*

Das erste, was Copilot Paul Andresen tat, als er vom Chefarzt des Hamburger Hafenkrankenhauses für gehfähig befunden wurde, war eine Reise nach Göttingen. Er wollte Agnes Wolter, der Mutter Bettinas, die Nachricht überbringen, daß entgegen allen Gerüchten und amtlichen Verlautbarungen Betti doch noch lebte und nicht in den Flugzeugtrümmern verbrannt war.

Allerdings machte man es Andresen sehr schwer, diese Mission zu erfüllen. Erst kam der Subdirektor zu ihm, dann der Erste Direktor, dann ein Beamter des Auswärtigen Amtes aus Bonn, schließlich ein Ministerialdirektor. Und alle sagten im Sinn das gleiche, jovial oder leise drohend, wie es so die Art deutscher Wahrheitsfinder ist:

»Mein lieber Andresen, warum wollen Sie unbedingt Stunk machen? Wir haben die amtliche Todeserklärung der sowjetischen Behörden, wir haben sogar einen Zinksarg mit den Überresten des armen Mädchens, die Mutter ist verständigt … wollen Sie hier ein Chaos schaffen? Sie haben sich geirrt. Sie müssen sich geirrt haben! Auf einem Kettenkarussell! Da fliegt so ein Mädchen vorbei, mit ein wenig Ähnlichkeit, und schon sind Sie davon überzeugt, das war sie. Sie sind einer optischen Täuschung erlegen, sehen Sie das doch endlich ein!«

Und als Paul Andresen immer wieder den Kopf schüttelte und sagte: »Nein! Es war Betti! Mein Gott, ich kenne doch das Mädchen seit Jahren«, wurde man deutlicher.

»Hören Sie mal«, sagte der Ministerialdirektor aus Bonn mit betonter Stimme. Das ist ein alter Diplomatentrick, mit gehobener Stimme Nichtigkeiten zu sagen. »Das Mädchen ist verbrannt! Wollen Sie die Regierung Lügen strafen?«

Solche rhetorischen Fragen sind beliebt. Sagt man ja, ist es eine Beleidigung, sagt man nein, hat man restlos verspielt. Mit solchen rhetorischen Fragen werden im Wahlkampf Millionen Stimmen gewonnen … aber das gehört nicht hierher. Das ist ein anderes Gebiet, das man ›Mottenfraß der deutschen Demokratie‹ nennen könnte.

Paul Andresen, nicht gewandt im Stil Bonner Diplomaten, sondern ein schlichter Copilot, der englisch funken und auf einem Radarstrahl reisen konnte, hob die Schultern, was der Ministerialdirektor aus Bonn als ein Nein auffaßte. Auch dieses Vorwegnehmen der Meinungen ist ein beliebter Satz deutscher Politiker und Beamter.

»Na also«, sagte der Mann aus Bonn jovial, »man muß nur den richtigen Standplatz haben. Was haben Sie für die nächste Zeit vor, Herr Andresen?«

»Ich werde nach Göttingen zu Frau Wolter fahren«, antwortete Andresen schlicht.

Der Ministerialdirektor aus Bonn seufzte tief und verließ den störrischen Piloten. Von der Direktion ließ er sich die Personalakten zur Überprüfung mitgeben. Man würde in Bonn einmal seine Vergangenheit aufrollen. War sein Vater in der SPD, wäre ja alles klar …

So fuhr also Andresen trotz versteckter Drohungen nach Göttingen und fand den Laden von Agnes Wolter verschlossen. Von den Nachbarn erfuhr er, daß Frau Wolter in Bonn bei ihrem Sohn sei, dem Oberleutnant Wolfgang Wolter. Wo? Einen Augenblick … sie hatte doch eine Karte geschrieben. Ja … hier … Konradweg 11. Zweite Etage. Eine entzückende Neubauwohnung, schreibt sie.

Andresen fuhr sofort von Göttingen nach Bonn. Spät am Abend traf er auf dem Bahnhof ein, für den sich jeder Bonner schämt, weil an ihm das Wirtschaftswunder spurlos vorbeigegangen ist, und ließ sich mit einer Taxe hinaus zum Neubaugebiet, zum Konradweg 11, bringen.

Wolfgang und Irene Brandes saßen vor dem Fernsehapparat und ließen deutsche Schlagerkultur über sich ergehen, als Andresen schellte und Agnes Wolter ihm öffnete.

Was im Flur bereits gesprochen wurde, hörten Wolfgang und Irene nicht, aber plötzlich schreckte sie ein Aufschrei hoch, und Agnes Wolter kam ins Zimmer gerannt, die Arme hoch erhoben, als ersticke sie.

»Bettina lebt!« rief sie schrill und fiel dann in die Arme Irenes. Wolfgang war zur Flurtür gerannt und prallte dort mit dem an zwei Stöcken humpelnden Andresen zusammen. »Sie lebt …«, stammelte Agnes Wolter. »Er … er hat sie selbst gesehen.«

Es dauerte einige Minuten, bis sich die Erregung gelegt hatte, Andresen auf dem Sofa saß, das Fernsehgerät abgestellt war und Irene Bier zur Erfrischung servierte. Dann konnte Andresen erzählen, und er fing ganz von vorn an … von dem Flug Karatschi – Teheran – Ankara, dem Blitzschlag im Flugzeug, der mißglückten Notlandung in Tiflis und der brennenden Hölle, der sie entronnen waren.

Ohne ihn zu unterbrechen, hörte ihm die Familie Wolter zu. Erst als Andresen sagte: »So, nun bin ich hier, um Ihnen die volle Wahrheit zu sagen«, löste sich der Bann, den seine Erzählung in den Raum gezaubert hatte. Ein Bann, der mit vielen Fragen durchsetzt und der in Schrecken gebettet war.

»Es war bestimmt Betti?« fragte Wolfgang Wolter, der als erster wieder Worte fand.

»Ja. Unverkennbar.«

»Und ein Mann war bei ihr?«

»Ein Russe. Unverkennbar ein Grusinier. Ein hübscher Kerl, mit einem Gebiß wie ein Reklameschild für Zahnpasta.« Andresen trank einen tiefen Schluck Bier. »Sie waren sehr verliebt.«

»Was soll man davon halten, Wolf?« fragte Agnes Wolter leise. »Was ist das für eine Welt? Der Russe in Rolandseck sagt, sie sei in Moskau. Die deutschen Behörden bringen einen Sarg mit ihrer Leiche. Und nun fährt sie Karussell und hat einen Bräutigam. Was ist wahr?«

»Warum sollte ich lügen?« fragte Andresen zurück. »Wäre ich – sobald ich laufen konnte – zu Ihnen gekommen, nur um Ihnen einen Bären aufzubinden? Wozu? Ich hielt es für meine Pflicht, die volle Wahrheit zu sagen. Vielleicht werde ich noch deswegen von der DBOA entlassen.«

»Wir glauben Ihnen voll, Herr Andresen«, sagte Wolfgang laut. »Ich werde versuchen, durch die Staatsanwaltschaft den verlöteten Zinksarg öffnen zu lassen, um festzustellen, was man uns da aus Tiflis geschickt hat. Eines ist gewiß: Bettina ist es nicht! Dafür haben wir uns aber ein anderes Problem eingehandelt: Wer ist der schöne Mann, mit dem Bettina Karussell fuhr? Sie war verliebt, sagen Sie.«

»So etwas sieht ein Mann.« Andresen lächelte traurig. Er hatte Bettina heimlich sehr verehrt.

»Soll das nun heißen, daß Bettina dieses Mannes wegen illegal in Tiflis bleibt und sich als tot melden läßt?«

»Wer kann darauf eine Antwort geben?« sagte Andresen.

»So etwas tut Betti nicht.« Agnes Wolter sah auf das Foto, das auf der Kommode stand. Bettina in Stewardeß-Uniform. Die letzte Aufnahme. »Sie hat sich noch nie vergessen.«

»Auf jeden Fall wird das Rätsel immer größer.« Wolfgang Wolter ging in dem Zimmer hin und her. Er wußte keine Antwort auf die vielen Fragen, die in ihm wuchsen. »Sie lebt! Sie ist mit einem Mann glücklich. Sie macht keinerlei Anstalten, Tiflis zu verlassen, sondern verbirgt sich … ich nehme an, bei diesem Mann. Das sieht alles nicht nach Bettina aus. Ein Mensch kann sich doch nicht so wandeln.«

»Ich habe nur das berichtet, was ich gesehen habe«, sagte Paul Andresen leise. »Seit drei Jahren fliege ich mit Betti, ich kenne Betti sehr genau. Ich weiß auch keine Erklärung dafür.«

»Seien wir glücklich, daß sie lebt und gesund ist.« Wolfgang Wolter legte seine Hand tröstend auf die weißen Haare seiner Mutter. Er spürte, wie sie innerlich zitterte, aber sie hatte die ungeheure Kraft, nicht zu weinen und wie versteinert dazusitzen. »Und warten wir ab, was uns die nächsten Tage oder Wochen bringen. Mehr als abzuwarten, bleibt uns ja nicht übrig.«

*

An einem Montag traf Oberst Jassenskij in Rolandseck ein.

Borokin begrüßte ihn mit saurer Miene, denn er wußte, was der Besuch des Obersten bedeutete.

»Willkommen am Rhein, Safon Kusmajewitsch«, sagte er sarkastisch. »Sie werden von dem Blick auf den Drachenfels und Petersberg begeistert sein. Und mit einem Fernrohr können Sie Konrad Adenauer direkt auf der Terrasse seiner Villa in Rhöndorf erblicken. Das ist bei dem Genossen Kossygin nicht möglich.«

Oberst Jassenskij war in keinerlei Stimmung, auf solche Reden einzugehen. Er war bedrückt. Der Chef des GRU in Moskau hatte ihn einen Versager genannt. Nur wer in Rußland lebt, weiß, was das bedeutet, und nur, wer schon einmal eine Uniform getragen hat, kann ermessen, was ein bedrückter Vorgesetzter bedeutet.

Für Borokin begann eine schwere Zeit.

Zunächst erfuhr er, daß Bettina Wolter Rußland verlassen hatte. Zusammen mit einem Kolka Iwanowitsch Kabanow und dessen Ziehsohn Dimitri Sotowskij. Noch wußte man nicht den genauen Weg, aber Meldungen vom Kaspischen Meer ließen ahnen, daß sie mit einem Fischerboot zur iranischen Küste gefahren waren.

»Pfui!« sagte Borokin voll vaterländischer Verachtung. »Ein Ingenieur des Ölkombinats! Welche Verworfenheit!«

Oberst Jassenskij sah Borokin mitleidig an. »Reden wir nicht um den heißen Brei herum, Jurij Alexandrowitsch. Die Lage ist fatal.« Jassenskij setzte sich in einen Korbstuhl auf der Terrasse und blickte über den in der Sonne leuchtenden Rhein, der hier wie silbern, aber nicht, wie er ist, lehmig-dreckig aussah. Aber er nahm das gar nicht wahr. Nicht das berühmte Panorama vom Drachenfels und Petersberg, Bad Honnef und der Insel Nonnenwerth. Nicht die weißen Schiffe auf dem Strom und die Zinnen der im Hochwald eingebetteten Drachenburg. Ein Mensch, der ertrinkt, lobt nicht das kühle, erfrischende Wasser.

»Was haben wir bisher erreicht?« sagte er, und Borokin wußte genau, wie die Antwort ausfiel. »Solange das Mädchen als verschollen galt, hatten wir alle Trümpfe in der Hand, über ihren Bruder etwas zu erfahren. Sie, Jurij Alexandrowitsch, hatten allein die Karten zwischen den Fingern. Was haben Sie daraus gemacht? Ein paar Meldungen über versteckte Radiostationen an der Zonengrenze, die noch gar nicht arbeiten und von denen wir nicht wissen, ob sie wirklich bestehen. Nennen wir es beim Namen: Sie haben Windeier gelegt!«

Borokin sah hinunter an den Rhein. Trotz der schwülen Sommerhitze war es kalt in ihm. Die Gnadenlosigkeit Moskaus wehte ihn an.

»Man kann in ein paar Wochen nicht alles das erfahren, was verlangt wird«, sagte er etwas heiser. »Genausogut könnte ich fragen: Warum hatte man keine Möglichkeit, Bettina Wolter in Grusinien festzuhalten? Warum konnte sie überhaupt die Sowjetunion verlassen? Noch vier Wochen, und wir wären weiter als heute gewesen.«

»Es hat keinen Sinn, zu denken, was wäre, Jurij Alexandrowitsch.« Oberst Jassenskij fächelte durch die stehende Luft. In Moskau begannen jetzt schon wieder die kühlen Tage. Aber so ist das, dachte Jassenskij. Sie verweichlichen hier im Westen, die Genossen. Wärme, Sorglosigkeit, weit weg vom Kreml, Weiber, Sekt, Kaviar, ein widerliches bourgeoises Leben – was kann da schon herauskommen? Drei Jahre ist dieser Borokin schon am Rhein. Viel zu lange. Er sollte abgelöst werden und nach Ulan-Bator kommen. Von rheinischen Weinbergen in die mongolische Steppe, das ist die richtige Abwechslung.

Jassenskij sah Borokin kopfschüttelnd an. »Überlegen Sie mal, was nun los ist! Wir haben einen Sarg mit den sterblichen Überresten Bettina Wolters freigegeben. Er ist in Hamburg.«

»Um Gottes willen!« entfuhr es Borokin. Jassenskij lächelte verkniffen.

»Wie stehen wir da?!« sagte er dumpf. »Lächerlich machen wir uns.«

»Ist es meine Schuld, Genosse Oberst? Wer hat diesen blöden Sarg denn nach Hamburg geschickt?«

Jassenskij vermied es, darauf eine Antwort zu geben. Wer tritt sich schon gerne selbst in den Hintern? Ganz davon abgesehen, daß dies eine artistische Leistung wäre.

»Fragen wir anders, Genosse«, bellte Jassenskij. »Warum haben Sie aus diesem Oberleutnant Wolter nicht mehr herausgeholt? Sie hatten alle Druckmittel in der Hand. Nun steckt die Karre im Dreck! Man weiß jetzt, wer Sie sind, man wird in kürzester Zeit wissen, daß der Sarg ein Betrug ist, man wird uns lächerlich machen. Ich kann Ihnen sagen, daß man im Kreml so sauer ist, als habe man Essig in den Adern. Und Sie stehen hier auf der Terrasse und singen Rheinlieder.«

Das war maßlos übertrieben, aber Borokin verzichtete darauf, Oberst Jassenskij zu berichtigen. Er sagte vielmehr das, was jeder Russe in seiner Lage gefragt hätte: »Wann muß ich nach Moskau, Genosse?«

Jassenskij schielte zu ihm hoch. Er hielt nicht viel von sinnlosem Heldentum. »Zunächst müssen wir sehen, daß wir soviel wie möglich ausbügeln«, sagte er nachdenklich. »Wir stehen in einem Wettrennen mit der Zeit. Ich habe Ihre Berichte gelesen; sie sind Mist, Jurij Alexandrowitsch. Diese Sache mit dem Weibsstück Irene Brandes, sie mußte schiefgehen. Mutter hin – Mutter her: Wenn sich solch ein Täubchen richtig verliebt, ist der Mann wichtiger als das Mütterchen. Das hätten Sie wissen müssen.«

»Irene Brandes tat alles für ihre Mutter«, antwortete Borokin mit rostiger Stimme. »Seit zwei Jahren war sie unsere beste Schlepperin. Sie hat uns bisher sechs Agenten gebracht.«

»Aber dieser Oberleutnant ist etwas anderes. Borokin, ein Weib arbeitet mit dem Herzen! Doch was hilft's? Wir klagen uns nur an, und es geschieht nichts.«

»Und was soll geschehen, Genosse Oberst?«

»Am meisten drückt mich der dumme Sarg in Hamburg.«

»Das dürfte die blamabelste Geschichte werden, die in den letzten Jahren passiert ist.«

»Und deshalb muß Ihnen etwas einfallen, Jurij Alexandrowitsch.« Oberst Jassenskij erhob sich aus seinem Korbsessel und trat in den Schatten des schloßähnlichen Hauses der Botschaft zurück. »Mit dem Oberleutnant werde ich selbst einmal sprechen. Vermitteln Sie einen Treff. Wo findet er sonst statt?«

»Am Rheinufer bei Köln oder in einem Waldstück des Stadtwaldes.«

»Also: Treff für morgen! Und kümmern Sie sich um den Sarg!« Das war keine normale Unterhaltung mehr, sondern ein Befehl. Borokin verstand, nickte stumm und wußte, daß seine schöne Zeit am Rhein vorüber war. »Und packen Sie vorsorglich!« Jassenskij sah an Borokin vorbei auf die Insel Nonnenwerth. Das kleine Glöcklein im Turm des Klosters begann zu bimmeln. »Es kann sein, daß wir schnell wieder zurück nach Rußland müssen.«

»Es wird alles vorbereitet, Safon Kusmajewitsch«, sagte Borokin dumpf.

Ein eigenartiges Gefühl ist es, Freunde, plötzlich zu wissen, daß man ein Nichts geworden ist.

*

Bis heute weiß man noch keine Erklärung dafür, wie es möglich war, daß aus der verschlossenen Leichenhalle des Hamburger Nordfriedhofes ein plombierter und verlöteter Zinksarg über Nacht verschwinden konnte. Kein Fenster war zertrümmert, kein Schloß aufgebrochen, keine Wand eingestemmt. Die merkwürdigen Diebe mußten mit einem Nachschlüssel gearbeitet haben, unauffällig und fachmännisch. Sogar einen Leichenwagen hatten sie bei sich. Die Radspuren waren deutlich im sandigen Boden zu erkennen.

Daß der schmucklose Zinksarg, der in einer Ecke stand, überhaupt fehlte, merkte man erst dann, als eine Kommission der Hamburger Staatsanwaltschaft eintraf, um den Sarg zu beschlagnahmen und öffnen zu lassen.

»Völliges Stillschweigen!« sagte der Leitende Erste Staatsanwalt, als man ihm meldete, daß jemand den Sarg gestohlen habe. »Das ist eine Angelegenheit des Bundesverfassungsschutzes und des MAD! Mit Politik wollen wir uns nicht beschäftigen.«

Über den verschwundenen Zinksarg, in dem die verbrannte Bettina Wolter liegen sollte, wurde nie wieder gesprochen.

Borokin war um einige Stunden schneller gewesen. Und wer die Geheimdienste kennt, weiß, daß man dort fair sein kann und Leistungen des Gegners anerkennt.

»Gestorben«, sagte der General mit der Brille, als ihm die Meldung aus Hamburg auf den Tisch gelegt wurde. »Gönnen wir den Sowjets diesen Streich. Uns erspart es viel Ärger. Aber propagandistisch wäre es ein Knüller gewesen.«

Und auch Jassenskij nickte Borokin belobigend zu, als er von der gelungenen Sargentführung hörte.

»Wo ist er jetzt?« fragte er beiläufig beim Nachtisch. Er aß einen Vanillepudding mit Schokoladensoße, und das machte ihn frohgestimmt.

»Wir haben ihn in einer einsamen Gegend des Sachsenwaldes vergraben«, antwortete Borokin. »Werden Sie mir jetzt sagen, Genosse Oberst, wer wirklich in dem Sarg war?«

»Eine Tote. Ein verbranntes Mädchen. Eine Arbeiterin, die in der Ölraffinerie verunglückt war.« Jassenskij löffelte seinen herrlichen Pudding. »Halten Sie uns für Anfänger, Borokin?«

»Und in dem Sarg in Tiflis?«

»Zwei Baumstammstücke.« Jassenskij goß sich noch Schokoladensoße nach. »Wir dürfen glücklich sein, Jurij Alexandrowitsch, daß wir das überstanden haben.«

*

Es heißt immer, es liege an jedem einzelnen Menschen selbst, was er aus sich macht und was aus ihm wird. Diese Behauptung mag grundsätzlich richtig sein, läßt aber außer acht, daß alles menschliche Bemühen nichts nutzt, wenn man kein Glück hat. Glück ist das Salz des Lebens. Ohne Glück kann ein Genie als ein Irrer gelten.

