen. Bestimmt tat sie es, wenn sie Ilse Wagners Lage hörte. Telegraphisch. Aber auch das würde mindestens 2 oder 3 Tage dauern.
Zwei Kellner stellten einige silberne Platten auf einen Beitisch. Das Rotweinglas wurde abserviert, eine neue Flasche in einem Tischkorb hingestellt, einer der Ober probierte in einem kleinen Glas den Wein und schenkte dann ein. Einen rosé schimmernden Wein, in dem sich das Licht des Kristall-Leuchters brach.
Ein Teller mit einem englisch gebratenen Steak, garniert mit Spargel, gegrillten Tomaten, Pommes frites, Kräuterbutter, zarten grünen Bohnen und winzigen Erbsen wurde ihr gereicht. Sie hörte zwei Stimmen »Guten Appetit« wünschen und war dann allein.
Sie aß langsam und würgte die Fleischstückchen herunter, weil sie bemerkte, wie einige Augenpaare sie beobachteten. Sie sah, daß man über sie sprach, daß man rätselte, wer sie sein könnte.
Wenn ihr alle wüßtet, dachte sie. Ihr seht eine geborgte Herrlichkeit, die morgen zu Staub zerfallen wird. Vielleicht schon in wenigen Minuten, wenn der Oberkellner mit der Rechnung kommt.
Wieder schnürte ihr die Angst die Kehle zu, die Scham, vor allen diesen Leuten wie eine Zechprellerin behandelt zu werden.
Sie schrak hoch, als ein Schatten über den Tisch fiel. Jetzt, dachte sie. Jetzt beginnt es …
Der Geschäftsführer verbeugte sich galant.
»Alles zu Ihrer Zufriedenheit, Signorina?«
»Ja, danke …«, stotterte Ilse Wagner.
»Haben Signorina noch einen Wunsch? Einen Fruchtsalat zum Nachtisch. Mit Maraschino …«
»Nein, danke.« Ilse Wagner verkrampfte die Finger ineinander. »Nur eine Auskunft … Ich suche einen Herrn –«
Der Geschäftsführer starrte sie ungläubig an.
»Einen Herrn? Signorina meinen Signore Cramer. Er wird gleich zurückkommen. Es ist bedauerlich, daß …«
»Nein. Ich suche einen anderen Herrn. Ich bin nach Venedig bestellt worden und wurde nicht abgeholt.«
Der Geschäftsführer schwieg galant. Das ist traurig, dachte er. So etwas tut kein Kavalier. Andererseits, sie hat sich schnell mit diesem Cramer getröstet. Madonna, was geht's mich an? Zimmer und Souper sind im voraus bezahlt. Und man macht ein Auge zu … in der Stadt der Verliebten wäre es ein Frevel, viel zu fragen.
»Wenn ich Ihnen helfen kann, Signorina …« Es war nur so dahingesagt.
»Der Herr heißt Dr. Peter Berwaldt –«
»Signore Berwaldt …« Der Geschäftsführer sah Ilse verwundert an. »Aber ja. Wohnt in unserem Haus …«
»Was?!« Ilse Wagner vergaß die Exklusivität ihrer Umgebung, die große Ausbrüche verbietet. Sie sprang auf und stieß dabei bald den Tisch um. Der Geschäftsführer hielt ihn milde lächelnd fest. »Dr. Berwaldt ist hier?!«
»Appartement 8-10, erster Stock.«
»Und das erfahre ich jetzt erst?!«
Der Geschäftsführer hob beide Hände. »Signorina haben mich nie danach gefragt –«
»Aber Herr Cramer wollte sich doch darum bemühen und –«
»Signore Cramer fragte mich heute abend ebenfalls danach …«
»Dann … dann weiß er, daß Dr. Berwaldt –«
»Natürlich.«
Ilse Wagners Spannung fiel zusammen. Sie starrte auf den Tisch und wußte nichts mehr zu sagen.
Er weiß es, dachte sie nur. Er weiß es seit Stunden und hat mir nichts gesagt. Und er ist weggelaufen! Was hat das alles zu bedeuten?! Warum versteckt man die Wahrheit vor mir?
»Wo … wo ist Herr Dr. Berwaldt jetzt?« fragte sie schwach.
»Signore Dottore ist seit gestern außer Haus. Er wurde abgeholt und bestellte für heute abend noch eine Gondel, weil er Besuch erwartete.«
»Das war ich –« sagte Ilse leise.
»Aber der Dottore kam nicht zurück. Er nahm auch einen kleinen Koffer mit. Vielleicht hat er anders disponiert? Sicherlich kommt er morgen wieder.«
»Bestimmt –«
Der Geschäftsführer entfernte sich lautlos und mit einem inneren Kopfschütteln. Schon am zweitnächsten Tisch hatte er den Vorfall vergessen und begrüßte eine platinblonde, üppige Schönheit in einem aufregend geschnittenen Kleid.
Für Ilse Wagner war der Abend beendet. Die Probleme, die dieses kurze Gespräch geschaffen hatte, stürzten auf sie ein und machten sie fast atemlos. Sie verließ den kleinen Salon, wunderte sich, daß kein Kellner sie anhielt oder ihr mit der Rechnung nachlief, sie erreichte ohne Anruf den Lift, zögerte, sah sich um und sah, daß niemand ihr folgte. Da fuhr sie hinauf zu ihrer Etage, gab dem Liftboy eine deutsche Mark und rannte dann den Gang hinunter in ihr Zimmer.
Françoise saß in einem Sessel und las in einem französischen Magazin. Sie sprang sofort auf, als Ilse ins Zimmer stürzte.
»Mademoiselle, wie sehen Sie aus!« rief sie entsetzt. »Ist etwas vorgefallen? Ganz verstört sind Mademoiselle –«
Ilse Wagner ließ sich auf das Bett fallen und schloß die Augen.
»Ich möchte schlafen …«, sagte sie schwach. »Schlafen und nichts mehr hören und sehen! Und morgen möchte ich zu Hause aufwachen … in Berlin, in meinem kleinen Zimmer, von dem aus ich die Dächer und den Wald der Fernsehantennen sehe und gegenüber in das Fenster von Fräulein Aurich, die morgens um sieben ihren kleinen, armen Studenten herausläßt … Ich möchte dieses ganze Venedig nicht mehr sehen –«
»Man hat Sie enttäuscht, Mademoiselle?«
»Man hat gar nichts … Das ist es ja. Gar nichts ist! Um mich ist Schweigen … und ich weiß nicht, warum!« Ilse richtete sich auf und sah in die großen, ungläubigen schwarzen Augen Françoises. »Sie können gehen, Françoise. Ich werde allein fertig. Gute Nacht …«
»Wann soll ich Mademoiselle wecken?«
»Überhaupt nicht … Solange ich schlafe, werde ich glücklich sein.«
Dann war sie allein … aber sie konnte nicht schlafen. Im Mondschein glitzerte das über den Sessel geworfene Kleid. Vom Canale Grande klangen Mandolinen auf. Irgendwo sang eine helle Stimme … unten in der Halle, in einer Gondel, auf der Straße, vor einem Fenster … sie sang und erinnerte Ilse Wagner an Rudolf Cramer, der ein Opernsänger sein wollte und der nicht Cramer hieß.
Sie sprang aus dem Bett, rannte zum Fenster und schloß es. Dann lehnte sie die heiße Stirn gegen die Scheibe und sah hinunter auf das glitzernde Wasser des Canale Grande. Nach wenigen Minuten spürte sie die Schwüle im Zimmer, die Hitze, die ihre Erregung noch vermehrte und Schweiß über ihren Körper trieb. Sie riß das Fenster wieder auf und breitete tief atmend die Arme in dem Luftstrom aus, der ins Zimmer flutete.
Über den Canale wehte ein kühlender Wind. Es roch nach Fisch und Fäulnis. Beleuchtete Gondeln glitten lautlos vorüber, nur das leise Klatschen der Ruder oder der Stoßstangen unterbrach die ruhige, schwerelos anmutende Fahrt. Der Gesang war verstummt … nur die Mandolinen klimperten irgendwo in der Nacht.
Ilse Wagner lehnte den Kopf an den Fensterrahmen. »Warum hast du gelogen …«, sagte sie leise. »Ob du Cramer heißt oder anders, ob du Opernsänger bist oder nicht … es wäre so gleichgültig gewesen … Ich hatte doch begonnen, dich zu lieben –«
Auf dem Campo San Polo, dem Marktplatz hinter der Kirche San Polo, fand in dieser Nacht eine merkwürdige Versammlung statt.
Aus den Gassen und Gäßchen des dunkelsten Venedigs, das nie ein Fremder sieht und durch die keine Vergnügungsgondeln fahren, aber auch vom Rialto, dem Campo di Tedeschi, dem Markusplatz, von den Säulengängen des Dogenpalastes her und der Piazetta, vom Bahnhof und dem Gemüsemarkt, aus den geheimnisvollen Vierteln der Altstadt trotteten zerlumpte Gestalten heran, huschten verwegene Figuren wie Riesenratten durch die Schatten der eng aneinandergerückten Häuser und tauchten unter in der Finsternis der kleinen Kirche.
Gipsfigurenhändler, Bettler, die sonst blind an den Brücken saßen, zitternd, mit hohlen Augen in die für sie erloschene Sonne starrend, und die jetzt die Dunkelheit der Nacht wie mit Katzenaugen durchdringen konnten, Gemüseschreier, Fischverkäufer, Hausierer und Gepäckträger, Schuhputzer, Straßenkehrer und verwegene, finstere Burschen, deren Beruf in keiner Liste stand und die an Venedig doch verdienten … sie alle trafen sich auf dem Platz und standen flüsternd beieinander.
Es war eine Zusammenballung des Venedigs, das in keinem Reiseführer stand. Die Gassen, die in keiner Handbuchkarte verzeichnet sind, hatten sich geöffnet und spien ein Venedig aus, das nichts von Glanz, Licht, Eleganz und Glück kannte.
Sie alle gehorchten einem uralten venezianischen Gesetz. Es bestimmte seit Jahrhunderten den Zusammenschluß aller Händler und Bettler zu einer Schicksalsgemeinschaft, ein untrennbarer Bund, straff organisiert, mit eigenen Gesetzen, die härter waren als die Paragraphen der normalen Gesetzbücher. Eine Hierarchie der Dunkelheit.
Vom Campanile herüber schallten zwei helle Schläge. In die schattenhaften Gestalten kam Bewegung. Sie drängten der kleinen Kirche zu, ein kleines Heer schwarzer Fledermäuse.
Vor der Kirche, auf den untersten Stufen, stand Roberto Taccio. Er trug einen weiten schwarzen Mantel und einen breitkrempigen, schwarzen Hut. Die dunkle Schar drängte sich um ihn und schwieg.
»Freunde –«, sagte Taccio laut. Seine Stimme überflog den kleinen Platz und prallte von den Hauswänden zurück. »Ich habe euch gerufen, weil hier, in unserem Reich, ein Verbrechen begangen sein soll. Wir sind ehrliche Bettler und Händler, wir holen das Geld aus den Taschen der Reichen, aber wir töten nicht! Hier aber soll ein Mord geschehen sein. Und ein neuer kann geschehen! Ein euch fremder Herr gab mir Geld – für jeden von euch tausend Lire am Tag.«
»Wofür?« rief einer aus der Menge.
»Wir sollen jemanden beobachten, Tag und Nacht. Ich weiß … es wird langweilig sein. Aber man ruft die Bettler um Hilfe an … soll man umsonst rufen? Wir rechnen mit dem gütigen Herzen der Reichen – seien wir auch einmal gütig gegen die Gebenden.« Roberto Taccio holte unter dem Mantel einen Beutel hervor. Er hob ihn hoch, und alle sahen, daß er mit Geld gefüllt war. Viel Geld, das man im Herumlungern verdienen konnte.
»Die ersten tausend Lire für jeden von euch. Ich werde sie verteilen. Und jeder, der sie annimmt, verpflichtet sich nach unserem Gesetz zu handeln. Ihm werde ich den Auftrag in die Ohren sagen.« Roberto Taccio schob den Hut in den Nacken. Der offizielle Teil war beendet … die ›amtliche Sprache‹ konnte abgelegt werden. Nun war man wieder Händler.
»Der Teufel hole jeden, der kneift«, sagte er und sprang von der Treppe in das Gewühl der Bettler.
»Und wer bezahlt uns morgen und übermorgen?« rief jemand aus der Menge. »Ich verdiene am Dogenpalast eine Menge –«
»Ich garantiere euch das Geld! Also?« Taccio sah sich um. »Wer will, macht die dreckigen Finger auf und hält sein Ohr hin!«
Langsam ging er auf den ersten zu. Der sah sich um, kratzte sich den Kopf, zögerte und streckte ihm dann die schmutzigen Hände hin. Leise klirrten die Lirestücke in die Handflächen. Der Bettler zählte murmelnd mit.
»Tausend –«
Taccio beugte sich vor und flüsterte ihm etwas zu. Mit einem breiten Grinsen sah sich der Bettler um.
»Bei der Madonna, das ist etwas Gutes!« sagte er laut.
Taccio griff erneut in den Beutel. Er ging von Mann zu Mann, und immer geschah das gleiche … das leise Klirren der Münzen, ein schnelles Flüstern und ein zufriedenes Nicken.
Dann plötzlich war der Campo San Polo leer. Wie die Ratten huschten sie davon und wurden aufgesogen von den schweigenden Kanälen. Zurück blieb allein Roberto Taccio, mit einem leeren Beutel und schwitzendem Gesicht.
Er war zufrieden. Das Königreich der Bettler, die Zunft Roberto II., war in straffer Zucht.
Um Sergio Cravelli und seinen Palazzo Barbarino zog sich ein unzerreißbares Netz.
Der Geschäftsführer vom Grand-Hotel Excelsior eilte mit wehenden Schößen seines Cuts herbei, als er Rudolf Cramer durch die Drehtür in die Palmenhalle kommen sah.
»Signore!« keuchte er und nahm gegen die Etikette Cramer zur Seite und stellte ihn hinter einen der großen Palmenkübel. »Im Namen der Dame, die Sie eingeladen haben, muß ich mich beschweren! Bitte, verzeihen Sie diese Ungehörigkeit von mir, aber einem Gast, der schon 10 Jahre zu uns kommt und mit dem wir vertraut sind, erlaube ich mir, dies zu sagen! Die Dame war fast verzweifelt, dem Weinen nahe …«
Cramer nagte an der Unterlippe. In seinem Körper vibrierte eine Spannung, die sich sogar dem Geschäftsführer mitteilte. Er schwieg plötzlich und trat einen Schritt zurück.
»Ist etwas geschehen, Signore?« fragte er.
»Wo ist Fräulein Wagner jetzt?«
»Sie schläft. Françoise meldete es.«
»Dann lassen Sie sie bitte schlafen!« Er griff nach vorn und faßte den zurückweichenden Geschäftsführer an den Revers des Cuts. »Sie kommen mit!«
»Wohin?«
»In Ihr Büro! Ein Taifun wird durch Ihren feudalen Laden brausen, der euch die Haare vom Kopf weht!«
»Sie … Sie reden in Rätseln, Signore –«
»Ist Dr. Berwaldt zurück?«
»Nein!«
»Das kann er auch nicht! Er ist verschwunden! In Venedig verschwunden! In einem dieser dreckigen, faulenden, schweigenden Kanäle, um die ihr alle einen weiten Bogen fahren laßt. Es ist wie damals vor zehn Jahren … Sie wissen es noch, Pietro?!«
»Unmöglich, Signore! Unmöglich!« Der Geschäftsführer ordnete seinen Cut. Sein Gesicht wirkte trotz der Bräune fahl und wie eingefallen. »Der Ruf unseres Hauses!«
»Ich pfeife auf diesen Ruf, wenn es um einen Menschen geht! Sie haben hier in diesem herrlichen Venedig ein Untier … wissen Sie das?! Zu was ein Mensch an Satanischem fähig sein kann, das vereint sich in diesem einen Körper! Und Sie reden vom Ruf Ihres Hauses! Los, zum Telefon! Ich möchte von Ihrem Büro aus telefonieren –«
»Entsetzlich! Meine Gäste –«
Cramer rannte durch die Halle, stieß die Tür des Büros auf und setzte sich hinter den Schreibtisch. Der Geschäftsführer wirbelte hinterher und trat unhöflich die Tür hinter sich zu, als die drei Portiers in der Rezeption neugierig ins Zimmer sahen.
»Wen … wen wollen Sie anrufen?« rief er.
»Erst die Polizeipräfektur –«
»Die ist um diese Zeit nicht besetzt. Das nächste Revier –«
»Und alle Zeitungen, die erreichbar sind …«
»Alle Zeitungen?« Der Geschäftsführer setzte sich schwer. »Was wollen Sie denn durchgeben?«
»Das werden Sie gleich hören.«
»Auch den Namen unseres Hauses?!«
»Natürlich!«
»Nie. Das ist ein Skandal!« Er sprang auf und riß Cramer den Hörer aus der Hand. »Unsere Gäste werden weglaufen!«
»Dableiben werden sie. Auf Wochen hinaus werden Sie ausverkauft sein! Pietro … Sie kennen doch die menschliche Mentalität. Das Leid des einen ist die ersehnte Frühstückslektüre der Masse! Und sie werden morgen früh etwas haben, was ihnen zwischen Kaffeetasse und Brötchen die Haare in die Höhe treibt und den Honig vom Löffel tropfen läßt! Aus dem Grand-Hotel ›Excelsior‹ verschwindet ein bekannter Arzt und Wissenschaftler –«
»Ich bin ruiniert!« schrie der Geschäftsführer. »Sie bekommen den Hörer nicht!«
»Es gibt in Venedig genug Telefone, Pietro. Machen Sie sich nicht lächerlich! Ihr Apparat liegt mir am nächsten. Also –«
Der Geschäftsführer reichte Cramer den Hörer. Dieser drückte auf einen weißen Knopf und war mit der Telefonzentrale des Hotels verbunden.
»Mein Fräulein!« sagte Cramer hart. »Nehmen Sie in den nächsten Minuten keinerlei Hausgespräche an. Lassen Sie die Leitung für alle anderen besetzt. Und verbinden Sie mich jetzt nacheinander mit sämtlichen Zeitungsredaktionen und Korrespondenten in Venedig und Chioggia. Ja … es geschieht mit Billigung von Direktor Pietro Barnese. Ich bin im Büro von Signore Barnese.«
Der Geschäftsführer legte seufzend die Hände ineinander. Er hockte auf seinem Stuhl, als sei er ein überführter Verbrecher.
»Wie … wie soll ich das verantworten …« stotterte er.
»Mit der Menschlichkeit!«
»Mit …« Er starrte Cramer an. »Signore, Sie sich doch nicht betrunken –«
»Sie können dann sagen, mitgeholfen zu haben, die Welt zu retten!«
»Sie … Sie haben also doch getrunken?!« Er wollte aufspringen und Cramer den Hörer wieder entreißen, aber dieser wehrte ihn mit der Linken ab.
»Ja, Fräulein!« rief er ins Telefon. »Ja … bitte die Nachtredaktion! Ich gebe etwas durch, was noch in die Frühausgabe muß! Was heißt hier, schon imprimiert? Dann fliegt eben ein anderer Artikel heraus! Sie werden es sehen – aha … der Nachtredakteur! Hier ist Cramer. Sie kennen mich nicht, aber ich komme morgen zu Ihnen. Bitte, hören Sie mich an und schreiben Sie mit …«
Pietro Barnese starrte Cramer ungläubig an, als dieser die folgenden Sätze diktierte. Ab und zu wischte er sich den Schweiß von der Stirn und seufzte tief.
»Wir sind ruiniert!« sagte er immer wieder. »Signore, daß Sie uns das nach zehn Jahren Freundschaft antun …«
Gespräch reihte sich an Gespräch.
Rudolf Cramer erläuterte, diktierte, beteuerte und versprach.
Zuletzt rief er die Polizei an.
Als er den Hörer endlich wieder auflegte und sagte: »Fräulein … das wäre alles. Ich danke Ihnen sehr«, war es bereits früher Morgen.
Über Venedig glomm die Sonne aus dem Meer, die Kuppeln der Kirchen wurden golden, die Kanäle färbten sich blau, auf den Märkten wurden die Stände aufgebaut, die ersten Fischerfrauen gingen in die Kirche und beteten um einen guten Tag.
Um den Palazzo Barbarino lungerten einige Bettler. Sie fielen nicht auf, nicht einmal dem Butler Cravellis, der zum Markt ging, um frische Landbutter zu kaufen.
Mit einem Aufschrei fuhr Ilse Wagner aus dem Bett empor. Die Sekunde zwischen Traum und Wirklichkeit jagte ihr einen wilden Schrecken ein.
Sie hatte geträumt, in Berlin in ihrem Bett zu liegen. Plötzlich wehten die Gardinen, und über das Dach kletterte ein Mann in ihr Zimmer. Er sah aus wie Cramer, aber seine Augen waren kalt und voller Gier. Da schrie sie auf und wollte aus dem Bett springen. Aber es gelang nicht … wie gegen eine unsichtbare Wand prallte sie und wurde zurückgeworfen.
Da wachte sie auf und saß vor einer bunt bezogenen Mauer. Rosen leuchteten ihr entgegen, und sie wichen auch nicht, als sie mit beiden Fäusten dagegen trommelte.
Erst dann war sie völlig wach und sah sich vor der Wand sitzen, an der das Hotelbett stand. In Berlin stand ihr Bett anders, und die Angewohnheit, immer an der einen Seite aus dem Bett zu steigen, hatte sie jetzt im Halbschlaf gegen die Wand prallen lassen.
Vor den großen Fenstern leuchtete die Sonne durch die Ritzen der Vorhänge zurück. Das Zauberbild des Canale Grande unter ihr ergriff sie nicht mehr. Nach den Aufregungen des ersten Tages in Venedig war jetzt, nach einer tief durchschlafenen Nacht, die klare Nüchternheit zurückgekehrt.
Allein in einer fremden Stadt. Mit 100 Mark in der Tasche. Ein Chef, der nicht gekommen ist. Ein … ein neuer Bekannter (Zu einer anderen Bezeichnung wollte sie nicht finden und widersetzte sich dem Gefühl, ihn mehr zu nennen), der sie schon in der ersten Minute belogen hatte und sich Cramer nannte. Ein Zimmer, das sie nie bezahlen konnte, und unten im Hotelbuch eine Souper-Rechnung, die ebenfalls offen bleiben mußte. Das waren die Tatsachen, wie sie Ilse Wagner sah … nicht mehr den sonnigen Canale Grande mit den bunten Obstgondeln.
Auf dem gläsernen Tisch vor der mit Damast bezogenen Couch stand in einer geschliffenen Kristallvase ein großer Rosenstrauß!
Verwundert blieb Ilse stehen. Sie konnte sich erinnern, daß er gestern abend noch nicht dort gestanden hatte. Es waren frisch gepflückte Rosen … die Tautropfen glitzerten noch an den wachsglatten, geschlossenen Blütenblättern.
Ein Zettel stak zwischen den Blüten. Eine Visitenkarte mit einer großen Schrift unter dem gedruckten Namen.
Ohne sie anzurühren, las Ilse Wagner.
Rudolf Cramer, Zürich, Opernhaus.
Und darunter, handschriftlich: »Guten Morgen –«
Mit einer schroffen Bewegung wandte sie sich ab. Sogar Karten hat er sich mit dem falschen Namen drucken lassen, dachte sie bitter. Und dieser Gedanke schmerzte sogar, so sehr sie sich dagegen wehrte. Er ist ein Hochstapler … das war jetzt nach dem Abfallen des Zaubers der vergangenen Nacht die einzige Erkenntnis, die übrig blieb. Auch diese Rosen bewiesen es.
Sie sah sie langsam im Zimmer um. Das Abendkleid lag noch über der Sessellehne, die silbernen Schuhe, die seidene, mit Gold durchwirkte Stola, die glitzernde Abendtasche … Requisiten eines Traumes, Strandgut eines Stundenglückes. Im grellen Licht der Sonne war es wie eine weggeworfene Versuchung.
Mit einem Ruck riß sie sich von dem Anblick los. Hastig eilte sie zum Kleiderschrank und riß das Reisekostüm wieder hervor. Dann rannte sie in das Badezimmer, wusch sich schnell und starrte ihr verzweifeltes Gesicht an, das ihr wie mit einem stummen Schrei entgegenprallte. Mit zitternden Händen versuchte sie, die kunstvolle Frisur des Abends nachzuformen. Es gelang ihr schlecht, aber sie ließ ihre Haare so. Es war doch gleichgültig, wie man auf der Polizeiwache erscheinen würde. Als versetztes Tippmädchen, als Zechprellerin, als ein ›Fall‹, den man mit etwas Taschengeld vom deutschen Konsulat aus nach Berlin möglichst schnell wieder abschieben würde.
Während sie den Koffer packte, hörte sie auf der Straße an der Hotelseite einige Jungen schreien. Ihre hellen Stimmen tönten grell durch die geöffneten Fenster hinein. Plötzlich war es ihr, als verstünde sie einen Namen. Sie warf die Wäsche auf den Boden und rannte an das Fenster.
Ein Zeitungsjunge stand an der Hausecke und schwenkte die Morgenzeitung. In seinem unverständlichen Geschrei hörte sie immer wieder einen undeutlich ausgesprochenen Namen:
Berwaldt … Berwaldt … Berwaldt …
Eine ungeheure Unruhe ergriff sie. Weit beugte sie sich aus dem Fenster. Der Zeitungsjunge schwenkte das Blatt. Eine Flut italienischer Worte sprudelte aus seinem Mund. Und dann das undeutliche Wort, das so klang wie Berwaldt.
Ilse Wagner rannte zurück ins Zimmer. Sie riß die Tür auf, wirbelte den Gang entlang und stürzte die breite Treppe hinab in die Halle. Dort fiel sie in die Arme Pietro Barneses, der gerade eine neuangekommene Dame zum Lift geleitete.
»Was ist mit Dr. Berwaldt?« rief sie ohne Rücksicht auf die anderen Hotelgäste, die die Halle bevölkerten. »Signore Direktor … was rufen die Zeitungsjungen da?! Was soll diese Aufregung?! Was ist mit Dr. Berwaldt …?!«
Pietro Barnese begann plötzlich, heftig zu schwitzen. Ein Page nahm die neuangekommene Dame und führte sie zum Lift … Barnese schob Ilse Wagner hinter einen Palmenkübel.
»Fassung, Signorina, bitte Fassung! Es ist Aufregung genug im Hotel! Dieser Cramer! Madonna mia! Soll ich Ihnen einen Fruchtsaft bringen lassen, Signorina?«
»Was ist mit Dr. Berwaldt?« schrie Ilse Wagner. »Was verheimlicht man mir hier?! Was steht in der Zeitung? Ich will es wissen –«
Sie lehnte sich gegen die Wand. Ihr Herz schlug rasend, und plötzlich hatte sie den tiefen Wunsch, Rudolf Cramer möge erscheinen und ihr helfen. Pietro Barnese steckte die Hand in die linke Rocktasche. Dort knisterte die zusammengefaltete Morgenzeitung. »Wir wissen gar nichts, Signorina. Nur ein Verdacht ist es, ein dummer Verdacht dieses Signore Cramer. Er meint, daß Dr. Berwaldt ein Unglück zugestoßen ist. Als ob ein Mann nicht einen Tag woanders sein kann … und gerade in einer so schönen Stadt wie Venedig –«
»Nicht Dr. Berwaldt!« Ilse Wagner war es, als setze ihr Atem aus. »Sie kennen ihn nicht … Wenn er verschwunden ist, ist ein Verbrechen geschehen. Hat man eine Spur?«
»Nichts! Gar nichts! Signore Cramer hat die halbe Welt in Aufruhr versetzt. In allen Zeitungen steht es, die Polizei sucht … aber ich zweifle, daß es etwas nützt …«
»Das … das hat alles Herr Cramer getan?« fragte Ilse leise. Aber so leise ihre Stimme war, ein Ton herrlichen Glücks schwang in ihr mit. »Er sucht ihn –«
»Seit dem vergangenen Abend. Es ist seine Entschuldigung, daß er gestern nicht …«
»Er sucht ihn«, sagte Ilse glücklich.
»Wenn Sie die Zeitungen lesen, Signorina … es ist eine Sensation für Venedig und ein Skandal für das Grand-Hotel ›Excelsior‹!«
Pietro Barnese zog die Zeitung aus seiner Tasche, entfaltete sie und reichte sie Ilse. Eine breite, rote Balkenschrift ging über die ganze Seite. Das einzige, was Ilse Wagner lesen konnte, war der Name Dr. Berwaldt.
»Bitte, übersetzen Sie mir den Artikel«, sagte sie atemlos. »Ich kann es ja nicht lesen –«
»Bitte, Signorina.«
Barnese nahm das große Blatt, räusperte sich und begann langsam zu lesen:
»Wo ist Dr. Berwaldt?