Dimitri Sergejewitsch Sotowskij hatte Glück.

Drei Wochen saß er als Toilettenschrubber unter der Erde in einem nach Moschus und Lavendel riechenden gekachelten Gefängnis, betrachtete die zusammengekniffenen Hintern seiner Kunden an den Pinkelrinnen, reichte Handtücher und Seife, nahm Trinkgelder an, lauschte auf die Philosophie, zu der Männer in solcher Umgebung angeregt werden, und da das russische Nachtlokal ›Datscha‹ viel Stammkunden hatte, wußte Dimitri schon bald, was geschah, wenn der oder jener die Treppe herabkam.

Der Direktor Panolopulos, ein Grieche, der in Beirut eine Bank vertrat, hatte – nur als Beispiel – die Angewohnheit, bei seiner Entleerung tief zu seufzen, die Augen zu schließen und zu Dimitri zu sagen: »Mein Bester, das Wertvollste, was wir haben, sind wir selbst!«

Und Dimitri antwortete stets: »Welche Wahrheit, Herr Direktor Panolopulos!« Dafür bekam er ein großes Trinkgeld.

Oder der Franzose Jules Lachaise. Wie ein Sprinter kam er die Treppe heruntergerannt, stieß mit dem Kopf fast an die Kachelwand, und dann geschah es, daß Dimitri auf den extra für Sonderfälle bereitstehenden Zerstäuber drückte, um die Luft wieder zum Einatmen erträglich zu machen.

So ging das drei Wochen, bis eines Morgens Barbesitzer Ilja Matwejewitsch Pikalow zu Dimitri sagte: »Brüderchen, du bist zu schade für die Toilette. Ich weiß, keinen Ersatz gibt es für dich, alle sind sie zufrieden mit dir, ein großes Jammern wird's geben, denn man sagt, daß du der geborene Lokuswärter seist, diskret, höflich und für jeden ein gutes Wort – aber mich zerreißt es, dich nur bei den pinkelnden Männern zu sehen.« Und dann richtete sich Pikalow auf, warf sich in die Brust und sagte feierlich: »Dimitri Sergejewitsch – ich befördere dich zum Außenportier! Du bekommst zwar nur die Hälfte des Gehaltes, aber du verdienst das Dreifache durch die Trinkgelder. Und eine Uniform wirst du tragen! Söhnchen, eine herrliche Uniform! Ein Traum von einer Uniform! Die Weiberchen werden die Augen verdrehen und mit dem Hintern wackeln, und die Männer werden ihr Herz schlagen hören, denn du wirst aussehen wie ein junger Gott aus der Steppe!«

Dimitri war es recht. Er verließ seine Toilette und bekam seine Uniform. Der Theaterschneider von Beirut hatte sie entworfen und genäht, und so sah sie auch aus.

Ein Mittelding zwischen Kosakentracht und Kirgisengewand, goldbetreßt wie ein Ataman, mit Fellmütze und weichen Stiefelchen, und dazu für die kalten Nächte ein Mäntelchen. Genossen, eine Wonne war's! Mit Pelz besetzt, der aussah wie silberner Nerz, aber es handelte sich nur um Kaninchen. Als Dimitri zum erstenmal in seiner Uniform in das Büro Pikalows trat, schlug dieser die Hände über dem Kopf zusammen und tat einen Wonneschrei.

»Wie aus dem Märchenbuch!« brüllte er. »Wie aus dem Film! Wird das einen Auflauf geben! Das spricht sich herum! Ein anderes Zimmer muß ich dir geben, ein breiteres Bett, und fließendes Wasser. Du wirst die schönsten Weibchen in den Kissen haben, Freundchen!«

Und so begann die neue Karriere Dimitris als Portier vor der russischen Bar ›Datscha‹. Er stand vor dem kulissenartigen Eingang des Nachtlokals, riß die Tür auf, wenn die Gäste vorfuhren, nahm den Damen die Mäntel ab und kassierte im Laufe einer Nacht durchschnittlich sieben bis zehn Billets, die ihn einluden, die Schreiberin doch tagsüber, ganz gleich zu welcher Zeit, zu besuchen. Ein Erfolg, über den Ilja Matwejewitsch Pikalow gar nicht erstaunt war, denn er war lange genug in Beirut, um zu wissen, daß die Damen der Gesellschaft in Langeweile badeten und Männer wie Dimitri umworben wurden wie gut im Hafer stehende Hengste.

Zwei Tage trug Dimitri seine schöne Uniform, als Kolka und Bettina in Beirut landeten.

In Teheran hatten sie sich neu eingekleidet. Ganz westlich sahen sie nun aus. Vor allem Kolka war kaum noch zu erkennen in seinem gutsitzenden Sommeranzug, dem weißen Hemd, dem bunten Schlips. Sein Haar war jetzt ganz kurz, zwei Millimeter hoch; ein sogenannter ›Hindenburgschnitt‹, der Kolka das Aussehen eines alten, von Schenkeldruck und Attacke träumenden Rittmeisters gab. Bettina trug wieder ihre alte Haarfarbe, das schöne, mattleuchtende Mittelblond, das in der Sonne aufflammen konnte wie Messing. In Teheran hatte sie sich die Farbe aus Tiflis herauswaschen lassen und die Haare etwas länger gelassen. Viel weicher war nun ihr Gesicht, fraulicher und reifer, von einer Schönheit, die selbst Kolka auffiel, so daß er sagte: »Verdammt noch mal, wer hätte mir solch eine Tochter jemals zugetraut! Als ich dich zum letztenmal sah, lagst du in den Windeln und sahst aus wie eine verschrumpelte Rübe.«

In Beirut mieteten sie sich durch Vermittlung der Fluggesellschaft in einem kleinen Hotel ein, denn noch wußten sie nicht, wie lange sie in Beirut bleiben mußten und wie weit ihr Geld reichen würde.

»Wir müssen damit rechnen, vielleicht zu arbeiten«, sagte Kolka, als sie in ihrem Zimmer waren und sich von dem Flug ausruhten. »Ohne Dimitri gibt es keine Rückkehr, ich muß es wieder sagen.«

»Das ist selbstverständlich, Paps.« Bettina starrte an die fleckige Decke. Es war ein billiges Zimmer, und es roch von der Küche unter ihnen nach Knoblauch, Thymian und Pommes frites. »Wo wollen wir aber Dimitri suchen?«

»Fangen wir wieder bei der deutschen Handelsmission an. Vielleicht wissen sie jetzt etwas.«

Es zeigte sich, daß Kolka richtig dachte.

Der Beamte war aus dem Urlaub zurück, hatte sich gut erholt, trug eine braune Seefarbe mit sich herum und in der Tasche Fotos von entzückenden Libanesinnen, die ihm die Ferien vergoldet und außerdem viel Geld gekostet hatten. Aber was tut's? Man kann nicht alles umsonst haben, und der Erinnerungswert übersteigt bei weitem die tatsächlichen Kosten. Dementsprechend war der Beamte auch gut gelaunt – man sieht, daß man Beamte viel öfter in den Urlaub schicken sollte! – und erinnerte sich sofort an den merkwürdigen Russen, der Ölingenieur gewesen war und nur mit einem Smoking auf dem Leib geflüchtet sein wollte.

»Er war hier«, sagte Kolka nach dieser Auskunft und wischte sich über die Augen vor Ergriffenheit. »Unser Dimitri war hier. Er hat sein Wort gehalten.«

Und Bettina küßte Kolka vor den Augen des Beamten und weinte vor Glück.

»Es war alles ziemlich verwirrt«, sagte der Beamte leutselig (Gott segne den Urlaub!) und bot Bettina und Kolka eisgekühlten Orangensaft an. »Wer konnte annehmen, daß seine Erzählungen stimmen? Außerdem war da der Empfang für Nobelpreisträger Bunche, und wir haben ja auch keine Möglichkeit, Asylersuchen zu erfüllen. Wir sind nur eine Handelsmission, geduldet und schwach besetzt. Ich habe Herrn Sotowskij deshalb an die amerikanische Botschaft weitergeleitet.«

Die Amerikaner, zu denen Kolka und Bettina sofort fuhren, waren ebenso freundlich wie der deutsche Beamte, nur wußten sie noch weniger.

»Yes, er war hier«, sagte Major Hawkins, der damals Dimitri eine Nacht beherbergt hatte. »Hat hier geschlafen und ist dann wieder zurück zur deutschen Mission. Was sollten wir mit ihm? Er wollte nach Deutschland.«

»Aber die Deutschen können ihm auch nicht helfen, sagen sie.«

Kolka hatte seinen Arm um Bettinas Schulter gelegt. »Kann denn keiner helfen? Wir wollen doch in die Sicherheit! Und wo finden wir jetzt unseren Dimitri?«

»Geben Sie eine Zeitungsanzeige auf«, sagte Major Hawkins gemütlich. Er liebte solche fatalen Späße. »Entlaufen ist Dimitri Sergejewitsch …«

Kolka und Bettina verließen die US-Botschaft.

Er lebt, das war gewiß. Er war geflüchtet. Und er mußte hier in Beirut sich verstecken. Vielleicht lebte er in einem Keller wie eine Ratte, die nur nachts hinausschleicht und die Mülltonnen durchwühlt.

»Ich finde ihn!« sagte Kolka, als sie wieder in ihrem kleinen, nach Knoblauch stinkenden Hotelzimmer waren. »Und wenn ich von Haus zu Haus gehe, Straße nach Straße … ich finde meinen Dimitri.«

Am Abend gingen sie am Hafen spazieren, niedergeschlagen und wortlos, freie Menschen in einer freien Welt und doch einsamer und gefangener als in einem sibirischen Lager. Ein Straßenjunge drückte ihnen einen Werbezettel in die Hand, und Kolka las, ehe er ihn zerknüllte und wegwarf in das ölige Hafenwasser:

»Besuchen Sie die ›Datscha‹. Original russisches Lokal. Tänzerinnen aus der Steppe! Bis morgens geöffnet. Beste Küche. Nur russische Weine. Krim-Sekt. Sie werden diesen Abend in der ›Datscha‹ nie vergessen.«

»Morgen gehe ich los«, sagte Kolka und sah über den Wald der Mastspitzen, durch den der Nachthimmel blaß schimmerte. »Und ich fange in der Altstadt an. Dimitri hat nicht so viel Geld, um sich ein gutes Zimmer zu leisten.«

So kamen sie in jene Gegend, in der der Hafen weniger den Schiffen als dem Vergnügen diente. Leuchtreklamen schimmerten bunt, zuckende Neonschriften lockten, aus den Eingängen quoll verschwommene Musik über die Uferpromenade. Und dann sahen die die Fassade einer Bar, eingerahmt in bunten Glühbirnen, Säulen und zwiebelförmigen Bögen, die Theaterdekoration eines russischen Palastes, und über den Bögen und Ranken flimmerte in Rot die Schrift ›Datscha‹.

Kolka blieb stehen und sah hinüber. Über sein Gesicht zuckte es. »Laß uns umkehren, Töchterchen«, sagte er. »Ich will nicht mehr erinnert werden … auch wenn es bloß eine Bar ist. Datscha … es war einmal ein Traum von mir, auf dem Lande eine kleine Datscha zu haben und dort mit Dimitri zu leben. Komm, laß uns gehen. Und sieh dir den Kerl in der Tür an – sieht so ein Russe aus? Schrecklich ist, wie die Menschen betrogen werden.«

Er faßte Bettina unter. Der Portier in seiner russischen Phantasieuniform riß die Tür auf. Ein Wagen war vorgefahren, zwei Damen in Nerzmänteln und zwei Herren im Smoking stiegen aus, gaben dem Portier etwas in die Hand und verschwanden in der Bar. Der Wagen fuhr weiter, und der große Portier trat zwei Schritte vor und blickte hinauf in den Sternenhimmel.

Das war der Augenblick, in dem Bettina hell aufschrie, sich von Kolka losriß und mit ausgebreiteten Armen auf den uniformierten Mann losstürzte.

»Dimitri!« schrie sie. »Dimitri! Mein Lieber! Dimitri …!«

Und der Portier brüllte gleichfalls auf, er vergaß seine Vornehmheit, er vergaß, daß er eine goldbetreßte Uniform trug, daß er vor der ›Datscha‹ stand, um zu repräsentieren. Mit Sprüngen, die noch kein Mensch gesehen hat, kam er Bettina entgegen, und seine Stimme dröhnte in der Nacht, als er »Wanduscha! Wanduscha! Oh, ein Wunder! Ein Wunder!« brüllte.

Dann lagen sie sich in den Armen, küßten und herzten sich, und Ilja Matwejewitsch Pikalow erschien in der Tür, alarmiert vom Garderobenmädchen, sah sofort, was geschehen war, und sagte bitter: »Eine Scheiße ist's. Nun bin ich ihn los.« Und freute sich doch so über das Glück Dimitris, daß ihm die Tränen über die Wangen rollten.

Kolka stand starr mitten auf der Straße. Nur drei Schritte trennten ihn von Dimitri, aber sie waren wie drei Werst, so schwer und steinig, als habe man Blei in den Beinen.

»Mein Dimitri …«, stammelte er. »Mein Söhnchen … Wir sind wieder beisammen. Nun ist alles gut!«

Und dann kam er näher, als zöge er ein Boot an einer Leine mit sich, breitete die Arme aus, drückte Dimitri an sich und war nichts weiter als ein alter, schluchzender, glücklicher Vater.

Ilja Matwejewitsch Pikalow ließ es sich nicht nehmen, dieses Wiedersehen in seiner ›Datscha‹ zu feiern, obgleich er der Leidtragende war und nun wieder auf die Suche nach einem gutaussehenden Portier gehen mußte. Aber wem rührt es nicht das Herz, wenn man so viel Glück sieht, so viel Liebe und Küssen, Umarmungen und dumme gestammelte Worte? Einen Augenblick lang dachte Pikalow sogar an Rußland und an den Jammer, hier leben zu müssen, anstatt eine Weinschenke auf der Krim zu haben oder ein konzessioniertes Tanzlokal in Jalta. Das trieb ihm die Tränen in die Augenwinkel, er seufzte tief, und die ganze Schwermut des Russen kam über ihn. Er umarmte Dimitri und Kolka, nannte sie einen Teil seines Herzens und ließ dann in einer Ecke des Lokals einen Tisch für sie reservieren und eine spanische Wand davor aufstellen, denn wen interessiert schon das Gehopse der Tänzerinnen. Dort saßen sie dann alle, aßen gebratenen Stör und tranken Krimsekt.

»Eine schaurige Musik«, sagte Kolka, als das Balalaika-Orchester begann, gespielt von echten Libanesen in russischen Kosakenuniformen. »Daß du's mit deinen russischen Ohren ertragen kannst, Ilja Matwejewitsch?«

»Das Geschäft, Brüderchen, nur das Geschäft!« Pikalow hob die Hände empor, als müsse er schwören, daß er Rußland mit dieser Musik nicht beleidigen wolle. »Man liebt es so. Man glaubt, so ist Rußland. Man ist es so gewöhnt durch die Filme und westlichen Bücher. Nicht anders will man uns sehen als wie einen Kosaken, der herumhüpft wie von einem Floh gezwickt. Würde man ihnen zeigen, wie es wirklich ist, nicht eine Maus würde sich herablassen, in dieses Lokal zu scheißen. O Freunde, das Leben ist ein Betrug! Vor allem hier im Westen. Sie leben alle nur so glücklich, weil sie belogen werden. Doch was soll's. Auf euer weiteres Leben!«

So ging man am frühen Morgen auseinander in bester Harmonie. Noch einmal mußte Dimitri in seiner Kammer unterm Dach schlafen, und er nahm von Bettina Abschied, als ginge er wieder auf eine weite Reise.

»Neidisch kann man werden«, sagte Pikalow, der mit Kolka vor der ›Datscha‹ stand und wartete, bis sich die Liebenden trennen konnten. Die Leuchtreklame war erloschen. Die Theaterkulisse des Bareingangs wirkte nun fahl, abgeschabt, mies und schäbig. In der Nebenstraße, um die Ecke herum, erbrach sich ein Betrunkener. Man hörte sein Würgen und Keuchen, und als er jetzt einen Wind fahren ließ, sagte er laut: »Good wind!«

Ein amerikanischer Matrose gewiß.

»Was werdet ihr tun?« fragte Pikalow nach dieser Unterbrechung. Kolka sah hinauf in den blasser werdenden Nachthimmel. Der Morgen dämmerte überm Meer.

»Ich werde dort anfangen, wo ich vor dreiundzwanzig Jahren aufhörte. Meine Frau hat ein Textilgeschäft in Göttingen; ich werde Handtücher verkaufen, Babywäsche, Windeln und Bettbezüge, ich werde die Buchhaltung machen, die Steuererklärungen, die Inventurmeldungen, die Einkäufe bei den Großhändlern.« Kolka sah zurück zu Dimitri und Bettina. Sie standen noch immer eng umschlungen im Eingang der ›Datscha‹ und küßten sich. »Und einmal werde ich Großvater sein«, sagte er leise. »Dann habe ich genug zu tun mit der Aufzucht meiner Enkel.«

»Und was werden sie werden?« fragte Pikalow, und es war eine ungewollt infernalische Frage. »Deutsche oder Russen!«

Kolka schwieg. Pikalow sprach aus, wovor er sich fürchtete, seit sie Rußlands Boden verlassen hatten. Er war nun nicht mehr Kolka Iwanowitsch Kabanow, sondern Karl Wolter, geboren in Göttingen, zuletzt Feldwebel, Vater zweier Kinder. Ein Totgesagter, der nach über zwanzig Jahren heimkehrte. Er war mit dem Betreten des Bodens der sogenannten freien Welt das seltene Exemplar Mensch, das zwanzig Jahre aus seinem Leben wegstreichen konnte, als habe er sie einfach verschlafen.

Zwanzig lange Jahre.

Wie hatte er sie gelebt, wie hatte er dieses Leben geliebt, der Kolka Kabanow aus Tbilisi! Ein herrliches Leben war es gewesen, und er würde es jedem sagen, der ihn danach fragte. Nein, es war kein Gefängnis, dieses Leben in Rußland. Nein, er war sich nicht vorgekommen wie ein Sträfling. Nein, er hatte dieses Land und seine Menschen geliebt. Er hatte einen Sohn großgezogen, hatte russisch denken und fühlen gelernt, war ein Mensch aus Tiflis geworden, ein echter Grusinier, und es waren die schönsten Jahre seines Lebens, die er an den Weinhängen des Kaukasus verbracht hatte. Und er würde zu allen, die ihn so dumm politisch fragten, immer nur nein, nein, nein sagen und ihnen zurufen: »Ihr kennt den Russen nicht! Ihr kennt nur die Fratze des Kriegs … aber den Menschen, Leute, den Menschen solltet ihr kennen. Dann liebt ihr ihn auch!«

Kolka wußte jetzt schon, daß er sich damit keine Freunde in Deutschland gewann, daß man ihn den ›Bolschewiken‹ nennen würde, daß die Parteien ihn als Gruselbeispiel hinstellen würden: Seht, so wird ein deutscher Mensch in der Knechtschaft der Ostens verformt! Und er würde aufstehen und brüllen: »Ihr Idioten! Ich bin Karl Wolter geblieben! Aber ich habe einen Blick in die Herzen getan, in die Herzen, wo ihr nur immer die rote Fahne und den Sowjetstern seht!« Und man würde ihn belächeln oder bedrohen und von einer Mißachtung der Demokratie sprechen.

Genau so würde es kommen, das wußte Kolka, und er hatte Angst davor.