Seit vorgestern ist in Venedig ein Mensch verschwunden – irgendwo in den schweigenden Kanälen! Es ist der deutsche Arzt und Forscher Dr. Peter Berwaldt, der zu geschäftlichen Besprechungen nach Venedig kam und im Grand-Hotel ›Excelsior‹ wohnte. Vorgestern verließ er in Begleitung eines Herrn das Hotel und bestieg an der Piazetta eine Gondel. Es war keine konzessionierte Gondel, sondern eine Privatgondel. Er wurde zuletzt gesehen, wie er in den Canale Santa Anna einbog. Von da an fehlt jegliche Spur von Dr. Berwaldt.
Wir erinnern uns an den tragischen Fall der Tänzerin Ilona Szöke, die vor zehn Jahren für ihren Gatten ein Schmuckstück kaufen wollte, zuletzt ebenfalls in einer Gondel bei der Einfahrt in den Canale Santa Anna gesehen wurde und dann verschwand. Nach fünf Tagen wurde ihre Leiche erdrosselt in einem Seitenkanal angeschwemmt.
Wo ist Dr. Berwaldt?!
Dieser Ruf ergeht an alle! Wir rechnen mit der Hilfe der gesamten Bevölkerung. Meldungen nimmt jeder Polizist entgegen. Für eine Klärung des rätselhaften Verschwindens oder die Wiederfindung des Vermißten ist von privater Seite eine Belohnung von 100.000 Lire ausgesetzt worden.«
Pietro Barnese schwieg und ließ die Zeitung sinken. Er sah Ilse Wagner mitleidig an. Bleich und mit zitternden Lippen lehnte sie an der Wand.
»Die … die 100.000 Lire hat Herr Cramer ausgesetzt«, fügte er wie tröstend hinzu.
»Das … das sind nach deutschem Geld 6.000 Mark, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und wo ist Herr Cramer jetzt?«
»Unterwegs zu den Redaktionen der Zeitungen. Er hat eine Idee, eine verrückte, Signorina. Er will den Fall ganz groß aufmachen … so sagt man dazu. Er will den Verbrecher – wenn es ihn überhaupt gibt – nervös machen, herauslocken, ihn zu einem Fehler verleiten. In einer Stunde sollen Extrablätter erscheinen mit der Geschichte der armen Ilona Szöke. Ich habe sie noch gekannt … ein wunderschönes Mädchen …«
»Ich möchte auf mein Zimmer«, sagte Ilse Wagner schwach. »Ich … ich kann nicht mehr –«
Pietro Barnese winkte einem Boy, der Ilse zum Lift begleitete.
Herbeidrängende, aufgeregte Hotelgäste umringten Barnese. Zeitungen wurden geschwenkt, ein Gewirr von Stimmen erfüllte die Palmenhalle. Beim Hinaufgleiten des Lifts sah Ilse Wagner, wie Pietros Cut in der Flut der Sommeranzüge und Kleider untertauchte und nur seine Hände aus dem Gewühl hervortauchten.
Für Sergio Cravelli begann der Tag mit einer bösen Mißstimmung und einem ohnmächtigen Ärger.
Zwei Grundstücke, auf die er gehofft hatte, wurden zurückgezogen, sicherlich nur, um den Preis in die Höhe zu treiben. Drei Kunden, die schon früh am Morgen kamen, beschwerten sich über einige Bettler, die sie am Fuße der Palazzotreppe angehalten hatten und sie nach den Namen gefragt hatten. Sie waren so verblüfft gewesen, daß sie ihn genannt hatten.
Cravelli rannte auf den Balkon, der über den Canale Santa Anna hing, und sah hinunter auf seine Freitreppe. Links und rechts vor der Haustür hockten je ein zerlumpter Bettler und starrten trübsinnig in die schmutzigen Wasser des Kanals.
»Ein Lumpenpack!« schrie Cravelli und rannte in sein Büro zurück. »Man sollte die Hunde draufhetzen!«
Aber er wagte nicht, es zu tun. Er war Venezianer. Er kannte die Macht der Bettlergilde. Eine Feindschaft mit den Ratten der Altstadt war nur durch einen Wegzug aus Venedig zu beenden. So hörte er mit knirschender Wut von jedem seiner Besucher, daß sie angehalten worden waren.
»Was wollten sie?« tobte er. »Nur den Namen? Warum denn das?!« Er rannte wieder auf den Balkon und beugte sich über die Brüstung. »He!« schrie er zur Treppe hinunter. »Was sitzt ihr da herum?! Das ist meine Treppe! Mein Grund und Boden! Ich rufe die Polizei, ihr Kreaturen!«
Die Bettler sahen still zu ihm empor. Sie zogen die Hüte ab und hoben sie wie bettelnd zu ihm hoch. Cravelli hieb mit den Fäusten auf die Mauer und ging zurück in sein hallenartiges Arbeitszimmer. Dort setzte er sich hinter seinen massigen Schreibtisch und trank den Kaffee, den ihm der Butler servierte.
»Auch hinter dem Haus stehen sie …«, sagte er.
»Auch dort?« schrie Cravelli.
»Sie müssen schon die Nacht dort gestanden haben. Paolo, der gegen Morgen zurückkam, wurde bereits angehalten. Ebenfalls Luigi und Sophia.«
Cravelli nickte. Hastig trank er seinen Kaffee, aß ein Stück Gebäck und rannte dann wieder auf den Balkon. Zwei andere Bettler saßen auf der Treppe. Einer von ihnen spielte sogar Mundharmonika.
Es muß einen Sinn haben, dachte Cravelli. Unruhig, mit schnellen, kleinen Schritten, rannte er in dem riesigen Büro hin und her, vom Balkonaustritt zur Tür, rund um den Schreibtisch und wieder zu einem Fenster. Durch die Gardine verdeckt blickte er hinunter zum Kanal. Die Bettler saßen auf der Treppe. Jetzt nähte einer von ihnen seinen zerrissenen Rock.
Eine plötzliche Unruhe stieg in Cravelli hoch. Er stand unter Bewachung … das war jetzt klar. Aber warum bewachten ihn die Bettler? Warum überhaupt wurde er bewacht? Was war nach draußen gedrungen, an das feine Ohr der Ratten?
Pünktlich um zehn Uhr vormittags klopfte es. Der Butler brachte die Post und die Morgenzeitungen.
Unter einem Berg von Briefen lagen als Letztes die Morgenzeitungen von Venedig.
Cravelli nickte mißmutig und blätterte die Briefe durch. Lautlos entfernte sich der Butler. Cravelli warf die Briefe, nachdem er die Absender gelesen hatte, ungelesen zur Seite, dann griff er nach der ersten Zeitung und schlug die Titelseite auf.
Die Post hatte Zeit. Wichtiger war, ob Prof. Panterosi einen Artikel in der Zeitung hatte. Am vergangenen Abend hatte Cravelli eine kurze Unterredung mit dem Chirurgen gehabt. Panterosi war im Palazzo Barbarino erschienen, entgegen seiner Art unangemeldet und ziemlich erregt.
»Wo ist dieser deutsche Arzt?!« hatte er gerufen, kaum daß er durch die Tür der Bibliothek rannte. »Ich muß ihn sprechen!«
»Sie meinen Dottore Berwaldt?« hatte Cravelli hinhaltend gefragt.
»Wen denn sonst? Im Hotel ist er nicht. Ich muß ihn sofort sprechen! Sofort!«
»Ist Ihre Patientin gestorben, Professor?«
»Gestorben? Sie ist schmerzfrei!« Panterosi setzte sich in einen der Sessel und trommelte mit den Fingern nervös auf die Lehne. »Es ist unbegreiflich! Auch die Röntgenkontrolle beweist deutlich ein Aufweichen des Stammcarcinoms! Dieser Mann ist ein Genie! Ein Retter der Menschheit! Wo ist er! Ich brauche dringend zur Weiterbehandlung weitere Injektionen –«
Cravelli hatte Prof. Panterosi mit einer Mischung von Erstaunen und Entsetzen angesehen.
»Weiterbehandlung? Ich dachte, Sie haben nur den Affen Julio als Versuch –«
Prof. Panterosi fuhr sich mit beiden Händen verzweifelt über das zerknitterte Greisengesicht. »Cravelli … Mio lebte weiter! Mein Gott – starren Sie mich nicht so an! Ja, ja … ich habe mit dem Rest, den Dr. Berwaldt mir für Julio dagelassen hatte, eine inoperable Frau behandelt. In der Klinik weiß es nur mein Oberarzt. Die Frau lag bereits im Koma! So oder so … es war gar keine Hoffnung mehr vorhanden. Da habe ich ihr dreimal das Berwaldtmittel injiziert. Ich habe mir gesagt: Wenn man einer Sterbenden eine winzige Chance geben kann –«
»Und?« Cravelli schluckte krampfhaft. »Professor – es war der erste Menschenversuch. Selbst Berwaldt hat bisher nur Mäuse und Ratten –«
»Die Frau erwachte aus dem Koma!« schrie Panterosi. »Wir standen herum wie kleine Kinder, die ein Wunder erleben. Mein Gott, begreifen Sie jetzt, Cravelli! Ich brauche Dr. Berwaldt … ich brauche neue Injektionen – wir haben ein Jahrhunderte lang verschlossenes Tor aufgestoßen …«
»Dottore Berwaldt ist abgereist –«, sagte Cravelli leise.
»Wieso? Wohin?«
»Zurück nach Berlin.«
»Das kann nicht sein. Ich habe mit Berlin telefoniert. Er ist dort nicht angekommen! Auch hat er keinerlei Nachricht gegeben, daß er kommt!«
Sergio Cravelli schnürte es die Kehle zu. Damit hätte man rechnen müssen, dachte er. Natürlich hatte Panterosi keine Ruhe gegeben, als er den beginnenden Erfolg bemerkte. Hier war ein Fehler, der das ganze Unternehmen in Gefahr bringen konnte. Und man konnte auch nicht die bewährte Methode anwenden und die Zeugen verschwinden lassen … Prof. Panterosi war kein Patrickson oder Dacore. Er bedeutete von jetzt an einen unbewußten, gefährlichen Gegenspieler.
Cravelli hob bedauernd die Schultern. »Er wird vielleicht noch andere Besuche haben? Ein Mann wie er ist begehrt –«
»Begehrt?« Prof. Panterosi sprang auf. »Mann, wissen Sie überhaupt, was dieser Berwaldt da entdeckt hat.«
»Und ob ich das weiß, Professor«, antwortete Cravelli ehrlich.
»Ich habe gedacht, Sie seien mit Dr. Berwaldt als Vertreter einer Industriegruppe –«
»Das stimmt, Professor. Aber Dr. Berwaldt erbat sich Bedenkzeit.« Auch das stimmt, dachte Cravelli. Ich lüge nicht. Berwaldt sitzt im Keller, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er weich genug ist.
»Sie haben ihm nicht genug geboten, was?« Panterosi rannte in der großen Bibliothek hin und her. »Dieser Geiz, diese Krämerseelen! Da hat man einen Mann in der Hand, der Millionen retten kann … und was tut man? Man läßt ihn mit Bedenkzeit ziehen! Alle Schätze der Erde sollte man vor ihm aufhäufen! Er hat sie verdient –«
»Ich weiß das alles, Professor. Aber Berwaldt ist ein schwieriger Mann.«
»Sein gutes Recht! Er weiß, was er da erfunden hat! Cravelli! Wo bleibt Ihr Nationalismus?! Italien – das Land, das die Welt von der Krebsgeißel befreit! Mensch, das ist wie die Entdeckung eines Galilei! Und Sie lassen ihn weggehen!«
»Er wird wiederkommen. Bestimmt.« Cravelli spürte ein starkes Unbehagen. Wenn Panterosi über seine Erlebnisse der letzten Tage einen Bericht veröffentlichte, würde die Meute der internationalen Presse sich auf den Palazzo Barbarino stürzen. Das war genau das, was Cravelli auf alle Fälle verhindern mußte.
Prof. Panterosi war dann wieder gegangen. Erregt, auf die Kaufmannsseelen schimpfend, Cravelli beschwörend, die Berwaldtsche Erfindung für Italien zu sichern.
Daran dachte Sergio Cravelli, als er die erste Zeitung auffaltete.
Eine rote Schlagzeile schrie ihm entgegen.
»Wo ist Dr. Berwaldt?«
Cravelli fegte die Briefstapel vom Tisch und öffnete mit bebenden Fingern die anderen Zeitungen. Überall war es das gleiche. Auf der ersten Seite, in roter schreiender Schrift.
»Wo ist Dr. Berwaldt?«
Und darunter der Text, bei dessen flüchtigem Lesen kalter, klebriger Schweiß aus Cravellis Körper brach. Sein Vogelgesicht war fahl, fiel in sich zusammen, als löse sich unter der Haut das Fettgewebe auf.
Ilona Szöke … vor zehn Jahren … im Canale Santa Anna … Dr. Berwaldt, zuletzt gesehen im Canale Santa Anna … Wo ist Dr. Berwaldt … 100.000 Lire Belohnung …
Cravelli sprang auf und rannte hinaus. Von der Halle blickte er auf seine breite marmorne Treppe zum Canale. Wieder saßen die Bettler dort … sie starrten gegen den Palazzo und spielten auf einer Harmonika und einer Geige wehmütige Melodien. Cravelli stieß den Kopf vor. Er kannte die Melodie. Man spielte sie bei den Begräbnissen … Grabgesänge …
»Ruhe!« brüllte er und hieb mit der Faust gegen die Wand. »Ruhe! Ruhe!!« Er rannte durch die Halle, raste die Treppe hoch, durchquerte sein Arbeitszimmer und stürzte auf den Balkon. Mit beiden Fäusten trommelte er auf die Steinbrüstung. »Ruhe!« schrie er grell. »Ruhe! Zum Teufel noch einmal! Ruhe!«
Der Butler und zwei Diener eilten ins Zimmer. Der Butler trug ein Glas Wasser und reichte es dem bleichen Cravelli. Mit einem Fluch nahm er das Glas und warf es vom Balkon gegen einen der Bettler. Dieser fing es geschickt auf, betrachtete es, nickte zufrieden und steckte es in die Tasche seines zerlumpten Anzuges.
Cravelli schlug die Türe zu. Mit zusammengebissenen Zähnen sah er seine Bediensteten an. Hatten Sie auch schon die Morgenzeitungen gelesen? Sicherlich. Es war das erste, was man in der Küche tat. Lockten sie die 100.000 Lire Belohnung? Stieg in ihnen nicht Verdacht auf?
Eine stille, aber fast lähmende Angst kroch in Cravelli hoch.
»Was ist? Was steht ihr hier herum?« schrie er, um sich mit dem Klang seiner Stimme Mut zu machen. »Mich machen diese Ratten da draußen nervös! Wahnsinnig machen sie mich! Sorgt dafür, daß sie verschwinden! Ich gebe euch 10.000 Lire extra, wenn sie verschwinden! Und wenn ihr sie in den Canale werft …«
»Es werden neue kommen, Signore.« Der Butler bückte sich und hob die auf den Boden gefegten Briefe auf. »Wir haben es schon versucht … es ist sinnlos.«
»Aber was wollen sie denn hier?« keuchte Cravelli.