»Ich werde sie zu wachen, weltoffenen Menschen erziehen«, beantwortete er Pikalows Frage. »Deutscher, Russe, Franzose, Engländer … was soll's? Menschen sind wir, jeder aus dem Leib einer Mutter gekommen und von den Müttern geliebt. Wenn es nach den Müttern ginge, Ilja Matwejewitsch, gäbe es nur eine Welt, aber keine Nation. Aber wer hört schon auf die Mütter?«

Endlich war der Abschied zwischen Dimitri und Bettina beendet, und während Kolka und sie zurück zu ihrem dumpfen Hotel gingen, lag Dimitri schlaflos in seinem Bett und bebte vor Freude und Glück.

Der nächste Tag wurde ein schwerer Tag.

Die Rückkehr nach Deutschland wurde erwogen, und dazu galt es, deutsche Beamte zu überzeugen.

Man erkennt sofort, welche schwere Aufgabe Kolka bevorstand. Böse Zungen sagen, daß die Eroberung einer Amtsstube schwerer ist als die Erstürmung eines wild um sich feuernden Betonbunkers. Das ist zwar maßlos übertrieben, aber trotzdem mahnt es zu Vorsicht, Härte, Taktik, Ausdauer und List.

»Es freut mich ungeheuer, daß Ihnen diese Flucht gelungen ist«, sagte der Chef der Handelsdelegation zu Kolka, der sich nun wieder Karl Wolter nannte. »Diese Heimatliebe ist nicht hoch genug zu loben, und selbstverständlich bekommen Sie so schnell wie möglich einen provisorischen Paß, um nach Frankfurt fliegen zu können. Bei Fräulein Bettina ist ja sowieso alles klar. Nur Herr Sotowskij – da sehe ich Schwierigkeiten.«

»Wieso?« fragte Karl Wolter begriffsstutzig.

»Er ist Russe.«

»Natürlich. Wäre er in Samoa geboren, wäre er Samoaner.« Der Beamte lächelte dünn. Witze innerhalb einer Amtshandlung werden nicht gern gesehen.

»Wir können einem Russen keinen Paß geben.«

»Er ist wie wir geflüchtet.«

»Aber Sie sind Deutscher. Sie haben ein Heimatrecht. Herrn Sotowskijs Heimat aber ist die UdSSR.«

»Dahin will er aber nicht mehr zurück.«

»Aber nicht aus politischen Gründen. Nur aus rein privaten.«

»Er liebt meine Tochter.«

»Lobenswert. Das spricht für seinen guten Geschmack, aber für politische Dummheit auch. Stellen Sie sich vor, wenn hunderttausend Russen deutsche Mädchen lieben würden und kämen alle schwarz über die Grenze.«

»O Himmel!« sagte Karl Wolter und blickte an die Decke und die kreisenden Propeller des Ventilators. »Ist so etwas möglich? Das sagt mir ja nicht einmal ein kirgisischer Hirte.«

»Wie bitte?« fragte der Beamte konsterniert. »Ich verstehe nicht …«

»Lassen wir es dabei!« Karl Wolter beugte sich über den Tisch vor. »Geben Sie ein Fernschreiben nach Bonn. Irgendeine Regierungsstelle wird ja zuständig sein für einen solchen Fall. Als Deutscher weiß ich, daß für alles ein Beamter bereitsteht, der wieder einen Vorgesetzten hat und dieser eine Dienststelle leitet. Ein kunstvolles Gebäude, wo eigentlich auch ein Furz aktenkundig sein müßte.«

»Bitte, bitte, Herr Wolter!« sagte der Beamte steif. Er kommt aus Rußland, dachte er dabei. Zwanzig Jahre unter Sowjets, das verroht. Man muß es ihm verzeihen, er wird eine lange Zeit der Ein- und Umgewöhnung brauchen.

»Ein Fernschreiben ist schon unterwegs. Als Sie uns heute morgen anriefen, ist es sofort hinausgegangen. Aber haben Sie bitte Geduld. So ein Fall ist selten. Man wird darüber in Bonn konferieren und unter Berücksichtigung aller politischen Konsequenzen entscheiden. Liebe, das werden Sie einsehen, ist kein attraktiver Grund. Hätte Herr Sotowskij wenigstens Schwierigkeiten mit seinen Vorgesetzten gehabt, wäre er schon einmal eingesperrt gewesen wegen westlichen Denkens – das würde alles vereinfachen.«

»Nichts dergleichen«, sagte Karl Wolter laut. »Dimitri ist ein guter Kommunist.«

»Auch das noch!« Der Beamte schlug über so viel Dummheit die Hände zusammen. »Ich will das nicht gehört haben, Herr Wolter. Wenn ich das nachmelde, bekommt er nie eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Wolter ehrlich.

»Als Kommunist!«

»Haben sie in Bonn Angst vor den Kommunisten?«

Der Beamte schwieg. Darauf gab es keine Antwort. Natürlich, dachte er bloß. Der gute Mann ist zwanzig Jahre zurück. Was weiß er vom kalten Krieg des Jahres 1966, von der Mauer in Berlin, vom Schutz der Demokratie vor zersetzenden Elementen. Er hat hinter dem Kaukasus gelebt, wo es noch Bären gibt. Genauso ist er – ein Bär, der hinter einen Berg blickt und eine neue Welt sieht. Mitleid muß man mit ihm haben.

Drei Tage warteten Kolka, Bettina und Dimitri auf eine Nachricht aus Bonn. Für Bettina und Dimitri waren es herrliche Stunden. Schwimmen gingen sie im Mittelmeer, sonnten sich im goldgelben Sand von Beiruts Bädern, saßen abends Hand in Hand auf den Terrassen der Cafés und blickten über den flimmernden, bunten Hafen und waren glücklich. Nur Kolka – Verzeihung – Karl Wolter (man muß ihn jetzt so nennen, obwohl er noch wie der alte Kolka Kabanow dachte und handelte!) war unzufrieden und fiel der deutschen Handelsmission in Beirut auf die Nerven mit seinem ewigen Fragen: »Was antwortet Bonn?«

Bonn antwortete noch nichts. Wie konnte es auch? Der Fall Dimitri Sotowskij war ein ›Vorgang‹ geworden. Vorgänge werden in der Reihenfolge ihrer Eingänge bearbeitet. Das gehört sich so, man nennt das Ordnung. Aber Karl Wolter verstand das nicht; er dachte normal, nicht behördlich.

»Ich warte nicht länger!« sagte er am dritten Tag zu Bettina und Dimitri, denen die Zeit still stand. »Ich schicke ein Telegramm an Wolfgang.« Und er nahm Bettina und Dimitri mit auf die Post und füllte das Formular aus. »Welche Adresse hat er?« fragte er.

»Du wirst es an das Verteidigungsministerium schicken müssen«, sagte Bettina. »Sie werden es weiterleiten.«

»Das wollen wir hoffen.« Karl Wolter sah an die nahe Wand. Er stand an einem Stehpult des Postamtes und überlegte den Text. »Seien wir ganz klar«, meinte er. »Wolfgang ist ein erwachsener Mann, er wird nicht umfallen.«

Und er telegrafierte:

»Sind in Beirut und warten auf die Rückkehr nach Deutschland. Hotel Melusine. Bettina und Vater.«

»Gut so?« fragte Karl Wolter und schob das Telegramm zu Bettina. Sie las es, und dann stellte sie sich Wolfgang vor, wie er das Wort Vater anstarrte und zuerst nicht begriff, was es bedeuten sollte. Und dann, wenn er es endlich begriff, würde er sich hinsetzen, und das Telegramm würde aus seinen Händen fallen. Vater. 1945 vermißt in Rußland. Später für tot erklärt.

O Gott, ein Toter kommt zurück!

Wie kann man das bloß Mutter sagen?

»Schick es so ab, Vater«, sagte Bettina leise. »Wolfgang ist stark genug.«

Und so flog das Telegramm nach Deutschland.

Am nächsten Morgen war es in Bonn, wurde mit einem Boten zum Verteidigungsministerium gebracht und einer Ordonnanz übergeben. Die Ordonnanz, ein Feldwebel, handelte wiederum logisch, als er einen Fahrer abstellte, ihm das Telegramm gab und ihm befahl, damit zur Wohnung von Frau Agnes Wolter zu fahren. Oberleutnant Wolter befand sich wieder auf einer Dienstfahrt, und wer war eher berechtigt, das Telegramm anzunehmen als seine Mutter?

Agnes Wolter hatte gerade Kaffee getrunken und räumte das Geschirr zum Spülen in die Küche, als der Fahrer das Telegramm abgab.

»Schönen Dank«, sagte sie freundlich, gab dem Fahrer drei Zigaretten und riß den Umschlag auf, nachdem der Bote gegangen war.

»Sind in Beirut und warten auf die Rückkehr nach Deutschland. Hotel Melusine. Bettina und Vater.«

Lautlos sank Agnes Wolter um … eine stumme, fast selige Ohnmacht.

So fand sie eine Viertelstunde später Irene Brandes, die vom Einkaufen auf dem Bonner Markt kam.

Agnes Wolter lag auf dem Rücken, ein Lächeln um die Lippen, und das Telegramm lag über ihren Augen, als solle sie es immer lesen und in sich aufsaugen.

Bettina … und Vater …

Die Erde kann sich rückwärts drehen.

*

Schon am Tag darauf war Wolfgang Wolter nach Beirut unterwegs. Er hatte sofort Sonderurlaub bekommen, nachdem der MAD festgestellt hatte, daß es kein fingiertes Telegramm gegnerischer Geheimdienste war und Wolter in eine Falle gelockt werden sollte. Die Konsularabteilung des Auswärtigen Amtes bestätigte zudem, daß es einen Vorgang Wolter – Dimitri Sotowskij gäbe. Das gab den Ausschlag. Ein amtlicher Vorgang ist immer ein Alibi.

Mit der nächsten Maschine in den Nahen Osten also flog Wolter ab. Man räumte sogar einen Platz für ihn in der besetzten Maschine, indem man einen Reisenden umbuchte für den folgenden Flug. Agnes Wolter lag zu Hause im Bett. Wie gelähmt war sie. »Karl …«, sagte sie immer und starrte ein altes, vergilbtes Bild an, das sie in den Händen hielt. 1944 stand auf der Rückseite. Karl Wolter nach seiner Beförderung zum Feldwebel. Die neuen Litzen glänzten sogar auf dem Foto. Ein junger, fröhlicher, etwas schmächtiger Mann, ein Jungengesicht, wie es jetzt bei Wolfgang, seinem Sohn, wiederkehrte.

Zweiundzwanzig Jahre ist das her, jetzt ist er fünfzig, dachte Agnes Wolter. Wie sieht er jetzt aus? Und dann weinte sie wieder und konnte es gar nicht begreifen, daß es wahr war. Karl kam zurück. Nach zwanzig Jahren Tod, an den sie nie geglaubt hatte.

Und dann bekam sie Angst. Auch ich bin alt geworden, dachte sie. Als er damals wegging nach seinem Urlaub, war ich ein junges, hübsches Frauchen. Und was ist daraus geworden? Runzeln habe ich, und weiße Haare, und die Jahre sind in mir eingegraben wie Ringe in den Bäumen. Er wird mich nicht mehr erkennen, oder er wird entsetzt sein, daß er eine so alte Frau besitzt. Seine Erinnerung wird mich so sehen wie damals … blond und lustig und schlank … und ihm entgegen kommt eine Greisin.

O Gott, o mein Gott, laß in seinen Augen nicht das Entsetzen stehen. Ich würde es nicht überleben.

Aber auch diese Stunden gingen vorüber. Während Wolfgang Wolter in Rom umstieg, saß Agnes Wolter beim Friseur, und Irene Brandes, erfahren in solchen Künsten, überwachte die kosmetische Verwandlung Agnes Wolters in eine reife, hübsche, dem Leben zugewandte Frau.

Die Haare wurden blondiert, Gesichtsmasken wurden ihr aufgelegt, Augenbrauen gezupft, die Nägel gefeilt und poliert, das zu ihr passende Make-up ausgesucht. Als sie nach einem langen Nachmittag, müde und schlapp, den Kosmetiksalon verließ, erkannte sie sich kaum noch in der hübschen Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegensah.

»Wie man einen Menschen verwandeln kann«, sagte sie leise.

»Was man aus einem Menschen machen kann … das klingt besser.« Irene Brandes faßte Agnes Wolter unter. Sie lachten sich im Spiegel an, blinzelten sich zu, und aller Druck, alle Sorge wich aus Agnes Wolters Herzen. »Ich bin stolz auf eine so attraktive Schwiegermutter!« sagte Irene Brandes. »Gebe Gott, ich sähe mit achtundvierzig Jahren noch so aus wie du.«

»Und was wird Karl sagen?« fragte Agnes und sah das ihr fremde Spiegelbild an.

»Da er ein Mann ist, wird er dich glücklich in die Arme nehmen.«

»Nach zwanzig Jahren …« Agnes Wolter wandte sich ab. »Ich habe Angst wie ein junges Mädchen.«

Wie wenig ahnten sie alle von dem Mann, der zurückkehrte und im Herzen Kolka Iwanowitsch Kabanow war.

*

Karl Wolter, Dimitri und Bettina saßen in dem schmalen, schmuddeligen Frühstückszimmer des Hotels Melusine und tranken Tee, als Wolfgang Wolter hereinstürzte. Er riß beinahe einen Kellner um, der gelangweilt die Bestecke sortierte und sich über die drei einsamen Gäste ärgerte, die ihn beschäftigten.

»Betti!« schrie Wolfgang schon in der Tür. Er sah Bettina als erste und breitete die Arme aus. »Betti!« Und dann starrte er auf den alten Mann an ihrer Seite, auf diesen runden Schädel mit den eisgrauen, kurz geschnittenen Haaren, und sein Herz wurde schwer, seine Beine bekamen Bleifüße, die nächsten Meter bis zum Tisch dehnten sich ins Unendliche.

Vater. Das ist also mein Vater. Das ist Vater … Vater … Vater …

Bettina stieß einen hellen Schrei aus, sprang auf und rannte Wolfgang entgegen. Mitten im Raum fielen sie sich in die Arme, küßten sich, und der arabische Kellner ging zur Klappe, die in die Küche führte, und bestellte noch einen Tee.

Langsam erhob sich Karl Wolter. Vor seinen Augen tanzten die Tische und Stühle. Die Sonne brannte in seinem Nacken, als läge ein brennendes Scheit auf seinem Hals. Die Kehle war trocken wie Wüstensand.

Mein Junge, dachte er. Das ist er also … mein großer Junge. Als ich ihn das letzte Mal sah, trug er Lederhosen und fing Frösche. Fünf Jahre war er alt, ein blonder Lockenkopf. Mein Sohn. Wie groß er ist, wie breit, wie männlich. Zwanzig Jahre … an ihm sieht man sie. Er ist gewachsen wie ein Baum auf bestem Boden.

»Vater!« sagte Wolfgang laut. Er hatte sich von Bettina gelöst und kam nun zwei Schritte näher. »Vater …« Seine Stimme brach ab, sie schwamm einfach weg. »Ich … ich bin Wolfgang …«

»Mein Junge, ich erkenne dich … die gleichen Haare, die gleichen Augen … Mein lieber, großer Junge …«

Und dann umarmten sie sich, drückten sich aneinander, und Karl Wolter weinte, so sehr er sich dagegen wehrte. Er unterlag seinem Herzen und heulte laut, und auch Wolfgang Wolter weinte und schämte sich nicht und fühlte sich wie der kleine Junge, der gefallen war und mit blutendem Knie nach Hause läuft und voller Kummer ist.

Dimitri drehte sich zum Fenster und blickte hinaus zu dem Fischereihafen. In seinem Herzen saß eine schwere Kugel. Jetzt hat er seinen Sohn, dachte er. Und ich habe einen Vater verloren. Ich war der Sohn des Kolka Iwanowitsch Kabanow, aber dort steht jetzt der Karl Wolter. Und es ist eine andere Welt als die von Tiflis, in der wir so glücklich waren.

Er senkte den Kopf und schloß die Augen.

Nun war es geschehen. Der große, gefürchtete Augenblick war gekommen: Dimitri Sotowskij hatte keine Heimat und keinen Vater mehr.

»Komm!« sagte eine leise Stimme hinter ihm. Bettina legte beide Arme um seinen Hals und küßte Dimitri auf die Schläfe. »Komm, jetzt gehörst du völlig zu uns.«

Dimitri erhob sich und drehte sich um.

Karl Wolter und Wolfgang standen nebeneinander, und sie sahen sich ähnlich, ohne Zweifel. Dimitri lächelte schwach. So betrachtet man ein Pferd, das man gekauft hat, dachte er. Ist es gesund? Ist es kräftig genug? Hat es nicht den Rotz? Gleich kam jemand, schob ihm die Lippen hoch und wies seine Zähne vor. Gesund! Kein Belag. Ein guter Kauf, mein Lieber …

»Mein Sohn Dimitri Sergejewitsch«, sagte Karl Wolter laut, und Dimitri zuckte zusammen. Mein Sohn … Kolka, altes, gutes Väterchen … bin ich noch dein Sohn?

»Komm her, Dimitri«, sagte Wolter sanft. »Das hier ist dein Halbbruder Wolfgang. Und du, Wolfgang« – Wolter wandte den Kopf zu seinem Sohn – »siehst hier meinen Dimitri. Er wird unsere Betti heiraten, und wir alle werden glücklich sein.«

Wolfgang Wolters Gesicht war kühl und verschlossen. Er lächelte nicht, als er Dimitri die Hand entgegenstreckte. Es war nur so, als habe sein Vater ihm wie früher befohlen: Nun gib schon die Hand, du Muffel!

Ein Russe, dachte er. Ein Russe mein Bruder, das werde ich weder begreifen noch akzeptieren. Ein Genosse Borokins in unserer Familie, das wird unmöglich sein. Man wird es Vater noch klarmachen müssen … später, wenn sich alles eingelaufen hat, wenn er wieder ein normaler Mensch geworden ist durch die Realität der Gegenwart und durch die Liebe der Mutter, und nicht mehr ein grusinischer Bär, der so handelt, wie er im Augenblick fühlt.

»Ich begrüße Sie«, sagte Wolfgang steif.

»Unter Brüdern sagt man du«, warf Karl Wolter ein.

»Ich begrüße dich«, sagte Wolfgang gehorsam. Sie drückten sich die Hand, aber nur eine Sekunde, dann zogen sie sie zurück, als wäre es schon zuviel an Sympathie.

»Isch bin glücklich zu liebän Wanduscha«, sagte Dimitri in seinem harten, holprigen Deutsch. Wolfgang hob die Augenbrauen.

»Wer ist Wanduscha?«

»So nennt er Bettina«, warf Karl Wolter ein.

»Warum? Bettina ist ein guter deutscher Name, den man auch als Russe aussprechen kann.«

Das klang stolz und war wie das Einrammen eines Grenzpfahles. Bis hierher … dahinter beginnt der Kampf.

Karl Wolter und Bettina wechselten einen schnellen Blick. Wolfgang sah ihn nicht, aber Dimitri, und er lächelte schmerzlich.

»Setzen wir uns und trinken wir Tee«, sagte Wolter heiser. »Meine Beine werden schwach. Das Wiedersehen, die Freude, die Erwartung … ich bin ein alter Mann geworden, Wolf. Du hast keinen Vater mehr, der Bäume ausreißt.«

»Das habe ich auch nie von meinem Vater verlangt«, sagte Wolfgang Wolter und lachte. Aber es war ein kläglicher, gequälter Humor. So herrlich es war, einen totgeglaubten Vater wiederzuhaben – plötzlich war das Zurück an einer Mauer abgestoppt, die niemand sah, aber jeder spürte: Die Mauer einer Entwicklung in der Welt, von der Kolka zwischen seinen kaukasischen Bergen verschont geblieben war. Die neue Zeit hatte andere Begriffe, sie dachte in Blöcken. Hier der Westen, dort der Osten … zwei Meere, die nie zusammenfließen konnten.

Warum? Diese Frage stellte niemand.

Und das nach einem Krieg, der 55 Millionen Tote gekostet hatte.

Ist der Mensch wirklich noch das Abbild Gottes?

*

Drei Tage später flogen Karl Wolter, Bettina, Wolfgang Wolter und Dimitri Sergejewitsch Sotowskij mit einer deutschen Maschine nach Deutschland.

Dimitri hatte eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Daß der Militärische Abschirmdienst (MAD) sie durchgesetzt hatte, erfuhr niemand. Man erhoffte sich bei einem Verhör Dimitris Aufschlüsse über die Ölpolitik Rußlands.

In Wahn bei Köln landeten sie, und auf dem Flugplatz stand, als die Passagiere ausstiegen, eine Frau mit blonden Haaren, einen großen Strauß roter Dahlien in den Händen. Ganz allein stand sie da, und der Wind zerzauste ihre kunstvolle Frisur, und das Kleid flatterte um ihren Körper, und die Blumen zitterten in ihren Händen.

»Agnes …«, stammelte Karl Wolter, als er über die Gangway aus dem Flugzeug kam. »Agnes!«

Und dann stürzte er die Treppe hinunter, warf seinen Mantel, den er über dem Arm trug, weg, einfach zur Seite auf die Erde, breitete die Arme aus und brüllte:

»Agnes! Agnes!«

»Das war nicht nötig«, sagte sie, als die erste Umarmung vorüber war und Karl ihr die Tränen von den Backen wischte.

»Was?« fragte er verblüfft.

»Das mit dem Mantel. Nun muß er gleich in die Reinigung.«

Und da lachte Karl Wolter, und er drückte seine Frau wieder an sich und über sein glückliches Gesicht leuchtete die Sonne.

»Nun bin ich zu Hause!« schrie er, daß es alle hören konnten. »Nun bin ich wirklich zu Hause …«

*

Wenn jemand nach über zwanzig Jahren zurückkommt, der bisher als tot galt, und wenn er auch noch aus Rußland kommt, so ist das nicht nur ein Festtagsessen für die Presse, sondern auch ein Magenbitter für die Behörden.

Mit den Zeitungen, den Illustrierten und dem Fernsehen wurde Karl Wolter schnell fertig. Er sagte einfach nein, gab keine Interviews, lehnte Exklusivangebote auf seine Story ab (weil ihn das Wort Story störte, denn sein Schicksal war keine Story, die man sensationell auswalzen sollte, sondern nichts weiter als ein randvolles Leben), warf zwei Filmdramaturgen hinaus, beleidigte einen Chefredakteur, der ihm einreden wollte, seine Erlebnisse in Rußland seien ein ›toller Knüller‹ … kurzum, nach drei Wochen sprach keiner mehr von Karl Wolter und seiner abenteuerlichen Heimkehr, da unterdessen ein schöner, für zehn Fortsetzungen geeigneter Massenmord geschehen war.

Anders war es mit den Behörden.

Behörden vergessen nichts!

Behörden sind dazu da, sich ständig an die Pflichten des Bürgers zu erinnern. Und den Bürger an seine Pflichten. Karl Wolter wurde erinnert.

Man bat ihn um die Lösung des Problems, daß seine Witwe, die keine Witwe war, nun schon zehn Jahre lang eine Witwenrente bezogen hatte, was offensichtlich unrecht sei, denn er, der Tote, lebe ja noch, was augenscheinlich war und mit Amtssiegel bestätigt.

Das Amt betätigte sich dann noch rechnerisch und bewies durch das kleine Einmaleins, daß die Witwe, die keine Witwe war, bisher sage und schreibe 46.000,- DM an Witwenrente in diesen zehn Jahren (nebst Zinsen und Zinseszinsen) kassiert hatte!

»… diese zu Unrecht ausbezahlten Rentenbeträge in Höhe von 46.372,02 DM müssen zurückgezahlt werden«, hieß es am Ende des freundlichen Schreibens.

Karl Wolter legte den Brief auf den Tisch.

Sein Kampf gegen die Bürokratie begann, und er war in der Stimmung und willens, ihn als Kolka Iwanowitsch Kabanow zu führen.

Freunde, das konnte nicht gutgehen! Jeder sieht das ein. Denn Kolka kämpfte mit Logik und gesundem Menschenverstand – zwei Dinge, die ihn in den Augen der Behörden zum abscheulichen Querulanten stempelten.

Es begann damit, daß die Wolters wieder nach Göttingen zogen und Agnes das Wäschegeschäft wieder eröffnete.

Die amtliche Rückkehr ins Leben ging schnell. Da er sich selbst vorweisen konnte, wurde er aus dem Sterberegister gestrichen und bekam eine Kennkarte. Eine Woche lang betrachtete man Karl Wolter als eine Art nationales Denkmal. Der Heimkehrerverband wollte ihn aufnehmen – Wolter lehnte zu aller Verblüffung schroff ab –, Traditionsverbände meldeten sich, sieben ehemalige Freunde tauchten auf, die mit ihm in Sibirien gewesen sein wollten, aber Wolter konnte sich nicht erinnern, sie jemals gesehen zu haben, und außerdem baten diese sieben ausnahmslos um Hilfe, um Darlehen, Kredite oder wollten einfach – aus alter Kameradschaft – pumpen. Kurzum: Es war eine Woche lang ein großes Spektakel um den heimgekehrten Karl Wolter, bis er mit seiner Agnes wieder ruhig im Hinterzimmer des kleinen Wäscheladens sitzen konnte und Kaffee trank.

Zwanzig Jahre waren nachzuholen. Über zwanzig Jahre mußte man Bericht geben. Es war für Agnes und Karl, als begänne jetzt erst ihre wahre Ehe.

»Es ist nicht die Schuld Deutschlands«, sagte der Beamte auf dem Versorgungsamt, als Karl Wolter mit dem Brief kam und fragte, was so ein Blödsinn solle, »daß Sie zwanzig Jahre in Rußland waren und seit zehn Jahren für tot gelten.«

»Ist es meine Schuld?« meinte Wolter.

»Sie hätten vielleicht schreiben können«, erklärte der Beamte.

»An wen? Man schrieb mir, meine Frau und die Kinder seien bei einem Bombenangriff umgekommen.«

»Sie hätten sich davon überzeugen müssen.«

»Von Rußland aus!« Karl Wolter atmete tief aus. »Es ist ja so einfach, nicht wahr? Man wendet sich an die Auskunft und fragt: Forschen Sie mal nach, ob eine Agnes Wolter in Göttingen noch lebt? Und die Natschalniks in Sibirien haben nichts Eiligeres zu tun, als das festzustellen.«

Der Beamte sah konsterniert an die Decke. Welch ein Ton? In einer Demokratie! Pfui!

Es war ein junger Beamter, kaum älter als Wolfgang Wolter, und als der Krieg zu Ende war, hatte er noch mit Murmeln auf den Straßen gespielt. Jetzt war er Beamter auf Lebenszeit. Freunde, das ist mehr als ein König! Könige können gestürzt werden, ein Beamter nie.

»Man kann in Ihrem Fall die Bestimmungen des Spätheimkehrergesetzes anwenden«, sagte der Beamte mit begrenztem Wohlwollen. »Sie können – auf Antrag – eine Entschädigung erhalten. Allerdings wird sie nicht so hoch sein wie die gezahlte Witwenrente. Die Differenz müssen Sie dann zurückerstatten. Da ist in einem Rechtsstaat nun nichts mehr zu diskutieren. Ordnung muß ja Ordnung bleiben.«

Karl Wolter nickte. Noch einmal sah er den jungen Beamten an und er konnte ihm keinen Vorwurf machen. Was wußte er vom Krieg? Was konnte er von Sibirien wissen? Er war aufgewachsen auf dem fruchtbaren Boden des sogenannten Wirtschaftswunders, er hatte immer einen gedeckten Tisch erlebt, ein warmes Bett, die Sorglosigkeit eines biederen Bürgers. Er hatte nie Fischmehl in heißem Wasser gefressen, Regenwürmer gebraten und aus frischem Frühlingsgras Spinatersatz gehackt. Er kannte keine fünfunddreißig Grad Kälte in der Steppe. Er war nie zu Fuß vierhundert Kilometer durch die kirgisische Steppe marschiert. Er hatte die Mittelschule besucht, ein Butterbrot mit Schinken in der Schultasche. Und was früher gewesen war, kannte er nur aus Romanen und den blassen Erzählungen seiner Lehrer.

Und doch kam in diesen Minuten der alte Kolka Iwanowitsch Kabanow wieder in ihm hoch. Mit der Faust schlug er auf den Tisch und brüllte, wie damals in dem schwankenden Boot des guten Fischers Agafonow.

»Nichts werde ich zurückzahlen! Gar nichts! Soll meine Frau dafür bestraft werden, daß ich lebe, daß ich wiedergekommen bin? Hätte ich lieber in Rußland bleiben sollen, he?«

Der junge Beamte bekam einen roten Kopf. Und dann sagte er etwas, was Karl Wolter explodieren ließ: »Bitte, benehmen Sie sich! Sie sind hier bei einer Behörde und nicht in der Steppe.«

Kolka Iwanowitsch – denn das war Wolter jetzt wieder – warf an die Wand, was er fassen konnte: die Akten, die Bleistiftschale, einen Locher, ein Töpfchen mit Leim, einen Aschenbecher und den Papierkorb.

Dann ging er endlich, weggeführt von zwei Polizisten, die von der Stenotypistin im Nebenzimmer alarmiert worden waren.

»Mein Gott, Vater«, sagte Wolfgang, als Agnes ihm den Auftritt im Rathaus erzählte. »Das bringt dir eine dicke Klage wegen Beleidigung und Sachbeschädigung ein.«

»Am Arsch können sie mich alle lecken!« schrie Wolter zurück. »Große Lust hätte ich, mit euch allen zurück nach Tiflis zu fahren! Wenn zwei Weltkriege nicht vermochten, den deutschen Amtsschimmel zu ändern … diesem Volke ist nicht mehr zu helfen!«

»Man muß Geduld haben, Mutter«, sagte Wolfgang leise, als Karl Wolter wütend weggegangen war. Er hatte Dimitri mitgenommen und Bettina. Er mußte an die Luft, er erstickte fast in dieser Enge seines neuen Lebens. »Er braucht eine lange Zeit, bis er sich wieder im Westen eingewöhnt hat.«

»Ob er es jemals wieder kann?« fragte Agnes zweifelnd. »Wie ein Raubtier geht er herum. Mein Gott, mein Gott, sagte er immer wieder, das ist ja alles gegen jede Logik. Ihr lebt ja wie die Strauße – mit dem Kopf im Sand. Ist denn so etwas möglich?« Agnes sah ihren Sohn nachdenklich an. »Ich fürchte fast, Vater hat recht.«

»Das gibt sich. Der Schock der Heimkehr, das Leben hier, das er wie ein Paradies ansehen muß … es ist alles zu viel auf einmal für Vater.«

Über den Vorfall schwieg man in der Familie Wolter. Aber jeder zitterte vor einem neuen Brief oder gar vor einer Vorladung zum Gericht wegen Beamtenbeleidigung. Doch sie traf nicht ein. Der Oberbürgermeister, selbst ein ehemaliger Kriegsgefangener, schlug diesen Vorfall im Rathaus nieder.

Karl Wolter hatte noch einmal Glück mit der Demokratie.

*

In der sowjetischen Botschaft lebte Jurij Alexandrowitsch Borokin isoliert und wie geächtet. So wenigstens kam es ihm vor, nachdem Oberst Jassenskij wieder abgereist war. Und als man in Rolandseck erfuhr, daß Bettina samt ihrem Vater und dem sowjetischen Ölingenieur Dimitri Sergejewitsch Sotowskij über Beirut nach Westdeutschland gekommen waren, gestand sich Borokin ein, daß die Pleite vollkommen war.

Aus Moskau kamen Telefongespräche, bei denen Borokin wie ein Idiot abgekanzelt wurde. Nach dem alten Grundsatz, daß für einen Knüppel auch der zu schlagende Esel vorhanden sein muß, wurde Borokin zum Sünder für alle Fehlleistungen gemacht, worüber General Oronitse, aber vor allem Oberst Jassenskij vom GRU sehr glücklich waren. Es ist immer gut, einen leicht erreichbaren Schuttabladeplatz zu haben.

Borokin nahm es hin wie eine Naturkatastrophe. Hagel kann man nicht verhindern, Moskaus Bann ebensowenig. Man konnte sich nur bemühen, bis zuletzt einen guten Eindruck zu hinterlassen.

Die große Stunde Borokins schlug, als vom Hauptquartier des GRU aus dem Kreml der Befehl kam: »Sotowskij muß in die UdSSR zurückgeführt werden. Die Aktion ist unauffällig zu arrangieren.«

Wer Särge entführt, kann auch einen Lebenden ›zurückführen‹. Und da der Auftrag ganz klar war, machte sich Borokin ans Werk.

Er fuhr nach Göttingen und mietete sich dort ein möbliertes Zimmer unter dem Namen Ernst Hauber. Von Moskau hatte er Fotos bekommen, und er erkannte Dimitri sofort, als er ihn zusammen mit Karl Wolter und Bettina Spazierengehen sah.

Göttingen ist ein günstiger Ort, dachte Borokin. Die Zonengrenze ist in der Nähe, und es wird einfach sein, ihn rüberzubringen, wenn man ihn erst einmal fest in der Hand hat.

Wenn Bettina und Dimitri, wie es das Recht der Verliebten ist, Arm in Arm in den Parks spazierengingen, ließ Borokin sie keinen Moment aus den Augen. Er brauchte keine Vorsicht, weder Bettina noch Dimitri kannten ihn. Nur wenn Wolfgang Wolter am Wochenende zu Besuch kam, blieb Borokin im Hintergrund.

»Handeln Sie schnell«, rief ein paar Tage später Oberst Jassenskij aus Moskau an.

Plötzlich hatte Moskau keine Zeit mehr. Borokin konnte sich das nicht erklären, aber es ist auch nicht die Aufgabe eines sowjetischen Funktionärs, über Befehle nachzudenken.

Handeln Sie schnell … Über Bettina und Dimitri verdunkelte sich der Himmel, und sie merkten es nicht.

*

An einem Sonntag war's, Wolfgang war wieder zu Besuch in Göttingen, als der schwelende Brand sich zum vollen Feuer entwickelte.

Schon seit Beirut herrschte zwischen Wolfgang und Dimitri eine Kälte, die nur durch die Gegenwart Karl Wolters nicht zum offenen Streit wurde. Der kalte Krieg der Völker war nun bis in die Familie gedrungen, und Wolter sah es mit maßlosem Erstaunen und begriff es nicht. Eifersucht Wolfgangs auf einen plötzlichen Halbbruder war es nicht, menschlich würden sie sich gut verstehen, wirklich wie Brüder – aber da war etwas, was Karl Wolter einfach nicht verstehen wollte: Der politische Schnitt zwischen Ost und West.

Wolfgang Wolter war deutscher Offizier. Seine Welt war klar vorgezeichnet, durch die Schule, Ausbildung und Beruf. Er trug eine Uniform, und er hatte einen Eid geleistet, Deutschland notfalls mit seinem Leben zu verteidigen. Der Blick aber ging nicht in die Runde, wenn von Verteidigung geredet wurde, sondern nur nach Osten. Von dort kam die Bedrohung der freien Welt, Wolfgang Wolter kannte es nicht anders. Seit er denken konnte, hatte man es so in sein Hirn getrieben.

Und da war Dimitri Sergejewitsch Sotowskij, der große und schwarzlockige Mann aus Tbilisi, ebenfalls von Kindesbeinen an in einer Ideologie erzogen; von den Komsomolzen an bis zur Universität, vom ersten roten Halstuch bis zur Anstellung als Ölingenieur in Grusinien. Er hatte kommunistisch denken gelernt, und er hatte sich wohl gefühlt. Nun war er im Westen, aus Liebe geflüchtet aus der russischen Heimat, und nur wer ein Russe ist, kann ermessen, was das bedeutet. Er blieb Kommunist, warum sollte er sein ganzes Leben ändern? Er träumte nicht von der Weltrevolution – das waren Auswüchse des Denkens –, aber er träumte von der Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen, und das ist ein guter Traum, Freunde, wenn nicht immer wieder Menschen kämen, die sich radikal benehmen und aus Ideen Ideologien machen.

Und doch: So sehr sie zueinander paßten, Wolfgang Wolter und Dimitri Sotowskij – eine Welt trennte sie. Es gab keine Brücke zwischen ihnen. Warum, das weiß keiner zu erklären. Könnte man es erklären, würden alle Politiker arbeitslos, und die Welt hätte Frieden. Kaum auszudenken.

An diesem Sonntag nun geschah es.

Bettina und Agnes Wolter waren in der Kirche, Dimitri spülte das Kaffeegeschirr in der Küche (wie er es oft in Tiflis auch getan hatte), und Wolfgang Wolter, in Uniform, ging unruhig im Wohnzimmer hin und her, während sich Karl Wolter eine Zigarre ansteckte. Wie vor einem Gewitter war es drückend im Raum.

»Was soll aus Dimitri werden, Vater?« sagte Wolfgang und blieb vor Karl Wolter stehen. Seine Worte waren wie der erste Blitz aus den Gewitterwolken.

»Ich verstehe deine Frage nicht«, sagte Wolter.

»Er bleibt bei uns?«

»Natürlich! Er wird eines Tages Bettina heiraten.«

»Ich glaube kaum, daß das möglich ist, Vater.«

Das war so klar gesagt, daß Wolter seine Zigarre weglegte. Er sah zu seinem Sohn hinauf, auf die beiden silbernen Sterne seiner Schulterstücke, und dann erhob er sich und holte tief Atem.

»Weder deine Schwester noch dein Vater werden dich um Erlaubnis bitten, wie sie ihr Leben einrichten!« sagte er laut. »Ich wünsche, daß du endlich begreifst, daß Dimitri zu unserer Familie gehört! Ich habe ihn großgezogen wie einen Sohn.«

»Unter welchen Voraussetzungen! Du warst Gefangener, du hast einer Falschmeldung geglaubt und bist in Rußland geblieben. Du hättest als Russe weitergelebt …«

»Und ich wäre auch als Russe gestorben!« rief Wolter dazwischen.

»Doch das ist jetzt alles vorbei. Du lebst wieder in normalen Verhältnissen. Und ich bin Offizier der Bundeswehr.«

»Man kann's nicht übersehen«, sagte Wolter sarkastisch. Wolfgang bekam rote Ohren. Seine Finger schabten nervös über die Handflächen.

»Vater … ich bin im Ministerium darauf angesprochen worden. Stimmt es, daß Sie einen Russen in die Familie bekommen? Ihre Schwester will einen Russen heiraten? Denken Sie daran, daß Sie Offizier des MAD sind. Es ist fast unmöglich, daß Sie in der Abteilung Ost arbeiten bei einem Bolschewisten in der Familie.« Wolfgang holte tief Atem. »Begreifst du das, Vater? Meine Karriere ist in Gefahr. Man wird mich abstellen zu einem Truppenkommando, und dort kann ich versauern! Ich soll, das hat man mir gesagt, außer der Reihe zum Hauptmann befördert werden und eine Abteilung im Amt Ost bekommen. Das ist alles hinfällig, wenn Dimitri bleibt! Hast du gelesen, was Dimitri dem Reporter der Tagesschau gesagt hat? Ich bin ein Kommunist, auch wenn ich aus Rußland geflüchtet bin. – Im Ministerium hat man kopfgestanden. Ich mußte dem General Bericht erstatten. Geschämt habe ich mich!«

»Geschämt? Wovor? Daß Dimitri Charakter hat?«

»Vater! Du willst es nicht begreifen … wir sind eine deutsche Familie, ich bin ein deutscher Offizier … wir können uns keinen Sowjetrussen in unserer Familie leisten.«

»Ich kann es!« schrie Karl Wolter.

Vor seinen Augen brannte das Zimmer.