Die Diener sahen hilflos aus. Auch der Butler machte ein verzweifeltes Gesicht. »Wir wissen es nicht, Signore. Sie sagen nichts … sie lächeln nur und bleiben –«
Cravelli winkte. Die Diener verließen schnell das Büro. Er ging noch einmal an das Fenster und starrte hinaus. Die Bettler verhandelten mit einem Besucher Cravellis. Er erkannte ihn. Es war Paolo Dipaccio, ein Landmann, der seine Felder verkaufen wollte, weil eine Siedlungsgesellschaft Reihenhäuser bauen wollte. Anscheinend wollte Dipaccio nicht seinen Namen nennen. Die Bettler versperrten ihm den Weg zur Tür. Aber auch zurück konnte er nicht mehr … der Gondoliere hatte seine Gondel wieder abgestoßen und ruderte zum Canale Grande zurück, ungeachtet der Rufe, die Dipaccio ausstieß.
Wenn das Panterosi gelesen hat, dachte Cravelli und zerknüllte die Zeitung. Sicherlich hat er es gelesen. Und er wird in wenigen Minuten hier erscheinen, die Bettler werden ihn festhalten, er wird toben, es wird einen Skandal geben, er wird die Polizei alarmieren … Cravelli schluckte krampfhaft. Natürlich, die Polizei. Sie würde nun auch zu ihm kommen, nach diesem Artikel! Und es würde wieder wie vor zehn Jahren sein. Fragen über Fragen, aber dieses Mal argwöhnischer, gezielter.
Er setzte sich schwer hinter seinen Schreibtisch und legte den Kopf in beide Hände. Zehn Meter unter den Dielen seines Zimmers saß um die gleiche Zeit ein Mann vor einem voll eingerichteten Laboratorium, unrasiert, geblendet von den Tag und Nacht brennenden Neonröhren, und trank in kleinen Schlucken Orangensaft.
Cravelli schloß die Augen. Ging so ein erfolgreiches Leben zu Ende, dachte er. Ist das der Abschied des großen Sergio Cravelli? Wie zielbewußt war bisher sein Weg gewesen, getragen von der unheimlichen Logik eines Erfolgsmenschen.
Sein Vater war ein Beamter gewesen. Ein vornehmer, rechtschaffener, gläubiger Mann. Verwaltungssekretär im venezianischen Arsenal. Er ließ sich immer mit ›Herr Sekretär‹ anreden und hatte eine große Weisheit, die er auch dem kleinen Sergio fast täglich mitteilte: »Merke es dir, Bambino … wer dem Staat dient, führt ein gottgefälliges Leben.« Und so stand es eigentlich fest, daß auch Sergio Beamter werden würde.
Aber er wurde es nicht. Während sein Vater sich weiterbildete und einen verbissenen Fleiß an den Tag legte, lief Sergio aus der Schule fort und wurde Bote bei einem Architekten. Der alte Cravelli schrumpfte vor Kummer zusammen, aber sein Sohn wurde stark und groß und ließ sich nichts mehr sagen. Vom Boten avancierte er zum Zeichner. Der Architekt bildete ihn selbst aus und stellte ihn zum Auszeichnen der Pläne an den Zeichentisch.
Mit achtzehn Jahren bekam Sergio Cravelli einen Begriff, was es heißt, Wissen zu besitzen. Mehr Wissen als andere. Er machte eine Aufnahmeprüfung und wurde Schüler der Hohen Schule für Baukunst in Venedig. Das versöhnte ihn wieder mit seinem Vater, der ihn überall mit ›Der Herr Student Cravelli‹ vorstellte. Mit zwanzig Jahren verließ er die Schule wieder. Er hatte entdeckt, daß viele Leute ihr Land verkaufen wollten, aber nicht wußten, wie man das anfängt. So wurde Sergio Cravelli Grundstücksmakler. Ganz klein begann er, mit einem Zimmer am Fischmarkt. Der Gestank von Makrelen und getrocknetem Fisch lag wie eine Wolke unter der Decke, aber die Kunden kamen … zuerst arme Bauern, die er begaunerte, dann Grundbesitzer, denen er die Ländereien abschwatzte und die er dann als gutes Weideland weiterverkaufte, obwohl sie vor Wasserarmut jeden Sommer ausdörrten. Allerdings verkaufte er diese Grundstücke im Herbst, wo sie nach den Regentagen in vollem Saft standen. Und nie kamen Anzeigen, was Cravelli am meisten wunderte. Im Gegenteil, es sprach sich bald herum, daß man bei Sergio Cravelli gut kaufen und noch besser verkaufen konnte.
Von jeher sich über die Dummheit seiner Umwelt wundernd, ging Cravelli nach diesen Maklererfolgen zu größeren Geschäften über. Er kaufte alte Villen auf den Lagunen, renovierte sie, indem er sie nach außen hin aufpolierte und verkaufte sie wieder an Ausländer mit mindestens 300 % Gewinn. Das gleiche machte er mit Ladengeschäften.
Nach zehn Jahren intensiver Arbeit kaufte sich Sergio Cravelli den Palazzo Barbarino am Canale Santa Anna. Er war ein großer Mann geworden. Sein Vater starb in dem Bewußtsein, einen wundervollen Sohn zu haben. Das Maklergeschäft blühte weiter. Cravelli gründete Filialen in allen großen Städten Italiens. Aber diese Büros waren nur Firmenschilder, weiter nichts. Cravelli war plötzlich, ohne daß man es nach außen hin merkte, der Sprung in das große Geschäft geglückt. So, wie ein Fuchs die heiße Füchsin riecht, tauchte Cravelli eines Tages in den Kreisen auf, wo Millionen zur Selbstverständlichkeit gehören.
Die ganz großen Händler handeln nicht mit Häusern … sie handeln mit Seelen. Mit Toten. Mit dem Leid der Welt. Mit dem Schrecken der Menschheit. Mit der Vernichtung.
Cravelli stieg in den Waffen- und Chemikalienhandel ein. Ob in Nordafrika oder Korea, in Indochina oder Südamerika, im Dschungel oder in der Wüste … überall war die Abkürzung S. C. ein Zauberwort, das Waffen, Munition und Revolution versprach. Geheimdienste, Militärs und Staatsmänner kannten ihn; man empfahl ihn wie eine besonders attraktive Dirne. Man reichte ihn herum. Von unbekannten riesigen Waffenlagern aus, meistens versteckt auf kleinen Felsinseln vor der dalmatinischen, griechischen oder vorderasiatischen Küste, gegen Cravellis Schmugglerboote oder seine falsch gemeldeten Dampfer zu den Plätzen, wo Blut und Tränen, Mord und Elend das Land verwüsteten … mit der Gütemarke S. C. Nebenbei festigte sich sein Ruf, der beste Makler Norditaliens zu sein, denn nun konnte er es sich leisten, Grundstücke billig abzugeben und sich dadurch Freunde zu verschaffen.
Bis zu jenem Tag vor zehn Jahren!
Es war ein zauberhafter Abend voll Musik und schwüler Sommerhitze. Sie drückte aufs Herz und gab den Gedanken erschreckende wollüstige Träume.
In dieser Stimmung sah Cravelli von seinem Balkon, wie eine Gondel bei ihm anlegte. Eine junge Frau stieg aus. Als sei es eben erst gewesen, hörte Cravelli heute noch den Klopfer gegen die Tür dröhnen und hörte die helle Stimme der Frau: »Bleiben Sie hier, Gondoliere! Warten Sie auf mich.«
Mit eigener Hand hatte Cravelli geöffnet. Er verstummte beim Anblick der Schönheit, die ihm entgegenlachte. Der Gruß blieb ihm in der Kehle stecken, er stammelte heiser einige unverständliche Worte und geleitete die junge Frau in seine Bibliothek.
»Ich möchte den Ring sehen –«, hatte sie gesagt.
»Einen Ring?« hatte Cravelli dumm gefragt.
»Ja! Sie haben doch einen Ring zum Verkauf angeboten. In der Zeitung –« Ihre Stimme war hell, energisch und sehr aufreizend. Er stellte sich diese Frau in seinen Armen vor, heiß flüsternd und dann vergehend und aufblühend in Schreien der Lust. Es waren Augenblicke, die Cravelli immer wieder durchlitt, wenn er sich an diesen schwülen Sommerabend erinnerte.
Er war so verwirrt, daß er an der Schwelle zur Bibliothek stolperte. Dann zeigte er den Ring und nannte einen lächerlich niedrigen Preis. Es war ein uralter Ring, gefunden bei Ausgrabungen. Ein Wertstück, um das jedes Völkerkundemuseum zu ihm gekommen wäre. Die Frau lächelte … sie zählte mit schlanken, flinken Fingern das Geld auf den Tisch, streifte den Ring über und ließ ihn in dem Licht der Standlampe blitzen. Cravelli stand hinter ihr. Tief sog er den herb-süßen erregenden Duft ihres Haares ein und der leichte Flaum auf der Nackenhaut und an den Wangen – eine Pfirsichhaut – ließen ihn rasend werden.
Und da war noch mehr: Die Linie ihrer Schultern, der Schwung ihrer Taille und der Hüften, die sich durch das Kleid abzeichnenden Brüste … und draußen der schwüle Abend über den Kanälen, die drückende, begehrlich machende heiße Luft von den Lagunen. Cravelli seufzte tief.
Erstaunt hatte sich Ilona Szöke umgeblickt. Sie sah in zwei flimmernde Raubtieraugen. Sie wollte etwas sagen, wollte zurückweichen … da hatte Cravelli schon zugegriffen, riß sie an sich, küßte die Umsichschlagende, wild, wahnsinnig, keuchend, ein lüsternes Tier … er biß ihr wie ein Vampir die roten Lippen auf, saugte die Blutstropfen auf und umklammerte sie mit eisernen Armen.
Sie schrie, gellend, hell, um sich tretend … da hatte er die Hände auf ihren Mund gepreßt und sie mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen, immer und immer wieder, bis sie ohnmächtig in seinen Händen hing –
Sergio Cravelli trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Die Erinnerung ließ sein Herz zucken.
Vor zehn Jahren war das. Niemand hatte Ilona Szöke vom Palazzo Barbarino fortfahren sehen. Auch der draußen wartende Gondoliere blieb verschollen, ebenso wie seine Gondel. Eines Tages zog man Ilona aus dem Rio Marin. Es war ein Tag, den Cravelli nie vergaß. Er hatte aber nie damit gerechnet, daß sie jemals wieder an die Oberfläche kam. Er hatte auf die Ratten gehofft, die sonst alles abnagten, was in die Kanäle hinter den glänzenden Fassaden geschwemmt wurde.
Die Polizei war gekommen. Aber nie fiel ein Verdacht auf den großen Cravelli. Es waren nur Routinefragen gewesen. Man glaubte ihm ohne große Beweise, daß Ilona Szöke nach der Besichtigung des Ringes wieder weggefahren war. Im Gegenteil … man faßte die Untersuchungen so zusammen, daß als Mörder nur der Gondoliere in Frage käme! Man hatte ihn nie wieder gesehen. Das wurde nun erklärlich: Nach dem Mord war er aus Venedig geflüchtet. Vielleicht lebte er in Mailand oder Rom oder Genua … man kannte seinen Namen nicht. Und so schloß man die Akten über den Fall ›Ilona Szöke‹. Nur Rudolf Cramer glaubte nicht an diese billige und einfache Auflösung des Rätsels von Venedig. Jedes Jahr erschien er im Palazzo Barbarino und brachte Cravelli allein schon durch seine Gegenwart an den Rand der Verzweiflung. Jedes Jahr wurde die Erinnerung wieder aufgerissen, und es brauchte Wochen, bis selbst das harte Gewissen Cravellis sich beruhigte.
Er starrte vor sich hin. Die Zeitungen vor ihm schrien ihn an. ›Wo ist Dr. Berwaldt!‹ Mit beiden Händen griff er zu, zerfetzte die Blätter und warf sie im Zimmer herum.
»Es muß etwas geschehen!« sagte Cravelli laut. Mit gespreizten Beinen stand er auf den Zeitungsfetzen. »So geht es nicht weiter!« Er ging zur Tür, schloß sie ab, drückte fest gegen die Klinke, um sich zu überzeugen, daß sie auch sicher sperrte, und wandte sich dann dem riesigen Bücherregal zu. Etwa in der Mitte des Regals, wo alte, dicke Folianten standen, bibliophile Ausgaben alter venezianischer Seefahrer-Beschreibungen und Seekarten, nahm er einige Bücher heraus. In der getäfelten Rückwand blinkte schwach ein Schlüsselloch auf. Cravelli nahm aus der Weste einen kleinen Schlüssel, mit einem leisen Quietschen drehte sich dieser im Schloß. Cravelli preßte die Schulter gegen das Regal. Mit einem dumpfen Knarren bewegte sich ein Teil der Wand und schwang nach innen weg in einen Hohlraum, eine Art Diele. Nacktes, dickes Mauerwerk lag hinter den Bücherstapeln. Cravelli drehte an einem Lichtschalter. Eine trübe brennende Birne flammte auf.
Hinter dem Regal, von der kleinen Diele ab, führte eine gemauerte Treppe, steil und eng, in einen abseits gelegenen, von den anderen Kellerräumen abgetrennten Keller. Es war ein ganzer Komplex, der auf keinem Plan des Hauses verzeichnet war und dessen Existenz bei dem Gewirr von Räumen und Gängen und Treppen überhaupt nicht geahnt wurde. Diese Kellerflucht teilte sich in drei Räume … ein leidlich bewohnbares Zimmer mit großen, in die Wand eingebauten Schränken, einem Bett, einer Clubgarnitur, einem Tisch, einem Teppich und gemütlichen Stehlampen. Nebenan lag ein vollständig eingerichtetes Laboratorium. Diesem schloß sich ein dunkler Raum an, den nur Cravelli kannte. Die Tür war immer abgeschlossen, und es gab nur einen Schlüssel, den Cravelli in der Tasche trug.
Cravelli betrat das wohnliche Zimmer und sah sich um. Es war leer. Die Tür zum Labor war angelehnt. Schweratmend ließ sich Cravelli in einen der Sessel fallen und legte auf die Rauchtischplatte einen geladenen Revolver. Dann sprang er wieder auf, holte aus einem der eingebauten Schränke ein dickes Aktenbündel und kehrte zu seinem Sessel zurück.
Mit dem Knauf des Revolvers klopfte er auf die Tischplatte.
»Hallo!« rief er. »Besuch, Dottore!«
Niemand antwortete. Aus dem Labor kam kein Laut. Erstaunt schüttelte Cravelli den Kopf.
»Sie können ruhig nähertreten, Signore«, rief Cravelli. »Sie werden weder gebraten noch gefressen –«
Aus dem Labor trat langsam Dr. Berwaldt. Sein Sommeranzug war schmutzig und zerknittert. Das schmale, blasse Gelehrtengesicht war fahl, von einem grauen Bart umgeben, und zeigte noch die Qualen der überstandenen Tage. Er blieb an der Tür zum Zimmer stehen und sah Cravelli mit einer Art Verachtung an, die den Italiener unruhig werden ließ. Als sein Blick auf den auf dem Tisch liegenden geladenen Revolver fiel, lächelte er sogar.
»Sie haben Angst vor einem lebenden Leichnam?« fragte er.
Cravelli winkte auf einen der Sessel. »Bitte, setzen Sie sich Dottore.«
»So höflich?«
»Haben Sie mich jemals anders kennengelernt?« Cravelli lächelte jovial. »Wie geht es Ihnen?«
Dr. Berwaldt setzte sich. »Schlecht. Es wäre besser gewesen, wenn Sie mir wirklich Curare injiziert hätten.«
»Bin ich ein Idiot, Dottore?« Cravelli legte die Hände gemütlich über den Bauch. »Dann wären Sie heute steif wie ein Brett, und Ihre wertvollen Gehirnzellen wären zerfallen. Das würde mir gar nicht nützen, mein Lieber. Das heißt, wenn man sich die Entwicklung der Dinge logisch betrachtet, wäre es jetzt besser, Sie lägen irgendwo auf dem Grund irgendeines dunklen Kanals.«
»Sie hatten mir Evipan gespritzt?«
»Ja. Eine Dummheit, ich gestehe es. Ich hatte damals einen anderen Plan, als es heute nötig geworden ist. Es war eine kleine Beruhigungs- und Schlafspritze … Sie waren zu aufgeregt, Dottore. Und ich nehme an, daß Sie niemals freiwillig in die Cravellische Unterwelt gestiegen wären –«
»Nie!«
»Sehen Sie. Heute bedauere ich vieles –«
»Was soll das heißen?« fragte Dr. Berwaldt. Er spürte, wie sein Atem aussetzte. Cravelli, der ihm gegenübersaß, war wie verwandelt. Er wirkte unsicher.
Cravelli beugte sich vor und legte die Hand auf den Revolver. Er sah Dr. Berwaldt ernst an … und in diesem Blick erkannte Berwaldt, daß eine unausweichliche Entscheidung auf ihn zukam. Die Stunde, auf die er gewartet hatte, war gekommen. Und er wußte in diesem Augenblick auch, daß es die letzten Minuten waren, die ihm blieben.
»Die Lage, in der wir uns befinden, ist äußerst kritisch geworden«, sagte Cravelli mit einer verblüffenden Ehrlichkeit. »Wie ernst sie ist, beweist Ihnen, daß ich es Ihnen sage. Oben, an der Sonne, ist der Teufel los.« Cravelli zögerte, dann nahm er seinen Revolver, ging zu einem der Schränke und holte Kekse, Fruchtgebäck und eine Flasche Rotwein heraus. »Machen wir es uns gemütlich, Dottore … Es ist ein besonders wichtiger Augenblick in unserem Leben –«
»Was wollen Sie?« fragte Dr. Berwaldt. Er rührte das Glas nicht an, das ihm Cravelli hinschob.
»Eine solche Frage sollte ein so intelligenter Mann wie Sie nicht stellen.« Cravelli lächelte und nahm einen tiefen Schluck. Mit dem Handrücken putzte er sich die Lippen ab. »Es ist das alte Lied zwischen uns – ich brauche Ihre Formeln!«
»Sie benehmen sich kindisch, Cravelli.« Dr. Berwaldt faltete die Hände und stützte den Kopf darauf. »Hätten Sie mir Curare injiziert, wäre das irgendwie logisch gewesen. Sie haben ja auch bei Patrickson und Dacore keine Hemmungen gehabt. Aber mich mit Evipan zu betäuben, hier unten einzusperren und alte Walzen aus Wallace-Romanen abzuspielen mit Geheimkellern und künstlicher Belüftung … das ist doch lächerlich! Was bezwecken Sie eigentlich damit? Glauben Sie, daß Sie in einem Keller mehr bei mir erreichen als oben in Ihrer herrlichen Bibliothek?! Ich glaube, Sie haben mit einer gewissen Feigheit bei mir gerechnet …«
»Ja –« sagte Cravelli ehrlich.
»Sie haben gedacht, Kellergewölbe und die Angst, getötet zu werden, brechen meinen Willen? Lieber Cravelli, Sie haben eine verdammt schlechte Meinung von mir. Ich bin zwar kein Held, das war ich nie, aber ich habe so etwas wie Charakter!«
Cravelli verzog sein Gesicht zu einem Grinsen. Es war eine Maske, hinter der sich Hilflosigkeit verbarg.
»Ich könnte Sie verhungern lassen, Dottore –«
»Von einer bestimmten Phase des Hungerns ab wird der Mensch apathisch. Versuchen Sie es …«
»Ich könnte Sie als zweites verdursten lassen. Sie wissen, daß man von Durst wahnsinnig werden kann. Sie werden die Wände ankratzen und die Feuchtigkeit aus den Mauerritzen saugen …«
»Machen wir eine Probe –« sagte Dr. Berwaldt heiser.
»Als drittes könnte ich Sie hier unten lebendig verfaulen lassen. An die vierte Möglichkeit wage ich gar nicht zu denken.«
»Sie sollten begreifen lernen, daß der Tod für mich keine Schrecken hat. Nicht mehr –«
»Was heißt: nicht mehr?«
»Ich habe erkannt, daß ich mit meiner Entdeckung die Grenzen, die einem Menschen gesetzt sind, überschritten habe. Es wäre der Menschheit mit meinem Tod mehr gedient, als mit dem Bestand meines kleinen Lebens, das Millionen töten kann, weil dieses Gehirn …« Dr. Berwaldt klopfte gegen seine Stirn … »dieses schrecklich kluge Gehirn etwas erfunden hat, was einfach nicht entdeckt werden durfte!«
»Seien Sie doch nicht so dickköpfig, Dottore. Ich biete Ihnen 25 Millionen für die Formeln.« Cravelli trommelte mit den Fingern auf die Lehne des Sessels. »Es führt doch zu nichts.«
»Genau das ist mein Ziel. Nichts!«
»Aber warum denn, mein Bester? Ich nehme Ihnen die moralische Größe einfach nicht ab. Bei 25 Millionen Dollar hört die Moral auf! Sie ziehen irgendwohin, wo die Welt herrlich ist … auf die Bahamas, nach Palma, nach Florida, nach Tahiti … die Welt ist so groß, wenn man 25 Millionen im Rücken hat … Was kümmert Sie dann noch, was man mit Ihren Formeln macht?«
»Es gibt etwas anderes, das mit keinen Millionen aufgewogen werden kann. Das Bewußtsein, daß meine Entdeckung den Tod für Millionen Menschen bedeutet. Nein! Ich will den Frieden, Cravelli. Ich kämpfe jetzt mit aller Leidenschaft für diesen Frieden, gerade jetzt, wo ich weiß, daß mein Gehirn diesen Frieden für immer vernichten kann! Mein eigenes Leben ist mir nichts mehr wert! Und es ist tröstend, daß mit mir auch meine Entdeckung stirbt!«
»Das ist auch das einzige, was Sie noch weiterleben läßt!« schrie Cravelli.
»Ich weiß. Haben Sie eigentlich kein Gewissen, Cravelli?«
»Mein Gewissen ist der Kursstand der internationalen Börse. Der Kurs steht auf Sturm! Es stinkt an allen Ecken der Welt so gewaltig, daß man nur zuzugreifen braucht, um goldene Finger zu haben … in meinem Metier! Und nun kommt Ihr Präparat, Dottore! Wissen Sie überhaupt, was das bedeutet? Mit ihm schaffe ich eine bisher unbekannte, rabiate Hausse auf allen geheimen Weltmärkten. Es geht um Milliardenbeträge, Dottore Berwaldt!«
»Ja, um Milliarden Menschen! Um Milliarden grausam Sterbender! Denken Sie an die Atombombe. Als die erste 1945 über Hiroshima und die zweite über Nagasaki fiel, hielt die Welt voll Entsetzen den Atem an und beendete ein Völkermorden. Aber die dreißigtausend Toten von Hiroshima und die hunderttausend Verkrüppelten, Verstümmelten und auf Generationen organisch Gestörten waren keine lange Warnung. Im Gegenteil … ein Wettlauf um das Atom begann, ein Rennen, wer zuerst die Grausamkeit zur Perfektion führt! Bikini, das Atoll im Stillen Ozean, hüllte sich kilometerweit in eine Wolke radioaktiven Wassers … auf Kamtschatka verdunkelte sich der Himmel … und in der Tundra explodierte eine Bombe von 100 Sonnen … Und plötzlich wurde es still, denn Uran und Wasserstoff veralteten. Die Wissenschaft schritt weiter … der Tod wurde lautloser, sanfter, aber um so schrecklicher. Der moderne Tod hat es nicht nötig, zu krachen und zu blenden … er ist ›sauberer‹ geworden: Künstliche radioaktive Wolken senden tödlichen Regen auf ganze Völker … Vereisungsbomben lassen die Meere zufrieren … Sturmluftbomben jagen die Meere über die Länder hinweg … Vakuumbomben saugen die Luft weg und lassen die Lungen platzen … Bakterienbomben verseuchen ganze Erdteile … still, unmerklich … wie die Eintagsfliegen werden die Menschen einfach umfallen … die ganze Ausgeburt einer höllischen Phantasie wurde Wirklichkeit … ersonnen in den Gehirnen stiller, ernsthafter Gelehrter! Und nun soll ich dieses Grauen um ein vielfaches noch vermehren? Nein – ich hatte den Glauben, Millionen Krebskranken helfen zu können … erst, als ich entdeckte, daß man auch Völker still auslöschen kann mit eben dem gleichen Mittel, habe ich mein Gehirn verflucht –«
Cravelli hatte Dr. Berwaldt aussprechen lassen. Er unterbrach ihn nicht, er trank nur ein neues Glas Rotwein und faltete die Hände, als Berwaldt erschöpft schwieg. Mehrmals nickte Cravelli … jetzt drückte seine Miene ehrliches Mitleid aus.
»Sie unheilbarer Idealist!« sagte er halblaut. »Sie glauben wirklich, daß man Ihre winzige Stimme nach Vernunft in dem Gebrüll der feindlichen Brüder hört?!«
»Wenn man die Menschen überzeugen kann –«
»Dottore! Welch eine Vermessenheit! Den modernen Menschen überzeugen Sie nur mit Zahlen! Nicht mit Vernunft! Sagen Sie ihm, daß Sie mit einem Serum eine Million Leprakranke retteten, so schreit er Hurra – und vergißt Sie dann ebenso schnell. Doch sagen Sie ihm: Mit diesem Mittel vernichte ich auf einen Schlag 10 Millionen Menschen … so wird man Sie als einen neuen Gott auf den Schultern tragen.«
»Ein Gott! Cravelli, Sie sind vermessen! Ich will nur ein helfender Mensch sein –«
»Weil Sie ein heilloser Idiot sind, der weder die Welt noch die Menschen versteht, noch die Angst, die allein Ordnung zu schaffen vermag!« Cravelli hob bedauernd die Arme. »So kommen wir nicht weiter, Dottore. Es geht hier nicht um Prinzipien, es geht um eine klare Entscheidung. Mein letztes Wort: 25 Millionen Dollar!«
Dr. Berwaldt erhob sich. Ernst sah er auf Cravelli hinab.
»Meine letzte Antwort: Nein! Tun Sie mit mir, was Sie wollen … ich habe mich selbst abgeschrieben –«
Cravelli winkte erregt mit beiden Händen. Seine Augen bekamen einen merkwürdigen Glanz.
»Setzen Sie sich, Dottore! Es geht um anderes! Ich kann Sie nicht länger einsperren!«
»Dann injizieren Sie mir Curare oder sonst etwas.«
»Töten! Wenn ich Sie töten wollte, brauchte ich mit Ihnen keinen historischen Rückblick über den Wahnsinn der Menschheit zu veranstalten. Ich brauche Ihre Formel!«
Cravelli griff in die Rocktasche und holte eine der Morgenzeitungen hervor. Er faltete sie auf und legte sie auf den Tisch. Dr. Berwaldt beugte sich vor. Sein Name schrie ihm in dicken roten Buchstaben entgegen. ›Wo ist Dr. Berwaldt?‹ Ein Beben lief durch seinen Körper … er hielt sich an der Tischkante fest und starrte Cravelli aus großen Augen an.
»Man … man hat mein Verschwinden bemerkt …«, stammelte er heiser. »Man sucht mich?«
»Ja –«, sagte Cravelli hart.
»Man wird mich finden –«
»Das bliebe abzuwarten.«
»Sie dürften bei meiner Entdeckung keine Chancen haben, Cravelli.«
»Das weiß ich.« Cravelli nahm die Zeitung und zerriß sie. Er war merkwürdig ruhig und gefaßt. »Aber Sie auch nicht, Dottore Berwaldt! Sehen Sie nun, daß wir wirklich in der letzten Runde stehen? Es geht um das Ganze!«
Cravelli stand auf. Er nahm das Aktenbündel und trug es wieder in den Schrank. Dr. Berwaldt beobachtete ihn.
»Es hat sich nichts geändert«, sagte er. »Ich habe diese Minute erwartet.«
»Ich auch, Dottore.« Cravelli drehte sich um und sah Berwaldt lange und stumm an. »Sie fürchten den Tod nicht … aber ich! Ich will leben – ich lebe viel zu gern, als daß ich es mir durch Sie nehmen lasse!« Er ging zur Labortür und stieß sie auf. Mit der Rechten zeigte er auf die kleine Tür im Hintergrund des hellen Raumes. »Sehen Sie diese Tür, Dottore? Dahinter liegt ein kleiner Raum, in den von oben eine winzige, gewundene Treppe führt. Der Keller, in dem wir uns befinden, liegt vier Meter unter der Wasseroberfläche des Canale Santa Anna. Durch einen Hebeldruck werden einige Sprengladungen gezündet, die die Mauern dieses Kellers eindrücken. Niemand wird oben den Knall hören. Aber Sie werden wie eine Ratte ersaufen, Dottore. Das ist ein schrecklicher Tod …« Cravelli schloß die Tür zum Labor und ging zu der Treppe nach oben. »Überlegen Sie es sich, mein Lieber – Uns bleibt nur noch eine winzige Zeitspanne. Wenn die Polizei das Haus betritt und es durchsuchen will, drücke ich den Hebel herunter –«
Schroff wandte er sich ab, verließ den Raum und schloß hinter sich die Tür ab. Sein Schritt stampfte nach oben und verlor sich.