Wo habe ich die besten Jahre meines Lebens gelebt? In Rußland, dachte er. In Tiflis wurde ich nach den Jahren in Sibirien wieder zum Menschen. In Tiflis habe ich Dimitris Mutter kennengelernt, wir hatten eine gute Ehe, und ich habe aus dem schmächtigen Jungen einen richtigen, klugen Mann gemacht. Und nun geht es nicht mehr? Nun ist er im Wege, mein Söhnchen Dimitri. Und mein eigener Sohn sagt zu mir, ich soll ihn entfernen. Hölle und Teufel, das ist zuviel an sinnloser Politik! »Dimitri ist mein Sohn wie du!« sagte er laut.

»Er ist nicht dein leiblicher Sohn!«

»Er ist mir ans Herz gewachsen wie du und Bettina! Es gibt keine Diskussion darüber, was aus ihm wird! Eine Stellung wird er annehmen und Bettina heiraten.«

»Und meine Offizierslaufbahn?« rief Wolfgang.

»Das ist eine merkwürdige Armee, die sich vor einem einzelnen Russen fürchtet.«

»Es geht um das Prinzip, Vater!«

»Scheiß was auf dieses Prinzip! Es geht um die Menschlichkeit!«

»Du denkst und du redest wie ein Russe!« Wolfgangs Stimme wurde hell wie auf dem Kasernenhof. »Ich habe mir meinen Vater anders vorgestellt! Klüger, deutscher … So wie du dich jetzt benimmst, wäre es besser gewesen, du wärst in Rußland geblieben … besser für uns alle.« In diesem Augenblick zerbarst das Zimmer vor Karl Wolter. Er tat einen Schritt auf seinen Sohn zu, hob die Hand und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Wolfgang taumelte zurück. Blankes Entsetzen trat in seine Augen.

»Du schlägst mich …«, stammelte er.

»Du bist mein Sohn. Jawohl!«

»Ich trage eine Uniform …«

»Zieh sie aus, damit ich dir auf die andere Backe auch eine schlagen kann!«

»Ich bin Offizier, Vater!«

»Und ich war ein einfacher, dreckiger Feldwebel, der für euch den Kopf hingehalten hat. Für dich, du arroganter Bursche!« Karl Wolter keuchte und zog den Kopf zwischen die Schulter. Mein Herz, dachte er. O Himmel, ich spüre es im Herzen … ist stehe in einer fremden Welt, und doch ist es meine Heimat!

»Mach, daß du rauskommst!« sagte er hart. »Geh!«

»Vater …«, stotterte Wolfgang. Seine Wange brannte.

»Fahr zurück zu deinen Kameraden. Sing mit ihnen: Gen Ostland woll'n wir reiten. Wir haben es auch gesungen, und ich war so alt wie du. Was daraus geworden ist, siehst du. Hau ab, du deutscher Offizier!«

»Du bist wirklich ein Russe«, sagte Wolfgang dumpf. Er nahm seine Mütze und setzte sie auf. »Unsere arme Mutter!«

Karl Wolter bückte sich, irgend etwas ergriff er, schwenkte es durch die Luft und warf es dann gegen seinen Sohn. Ein Buch war es. Ein schöner Titel: ›Die Welt, in der wir leben‹.

Wolfgang wich dem Wurf aus. Dann wandte er sich um und verließ stumm das Zimmer.

In der Küche band Dimitri seine Schürze ab. Bleich war er, über seinen Augen lag ein Schleier. Er hatte das Geschirr ins Zimmer bringen wollen und an der Tür hatte er alles gehört und gesehen und auch verstanden.

Während Karl Wolter auf dem Sofa saß, den Kopf in beide Hände vergraben, schlich sich Dimitri aus dem Haus. Er nahm nicht viel mit, nur eine Aktentasche mit Wäsche. Nicht einmal einen Brief hinterließ er. Er ging weg aus einer Welt, der er lästig war. Er verschwand lautlos wie ein Nebel, der sich zwischen den Bäumen auflöst. Sein Herz blieb zurück bei Bettina, und das war das Fürchterlichste an seiner Flucht: Er ging ohne Seele weg. Nur sein Körper suchte Zuflucht. Die Welt war weit.

Als Agnes Wolter und Bettina aus der Kirche zurückkamen, war alles schon geschehen.

Karl Wolter rannte durch das Haus und schrie nach Dimitri. Nur mit Mühe konnte Agnes ihn beruhigen und auf das Sofa drücken.

»Einmal wird Dimitri schreiben«, sagte Bettina, als sie aus seinem Zimmer zurückkam, starr und wächsern wie eine Schaufensterpuppe. »Und wo er auch ist, ich fahre zu ihm … und wenn es zurück ist nach Tiflis.«

Und da erst weinte Karl Wolter.

*

Der Weg Dimitris hatte nichts Geheimnisvolles an sich, war fern aller Sensation, war nicht umwittert von Abenteuern, sondern es war der Weg eines nüchternen, unromantischen Alltags: Mit dem Zug fuhr er von Göttingen nach Köln, von Köln nach Remagen, und dort ließ er sich beim französischen Botschafter melden.

Ein Botschaftsrat empfing ihn in dem herrlichen Schloß über dem Rhein, eine wahrhaft königliche Residenz, und da Dimitri kaum französisch und der Botschafter kein Russisch sprach, einigte man sich auf die deutsche Sprache.

»Ich bin gekommen«, sagte Dimitri, und es tat ihm im Herzen weh, so etwas aussprechen zu müssen, »um mich bei Ihnen zu bewerben. Ich bin Ölfachmann, Ölingenieur des staatlichen Ölkombinats Tbilisi. Ich bin aus Rußland geflohen, und das ist eine lange Geschichte, die ich Ihnen gern erzähle, wenn Sie Zeit für mich haben. Wir wissen auch in Rußland, daß Frankreich in der Sahara große Öl- und Erdgasvorkommen auswertet. Ich möchte um eine Stelle in der algerischen Sahara bitten.«

Ja, so war das. Genau hatte es sich Dimitri überlegt. Zuerst war er nur aus dem Haus gerannt, getrieben von dem Entsetzen, das ihn überfiel, als er Kolka auf seinen Sohn losgehen sah. Ich gehöre nicht hierher, hatte Dimitri gedacht. Ich zerstöre eine Familie, die zwanzig Jahre lang zerrissen war und nun zueinander gefunden hat. Was macht es, daß ich mein Väterchen Kolka verloren habe? Gibt es ein Recht, den Ziehvater zu behalten auch wenn man ihn liebt wie den eigenen Vater? Und Bettina muß ich aufgeben. Das ist der größte Schmerz. Das ist etwas, was man nie überwinden kann. Aber auch darüber wird einmal eine Haut wachsen, wie über jede Wunde, und man muß sich bemühen, sie nicht immer aufzureißen.

Doch dann stand er plötzlich am Bahnhof, die Züge ratterten an ihm vorbei, und da überfiel ihn die ganze Trostlosigkeit seiner plötzlichen Einsamkeit, und das Heimweh nach Rußland preßte gegen sein Herz.

Fort, dachte er da. Nur fort aus Deutschland! Nicht mit Haß, sondern mit Wehmut. Die Welt ist groß genug auch einen Dimitri Sergejewitsch Sotowskij aufzunehmen, einen Heimatlosen ohne Paß, ohne Recht, ohne Geld, ohne Zukunft, nur bepackt mit dem Willen, weiterzuleben und allein zu sein mit seinen Gedanken und seinem Heimweh nach Rußland, das er nie wiedersehen wird. Und er kaufte sich eine Fahrkarte nach Köln, saß im Zug, starrte auf die vorbeifliegende Landschaft, und erst dann, in eine Ecke des Abteils gedrückt, rundete sich das Bild seiner Zukunft und wurde sein Weggehen zu einer wahrhaften Flucht.

Öl! Frankreich bohrt Öl in der algerischen Sahara. Eine Hölle unter glutendem Himmel und heißem Sand ist es. Die Einsamkeit ist der Spielgefährte und die Sehnsucht nach einer Landschaft voll Schnee ist der süßeste Traum.

Aber Öl ist da. Bohrtürme. Eine Pipeline … durch Wüstensand bis zur Küste … Pumpstationen, silbern glitzernde Tanks, Reinigungsanlagen, eine Raffinerie im Aufbau …

Es ist die Welt des Dimitri Sotowskij. Das Knirschen der Bohrer, das Zischen der Ventile, der Geruch des Rohöls … wenn man die Augen schließt, riecht es nach Heimat. O Freunde, das ist der richtige Ort. Weit weg von Deutschland.

Drei Stunden lang erzählte Dimitri dem französischen Botschaftsrat seine Geschichte. Er merkte nicht, daß sie auf Tonband aufgezeichnet wurde, er wußte nicht, daß sie am gleichen Tage noch übersetzt und abgeschrieben wurde und nach Paris flog zum Arbeitsministerium. Er bekam etwas Geld, mietete sich in einer kleinen Pension in Remagen ein und begann des Menschen liebstes Spiel: Warten.

Drei Tage war Dimitri in Remagen. Er ging nie aus, saß am Fenster, sah auf den Rhein, aß seine Mahlzeiten in dem kleinen Eßzimmer der Pension, vermied jeden Kontakt mit den anderen Gästen, und jeden Abend, wenn es dunkel geworden war und der Rhein von flimmernden Lichtern eingerahmt war, stand er auf einem kleinen Balkon, lehnte sich an das eiserne Geländer und dachte an Bettina.

»Er ist ein Künstler«, sagte der Pensionswirt, als die anderen Gäste ihn nach dem seltsamen Menschen fragten. »Aus Polen oder sonstwo aus dem Osten kommt er. Gast der französischen Botschaft. Vielleicht ein Maler, der den Botschafter malt.« Das genügte. Man kümmerte sich nicht mehr um Dimitri. Ein Künstler! Die haben sowieso Narrenfreiheit.

Am vierten Tag ließ ihn der Botschaftsrat wieder rufen. Paris hatte schnell gearbeitet. Ölfachleute sind knapp auf der Welt, noch seltener sind Ingenieure, die freiwillig in die Sahara gehen. Am seltensten aber ist ein sowjetischer Fachmann, der seine Dienste dem Westen anbietet.

»Sie werden in einigen Tagen nach Marseille fliegen«, sagte der Botschaftsrat freundlich, als Dimitri sein angebotenes Glas Kognak getrunken hatte. »Mit einem Kurierwagen werden Sie zunächst nach Paris gebracht. Von dort fliegt man Sie nach Marseille. Der Direktor des französischen Öl-Trusts wird dann über alles Weitere entscheiden.« Der Botschaftsrat blätterte in einem Aktenstück, und Dimitri wunderte sich, wie dick es bereits war und wieviel Papier man schon seinetwegen beschrieben hatte. »Sie hatten in Tiflis keinerlei politische Schwierigkeiten?«

»Nein«, antwortete Dimitri. »Keine.«

»Das ist wichtig. Es liegt uns daran, mit Ihrem Land einen freundschaftlichen Kontakt zu pflegen. Irgendwelche Komplikationen, die aus Ihrer Flucht aus Tiflis erwachsen könnten, wären uns unangenehm! Wie ist Ihre politische Einstellung?«

»Ich weiß nicht …«, sagte Dimitri. Er verstand die Frage nicht.

»Sind Sie Kommunist?«

»Ja

Die alte Frage, und immer wieder die gleiche Verwunderung bei Dimitri. Warum ist das so wichtig, dachte er. Ich bin erzogen worden in diesem Geist. Bin ich deshalb ein schlechterer Mensch, ein schlechterer Ingenieur, eine Gefahr für die anderen? Die Deutschen hatten einen Bismarck, die Franzosen einen Napoleon, die Engländer ihr Königshaus, die Amerikaner einen Roosevelt. Wir hatten einen Lenin und Stalin … was hat das mit mir zu tun? Kann man einem Deutschen vorwerfen: Du bist ein schlechter Mensch, denn ihr hattet einen Friedrich den Großen? Oder einem Franzosen: Geh weg … ihr habt einem Robespierre zugejubelt? Welch eine Dummheit!

»Morgen früh um sieben Uhr erwarten wir Sie hier«, sagte der Botschaftsrat, ohne weiter auf das klare Ja Dimitris einzugehen. »Haben Sie viel Gepäck?«

»Nur das was ich am Körper trage. Und eine Aktentasche mit Kleinigkeiten.«

»Die Rechnung Ihrer Pension in Remagen lassen Sie bitte zu uns schicken.« Dimitri erhob sich. Der Schritt in eine andere Welt war getan, und er war so nüchtern, als wenn man eine Tür öffnet und in ein anderes Zimmer geht.

»Ich danke Ihnen«, sagte er, und seine Stimme war plötzlich belegt vor innerer Erschütterung. Paris – Marseille – Algerien … es gab kein Zurück mehr. Die Welt des Dimitri Sotowskij würde die glühende Sahara werden. In ihrem gelben, heißen Sand würde er die Liebe zu Bettina begraben. Ein Grab, auf dem nicht einmal eine Blume wachsen konnte.

Die Fahrt nach Paris verlief ohne Zwischenfälle. Der Diplomatenwagen wurde nicht kontrolliert und fuhr unbehindert über die Grenze. In Paris wohnte Dimitri in einem Gästehaus der Ölfirma. Er sah nicht viel von der schönen Stadt, denn immer neue Herren fragten ihn aus und testeten sein Wissen. Und dann erlebte Dimitri eine große Überraschung: Am dritten Tag in Paris wurde er in ein Büro geführt. Dort saß ein dicker Mensch hinter einem breiten Schreibtisch, rauchte eine Papirossa und begrüßte Dimitri auf russisch: »Guten Tag, Kamerad. Steht das alte Nonnenkloster Samtawro in Mtscheta noch?«

»Ein Mensch aus Tbilisi …«, stammelte Dimitri. Ob er es wollte oder nicht … Tränen kamen in seine Augen, und sie brannten, als seien sie aus Säure. »Ist das schön.«

Es zeigte sich, daß Valeri Mironowitsch Lepka schon seit zwanzig Jahren in Frankreich war, in Tiflis studiert und in der gleichen Abteilung gearbeitet hatte, die Dimitri einmal als Chefingenieur hatte übernehmen sollen. Einen ganzen Tag sprachen sie miteinander. Dimitri erzählte von dem neuen Grusinien, und Lepka bekam weite Augen, wie alle Russen sie bekommen, wenn jemand von ihrer Heimat erzählt. Augen, in denen die Weite Rußlands liegt.

»Es ist so gut wie sicher, daß du nach Algerien kommst«, sagte Lepka nach vielen Stunden russischer Erinnerung. »Aber glaube nicht, das ist ein Zuckerlecken, Freundchen. In Tiflis haben wir dagegen wie die Fürsten gelebt. Die Sahara ist das feindlichste Land, das die Erde kennt … aber, das ist ein Wunder: Wer sie einmal lieben gelernt hat, bleibt bei ihr, als ersticke er woanders. Überlege es dir, Dimitri Sergejewitsch. Wir könnten für dich auch eine Stellung in Marseille finden. Oder an der algerischen Küste, bei den Tanks und Pumpen.«

»Ich will in die Wüste, Valeri Mironowitsch«, sagte Dimitri fest. »Ich will mich vergraben.«

»Es gibt mehr schöne Mädchen als diese Bettina!« rief Lepka. »Sei kein Idiot, Dimitri! Wir gehen heute abend aus, und ich bringe dir ein Mädchen, das in dir die Erinnerung an diese Deutsche vertreibt.«

Dimitri schüttelte den Kopf. »Es gibt nur eine Bettina, Valeri Mironowitsch. Laß sie mir im Herzen … es lebt sich leichter damit als mit einer Leere, in die nur ab und zu eine Stimme klingt.«

Und dann war Dimitri eines Tages in Marseille. Zehn Tage waren seit seiner Flucht aus Göttingen vergangen, auf dem Kalender war es ganz deutlich zu lesen. Unbegreiflich.

Zehn Tage. Wie ein Wind waren sie an ihm vorbeigeweht. Ihm war, als sei er erst vor ein paar Stunden aus dem Haus geschlichen und durch die sonntagsstillen Straßen Göttingens gerannt. Zehn Tage. Und nicht ein einziges Wort an Bettina.

In dem kleinen Zimmer des Hotels, in das man Dimitri bis zur Abfahrt des Schiffes nach Algier gebracht hatte – ein billiges Hotel, in dem es vom Keller bis zum Dachboden nach der Bouillabaisse, der Fischsuppe mit Knoblauch und Gewürzen, roch, auf die Marseille so stolz ist –, schrieb er seinen ersten und letzten Brief an Bettina. Er schrieb ihn russisch, denn was er zu sagen hatte, konnte er in deutscher Sprache nicht ausdrücken.

»Mein Stern,

ich lebe, aber das ist auch alles. Ich lebe mit einem zerrissenen Herzen, und ich lebe nur, weil die Erinnerung an Dich da ist, das Letzte, was ich von Dir habe, und das doch so schön ist, daß es für mein ganzes Leben reicht.

Leb wohl, mein Stern. Wie schön wäre es gewesen, wenn wir nur Menschen hätten sein können. So aber sind wir Russen und Deutsche und hundert andere Nationen, und es kommt nicht darauf an, daß jeder von uns ein Herz hat, sondern es gilt nur, hinter welcher Fahne er marschiert. Das ist so dumm, aber es ist so alt wie die Menschheit. Wir ändern es nicht, mein Stern; wir sind nur Staub, den man wegwischt.

Ich küsse Dich. Nicht zum letztenmal, denn ich werde Dich in Gedanken immer küssen, ehe ich nachts die Augen schließe- immer, über Jahrzehnte hinweg, solange ich lebe. Du bist unsterblich in mir, meine Wanduscha.«

Dieser Brief traf zwei Tage später in Göttingen ein. An Bettina war er gerichtet, aber Karl Wolter riß den Umschlag auf, denn er kannte ja die Handschrift Dimitris, diese steilen, dicken Buchstaben, in das Papier gerammt wie ein steinerner Zaun.

»In Marseille ist er!« schrie Wolter und lief mit dem Brief durch die Wohnung. Agnes umarmte ihn, denn seine Freude war auch ihr Glück, und die vergangenen zwölf Tage waren schrecklich gewesen, dumpf und leer und wie leblos. »In Marseille! Betti! Er lebt! Er hat geschrieben. Mein kleiner Dimitri …«

Und dann las er den Brief vor. Erst auf russisch, und Bettina weinte und trat zum Fenster, als könne sie von dort aus bis nach Marseille blicken. Und dann las er ihn auch auf deutsch, und Agnes legte die Hände in den Schoß und sah ihren Mann lange an.

»Er kommt nie wieder«, sagte sie leise. »Ich habe Angst, Karl.«

»Angst? Wovor?«

»Soll es jetzt immer so bleiben? Wolfgang kommt nicht mehr zu uns, Dimitri ist gegangen – was soll das für ein Leben werden? Willst du nur trauern, bis du gestorben bist? Zwanzig Jahre haben wir auf dich gewartet, und was ist daraus geworden?«

»Dimitri wird zurückkommen!« sagte Karl Wolter. »Ich hole ihn.«

»Nein, Vater. Ich fahre nach Marseille!« Bettina drehte sich am Fenster um. »Ich rufe gleich die Fluglinie an. Mit der nächsten Maschine fliege ich. Dimitri kommt nur zurück, wenn ich ihn hole.«

»Das stimmt.« Karl Wolter las noch einmal den Brief Dimitris. »Er ist ein Dickkopf. Und stolz ist er. Stolz! Wäre er sonst ein Grusinier?«

»Und Wolfgang?« fragte Agnes Wolter leise. »Du hast noch einen Sohn, Karl.«

»Den hole ich!« Wolter legte den Brief vorsichtig auf den Tisch, als wäre er aus dünnem Glas. »Morgen früh fahre ich nach Bonn.« Und dann hieb er mit der Faust auf den Tisch, daß die Holzbeine ächzten, und er war wieder der alte Kolka aus Tiflis. »Zum Teufel!« schrie er. »Gelacht wäre es, wenn ich eine störrische Familie nicht wieder zusammenbekäme! Eine Kamelherde habe ich durch die Steppe getrieben, ich habe mit sturen Ochsengespannen Hunderte Werst abgefahren, und ich soll zwei dumme Jungen nicht zur Ordnung bringen? Verdammt will ich sein, wenn mir das nicht gelingt!«

Und Agnes Wolter lächelte zu ihm hinauf, als er sie wie um Beifall heischend ansah. Er ist ein völlig anderer Mensch geworden, dachte sie. Als er vor einundzwanzig Jahren abfuhr, war er fast ein schüchterner Jüngling. Nun ist er ein Bär aus dem Kaukasus.

Hand aufs Herz … so gefiel er Agnes Wolter auch besser.

Aber soviel ein Mensch auch plant: Es ist rätselhaft, wo die Karten des Schicksals gemischt werden.

Bettina landete um 17.19 Uhr auf dem Flugplatz Marseille. Aber genau um 17 Uhr legte das Schiff ›Liberté‹ von der Kaimauer des Marseiller Hafens ab und glitt hinaus ins spiegelnde Meer. An der Reling stand Dimitri und sah zurück auf die Küste, niemand winkte ihm zu, aber da waren die Kräne, und sie sahen im Sonnenglast aus wie ein Wald von Fingern, die zum Abschied in den Himmel gereckt wurden.

Eine halbe Stunde später stand Bettina auf dem Dach des Hafenamtes und sah durch ein Fernglas hinüber zu dem langgestreckten Schatten, der vom Himmel und vom Meer aufgesaugt wurde; ein blasser, schemenhafter Gegenstand, wie eine über den Wellen treibende kleine graue Wolke.

»Das ist die ›Liberté‹«, sagte der Direktor der französischen Ölgesellschaft. »Eine Stunde früher, Mademoiselle … ich hätte Ihnen zu gern beigestanden, auch wenn wir einen der seltenen Ölfachleute damit verloren hätten. Aber für eine so schöne Dame tun wir Franzosen ja alles.«

Bettina sah durch das Fernglas, bis auch die letzte Andeutung eines Schattens im Meer versunken war. Sie fühlte sich restlos erschöpft. Vom Flughafen zu dem auf dem Brief angegebenen Hotel, vom Hotel zur Ölgesellschaft, von dort zum Hafen … es war ein Wettlauf gewesen, den sie verlieren mußte. Nur neunzehn Minuten lagen dazwischen, und nach diesen Minuten eine ganze Welt!

»Die ›Liberté‹ wird übermorgen in Algier ankommen«, sagte der hilfsbereite Direktor. »Wenn Sie morgen früh mit der planmäßigen Maschine nach Algier fliegen, sind Sie einen Tag früher da als Ihr Verlobter. Um die Einreiseerlaubnis werde ich mich selbst kümmern. Das wird eine Überraschung geben; er geht von Bord, und wer steht an der Mole? Sie!«

Bettina nickte und gab das Glas zurück zu dem stillen Hafenbeamten, der hinter ihnen stand.

»Wie soll ich Ihnen danken?« fragte sie leise. Die Müdigkeit ließ sie schwanken. Galant faßte sie der Direktor unter.

»Der Dank einer schönen Frau ist immer die Bestätigung, daß sie glücklich ist. Werden Sie glücklich, Mademoiselle.«

»Das werde ich sein!«

Und das klang fest und entschlossen, wie damals in Tiflis, als die Flucht in eine unbekannte Welt begann.

*

Das neuerbaute Verteidigungsministerium auf der Bonner Hardthöhe, im Volksmund ›Pentabonn‹ genannt, glänzte mit seinen Hunderten von Fenstern in der Sonne, als Karl Wolter sich mit einer Taxe vom Hauptbahnhof zum Ministerium bringen ließ. Bevor sie auf den großen Parkplatz fuhren, ließ Wolter anhalten, stieg aus und betrachtete den imposanten Bau aus der Ferne. Der Taxifahrer schob die Mütze in den Nacken und beobachtete den seltsamen Fahrgast, der kopfschüttelnd auf der Straße stand. Ein merkwürdiger Vogel, dachte er. Als ob er noch nie solch'ne Steinlandschaft gesehen hat. Kommt wohl vom Lande, der gute Onkel.

Nachdenklich stieg Wolter nach ein paar Minuten wieder in den Wagen und lehnte sich zurück. Der Fahrer drückte seine gerade angerauchte Zigarette aus.

»Weiter?« fragte er.

Wolter nickte. »Ja«, sagte er kurz.

»Toller Bau, was?« Der Fahrer zeigte auf das ›Pentabonn‹. »Haben Sie noch nie gesehen?«

»Nein. Ich komme aus Rußland.«

»Ach! Wie lange sind Sie jetzt hier?«

»Knapp vier Wochen.«

»Mann, nehmen Sie mich nicht auf'n Arm!« Der Fahrer schaltete den Motor aus. »Sagen Sie bloß noch, Sie wären bis vor vier Wochen Kriegsgefangener gewesen.«

»Das nicht. Aber ich bin als Plenny drüben geblieben.« Wolter sah wieder auf den riesigen Bau des Ministeriums. Er verstand das alles einfach nicht. Alle wollten den Frieden, keiner dachte an Feindschaft, sie alle verfluchten den Krieg … die Bauern an den Hängen des Kaukasus, die Bürger von Tiflis, die Nomaden in der Kirgisensteppe, die Fischer am Kaspischen Meer … und überall auf der Welt, ganz gleich, wohin man kam und wen man fragte … sie alle verdammten den Krieg.

Und trotzdem gaben die Staaten Milliarden aus für Waffen und Raketen, für Panzer und Flugzeuge. Milliarden, die aus der Welt einen blühenden Garten machen könnten, wenn sie statt in den Irrsinn in den Aufbau der Länder und Völker gesteckt würden.

»Wollen Sie Krieg?« fragte Wolter den Taxifahrer. Die Frage kam so plötzlich, daß der Angesprochene erst nach Worten suchen mußte.

»Wohl verrückt, was? Krieg! Wozu?«

»Aber alle rüsten.«

»Der Russe, Mann …«

»Auch der Muschik will keinen Krieg. Auch der Jäger in der Taiga nicht. Und erst recht nicht die Arbeiter in den großen Werken. Sie leben, wie wir, glücklich; sie haben ihr Essen, ihre Wohnung, ihren Fernsehapparat, ihren Urlaub.«

»In Rußland? Mann! Sie sind ja Kommunist! Lesen Sie mal unsere Zeitungen, wie die über die Sowjets schreiben. Wie dreckig es denen geht.«

»Und man glaubt das hier?«

»Natürlich!«

»Fahren Sie!« Karl Wolter beugte sich vor und starrte auf das riesige Ministerium. »Es hat sich in Deutschland wirklich nichts geändert! Und die da« – er zeigte auf das ›Pentabonn‹ – »leben davon, nicht wahr?«

Der Fahrer schwieg. Man soll sich mit Fahrgästen nicht politisch streiten, es kommt nichts dabei heraus. Jeder soll nach seiner Art selig werden. Der eine liebt die Mutter, der andere liebt die Tochter … gut, wenn beide glücklich sind.

Im Ministerium mußte Karl Wolter zunächst warten, als er seinen Wunsch vorgebracht hatte, seinen Sohn, den Oberleutnant Wolfgang Wolter, zu sprechen. Er wurde von einer Ordonnanz abgeholt, bekam vorher einen Laufzettel, wurde durch lange Gänge geführt, fuhr mit Fahrstühlen herum und verlor völlig die Orientierung. Ein Labyrinth von Gängen, Türen, Fluren, Zimmern war es, und Wolter trottete hinter dem Unteroffizier, der ihn führte, her wie ein Hammel, der mit dumpfer Gelassenheit zum Schlachten geführt wird.

In einem kleinen, lichtdurchfluteten Zimmer stand er dann einem Major gegenüber, der ihm beide Hände entgegenstreckte und ihn mit »Guten Tag, mein lieber Herr Wolter!« begrüßte.

Das machte Karl Wolter stutzig. Freundlichkeit ist etwas charakterlich Wertvolles, weil sie so schwer zu halten ist – aber dieser trompetende Ton, als empfange man einen berühmten Fußballspieler, machte ihn vorsichtig.

»Ich suche meinen Sohn«, sagte er deshalb kühl. »Oberleutnant …«

»Ich weiß, ich weiß. Wird bereits verständigt und ist auf dem Weg hierher. Befindet sich gerade zu einer Besprechung beim General. Nehmen Sie doch Platz, bitte. Eine Zigarre? Ein Kognak? Eine Tasse Kaffee?« Der Major setzte sich auf den Rand des Schreibtisches und sah auf Wolter hinunter, der sich zögernd auf einen der Stühle gesetzt hatte. »Sie waren bis vor vier Wochen noch in Rußland?« fragte er.

Karl Wolter nickte. Aha, dachte er. Der warme Wind soll das Eis auftauen. Ganz sanft wird man verhört, ohne es zu merken, wenn man ein Dussel ist. Ein kleines Gespräch über Rußland, völlig harmlos. Freunde, hält man Kolka Iwanowitsch für einen Idioten?

»Zwanzig Jahre lang?« fragte der Major freundlich. »Mein Gott, welch eine lange Zeit …«

»Zweihundertvierzig Monate«, sagte Wolter gleichgültig.

»Da haben Sie viel gesehen, was?«

»Ja. Bau von Stauwerken, Ausbau einer Raketenstation. An einer unterirdischen Ölraffinerie habe ich selbst geholfen, als Maurer. Und die Truppenübungsplätze, enorm!« Karl Wolter sah auf seine Hände. Unmöglich wäre es ihm, jetzt den Major anzusehen. Dieser hatte rote Backen bekommen und einen flammenden Blick.

»Interessant! Interessant! Gehen wir mal zur Karte. Man kann sich das nur auf einer Karte vorstellen. Wenn Sie mir einmal zeigen, wo man das alles gebaut hat …«

»Nein!« sagte Wolter hart.

Der Major, schon auf dem Weg zu einer großen Wandkarte, blieb ruckartig stehen. Seine Schuhsohlen knirschten, so abrupt bremste er seinen Schritt.

»Was heißt nein?«

»Nein heißt nein oder njet oder non oder no, wie Sie wollen.«

»Mein Herr …«

»Wolter. Karl Wolter. Vor zehn Minuten konnten Sie meinen Namen noch geläufig aussprechen.«

»Sie sprechen mit einem Offizier!« rief der Major empört. »Sie haben mir eben erzählt, daß Sie mitgewirkt haben am Bau sowjetischer Militärbasen, und wenn ich Sie nun bitte, mir an der Karte …«

»Wozu?« Wolter sah den wütenden Offizier treuherzig an. »Was wollen Sie damit?«

»Im Falle eines Krieges …«

»Wollen Sie Krieg? Hoffen Sie auf einen Krieg?«

Der Major versteinerte und ging um seinen Schreibtisch herum. Dort setzte er sich, drückte auf eine Sprechtaste und brüllte in das Mikrofon: »Oberleutnant Wolter! Wo bleibt er denn?«

Keine zwei Minuten dauerte es, und Wolfgang Wolter trat ein. Er war nicht überrascht; schon im Nebenzimmer hatte man ihm etwas Unschönes gesagt. Dort saß ein Hauptmann vor einem Tonbandgerät und hatte alles aufgenommen, was Wolter nebenan gesprochen hatte. »Sagen Sie mal«, sagte der Hauptmann zu Wolfgang Wolter, »Ihr Vater ist wohl ein wenig schwach möbliert im Kopf? Der gibt dem Herrn Major vielleicht Antworten! Wie Rotz am Ärmel benimmt er sich. Das wird für Sie noch ein Nachspiel haben.«

»Gehen wir in die Kantine, Vater«, sagte Wolfgang, als er seinen Vater begrüßt hatte. »Sie erlauben doch, Herr Major?«

»Aber ja. Nehmen Sie ihn mit!« sagte der Major abgehackt.

»Wolter. Karl Wolter.« Kolka – denn das war er jetzt wieder – drehte sich herum. »Ein höflicher Mensch redet den anderen immer mit seinem Namen an! Das weiß ich als einfacher Feldwebel, befördert vor dem Feind bei Minsk. Sollte ein neuer deutscher Major das nicht mehr wissen …?«

»Vater!« Wolfgang schob Karl Wolter aus dem kleinen Zimmer und schloß die Tür. Auf dem Flur löste sich die starre Miene Wolters; er lächelte sogar. »Du hast dich wieder unmöglich benommen.«

»Wer war denn der Knabe?«

»Major Hennrichs vom MAD. Eine Kapazität.«

»Kommt sich vor wie ein kleiner Gott in seiner Uniform, was?«

»Du hast eine falsche Einstellung zur Uniform, Vater.«

»Ich habe schon eine getragen, da habt ihr noch in die Windeln geschissen.«

Karl Wolter strich sich über die stoppeligen weißen Haare. Seine Stimme war laut, und Wolfgang begann, sich zu schämen.

»Komm, gehen wir in die Kantine, Vater«, sagte er schnell. »Ich habe nur eine halbe Stunde Urlaub für dieses Gespräch. Wir leben ja nach Dienstplänen.«

»In die Windeln geschissen!« brüllte Wolter. »Himmel, wie mich das alles anwidert! Keine Luft bekomme ich in dieser Atmosphäre von zackigen Reden und schon strafbarer Selbstüberschätzung! Ich kann mir nicht helfen – in Gegenwart von Uniformen bekomme ich den Geruch von Mist nicht aus der Nase.«

»Gehen wir, Vater«, sagte Wolfgang heiser. »Du änderst es nicht, ob du nun recht hast oder nicht. Du warst zwanzig Jahre hinter den Bergen, und die Welt hat sich gedreht und verändert …«

»In einen Paradies habe ich gelebt.« Wolter wurde in einen Aufzug gestoßen, die Tür schnarrte zu, sie schwebten abwärts. »In einem wahren Paradies, mein Sohn. Eine Wohnung, gutes Essen, jeden Tag zum Abend zweihundert Gramm Wodka, und im Frühjahr blühten die Aprikosen und Kirschen, im Herbst glühte der Wein an den Hängen, und man ging mit einem Korb zu den Bauern und sagte: ›Ein reiches Jahr war's, Brüderchen. Ich seh's an deinem Bauch, noch fetter ist er geworden. Komm, mach mir den Korb voll Trauben. Und wenn du mehr verlangst als einen Rubel und zehn Kopeken, schlage ich dir aufs Hirn.‹ Das war ein Leben!« Karl Wolter sah seinen Sohn an. »Du verstehst das nicht.«

»Nein, Vater. So lebt doch kein Mitteleuropäer.«

»Einen Katzenschiß auf deinen Mitteleuropäer! Ich habe wie ein Mensch gelebt! O Himmel, wenn ich euch alle dazu bewegen könnte, so zu leben!«

In der Kantine waren sie fast allein, setzten sich in eine Ecke, bestellten ein Bier und sahen sich lange schweigend an. An weiter entfernten Tischen tranken und aßen ein paar Offiziere, sie lachten, einer von ihnen erzählte Witze.

»Warum bist du gekommen, Vater?« fragte Wolfgang, als Wolter nicht mit Sprechen begann.

Karl Wolter umfaßte mit beiden Händen sein kaltes Bierglas. »Nicht, um mich zu entschuldigen«, sagte er hart.

»Das habe ich auch nicht erwartet. Ich bin ausfällig geworden – es war meine Schuld, daß du so reagiertest, Vater.«

»Danke, Wolf.« Viel Glück lag in diesem Satz, und Wolfgang verstand es und legte seine Hand auf den Arm seines Vaters.

»Was macht Dimitri?« fragte er.

»Er ist weg.«

»Weg? Wohin denn?«

»Nach Frankreich und wahrscheinlich nach Algerien. In die Wüste.«

»Als Ölingenieur, natürlich …«

»Bettina ist schon unterwegs, ihn zurückzuholen. Habe ich Dimitri großgezogen wie meinen Sohn, habe ich nächtelang um ihn gebangt, wenn er krank war, damit er jetzt in der Sahara vom Sandsturm zugeweht wird? Er wird zurückkommen, und auch du wirst es, Wolf.«

»Bist du deswegen gekommen, Vater?«

»Ja

»Ich habe große Schwierigkeiten gehabt, Vater. Aus völlig natürlichen Gründen mißtraut man Dimitri. Er ist Russe, er ist Kommunist. Ein solcher Mann in unserer Familie schließt aus, daß ich als Offizier der Bundeswehr ausgerechnet in der Dienststelle Ost sitze. Ich muß versetzt werden, um jede Möglichkeit der Spionage auszuschließen. Es ist einfach eine routinemäßige Vorsichtsmaßnahme. Nur daß ich mich von euch getrennt habe, war der Grund, daß ich noch in Bonn bin und kein Truppenkommando irgendwo, weit weg von Bonn, bekommen habe.«

»Und wäre das schlimm, mein Junge?« fragte Wolter leise.

»Ich kann hier eine glänzende Karriere machen, Vater.«

»Unter Opferung deiner Familie? Lohnt sich das? Bedeutet dir die Uniform so viel?«

»Die Uniform nicht, Vater. Aber ich bin mit meiner ganzen Seele Soldat.«

Wolter schwieg. Was sollte er darauf sagen? Ihm fehlten zwanzig Jahre. Ihm fehlten die Jahre, in denen Wolfgang herangewachsen war, in denen er sich sein Weltbild selbst bildete, in denen er sein Lebensziel zu erkennen glaubte. Damals hätte man es noch steuern können … und, bei Gott, der Sohn Karl Wolters wäre alles andere geworden, und wenn er Steine hätte klopfen müssen, nur kein Soldat! Nun war es zu spät. Zwanzig Jahre ließen sich nicht nachholen.

»Wenn ich dir fremd bin, Junge«, sagte Wolter leise, und seine Stimme zitterte, denn wie schwer ist es, so etwas zu sagen, »ich kann's verstehen. Mutter hat dir immer nur ein Bild gezeigt und aus der Erinnerung gesprochen von mir. Und was ist zurückgekommen? Ein Mann, der so viel erlebt hat, daß ihm das Leben auf der hektischen Welt wie ein schlechter Witz vorkommt. Ein sinnloses, wertloses, blindes Leben führt ihr alle! Doch reden wir nicht darüber. Aber so fremd ich dir bin – so fremd wie der Kolka Iwanowitsch Kabanow, nicht wahr? – ich bitte dich, Junge: Denk an Mutter! Was du jetzt bist, bist du durch sie. Sie hat dich mit ihrer schwachen Kraft großgezogen, sie hat dich auf die Schulen geschickt, du konntest dein Abitur machen. Und sie hat das alles geschafft, weil sie hinterm Ladentisch stand, jeden Tag, von acht Uhr morgens bis sieben Uhr abends. Für dich. Und jetzt wirfst du ihre Liebe weg wie einen faulen Kürbis. O Gott, Junge, ich sollte dir jetzt, hier, vor deinen Offizierskameraden, noch eine herunterhauen!«

Wolfgang Wolter schwieg. Er sah aus dem Fenster auf die grünen Rasenflächen vor dem Ministerium. Über sein Gesicht zuckte es.

»Was sagt Irene?« fragte er leise.