Bleich starrte Dr. Berwaldt auf die geschlossene Tür. Die Tapferkeit fiel von ihm ab. Nichts blieb übrig als die lähmende Angst, in diesem Keller elend zu ertrinken.
*
Noch immer schrien die Zeitungsjungen auf den Straßen den Namen Dr. Berwaldt aus. In der Halle des Hotels ›Excelsior‹ drängelten sich die Journalisten und Fotoreporter und belagerten das Zimmer des Direktors.
Entgegen aller Befürchtungen waren die Gäste nicht fluchtartig abgereist. Im Gegenteil … telegrafisch kam eine Flut von Zimmerbestellungen bei der Rezeption an. Vor allem Amerikaner auf Europatrip meldeten sich an. Nach historischen Trümmern aus der Römer- und Griechenzeit wurde ihnen jetzt eine wirkliche handfeste Sensation geboten, von der man später erzählen konnte.
Ilse Wagner hatte sich etwas beruhigt. Rudolf Cramer – auch wenn er nicht Cramer heißen sollte – hatte sich mit einer Verbissenheit auf das Rätsel Dr. Berwaldt gestürzt, die sie nicht erwartet hatte. Jetzt kam ihr auch voll zum Bewußtsein, daß alles kein Irrtum mehr war, sondern daß Dr. Berwaldt in etwas Geheimnisvolles verwickelt worden war, von dem man immer noch nicht wußte, was es sein konnte. Je mehr sie darüber nachdachte – und sie konnte es jetzt ohne die Sorge, was aus ihr werden würde – verdichtete sich in ihr die Tatsache, daß ihre Reise nach Venedig in engstem Zusammenhang mit den Merkwürdigkeiten um Dr. Berwaldt stehen mußte.
Zimmer 8-10 in diesem Hotel, dachte Ilse Wagner. Wie auf allen Reisen hatte Dr. Berwaldt auch dieses Mal seine Korrespondenzmappe mitgenommen. Aus den dort abgehefteten Briefen mußte ersichtlich sein, mit wem er in Venedig zusammentreffen wollte. Die letzten Tage vor seinem Abflug aus Berlin hatte er alle Briefe selbst geöffnet und auf seiner Reiseschreibmaschine auch selbst beantwortet. Im Büro existierte kein Durchschlag dieser Schreiben. Sie konnten nur in der mitgenommenen Korrespondenzmappe sein. Hier mußte sich eine Spur durch das Rätsel finden lassen.
So plötzlich ihr dieser Gedanke kam, so umgehend führte sie den daraus wachsenden Plan aus.
Sie verließ ihr Zimmer, fuhr in den ersten Stock und blieb in dem langen Flur stehen, nachdem sie den Lift verlassen hatte. Eine Weile wartete sie, ob ein Zimmermädchen oder ein Etagenkellner kommen würde, aber niemand ging über den Flur.
Nur aus dem Bereitschaftszimmer der Etagenbedienung tönte leise Radiomusik.
Noch einmal blickte Ilse Wagner nach rechts und nach links. Nichts. Leise rannte sie den Flur herunter, blieb vor der Tür Nr. 8 stehen, sah sich wieder um, probierte, ob die Tür abgeschlossen war, und als sie nachgab, schlüpfte sie schnell in das Appartement.
Wie schon bei dem Besuch Cramers war das Zimmer in ein dumpfes Halbdunkel gehüllt. Die schweren Übergardinen waren noch zugezogen, das Bett aufgeschlagen, der Schlafanzug einladend gefaltet auf der Decke.
Mit schnellem Blick überflog Ilse Wagner das Zimmer. Sie rannte in das Nebenzimmer, den Salon, sah die leere Schreibtischplatte, zog die Schubfächer heraus und untersuchte die dort liegenden Papiere. Sie durchsuchte die Schränke, schnallte die Koffer auf und wühlte die frische Wäsche durcheinander. Aber sie fand kein Aktenstück und auch nicht die Korrespondenzmappe. Enttäuscht setzte sich Ilse Wagner auf den Schreibtischstuhl.
Ihr Blick fiel dabei auf den Papierkorb. Sie hob ihn auf den Schreibtisch, und wie Rudolf Cramer begann sie, die zerknüllten Papiere zu glätten und durchzusehen. Dabei fand sie auch das einzige Briefkuvert aus Venedig.
Sergio Cravelli, Palazzo Barbarino, Venezia, las sie. Ein unbekannter Name. Sie hatte ihn nie gehört oder gelesen. Dr. Berwaldt hatte nie von einem Cravelli gesprochen. War das eine Spur –?
Sie steckte das Kuvert ein, legte die anderen Papiere wieder in den Papierkorb zurück, stellte ihn zu Boden und sprang auf.
Ungesehen verließ sie wieder das Appartement und fuhr sofort hinunter in die Halle. Dort hing neben der Rezeption eine große Karte von Venedig. Im alphabetischen Straßenverzeichnis, das auch die alten Paläste nannte, suchte sie den Palazzo Barbarino.
Ihr Finger glitt die Rubriken entlang. Da war es: Palazzo Barbarino. Canale Santa Anna …
Ihr Finger zitterte plötzlich. Der Zeitungsaufruf! Dr. Berwaldt wurde zuletzt gesehen, wie er in den Canale Santa Anna einbog … Vor zehn Jahren verschwand im Canale Santa Anna die Tänzerin Ilona Szöke …
Ilse Wagner fühlte wieder die Schwäche in ihre Knie fahren. Sie mußte sich an die Wand lehnen, um nicht umzusinken.
Sergio Cravelli. Wer war dieser Cravelli?
Zur gleichen Zeit betraten drei Kriminalbeamte der venezianischen Polizei das Grand-Hotel ›Excelsior‹ und ließen sich von Geschäftsführer Pietro Barnese in den ersten Stock zum Appartement Dr. Berwaldts führen.
Sie begannen, die Zimmer systematisch zu durchsuchen … drei Minuten zu spät.
*
Venedig, die Königin der Meere, umgab Ilse Wagner mit dem beispiellosen Zauber ihrer einmaligen Schönheit, als sie das Hotel verlassen hatte und nun am hölzernen Geländer der Gondellageplätze lehnte und über den Kanal blickte.
Am Rande der Kanäle entlang ging sie bis zur Rialtobrücke. Es beruhigte sie, daß zwei Polizisten an der Brücke standen und über das Gewirr der Händler und Reisenden blickten.
Canale Santa Anna, Planquadrat C 9, dachte sie. Wo ist dieses Quadrat C 9? Sie ging zu den Polizisten und nickte ihnen zu.
»Prego …« stotterte sie. »Sprechen Sie deutsch … Ich möchte gerne wissen, wo …«
Die Polizisten hoben die Schultern. »Signorina, nix verstehen …«
»Wo ist der Canale Santa Anna …«
»Ah! Canale Santa Anna!« Die Polizisten nickten. »Uno momento, Signorina …«
Einer der freundlichen Polizisten winkte eine Gondel heran. Es war genau das, was Ilse Wagner nicht gewollt hatte. Aber um sich nicht zu blamieren, lächelte sie tapfer und ließ sich in das Boot helfen. Nachdem sich Ilse auf die schmale Polsterbank unter das Sonnendach gesetzt hatte, sprach der Polizist mit dem Gondoliere.
»Si si!« rief dieser und nickte Ilse zu. »Ich verstehen –«, sagte er. »Große Sensation –«
Er ging nach hinten und ergriff die lange Stange. Mit ihr stieß er das Boot aus dem seichten Wasser weg. Schlamm wirbelte an die Oberfläche, es roch faulig. Dann glitt die Gondel hinaus in die Mitte des Kanals.
»Canale Santa Anna –«
»Si –« Ilse Wagner nickte schwach. Doch dann überkam sie wieder eine wahnsinnige Angst. Sie winkte mit beiden Armen und rief: »No … nicht Santa Anna … Durch Venedig … die großen Kanäle … verstehen Sie …«
»Si Signorina!« Der Gondoliere lächelte mit blendenden Zähnen. »Visite von Venezia …«
Sie fuhren fast eine Stunde, als Ilse Wagner an einer Ecke ein kleines Café mit einem deutschen Namen entdeckte. Café Waldtbauer. »Dorthin!« rief Ilse Wagner. »Legen Sie dort an …«
Der Gondoliere verstand sie nicht. Ilse Wagner winkte zu dem Café hin, zeigte mit ausgestreckten Armen auf die Hausecke und machte die Bewegung des Kaffeetrinkens. Jetzt begriff er. Mit einem fröhlichen Kopfnicken ruderte er die Gondel an die Uferbefestigung und legte an. Mit grellem Geschrei stürzten einige Straßenjungen herbei und fingen das Haltetau auf, das sie um einen eisernen Pflock in der Kaimauer schlangen. Dann halfen sie Ilse hinaufklettern und hielten ungeniert die schmutzigen Hände auf. Sie gab jedem ein paar Lire.
Durch die Marktstände mit den schreienden Gemüse- und Fischfrauen, vorbei an den Zinkwannen voller Tintenfische und Kraken, bahnte sie sich einen Weg zu dem Café. Es bestand aus einem großen, kühlen Raum, in dem eine Anzahl leerer, runder Tische mit Korbstühlen standen. Im Hintergrund erhob sich chromblitzend, mit hohen Glasaufsätzen, die lange Theke mit der glitzernden Kaffeemaschine. Ein dicker Mann lehnte dagegen und gähnte. Er trug eine weiße Halbschürze und ein Serviertuch unter die Achsel geklemmt. Er sah Ilse mit einem kritischen Blick an und wartete, bis sie sich setzte. Erst dann kam er näher, als wundere er sich, daß sich außer den Marktweibern jemand anderes in sein Café verirrte. Er räusperte sich und überlegte, welcher Nationalität der Gast sein könnte. Ilse Wagner enthob ihn der quälenden Suche.
»Sie sind Deutscher?« fragte sie, ehe der Patrone etwas sagen konnte.
»Ja.« Er sah ein wenig freundlicher aus und wedelte mit dem Serviertuch über den Tisch. »Ich bin der Besitzer des Cafés –«
»Ah, Herr Waldtbauer! Schön, daß ich Sie gleich sprechen kann. Zunächst möchte ich eine Tasse Kaffee, ein Stückchen Obstkuchen und eine Auskunft –«
»Bitte sehr.« Herr Waldtbauer schien Wiener zu sein. Der Tonfall seiner Sprache war singend und von nachlässiger Höflichkeit.
»Wos is denn?«
»Kennen Sie zufällig einen Dr. Berwaldt?«
Waldtbauer schüttelte nachdenklich den Kopf. »Na –«, sagte er schließlich. »Den kenn i net –«
»Ich dachte, weil die Zeitungen –«
»I les die Journale erst zur Jausen –«
»Ach so.« Ilse Wagner war enttäuscht. Ihre kindliche Hoffnung, daß jeder in Venedig von Dr. Berwaldt sprechen würde und daß vor allem alle deutschsprechenden Menschen sich um ihn kümmern würden, zerrann. »Ich dachte nur … Dr. Berwaldt muß eine Geschäftsverbindung mit einem Herrn aus dem Canale Santa Anna gehabt haben. Der ist doch hier dicht in der Nähe …«
»Ja. Der zwoate Seitenkanol. Aba da gibt's nur ölte Paläste, zum Teil nicht bewohnt, z'ammfallen tun's, aba abreißen … na! Des tun's net! Des is historisch …« Herr Waldbauer war bei seinem Lieblingsthema angelangt. Seit einigen Jahren nährte er einen durchaus persönlichen Haß gegen das alte Venedig, das in den Fundamenten verfaulte und das man erhalten wollte, obwohl keiner der Touristen in die schweigenden Kanäle eindrang, sondern nur den Dogenpalast, die Piazzetta, den Markusdom und den Canale Grande bewunderte. In die fauligen, kleinen Gassen wollte niemand rein … selbst eine Fahrt unter der Seufzerbrücke war fast schon ein Abenteuer.
Waldtbauer ereiferte sich deshalb, sobald das Thema auf die kleinen Kanäle kam. »Do warten's nun, bis so an Bau einem am Kopf fällt, und dann stützen's auch noch und jammern und lamentieren –«, rief er erregt. »Aber wenn unsers amal sich vergrößern will, da hoaßt's: Koanen Platz net! Venedig ist voll! Nix da! Basta! Venedig is überbaut, zu'baut …« Er holte Atem und sah Ilse Wagner fragend an. »Wos wollen's überhaupt im Canale Santa Anna?«
»Einen Signore Cravelli sprechen –«
»Den Makler? Wollen's Land kaufen? Bei dem? O Gott – haben's z'vüll Geld?«
Ilse Wagner atmete auf. Ein Lichtblick, dachte sie. Er kennt diesen Cravelli. »Nein … ich will nichts kaufen«, sagte sie schnell. »Ich weiß auch gar nicht, was dieser Herr Cravelli ist. Eben erst höre ich es. Aber mein Chef – eben Dr. Berwaldt – muß mit ihm bekannt sein. Ich fand einen Briefumschlag von Cravelli bei ihm. Und Dr. Berwaldt ist plötzlich aus Venedig verschwunden … alle Zeitungen schreiben es! Vielleicht weiß Herr Cravelli, wo er ist? Deshalb will ich zu ihm –«
Waldtbauer setzte sich neben Ilse auf einen seiner knarrenden Korbstühle. »Cravelli is a ekelhafter Schlawiner«, sagte er aus tiefer Seele. »Zwoamal war er in meinem Caféhaus, und zwoamal hat er g'raunzt! Über meinen Kaffee! Bei einem Wiener übern Schwoarzen schimpfen … dös is wie a Gotteslästerung! Amal war's nicht stark genug, und amal war's zu hoaß! Signore, hab i g'sagt, wann's an kalten Kaffee wünschen, bittscheen, gehn's zum Nordpol! Ganz höflich woar i …«
»Und was hat Herr Cravelli geantwortet?« fragte Ilse Wagner. Sie mußte lächeln, trotz der inneren Erregung.
»Nix! Wos soll er sag'n, der Schlawiner?! G'gangen is er. Aber auch net wieder kommen …«
Nach einer Viertelstunde verließ Ilse wieder das Café Waldtbauer. Der Wiener winkte ihr eine Gondel herbei und half ihr einsteigen. »Auf Wiedersehen!« rief er. »Dos war a Freud'. Servus –«
Die Gondel stieß ab. Fragend sah der Gondoliere auf seinen Gast. »Canale Santa Anna –«, sagte Ilse.
Dann lehnte sie sich zurück. Was hatte sie erfahren? Cravelli war ein ekelhafter Kerl, wenigstens in der Sicht Herrn Waldtbauers. Er war Häusermakler, und hier begann bereits ein Rätsel. Was machte Dr. Berwaldt bei einem Häusermakler?