»Sie ist mit mir nach Bonn zurückgekommen. Ich glaube nicht, daß sie dich in die Wohnung läßt, wenn du mit Mutter nicht anders verfährst.«

»Also alle gegen mich?«

»Wenn du es so siehst, brauchen wir gar nicht weiterzusprechen. Du benimmst dich wie ein dummer, trotziger Junge.«

»Ich werde mit dem General darüber sprechen, Vater.«

»Was hat der General damit zu tun?«

»Er entscheidet allein, ob ich mit Dimitri in einer Familiengemeinschaft leben darf.«

»Wohlan.« Wolter erhob sich. »Dann rede ich mit dem General!«

»Um Gottes willen, Vater!« Wolfgang Wolter zog ihn auf den Stuhl zurück. »Bloß das nicht! Außerdem wirst du nicht vorgelassen. Nur wenige kennen den General, und auch ich kenne sein Gesicht nur mit einer dicken Sonnenbrille. Aber vielleicht wird er einmal Dimitri sprechen wollen.«

»Das kann er! Bettina bringt ihn zurück.« Wolter stand wieder auf und sah auf die blonden gelockten Haare seines Sohnes. Eigentlich war er stolz auf diesen Jungen, aber das Gefühl mußte jetzt unterdrückt werden. »Und ich?« fragte er hart. »Soll ich zu Mutter mit leeren Händen zurückkommen? Was bringe ich von der Reise mit?«

»Einen Gruß, Vater.« Wolfgang Wolter sprang auf, und plötzlich umarmte er seinen Vater und gab ihm einen Kuß auf die faltige Stirn. »Und sag Mutter, zum Wochenende bin ich wieder in Göttingen.«

Zufrieden verließ Karl Wolter das Ministerium. Selbst der Gedanke an die Millionen, die ›Pentabonn‹ gekostet hatte, regte ihn nicht mehr auf.

Seht, Freunde, so subjektiv ist ein Mensch, ob er nun Ludwig Maier oder Karl Wolter oder Kolka Iwanowitsch Kabanow heißt.

*

An dem Tage, an dem Jurij Alexandrowitsch Borokin zugreifen und Dimitri nach alter, aber immer noch guter Agentenmanier in einen langsam fahrenden Wagen zerren wollte, fand sich Borokin allein in Göttingen.

Dimitri Sotowskij war weg.

Zwei Tage wartete Borokin vor dem Haus, umschlich es wie eine Katze den Milchtopf, legte sich auf die Lauer wie ein Wolf, der eine Hammelherde aus der Ferne wittert – aber kein Dimitri kam mehr aus dem Haus.

Der Fahrer des Entführungswagens schließlich erfuhr als Käufer von drei Frottierhandtüchern im Geschäft der Agnes Wolter, daß Dimitri verreist sei. Wohin, das sagte keiner.

Borokin fuhr zurück nach Bonn und meldete es nach Moskau. Und Moskau antwortete so, wie es Borokin befürchtet hatte: Wir erwarten die Meldung, daß Sotowskij unschädlich gemacht ist und sich in unseren Händen befindet!

Wer die russische Befehlssprache kennt, weiß, daß das Leben Borokins auf dem Papier bereits erloschen war. Schon ein normaler Mensch ist gefährlich, wenn er Unfähigkeit beweist – ein unfähiger Offizier aber ist ein Übel fürs ganze Volk. Ein Geschwür, das man entfernt. Verwunderlich war nur, daß Borokin nicht abberufen wurde, sondern weiter mit dem Auftrag betraut war. Das war allein Oberst Jassenskij zu verdanken, der kein Interesse daran hatte, Borokin im Kreml erzählen zu lassen, was er, Jassenskij, für eine Riesendummheit mit dem Sarg der falschen Bettina Wolter verursacht hatte. Die Mißerfolge wogen sich gegenseitig also auf, und so lebte Borokin weiter mit einem Druck im Nacken, der unbeschreiblich war.

Eine Stunde lang verbrachte Borokin sogar mit dem verständlichen Gedanken, sich selbst umzubringen. Dies erschien ihm erträglicher als alles, was man eventuell in Moskau für ihn bereit hielt. Aber dann verwarf er den Gedanken, nicht aus Feigheit, denn feig war Borokin nicht, sondern aus Verzweiflung und purem Lebenswillen.

Noch lebt Dimitri irgendwo, dachte er. Und solange er lebt, kann auch ich leben. Und dann dachte er plötzlich an Irene Brandes, und er wurde ruhig, zuversichtlich, ja innerlich sogar befreit von allem Druck.

Jede Festung hatte eine schwache Stelle in der Mauer, von hundert Türen lassen sich zwei bestimmt eintreten. Und keine Kette ist so fest, daß nicht ein Glied reißen könnte, wenn auch keiner weiß, warum.

Es war spät am Abend, als es bei Irene Brandes klingelte. Sie hatte gerade zu Bett gehen wollen. Nun warf sie ihren Bademantel über, ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Eine kräftige Hand fuhr dazwischen, drückte die Tür auf, und ehe Irene sich wehren konnte, stand Borokin in der Diele und warf hinter sich die Tür zu.

»Ich mußte klingeln, Täubchen«, sagte er, packte Irene an der Schulter, drehte sie um und schob sie vor sich her ins Wohnzimmer. »Du hast die Schlösser auswechseln lassen. Leider lohnt es sich nicht mehr, von den neuen Schlössern Abdrücke zu machen, denn meine Aufgabe in Deutschland ist bald beendet.«

»Sie verlassen Deutschland, Borokin?« Irene Brandes war bis zur Couch zurückgewichen. Nicht weit davon stand das Telefon … nur noch zwei Meter … Borokin lächelte. Er machte ein paar lange Schritte und riß die Leitung aus der Wand.

»Sie können damit nur Wolfgang heranlocken«, sagte Irene heiser vor Angst. »Wenn er anruft, und er ruft jeden Abend an, und dauernd kommt das Besetztzeichen …«

»Ein paar Minuten nur, mein wildes Schwänchen.« Borokin sah sich um. Er suchte etwas, und als er es gefunden hatte, wurde sein Lächeln breiter. Mit einem harten Griff faßte er Irene und stieß sie durch das Wohnzimmer zu der kleinen Eßnische. Dort umfing er sie und warf sie auf den Tisch. Das geschah alles so schnell und mit einer solchen wilden Kraft, daß Irene sich erst wehrte, als sie mit dem Rücken auf dem Tisch lag. Da trat sie um sich, boxte und krümmte sich zusammen und dann schrie sie, hell und kreischend. »Hilfe! Hilfe! Hilfe!«

Borokin beugte sich vor. Mit der Faust hieb er ihr auf den Mund, die Lippen platzen auf, Blut lief über Kinn und Hals, und vor den Augen Irenes drehte sich das Zimmer, und die Decke zerfloß in gelbe Wellen. Von ganz weit hörte sie die Stimme Borokins, als säße sie in einem Karton voller Watte.

»Den Mund hältst du, du Hure«, sagte Borokin. Er hielt ihre Arme fest und schwang sich auf den Tisch, setzte sich auf ihre Beine und preßte sie damit völlig auf die Platte. »Wo ist Dimitri?« fragte er, als er sah, daß Irenes Benommenheit nachließ. Ihre Augen, voller Entsetzen, begannen zu flattern.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Jedes Wort brannte auf den zerschlagenen Lippen. Borokin schüttelte den Kopf.

»Sei kein Held, Hürchen! Keinen Zweck hat es.« Mit beiden Händen riß er ihren Bademantel auf, zerfetzte das Nachthemd, das sie darunter trug, und holte aus der Tasche ein zusammengeklapptes Messer.

»Ich weiß es nicht!« schrie Irene. Grauen lähmte sie, ihr Körper versagte die geringste Gegenwehr. »Ich schwöre es … ich weiß es nicht!«

»Die Mongolen sind Meister im Fragen«, sagte Borokin kalt. »Meistens sind es die Männer, die Mut bis zu einem gewissen Grad beweisen. Kommt ihnen einmal eine Frau in die Hand, die verhört wird, so hat man folgende Methode: Man zieht sie aus, man fesselt sie, legt sie auf einen Tisch und nimmt ein scharfes Messer. Nach dem ersten Nein schneidet man die linke Brustwarze ab, nach dem zweiten Nein die rechte. Nach dem dritten Nein schlitzt man die linke Brust auf, nach dem vierten Nein die rechte. Bisher hat noch keine Frau über das erste Nein hinaus gelogen.« Borokin klappte sein Messer auf. Mit starrem Gesicht sah er hinunter auf den schönen weißen Körper Irenes und auf ihre festen, runden Brüste. »Wo ist Dimitri?« fragte er dumpf.

»Ich weiß es nicht!« schrie Irene. Ihr Mund klappte auf, Schweiß überzog plötzlich ihren Körper, sie starrte auf die blanke Messerklinge und fühlte, wie die Hand Borokins nach ihrer linken Brust tastete. »Bei Gott! Bei meiner Mutter! Bei allem, was es gibt, ich weiß es wirklich nicht! Er ist weggegangen, er ist geflüchtet … es hat Streit gegeben zwischen Wolfgang und seinem Vater, wegen Dimitri. Da ist er weg … Borokin … Borokin … glauben Sie mir …«

Dann wurde sie besinnungslos, als sie sah, wie sich das Messer auf ihre linke Brust senkte.

Nach einer halben Stunde verließ Borokin die Wohnung von Irene Brandes. Er hatte ihren leblosen Körper zur Couch getragen und mit einer Decke zugedeckt.

Nichts, dachte er, als er draußen im Treppenhaus stand. Dimitri ist geflüchtet. Wo auf der weiten Welt soll man jetzt einen Menschen suchen? Unmöglich ist's, auch die Genossen werden es einsehen müssen.

Doch wenn Moskau es nicht einsah?

Jurij Alexandrowitsch Borokin verließ fast traurig das Haus, stieg in seinen Wagen und fuhr hinaus in die Nacht. Irgendwohin, planlos, nach Westen oder Osten, er kannte nicht die Richtung. Sie war auch gleichgültig. Denn wo immer er auch hinkam – überall blieb das Bewußtsein, daß sein Leben nichts mehr galt.

*

Bettina hatte viel Zeit, sich Algier, die weiße Stadt auf den roten Felsen, anzusehen. Sie stand oben an der Hafenstraße und sah hinunter auf das Gewimmel an den Molen, sie ging mit einem eingeborenen Führer durch die Kasbah, die alte Berberstadt, und sie fuhr hinaus zum Botanischen Garten, diesem Märchen aus 1001 blühenden Pflanzen.

Die Ölgesellschaft im Marseille hatte alles bestens vorbereitet. Der Flug verlief glatt. Die Paßkontrolle war nur eine Formsache. Von einem Beauftragten der Ölfirma wurde sie nach der Ankunft vom Maison-Blanche, dem Flugplatz Algiers, abgeholt. Sie erhielt ein schönes großes Zimmer im Hotel Oasis unter den Kolonnaden der Hafenstraße. Und dann kaufte sie erst einmal ein, um Dimitri mit Geschenken zu überraschen. Eine goldene Armkette kaufte sie, lang und mit dicken Gliedern; die wollte sie Dimitri um das Handgelenk schlingen und dann um ihren Arm und zu ihm sagen: »So, nun kannst du nicht mehr weglaufen! Du müßtest mich schon hinterherziehen.« Dann würde Dimitri sicher lachen, dieses herrliche, jungenhafte Lachen, das sie zuerst geliebt hatte, damals, an der nächtlichen Ölleitung von Tiflis, und er würde mitkommen zum nächsten Flugzeug und zurückfliegen nach Deutschland, wo seine neue Heimat war.

Vier Tage wartete Bettina im Hotel Oasis auf das Schiff ›Liberté‹. Der Hotelportier wollte es ihr sofort mitteilen, wenn das Einlaufen im Hafen gemeldet wurde. Drei Tage lang kam überhaupt kein Schiff. Die Kais und Molen waren wie ausgestorben. Nur die Bettler standen herum oder das Heer der Nichtstuer, das die afrikanischen Straßen und Märkte bevölkert.

Am vierten Tag rief sie endlich die Ölgesellschaft an, das Kontaktbüro in Algier, nahe der Präfektur. Dort saß ein verschlafener Mann, der ins Telefon gähnte, denn es war mittags 13 Uhr, eine Zeit, in der sich ein anständiger Mensch ausruhte und vor der Hitze verkroch.

»Die ›Liberté‹?« fragte der Verschlafene. »Wieso, Mademoiselle? Sie warten auf die ›Liberté‹?«

»Seit drei Tagen! Sie müßte längst in Algier sein. Ist etwas passiert? Haben Sie irgendwelche Nachricht?« Bettina wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Weniger die Hitze war es, die sie seufzen ließ, als die Angst um Dimitri.

»Die ›Liberté‹ kommt nicht nach Algier«, antwortete der schläfrige Mensch. »Wissen Sie denn nicht … seit zwei Tagen haben wir in Algier einen Hafenarbeiterstreik. Alle französischen Schiffe werden umgeleitet nach Oran oder Bône. Die ›Liberté‹ wird wahrscheinlich Oran angelaufen haben.«

»In Oran …«, stammelte Bettina. »Und ich warte hier in Algier … Was geschieht mit den Angestellten Ihrer Gesellschaft, die mit dem Schiff gekommen sind?«

»Sie kommen sofort an ihre Stellen.«

»Und die Bohringenieure?«

»Werden am nächsten Tag in die Wüste geflogen.«

Bettina legte auf. Ihr Kopf sank nach vorn gegen das Fenster. Unten, unter der Kolonnade, stand ein einbeiniger Bettler und sang leise vor sich hin. Ein Schwarm Fliegen umsurrte ihn.

In die Wüste.

Dimitri ist schon in der Wüste … und ich warte hier …

Mein Gott, hilf mir … ich werde in die Wüste müssen, um Dimitri zu holen.

Und plötzlich verließ sie alle Kraft, sie legte das Gesicht auf die Arme und weinte und wußte doch, daß sie, so schnell es möglich war, in die Sahara ziehen würde, in die unendlich Schweigende, wie der Araber sie nennt.

In die Einsamkeit aus Sand, Felsen, Salzseen, Geröll, glutender Sonne und brennendem Himmel.

»Und wenn ich auf Kamelen und Mauleseln quer durch die Wüste reite«, sagte Bettina zu sich, als sie sich wieder gefaßt hatte und vor dem großen Spiegel in der Brausekabine ihres Hotelzimmers in Algier stand, »ich werde Dimitri mitbringen! Eher komme ich nicht zurück nach Deutschland.«

Sie begann damit, daß sie das algerische Büro der Ölgesellschaft aufsuchte und nach langem Warten endlich einem Subdirektor gegenübersaß, der Grenadine-Limonade trank und stinkende schwarze Zigaretten rauchte.

»Ein ausgesprochenes Pech, Mademoiselle«, sagte er höflich, wie alle Franzosen höflich gegenüber einer schönen Frau sind, auch wenn sie – wie Bettina – im Augenblick störte, denn der Hafenarbeiterstreik von Algier lähmte einen sonst reibungslosen und für Algerien lebensnotwendigen Betrieb: den Schiffsverkehr zwischen Afrika und Frankreich. Es war zu erwarten, daß der wilde Streik auch auf die anderen Häfen übergriff, auf Oran und Bône vor allem. Das bedeutete, daß der Nachschub zu den Öl-Oasen gefährdet war. »Wer konnte das ahnen, als Sie von Marseille abflogen? Die ›Liberté‹? Ich muß einmal in der Liste nachsehen.« Der Subdirektor sah nach und nickte mehrmals, was Bettina durchaus nicht beruhigte. »In Bône. Dachte ich es mir doch. Nicht in Oran. Die ›Liberté‹ hatte Material für die Stationen Fort Lallemand, Hassi el Gassi und Ain Taiba an Bord. Von Bône aus können die Dinge in die Wüste geflogen werden.«

»Und Dimitri auch …«, sagte Bettina.

»Ich nehme an, daß Monsieur Sotowskij ebenfalls schon in Ain Taiba eingetroffen ist.« Der Subdirektor war so höflich, sogar an eine große Karte zu treten und mit seinem gelben Nikotinfinger auf einen Flecken inmitten eines gelbgetönten Gebietes zu zeigen.

»Hier.«

»Mitten in der Wüste also?«

»Ja

»Veranlassen Sie bitte, Monsieur, daß auch ich dorthin fliegen kann«, sagte Bettina mit fester Stimme. Der Subdirektor ließ die Hand von der Karte fallen, als sei sie plötzlich aufgeglüht.

»Nach Ain Taiba?«

»Ja

»Unmöglich, Mademoiselle.«

»Warum?«

»Es gibt da viele Gründe. Die wichtigsten sind: Keine Frau, keine europäische Frau, darf in dieses Gebiet. Dort leben einige hundert wilde Männer, die wochen- oder monatelang keine Frau sehen. Sie verstehen, Mademoiselle? Ein Berberlöwe ist ein Schoßkätzchen gegen diese Kerle, wenn sie eine schöne Frau sehen. Zweitens sind die Ölgebiete sowieso Sperrzonen. Drittens muß – falls man eine Ausnahme macht – diese vom Ministerium in Paris eingeholt werden, und das ist, Sie sehen das ein, aussichtslos. Und viertens – warum schreiben Sie nicht Monsieur Sotowskij? Wenn er den Willen hat, doch wieder nach Europa zurückzukehren, wird er das auch tun, wenn er weiß, daß Sie in Bône auf ihn warten. Denn bis Bône kann ich Sie bringen lassen.«

»Sie kennen Dimitri nicht«, sagte Bettina leise und sah auf die große gelbe Karte. Einöde, Sand, glutende Hitze. Und irgendwo in der grenzenlosen, heißen Einsamkeit ein paar Bohrtürme, ein paar Baracken um einen Brunnen, ein paar armselige Palmen, eine weiße Fahnenstange mit der Trikolore – und Dimitri, der Heimatlose, der Mann, dem nichts mehr blieb als das Ende der Welt. »Er ist Russe. Was sind Worte bei ihm? Geschriebene Worte. Er wird sie hundertmal lesen, auf ihnen schlafen, sie küssen, Buchstaben nach Buchstaben … aber er wird bleiben, wo er ist. Nein. Ich muß ihn selbst sehen, ich muß ihn an der Hand nehmen und zu ihm sagen: ›Komm, Dimitri, du großer Dummkopf, benimm dich nicht wie ein alter Bär, der nicht mehr tanzen kann und sich brummend verkriecht. Komm!‹ Und dann wird er mitgehen, nur dann!«

Der Subdirektor steckte sich eine neue Zigarette an. Sie roch wie versengte Matratzenfüllung. Was soll man sagen, dachte er, während er das Streichholz bis zum Ende in der Hand hielt und die Flamme bis zu seiner Fingerkuppe kriechen ließ, nur um Zeit zu gewinnen. Sie ist ein so hübsches Mädchen – muß es gerade ein Russe in Ain Taiba sein? So viele schöne, junge Männer gibt es.

»Es ist unmöglich«, wiederholte er. Ihm fiel nichts anderes ein.

»Dann gehe ich allein zu dieser Oase«, sagte Bettina fest. Der Subdirektor lächelte mild, wie über einen faden Witz, der aus Höflichkeit wohlwollend aufgenommen werden will.

»Ain Taiba liegt am Rande des Großen Östlichen Erg. Wenn Sie wissen, was das bedeutet … ein Meer aus Sand, aus glühendem weißem Sand, und der Wind darüber ist nicht erfrischend wie an der Küste, sondern ist ein Sandsturm, der Sie begräbt, der Sie erstickt. Staubfeiner Sand, der selbst zwischen die zusammengepreßten Lippen in den Mund dringt.«

»Ich bin aus Rußland herausgekommen, ich werde auch in die Wüste hineinkommen!« rief Bettina und sprang auf. Der Subdirektor sah sie bewundernd an, aber das änderte nichts daran, was er jetzt sagen mußte.