Der Canale Santa Anna öffnete sich vor ihnen wie eine dunkle, schmale Schlucht. Ein fauliger Wind strich über sie hin. Am Kai schwappten Abfälle und tote Ratten.
Der Gondoliere ruderte langsamer. »Ici le canal, mademoiselle …«, sagte er. Er sprach französisch in dem Glauben, daß sie es verstünde.
Ilse Wagner nickte. Wie in eine lange Höhle fuhren sie hinein. Die Wände rückten aneinander, über ihnen war nur ein schmaler Streifen blauer Himmel. Der Canale machte einen leichten Bogen, wurde etwas breiter, eine alte Marmortreppe stieg in das schwarze Wasser. Auf ihr saßen drei Bettler und spielten auf einer abgegriffenen Mandoline.
»Palazzo Barbarino?« fragte Ilse leise, als könne man sie hören oder die alten Mauern würfen ihre Stimme verstärkt zurück.
»Oui, Mademoiselle, Palazzo Barbarino …«
Der Gondoliere nickte erstaunt. Er ruderte nahe an der Treppe vorbei. Die Bettler winkten ihnen zu. Sie schienen das einzig Lebende in dieser Wassergruft zu sein.
»Prego …«, sagte Ilse leise. »Halten Sie … Stop …«
Sie sah an der alten, hohen Fassade empor, unter derem Schimmel der alte Glanz träumte. Ein Schauer überlief sie, als der Kiel der Gondel über die unter Wasser liegende Treppenstufe knirschte und hielt.
Humpelnd kamen die Bettler heran.
Cravelli saß in seiner riesigen Bibliothek und wartete.
Die letzte Aussprache mit Dr. Berwaldt hatte ihm gezeigt, daß der Weg, den er als sinnvoll und erfolgreich eingeschätzt hatte, ein falscher Weg gewesen war. Weder durch Drohungen noch durch Zwang, weder mit Geld noch durch Überzeugung, weder mit Todesdrohung noch der Schilderung des grausamen Sterbens war Dr. Berwaldt zu bewegen, seine Formel herzugeben. Was Cravelli nie geglaubt hatte, bewies der stille Gelehrte: Es gab Menschen, die selbst vor dem Sterben keine Angst hatten. Das war für Cravelli so unbegreiflich, daß er seine vollkommene Niederlage einsah und nicht wußte, wie es weitergehen sollte.
Er erwartete die Polizei. Daß sie kommen würde, stand außer Zweifel. Kein Polizeichef kann es sich leisten, auf eine solch massive Presseaktion mit einem Achselzucken zu antworten. Auch würden sie dieses Mal nicht mehr oberflächlich suchen, sondern gründlich. In dem Augenblick aber, in dem sie die Tür hinter der Bibliothekwand entdeckten, würde er den Hebel herunterreißen und alles mit einer Explosion ersaufen lassen. Das war das Ende, und Cravelli wagte nicht daran zu denken, daß auch er diesen Tag nicht überleben würde. Eine innere Verzweiflung zerriß ihn fast; er suchte nach einem Ausweg und zergrübelte sich das Gehirn, wie er Dr. Berwaldts ethische Einstellung aufweichen konnte.
Aber die Polizei kam nicht. Sie ließ sich Zeit. Cravelli stützte den Kopf in beide Hände und wartete weiter. Er konnte nichts mehr tun. Weder für sich noch bei Dr. Berwaldt. Er konnte nur hoffen, daß nicht wie vor zehn Jahren ein Fehler geschehen war und die Körper von Patrickson und Dacore wieder auftauchten. Es blieb nur eine Gefahr … Prof. Panterosi. Er war der einzige Zeuge, daß ein angebliches Syndikat eine Erfindung Dr. Berwaldts aufkaufen wollte.
Cravelli griff zum Telefon und rief Prof. Panterosi an.
»Signore Professore«, rief er und gab seiner Stimme einen fröhlichen Klang. »Soeben bekomme ich einen Anruf aus Florenz. Dottore Berwaldt ist dort! Ja, in Florenz. Wo? Das weiß ich nicht. Wie? Ich wäre ein Rindvieh? Stimmt, Professore … aber ich war so glücklich, seine Stimme zu hören … da habe ich nicht gefragt. Er will in fünf Tagen wieder zurück nach Venedig kommen. Was? Dann ist Ihre Patientin tot? Oh, das ist schade, Professore … sehr schade … Vielleicht versuchen Sie, in Florenz …«
Er hing an. Cravellis Gesicht war überstrahlt von ehrlicher Freude. Das ist er, dachte er. Das ist der Gedanke! Das kann uns alle retten! Vor dieser Situation wird Dr. Berwaldt kapitulieren!
Er rannte aus dem Zimmer und rief nach dem Butler. Mit ihm stieg er hinauf auf den Dachboden und bestimmte drei Räume in dem Gewirr der unbewohnten Dachkammern. Er ließ sie ausräumen und herrichten.
Man war nicht gewohnt zu fragen. Die Diener taten, wie ihnen befohlen. Cravelli selbst faßte mit an und trieb zur Eile. Dann lief er wieder hinunter in seine Bibliothek und führte eine Reihe Telefongespräche. Sie schienen ihn zu befriedigen. Er schrieb sich einige Adressen auf und verließ dann den Palazzo.
Die Bettler auf den Treppen und hinter dem Haus waren machtlos. Aus einem in den Palazzo eingebauten, kleinen Hafen schoß Cravellis weiße Jacht ›Königin der Meere‹ heraus und fuhr fort zum Canale Grande. Den Bettlern blieb nichts anderes übrig, als ihre Meldung an Roberto Taccio zu schicken.
»Hat das Haus verlassen mit Jacht. Fahrtziel unbekannt. Kontrolle nicht möglich. Bleiben am Haus.«
Auch die als Gondoliere tätigen Bewacher des Canale Santa Anna verloren die weiße Jacht aus den Augen. Mit schäumendem Bug jagte sie in Richtung Chioggia durch das sonnengoldene Wasser.
In diesen Stunden von Warten und neuen Ideen war Dr. Berwaldt in seinem Kellergefängnis nicht untätig geblieben. Der innere Zusammenbruch nach dem Weggang Cravellis, die Überwindung der lähmenden Angst, die ihn befiel, dauerte nur eine kurze Zeit. Dann kam eine Art letzten, wahnsinnigen Widerstandes über ihn. Er sprang auf, rannte an die Tür und trommelte mit den Fäusten gegen die Füllung. Er trat dagegen und schrie, so laut er konnte. Aber er tat es nicht aus Angst oder Wut, sondern um zu kontrollieren, ob Cravelli auf diesen Lärm reagierte.
Niemand kam. Zufrieden ging Dr. Berwaldt in das nebenan liegende Labor und stellte sich vor die kleine, eiserne Tür. Hinter ihr liegt also unser Tod, dachte er. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, das zu wissen und davor zu stehen …
Noch einmal machte er eine Probe. Er trat gegen die kleine Stahltür. Hell gellte der Ton auf. Berwaldt wartete einige Minuten. Alles blieb still. Es war, als sei das riesige Haus unbewohnt.
Unter den Werkzeugen, die er in seinem Labor brauchte, suchte er einige Feilen, Schraubenzieher, Stemmeisen und einen großen Hammer heraus. Dann verband er einige Gasschläuche miteinander und verlängerte den an Propangas angeschlossenen Bunsenbrenner bis zu der stählernen Tür. Das Schloß war zwar ein Sicherheitsschloß, aber durchaus nicht von der Festigkeit eines Tresors. Es war eine normale Tür, die nur statt aus Holz aus Stahl bestand.
Dr. Berwaldt ging an die Arbeit. Er hielt den Bunsenbrenner dicht an das Türschloß und setzte sich auf einen Hocker daneben. Es roch zunächst nach verbranntem Lack, dann nach heißem Metall. Nach etwa 20 Minuten glühte der Stahl um das Schloß herum. Die Hitze, die ausstrahlte, brannte auf Berwaldts Gesicht.
Er stellte den Bunsenbrenner zur Seite und nahm Meißel und Hammer. Mit kräftigen Schlägen trieb er den Meißel rund um das glühende Schloß, der Stahl zerriß. Mit dicken Schraubenziehern und einem flachen Meißel bog Berwaldt das Schloß nach außen. Er keuchte unter der großen körperlichen Anstrengung, die Hitze trieb ihm den Schweiß über den Körper … Endlich gelang es. Das Schloß bewegte sich. Er hieb es mit dem Meißel heraus und zog mit einem Haken die heiße Tür auf.
Ein kleiner länglicher Raum tat sich vor ihm auf. An der Rückwand sah er ein Gewirr von Drähten und Relais, Magneten und Sicherungskästen. Alle diese Drähte liefen zusammen zu einem verkleideten Strang, der nach oben durch die Decke verschwand. An seinem Ausgang steckte der Hebel, den Cravelli nur herunterzudrücken brauchte, um das Ende herbeizuführen.
Das Herz des Todes, dachte er. So sieht es aus …
Über sich hörte er jetzt Tritte. Berwaldt packte seinen Hammer fester und ging zurück durch das Labor in das Wohnzimmer. Er stellte sich neben die Tür zur Treppe und wartete. Zu allem war er entschlossen. Wenn Cravelli jetzt herunterkam, entschied die Schnelligkeit. Sein Revolver oder Berwaldts Hammer … die Entscheidung war gekommen.
Fast zehn Minuten stand Berwaldt neben der Tür und wartete. Er hatte nie gewußt, mit welcher Ruhe er bereit sein konnte, einen Menschen zu töten. Alle Erregung war von ihm abgefallen, selbst die mühsam überdeckte Angst war wie verflogen.
In diesem Teil des Kellers hörte man keine Geräusche mehr von oben. Die Wasserwand, die draußen vor den Mauern gluckerte, schluckte alles. Das Haus muß auf einer Art flacher Sandbank gebaut sein, dachte Berwaldt. Der Hauptteil steht auf dem Land, aber ein kleiner Teil liegt unter Wasser … einige Keller und der Austritt zu dem eigenen, in das Haus hineingebauten Bootshafen. Schleusen und Pumpen regelten den Wasserstand. Alles das führte als Leitungen in dem kleinen Raum zusammen. Während er an der Tür stand, den Hammer schlagbereit in der Hand, und wartete, hörte er zum erstenmal hinter sich, durch die dicke Mauer, das leise Aufbrummen eines Motors. Dr. Berwaldt verließ seinen Posten und rannte an die Wand, drückte das Ohr dagegen und hielt den Atem an.
Kein Zweifel … ein schwerer Motor dröhnte. Hinter der dicken Wand mußte der Bootshafen des Palazzo Barbarino liegen. Das Motorgeräusch wurde schwächer, Cravelli verließ das Haus.
Dr. Berwaldt rannte zurück in den kleinen, aufgebrochenen Raum. Haßerfüllt, mit zuckenden Händen, starrte Berwaldt die komplizierte Apparatur an. Das Gefühl, sein Leben zurückerobert zu haben, gab ihm eine ungeahnte Kraft und Sicherheit.
Vorsichtig trat er nahe an die Kabel und Relais heran und klopfte leicht mit dem Knöchel gegen einige der blinkenden Kupferspulen und Magneten.
Wo muß ich anfangen, dachte er. Sein Blick glitt wieder über das Gewirr von Drähten. Weiß man, welcher Kontakt die Katastrophe auslöst? Es konnte sein, daß er ein Relais zerstörte und gerade damit die Sprengung auslöste. Er konnte ein Kabel berühren, und der Kurzschluß, der damit entstand, setzte die Todesapparatur in Bewegung.
Er ging zurück in das Labor und holte eine starke Lampe. Mit ihr leuchtete er alle Kabel ab und versuchte, die Zusammenhänge zu ergründen. Es war unmöglich. Auch wenn sie verschiedene Farben hatten … in Kästen und Verteilern verwirrten sie sich zu einem Labyrinth, vor dem Dr. Berwaldt hilflos stand.
Mit einem kurzen Zögern setzte er die Lampe auf den Boden. Dann nahm er seinen Schraubenzieher und löste vorsichtig einen der dicksten Drähte aus den Klammern und zog ihn mit einem Ruck aus dem Verteilerkasten.
Dieser Augenblick war der schrecklichste in Berwaldts Leben. Als seine Hand das Kabel herausriß, schloß er die Augen und wartete auf die Explosion, das Einstürzen der Mauern und das Hereinbrüllen einer ihn erstickenden Wasserwand.
Es blieb alles still und unverändert. Dr. Berwaldt öffnete wieder die Augen und wandte sich dem zweiten Kabel zu, das zu einem blinkenden, gefährlich aussehenden Relais führte.
Wieder war es eine Sekunde voller Erwartung und innerlichem Abschluß mit dem Leben, als er das Kabel herausriß und mit einem Hammerschlag das Relais zertrümmerte. Schrauben, Wicklungen und Kontakte klirrten auf den Boden … irgendwo in der komplizierten Maschinerie knackte es ein paarmal deutlich. Dr. Berwaldt lehnte sich an die Wand.
Jetzt, dachte er. Jetzt bricht gleich die Mauer ein und das Wasser des Canale Santa Anna spült mich weg …
Doch nichts geschah. Mit einer plötzlich aufbrechenden Verzweiflung hieb er auf alle Kontakte und Kästen, er zerstörte dieses Wunderwerk des Todes so vollständig, daß nichts mehr übrig blieb als ein Gewirr herausgerissener Drähte und zertrümmerter Schaltungen. Erst, als nichts mehr zu vernichten war, hielt er schweratmend ein und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Der Hammer glitt aus seinen Fingern.
Gerettet! Die Sprengladungen, die irgendwo warteten, konnten vermodern. Aber war er wirklich gerettet? Wie würde Cravelli reagieren, wenn er das Zerstörungswerk sah?
Die kommenden Stunden würden es beweisen. Auf sie bereitete sich Dr. Berwaldt vor. Er wusch sich, er nahm überall, wohin er ging in seinem Kellergefängnis, den Hammer mit, die einzige Waffe, die ihm gegenüber Cravelli eine Gegenwehr versprach.
Dann setzte er sich wieder in das Wohnzimmer, trank langsam den Rest des Weines und wartete. Nach einer unbestimmten Zeit hörte er wieder Motorengeräusch hinter der dicken Mauer, ein Rumpeln und Tuckern, das plötzlich erstarb. Cravelli war zurückgekehrt.
Dr. Berwaldt legte den schweren Hammer auf den Tisch. Sein Gesicht war bleich und durchzittert mit einer verzweifelten Energie.
Irgendwo knirschte etwas … dann hörte er den Schritt Cravellis die enge Stiege herabkommen. Er sprang auf, ergriff den Hammer und stellte sich neben die Tür.
Der Schritt Cravellis verhielt vor der Tür.
»Es hat keinen Sinn, Signore Dottore«, sagte seine Stimme. Er klopfte gegen die Tür. »Sie haben es möglich gemacht, die Sprengkammer zu zerstören. Wie Sie das gemacht haben, werde ich gleich sehen. In meinem Schaltkasten brennt eine rote Kontroll-Lampe, ein Beweis, daß etwas gestört ist. Also, machen Sie keine Dummheiten, Dottore … ich verspreche Ihnen, Ihnen im Augenblick nichts zu tun. Ich habe Besseres mit Ihnen vor.«
Dr. Berwaldt trat zurück und ließ den Hammer sinken.
»Kommen Sie herein«, rief er heiser.
Cravelli trat ein. Er war unbewaffnet und sah mit einem freundlichen Kopfschütteln auf den Hammer in Berwaldts Hand.
»Mit einem Hammer, lieber Dottore! Wie die alten Germanen mit der Keule! Glauben Sie, Sie könnten mit Ihrem Hämmerchen irgend etwas tun, wenn ich Sie wirklich umbringen wollte? Das ist doch absurd.«
»Welche Gemeinheit haben Sie jetzt wieder vorbereitet?«
»Ruhe, Dottore, Ruhe. Was ich eben vorbereitete, brauchte reifliche Überlegung und Zartgefühl. Ich versichere Ihnen, daß Sie vor Begeisterung heulen werden –«
Cravelli schloß hinter sich die Tür und setzte sich. Er winkte Berwaldt, es auch zu tun.
»Und bitte – den Hammer weg, Dottore!« sagte er dabei gemütlich. »Sie sind ein so großer Gelehrter … warum wollen Sie einen Schmied spielen …?« Er lachte über diesen Scherz und lehnte sich weit zurück. »Wissen Sie, wer hier war? Panterosi … der alte Griesgram! Er hat berichtet, daß Julio, der Affe, wohlauf ist.«
»Das freut mich«, sagte Dr. Berwaldt. Er spürte, wie etwas Ungeheuerliches auf ihn zukam … ungeheuerlicher als alles, was er in den letzten Tagen ertragen hatte. »Es beweist, daß mein Mittel –«
»Sie sind ein Retter der Menschheit, Dottore! Zu dieser Erkenntnis ist auch der alte Panterosi gekommen. Er hat nämlich mit dem Rest, den Sie ihm dagelassen haben, nicht allein Julio behandelt, sondern auch eine inoperable Frau …«
»Nein!« schrie Dr. Berwaldt. Er klammerte sich an dem Tisch fest und starrte Cravelli aus weiten Augen an. »Das ist doch Irrsinn! Ich habe noch nie an einem Menschen … ich habe noch gar nicht das Verdünnungsverhältnis … die Verträglichkeit … mein Gott …!«
»Keine Aufregung, Dottore. Der alte Panterosi ist aus dem Häuschen! Er läuft herum wie ein Mensch, der eine himmlische Erscheinung gehabt hat. Die inoperable Frau, die schon im Koma lag, lebt nämlich noch immer und ist im Augenblick wieder wach und bei Besinnung!«
Dr. Berwaldt sank auf einen Stuhl und schlug die Hände vor das verzerrte Gesicht. »Mein Gott …«, stammelte er. »Mein Gott …«
»Jetzt rennt er durch die Welt und sucht Sie. Ich habe ihm gesagt. Sie seien in Florenz und hätten mich von dort angerufen. Ich nehme an, daß Panterosi ganz Florenz auf den Kopf stellt! Er braucht noch zehn Injektionen, und die von allen Ärzten aufgegebene Frau kann weiterleben –«
»Sie Satan!« stammelte Dr. Berwaldt. »Sie dreifacher Satan! Ich glaube Ihnen das nicht!« Sein Kopf zuckte hoch. »Nein! Ich glaube es Ihnen nicht! Professor Panterosi wird nie diesen wahnwitzigen Menschenversuch gemacht haben! Ich glaube Ihnen das nicht eher, als bis ich selbst mit ihm gesprochen habe! Und das werden Sie nie vermitteln, weil dann Ihr ganzer Plan zusammenbricht –«
Cravelli hob beide Hände. Sein Gesicht drückte sarkastische Jovialität aus.
»Es ist Ihre Sache als Arzt, eine Frau, die man heilen kann, aufzugeben! Das müssen Sie mit sich und Ihrer Ethik ausmachen. Natürlich bringe ich Sie nie mehr mit Panterosi zusammen … aber ich habe etwas anderes, lieber Dottore. Eben das, bei dem das Herz eines jeden Arztes lacht!«
Cravelli erhob sich und lächelte Berwaldt treuherzig an. »Wie gesagt … ich habe eine schöne Überraschung für Sie –«
Er ging wieder nach oben und schloß hinter sich die Tür. In tiefer Verzweiflung blieb Dr. Berwaldt zurück.
Seit den frühen Morgenstunden fuhr Rudolf Cramer kreuz und quer durch Venedig. Von einer Zeitungsredaktion zur anderen. Überall erzählte er den gespannt lauschenden Redakteuren die große Geschichte der Tänzerin Ilona Szöke und des deutschen Forschers Dr. Peter Berwaldt. Er berichtete in allen Einzelheiten … von der Hochzeitsreise mit Ilona und ihrem Verschwinden, von der Ankunft Ilse Wagners in Venedig, wo sie niemand abholte, und von der Merkwürdigkeit, daß alle verschwundenen Personen zuletzt im Canale Santa Anna gesehen wurden.
Die Bleistifte der Redakteure knisterten über das Papier. Für zwei Presse-Agenturen sprach Cramer seine wilde Story aufs Band. Es war eine Sensation ersten Ranges, der ganz große Knüller der an sich stillen Sommersaison.
Rudolf Cramer tat ein übriges, um den Verdacht bei allen Zeitungen in eine bestimmte Richtung zu lenken.
»Ich vermute«, sagte er immer wieder, »daß zwischen dem Fall Ilona Szöke und dem Fall Dr. Berwaldt kein innerer Zusammenhang besteht … ein Lustmord an einem Mann ist absurd. Wohl aber sind hier die gleichen Täter am Werk. Ihre Motive sind klar: Auf der einen Seite ein perfekter Sexualmord … auf der anderen Seite die Jagd nach einer großen, wertvollen Erfindung, über deren Einzelheiten ich nichts weiß. Man müßte einmal nachforschen, wer im Canale Santa Anna ein Interesse an chemischen Präparaten hat. Wir haben diese Spur in diesen schweigenden Kanal … man sollte auf dieser Spur bleiben …«
Cramer erhob sich, und jedesmal wiederholte sich ein Spiel. Mit großer Gebärde rief er: »Wo ist Dr. Berwaldt?!« Es machte auf die Italiener einen grandiosen Eindruck.
Gegen Mittag kam er ins Grand-Hotel ›Excelsior‹ zurück. Pietro Barnese stürzte ihm schon entgegen, als er kaum durch die Drehtür in die Halle gewirbelt kam.
»Signore!« schrie Barnese. Sein Gesicht war feuerrot. »Dreimal war die Polizei schon da! Man wollte Sie sprechen! Wo waren Sie denn?!«
»Ich habe dem Teufel eingeheizt!« Cramer sah sich um. In der weiten Palmenhalle standen die Gäste in Gruppen zusammen und diskutierten. Neuankömmlinge luden ihre Koffer vor der Rezeption ab. »Na, hat Ihr Haus gelitten? Wieviel Abreisen?«
»Zweihundertneunundzwanzig Neuanmeldungen!« stöhnte Barnese. »Signore … die Menschen sind verrückt! Sie reisen dem Verbrechen entgegen. Wir sind total ausverkauft!«
»Na bitte!« Cramer lächelte sarkastisch. »Wenn man jetzt noch in irgendeinem Winkel Ihres Ladens eine Leiche entdeckt, können Sie die Flure auch noch vermieten und Betten aufstellen –«
»Signore, malen Sie nicht das Unglück an die Wand.« Barnese wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Die Polizei hat das Appartement von Dr. Berwaldt untersucht. Alles haben sie durchwühlt! Sie haben nichts, gar nichts gefunden, was irgendwie –«
Cramer sah Barnese verblüfft an. »Moment! Sie haben keinen Briefumschlag gefunden?«
»Nichts von Bedeutung.«
»Keinen Briefumschlag aus Venedig?«
Barnese riß seine schwarzen Augen weit auf. »Nein … auch keinen Umschlag aus Venedig. Wieso, Signore …«
»Merkwürdig!« Rudolf Cramer schüttelte den Kopf. Ich habe ihn in den Papierkorb zurückgelegt, dachte er. Man muß ihn gefunden haben. Er lag gleich oben auf … »Man hat das Zimmer genau durchsucht?«
»In jeden Winkel sind sie gekrochen. Sogar die Portieren mußten wir abnehmen, die Matratzen haben sie aus dem Bett genommen, die Sesselritzen aufgerissen, – ich war ja dabei und mußte das Protokoll unterschreiben! Einfach nichts haben sie gefunden –«
Cramer schüttelte wieder den Kopf. Das ist nicht möglich, dachte er wieder. So etwas kann man nicht übersehen! »Hat Fräulein Wagner –«, sagte er. Er brach ab und sah Barnese entsetzt an.
»Mein Gott! Ilse Wagner! Haben Sie sie schon gesehen?«
»O ja, Signore. Heute morgen. Sie hatte die Zeitung gelesen.«
»Und?«
»Sie fiel fast um.«
»Und … so reden Sie doch, Barnese!«
»Sie fragte nach Ihnen, Signore.«
»Und?«
»Ich sagte, Sie seien schon in aller Frühe zu den Redaktionen.«
»Sehr gut. Und was tat sie darauf?«
»Sie fuhr wieder auf ihr Zimmer.«
»Und da ist sie jetzt noch?«
»Nein. Gegen elf Uhr hat sie eine Gondel genommen, mehr weiß ich nicht –«
»Und sie ist noch nicht zurück?«
»Ich habe sie noch nicht gesehen –«
Ein Page, der neben der Tür stand, kam verschüchtert näher. Er sah Barnese wie um Verzeihung bittend an und rückte verlegen an seinem Käppi.
»Wenn ich etwas sagen darf –«, begann er.
»Du hast etwas gesehen, Junge?« schrie Cramer. »Du bekommst 1.000 Lire, wenn du –«
»Was ist?« knurrte Barnese. »Was weißt du?«
»Ich war einkaufen«, stotterte der Page. »Der Küchenchef hat mich weggeschickt. Ihm fehlte ein Gewürz. Ich lief also einkaufen, und da sah ich die Signorina. Ich erkannte sie an ihrem Kleid. Sie fuhr den Canale Grande hinauf … ich konnte sie genau erkennen …«
»Und dann … dann …« Cramers Stimme war gepreßt. Er ahnte, was nun kommen würde.
»Ja … ihre Gondel bog ab … in einen Seitenkanal … Das war das letzte, was ich noch sah …«
Rudolf Cramer gab dem Pagen mit zitternder Hand 1.000 Lire. Barnese schüttelte den Kopf. Er ist verrückt, dachte er. Cramer sah den Direktor mit verkniffenen Lippen an.
»Wissen Sie, wohin sie gefahren ist?! In den Canale Santa Anna –«
»Madonna mia!« stammelte Pietro Barnese. Er wurde fahl im Gesicht.
»Ein Motorboot!« schrie Cramer. Er rannte durch die Drehtür und winkte mit beiden Armen dem hoteleigenen Motorboot zu. »Los! Kommen Sie!« Barnese folgte ihm und winkte ebenfalls wie ein Irrer. »Hierher! Hierher!«
Cramer sprang mit einem weiten Satz an Deck. Er fiel neben dem Steuermann auf die Knie und klammerte sich an der Reling fest.
»Canale Santa Anna!« schrie er den Verblüfften an. »Mensch, rasen, fliegen, flitzen Sie! Es kann um Sekunden gehen. Fortissimo! Canale Santa Anna –«
Mit einem wilden Satz schoß das Motorboot von der Kaimauer weg, drehte im Canale Grande und schäumte mit hoch aus dem Wasser springendem Bug davon. Es war lebensgefährlich, wie es um die Gondeln raste und den Gemüsebooten auswich.
Pietro Barnese lehnte sich gegen die Hotelwand. »Das gibt ein Unglück«, stammelte er. Dann bekreuzigte er sich, sah hinüber zur Santa Maria della Salute und schlug noch einmal das Kreuz. »Madonna, sei ihnen gnädig«, sagte er leise. »Und verschone mich vor weiteren Aufregungen –«
Die Polizeidirektion von Venedig arbeitete gründlich. Nach der Untersuchung des Appartements im Hotel ›Excelsior‹, die ohne Ergebnis blieb, fuhren sechs Polizeiboote in die schweigenden Kanäle und begannen, die Schlupfwinkel der bekannten dunklen Elemente durchzukämmen. Auch den Canale Santa Anna untersuchten sie … aber nicht vom Canale Grande aus, wo die Palazzi lagen, sondern am anderen Ende, wo das Wasser seicht wurde, wo es nach Kot und Urin stank und die Ärmsten in Pfahlbau-Hütten wohnten.
Sie verhafteten siebenundzwanzig gesuchte Diebe, die nicht mehr untertauchen konnten, so plötzlich kam die Aktion. Aber von Dr. Berwaldt fanden sie nicht eine winzige Spur. Denn die Polizei untersuchte alle Häuser bis auf die bewohnten Palazzi. Auch den Palazzo Barbarino verschonte sie aus dem Vorurteil heraus, daß ein reicher Mann wie Cravelli es nicht nötig habe, Menschen verschwinden zu lassen oder umzubringen. Adel und Reichtum gehörten von jeher zu Venedig, und sie genossen so etwas wie eine Immunität. Lediglich einen Routinebesuch machte der Kommissar selbst bei Cravelli. Er wollte nicht seine Pflicht vernachlässigen.
»Wenn Sie mir einen Gefallen tun können«, sagte Cravelli an der Tür beim Abschied zu dem Kommissar. »Entfernen Sie die Bettler von meiner Treppe. Sie widern mich an.«
Der Polizeikommissar drückte Cravelli die Hand. Er hatte einige Fragen gestellt, die Cravelli sofort und elegant beantwortete. Nicht der geringste Verdacht lag auf ihm. Es war absurd, Cravellis Palazzo zu untersuchen.
Die Polizei nahm die auf der Treppe zum Canale hockenden Bettler gleich mit. Aber schon zehn Minuten später lud eine Gondel vier neue Bettler ab. Cravelli ballte die Fäuste, aber er schwieg. Ein Venezianer kennt die Macht der Straßenhändler.