»Ich werde Sie festsetzen lassen müssen, um solchen Wahnsinn zu vereiteln, Mademoiselle«, sagte er fast bedauernd. »Die Suchaktionen, die Sie dann bestimmt auslösen, würden den Staat Hunderttausende kosten! Ganz davon abgesehen, daß Sie keinerlei Möglichkeiten hätten, bis Ain Taiba zu kommen.«

»Mit der Eingeborenenkarawane.«

»Nur bis Fort Lallemand.«

»Das ist weit genug.«

»Luftlinie bis zur Oase dreihundertfünfundsiebzig Kilometer.« Der Subdirektor lächelte wieder. »Das hört sich winzig an. Aber dreihundertfünfundsiebzig Kilometer durch Wüste. Ohne eine Wasserstelle zwischendurch. Bei fünfzig Grad Hitze in der Sonne, denn Schatten gibt's da nicht. Sehen Sie doch ein, daß es Wahnsinn ist, Mademoiselle. Zwingen Sie mich nicht, Sie in eine Art Schutzhaft nehmen zu lassen oder Sie nach Europa abzuschieben.«

»Ich sehe es ein«, sagte Bettina und nickte. Aber sie blickte dabei den Subdirektor nicht an, denn es wäre möglich gewesen, daß er in ihren Augen die Lüge erkennen konnte. »Wenn ich von Bône aus schreiben könnte … wenn Sie mich nach Bône bringen könnten. Ich will es mit dem Brief versuchen.«

Gegen Abend flog Bettina mit einer Privatmaschine von Maison-Blanche nach Bône. Die algerische Vertretung hatte noch einmal in Marseille nachgefragt, ob es tatsächlich notwendig sei, diese Privataffäre eines jungen Mädchens mit einem Russen in französischen Diensten derart bevorzugt zu behandeln. Die Direktion in Marseille sagte ja, was in Algier niemand verstand, aber respektierte. »Ich finde«, sagte der Subdirektor zu seinem Sekretär, »Galanterie ist schön. Aber sie kann auch zum Blödsinn werden. Doch wir kennen ja Monsieur Janeune, den Direktor. Dreiundsechzig Jahre alt, und wenn er ein nacktes Mädchenknie sieht, bekommt er eine Hitzewelle und bläst die Nüstern wie ein im Hafer stehender Hengst. Also gut, bringen wir das Mädchen nach Bône! Aber jede Verantwortung lehne ich ab.«

Das war ein kluges Wort, denn Bettina dachte gar nicht daran, in Bône brav im Gasthaus der Ölfirma zu warten und Dimitri einen sehnsuchtsvollen Brief in die Wüste zu schreiben. Allerdings sprach sie nicht mehr von dem Gedanken, in die Wüste zu gehen, zumal sie sah, daß man ihr in Bône, anders als in Algier, eher feindlich gegenüberstand. Hier hatte man überhaupt kein Verständnis mehr für eine romantische Liebesgeschichte. Hier ging es um Öl, um Frankreichs Monopol in Algerien, das letzte Bollwerk, das der Grande Nation nach der Unabhängigkeit Algeriens geblieben war. Hier ging es um Milliarden Francs, durch eine blitzende Pipeline gepumpt von den einsamsten Wüstenstationen zur Küste, und um die Ausbeutung unvorstellbarer Erdgasvorkommen, die man gewissermaßen so nebenbei entdeckt hatte und die eine völlig neue Energieversorgung Frankreichs für die Zukunft bedeuteten.

Ein deutsches Mädchen, das einen Russen liebt! Blödsinn! Und so ließ man Bettina völlig ungeschoren, nahm sie wahr, mehr aber auch nicht, betrachtete sie als Gast der Gesellschaft, um den man sich so wenig wie möglich kümmern sollte, und ließ ihr so alle Freiheit, sich in Bône umzusehen und einen Plan zu zimmern, wie ihn noch keine Frau erdacht hatte.

Bettina war nicht arm nach Algerien gekommen. Alles Geld, das sie sich erspart hatte, hatte sie von dem Bankkonto abgehoben, bevor sie nach Marseille geflogen war. Nun sah sie, daß die Bank in Bône sehr gern deutsche Mark annahm und einen hohen Kurs in algerischen Franken berechnete. Nur die Hälfte ihres Geldes wechselte sie um, und war für afrikanische Begriffe ein reicher Mensch.

Fünf Tage sah sich Bettina in der Hafenstadt um, dann wußte sie genau, was sie tun würde. Mit der Kaltblütigkeit und dem Mut, die sie schon in Rußland zur eigenen Verwunderung gezeigt hatte, ging sie zu einem arabischen Autovermieter und verlangte einen Jeep und einen wüstenkundigen Fahrer.

»Das ist eine gar nicht so einfache Sache, Mademoiselle«, sagte der Autoverleiher Habib Marmoud. Er sprach ein gepflegtes Französisch und war stolz darauf, vier Jahre die höhere Schule in Constantine besucht zu haben. »Es kommt vor allem darauf an, wohin Sie wollen!«

»Nach Ain Taiba«, sagte Bettina unbefangen.

»Sie wissen, Mademoiselle, daß ich mich strafbar mache, wenn ich Ihnen helfe?« fragte Marmoud zurück.

»Ja. Dafür zahle ich Ihnen auch das Doppelte.«

Es gibt keinen Nordafrikaner, der ein gutes Geschäft vorübergehen läßt. Erst kommt Allah, dann kommt das Geld, und es ist der Wille Allahs, daß jeder auf Erden gut leben soll. Nichts steht im Koran, daß man Geld ausschlagen soll, wenn man es verdienen kann.

»Es gibt nur einen, der den Weg nach Ain Taiba kennt, der nicht über die Ölstraße geht, und das ist Achmed Arbadja. Aber Achmed ist ein merkwürdiger Mensch, Mademoiselle. Man darf keine Angst haben, wenn man mit ihm reist.«

»Ich habe keine Angst, Habib Marmoud«, sagte Bettina fest. »Ich fahre mit diesem Achmed zur Hölle, wenn es sein muß.«

»Dann ist es gut, Mademoiselle.« Marmoud lächelte. »Sie haben es richtig gesagt … zur Hölle. Denn Achmed ist ein Teufel.« Am Abend dieses Tages stand im Hinterhof der Garage, die Marmoud auch noch betrieb, ein Jeep bereit, und im Büro wartete ein Mensch, der Bettina trotz aller Vorwarnungen zutiefst erschreckte.

Er war kein Riese, aber er wirkte wuchtig durch seine breiten Schultern und die Muskelpakete, die durch das dünne Hemd sich wölbten wie hölzerne Kegel. Eine flache, eingeschlagene Nase hatte er, kurzes, schwarzes, wolliges Haar, kleine, stechende Augen, und der Kopf saß fast ohne Hals auf den Schultern wie bei einem Schneemann – Rumpf und Kopf in einem. Über seine breite Stirn zog sich eine wulstige Narbe, auf die Bettina erschrocken starrte, als Marmoud den finsteren Gesellen vorstellte.

»Die Narbe bekam Achmed Arbadja bei einem Überfall auf eine französische Patrouille in den Aumalebergen. Mit einem Messer schlitzte man ihm die Stirn auf, bis auf den Knochen. Aber trotz der Verwundung kämpfte Achmed weiter, und keiner der Franzosen überlebte. Dann wurde er gesucht. Zehntausend Francs auf seinen Kopf. In den Bergen von Ouled Nail leitete er eine Partisanengruppe. Wie viele hast du getötet, Achmed?«

»Vierhundertdreiundvierzig«, sagte Arbadja. Er hatte eine tiefe, rauhe Stimme, aber sie klang nicht unangenehm.

»Vierhundertdreiundvierzig! Er allein! Mit eigener Hand?«

»Auch neunzehn Deutsche waren dabei.« Achmed sah Bettina ernst an. Sie zog die Schultern hoch, aber hielt seinem Blick stand. Unter ihrer Kopfhaut zuckte es, aber sie dachte an die Wochen in Grusinien, und da wurde sie ruhig und mutiger. »Fremdenlegionäre. Ich mußte sie töten, Mademoiselle. Sie hätten sonst mich getötet. Und es war noch etwas anderes: Sie mordeten für Geld … ich kämpfte für das Vaterland!«

Habib Marmoud setzte sich hinter seinen Bürotisch. Für ihn war die Lage klar, er wartete nur auf Bettinas Worte. Aber als sie nichts sagte, hob er die Schultern.

»Es ist schade, Mademoiselle, aber dieses Geschäft wird wohl nichts, nicht wahr?«

»Warum?« Bettina drehte sich zu Habib um. »Ich nehme Achmed Arbadja! Morgen früh fahren wir los!« Sie griff in die Tasche und zog einen Bündel Geldscheine heraus. »Hier ist das Geld.«

»Nicht morgen früh!« Arbadja erwachte wie aus einer Starrheit. Lautlos glitt der schwere, massige Körper an Bettina vorbei zur Karte des Gebietes Bône, die an der Wand hing. Eine normale Autokarte. »Wir fahren gleich, in der Nacht. Dann ist es kühl für Mademoiselle. Und am Tag schlafen wir. Aber nur, wenn Sie wollen.«

Bettina nickte. »Ich vertraue ganz Ihnen, Achmed. Tun Sie, was Sie für richtig halten. Bringen Sie mich nur bis Ain Taiba und zurück nach Bône.«

»Sie … Sie vertrauen mir, Mademoiselle?« fragte Arbadja leise. Es war, als habe er so etwas zum erstenmal gehört.

»Ja Achmed; wie einem Bruder.«

»Ich werde Ihr Bruder sein«, sagte Arbadja feierlich. »Und ich bringe Sie nach Ain Taiba.«

Habib Marmoud wartete, bis Arbadja das Büro verlassen hatte und sich um den Jeep kümmerte. Von dem kleinen Auto hing in einer Stunde ihr Leben ab; von dem Motor, dem Getriebe, dem Benzinvorrat, dem Wasserreservoir, den Reifen und Achsen und Bremsen. Um alles würde sich Achmed Arbadja kümmern, auch um das Zelt, die Decken, die Büchsen Verpflegung und die Waffen, die er heimlich mitnahm.

»Sie haben einen Teufel gebändigt«, sagte Marmoud anerkennend als sie Arbadja im Hof rumoren hörten. »Allerdings … er ist auch noch nie einem so mutigen Engel begegnet.«

Ein Stunde später fuhr der Jeep durch das nächtliche Bône den Medjerda-Bergen entgegen. Hinter dieser Bergkette, dem letzten Riegel vor der heißen Unendlichkeit, begann die Wüste.

Bettina sah auf ihre Uhr, als sie Bône verlassen hatten. 23.12 Uhr.

Sie merkte sich diese Zeit, auch wenn es sinnlos war. Aber zu dieser Stunde begann die Fahrt in die Hölle, von der sie nicht wußte, wie sie ausgehen würde. Es war wie damals in Tiflis, als sie aus dem brennenden Flugzeugwrack kroch und wegrannte in die Berge.

Achmed Arbadja saß schweigend hinter dem Steuer. Der Jeep kletterte die Bergstraße hinauf, bog dann ab und verließ die normale Route.

Das Abenteuer hatte begonnen.

Ein Abenteuer?

Es war nur die Verzweiflung um Dimitri … und eine Liebe, für die es keine Worte mehr gibt.

*

Das Ende Jurij Alexandrowitsch Borokins war gekommen. Er hatte es erwartet, und er trug es mit Fassung, wie ein echter Russe, wie ein sowjetischer Offizier.

Wolfgang Wolter hatte seine Braut Irene Brandes eine Stunde nach Borokins Weggang noch immer ohnmächtig auf der Couch gefunden. Nachdem er dreimal angerufen hatte und immer das Besetztzeichen ertönte, war er unruhig geworden und trotz seines Nachtdienstes zu Irene gefahren. Schon während der Fahrt dachte er an Borokin. Um ihn war es in den letzten Wochen so still geworden, das schien verdächtig. Das deutete auf einen veränderten sowjetischen Plan, den keiner kannte.

Nun sah man plötzlich klarer. Die Mißhandlung Irenes, die Frage Borokins nach Dimitri Sotowskij, die Verlagerung der Agententätigkeit von dem nun uninteressant gewordenen deutschen Oberleutnant auf den für die Russen anscheinend wichtigeren Flüchtling aus Liebe ließen vermuten, daß Borokin den Auftrag erhalten hatte, massiv zu werden und notfalls aus dem Schatten der versteckt arbeitenden Spionage herauszutreten. Mit anderen Worten: Borokin wurde gefährlich. Er war zu einem jagenden Wolf geworden.

»Er genießt den Status eines Diplomaten«, sagte der Chef des MAD zu Wolfgang Wolter, der in der Nacht noch um die Erlaubnis bat, Borokin bei der nächsten Gelegenheit auszuheben.

»Er hat Irene zugerichtet wie ein Vieh!« schrie Wolter. Seine Wut kannte keine Grenzen mehr. »Es ist unmöglich, einen solchen Kerl straffrei ziehen zu lassen. Ich werde mit ihm abrechnen.«

»Das würde Sie die Uniform und den Offiziersrang und Ihren Job kosten. Wir müßten Sie bestrafen wie einen normalen Verbrecher, Oberleutnant Wolter. Sie kennen doch die Spielregeln.« Der Oberst schüttelte den Kopf, als er Wolfgangs Augen sah. »Haß ist kein guter Berater.«

»Sie haben Irene nicht gesehen, so wie ich sie gefunden habe, Herr Oberst«, knirschte Wolter. »Wenn es Ihre Gattin – ich bitte um Verzeihung – oder Ihre Tochter gewesen wäre …«

»Wir sind Soldaten, Wolter. Persönliche Gefühle haben zurückzutreten ins dritte Glied! Natürlich würde ich empfinden wie Sie – aber erst kommt die Vernunft.«

»Er darf also mißhandeln, wenn es sein muß, sogar töten, und kommt straffrei aus. Nur, weil er den diplomatischen Status hat? Ist der Diplomatenpaß ein Freibrief?«

»Bei gewissen Nationen ja. Es ist nun einmal so, mein lieber Wolter. Faust in der Tasche geballt, das ist alles. Und wenn Sie sich abreagieren müssen, dann gehen Sie in die Turnhalle und boxen Sie am Sandsack.« Der Oberst sah auf den grünen Schnellhefter, der das Zeichen O/III-b enthielt. Die Akte Borokin. »Wir werden jetzt das Auswärtige Amt benachrichtigen und den Vorgang überstellen. In achtundvierzig Stunden wird er die Bundesrepublik verlassen haben, als unerwünschte Person. Vielleicht tröstet es Sie, Wolter, daß die Sowjets mit Versagern wie Borokin nicht gerade glimpflich umgehen.«

Wolfgang Wolter schwieg. Was in Rußland mit Borokin geschah, war ihm gleichgültig. Irene lag im Krankenhaus. Schlimmer als ihre an sich harmlosen Verletzungen war der Schock, den sie davongetragen hatte. In Abständen von zehn Minuten schrie sie immer wieder auf und bettelte dann mit unverständlichen Worten wie um Gnade. Was im einzelnen mit ihr geschehen war, konnte noch nicht festgestellt werden. Sie gab keine Antworten, sondern starrte jeden, auch Wolfgang, wie einen Fremden an, mit weiten, entsetzten, glasigen Augen. Nur »Borokin! Borokin!« sagte sie ganz deutlich.

Zwei Tage lauerte Wolfgang Wolter in Rolandseck auf Jurij Alexandrowitsch Borokin. Er saß in seinem Wagen an der Ausfahrt des Privatweges, der zu dem weißen Schlößchen der sowjetischen Botschaft führte. Wie er handeln würde, wenn Borokin wirklich die Straße herunterkam, wußte er nicht; er wollte es dem Augenblick überlassen. Bei seiner Dienststelle hatte er sich einfach krank gemeldet.

»Der Junge dreht durch!« rief der Oberst vom MAD, als er die Krankmeldung am Morgen auf dem Tisch liegen sah. »Nie und nimmer hat er die Grippe, jetzt, Ende September! Gestern war er noch gesund wie ein Baum. Meine Herren, schaffen Sie Wolter heran! Der Junge ist in einer Verfassung, in der Vernunftgründe nicht mehr akzeptiert werden.«

Die Kameraden Wolfgang Wolters bemühten sich einen Tag lang redlich, ihn zu finden. Aber in Göttingen war er nicht gesehen worden, eine Rundfrage bei allen Bonner und Kölner Hotels war eine Fehlanzeige, und als schon alle ziemlich ratlos waren, kam ein Gefreiter – man bedenke, ein Gefreiter! – auf die Idee: »Ich schlage Herrn Hauptmann vor, einmal in Rolandseck nachzusehen. Vielleicht ist der Herr Oberleutnant dort.«

Im allgemeinen sind Ideen aus dem Mannschaftskreis von vornherein Mist. Wo käme man hin, wenn ein Rekrut klüger ist als der Kompaniechef?! Die gesamte Dienstmoral geriete ins Wanken.

In diesem besonderen Fall jedoch ließ man sich dazu herab, den Gedanken des Gefreiten aufzugreifen. Der Hauptmann gab den Befehl: »Ein Wagen zur Botschaft Rolandseck!« Und als dieser Wagen wirklich kurz darauf per Sprechfunk meldete, man sehe den Oberleutnant Wolter wartend wie eine Katze vor einem Mauseloch, bekam der Hauptmann ein Lob vom Herrn Oberst. Denn der Weg von der Idee zum Befehl ist der Weg eines Feldherrn. Man muß das wissen, wenn man den Marschallstab im Tornister trägt.

Mit verkniffenem Gesicht sah sich Wolfgang Wolter von vier Kameraden in Zivil umringt, die die Tür seines Wagens öffneten und ihn mit freundlichem Schulterklopfen vom Sitze auf die Straße zogen.

»Deine Zwiebel fährt der Jupp nach Hause«, sagte der Kamerad, der Wolter freundschaftlich eingehakt zu dem anderen Wagen führte. »Mensch, Wolfgang, aus dem Alter, Old Shatterhand zu spielen, bist du doch heraus!«

»Ihr verhaftet mich?« fragte Wolfgang leise. Seine Augen waren ausdruckslos.

»Der Oberst hat nur gesagt, wir sollten uns etwas um dich kümmern. Ein kranker Mensch, ohne Pflege, der herumirrt.«

»Leckt mich am Arsch!« sagte Wolter dumpf.

»Später, wenn wir Appetit darauf haben.« Sie drückten Wolter in die Polster, sprangen dann in den Wagen und fuhren ab. Aus dem Rückfenster sah Wolter, daß ihnen ein Wagen folgte, am Steuer Leutnant Josef Lobegans, den sie beim MAD den ›verhinderten Schwan‹ nannten.

Die ›Entführung‹ Wolfgang Wolters geschah – ohne daß man es wußte – zum richtigen Zeitpunkt. Eine halbe Stunde später verließ ein dunkler Wagen die sowjetische Botschaft und fuhr den Rhein entlang, über die Kennedy-Brücke und auf der anderen Seite zum Flugplatz Wahn. Hinten im Fond saß zurückgelehnt Jurij Alexandrowitsch Borokin, bleich, eingefallen, um Jahre gealtert. Abgeschoben nach Rußland, das ihn nicht als schützende Heimat, sondern als anklagende Beleidigte erwartete.

Die sowjetische Botschaft und auch Moskau hatten schnell reagiert, als das AA in Bonn die Ausweisung Borokins verfügte. Es gab keinen üblichen Protest, keine Presse- und Rundfunkkommentare in Rußland, es wurde nicht einmal darüber debattiert. Aus dem Kreml kam der Befehl: Zurück mit Borokin! Und reibungslos, fast gespenstisch still schaffte man Borokin nach Wahn zum Flugzeug.

Nur erfolgte, ebenso still, der Gegenzug in Moskau. Ein Attaché der Kulturabteilung der deutschen Botschaft wurde von der sowjetischen Regierung für unerwünscht erklärt und nach Deutschland zurückgeschickt. Das AA nahm es gelassen hin. Attachés gab es genug. Und außerdem war es kindisch, dieses Mann-für-Mann-Spiel. Ein Nadelstich mehr in dem durchlöcherten Ballon, an dem die Verständigung zwischen Ost und West hing.

Was mit Borokin geschah, wer weiß es? Er kam in Moskau an, und keiner sprach mehr von ihm. Rußland hat fast zweihundert Millionen Einwohner; wenn man sich um jeden kümmern wollte, wo käme man dann hin? Es kann sein, daß er jetzt in Alma Ata lebt, oder am Ladogasee, oder in Irkutsk oder sogar in Smolensk. Auch in Jalta wäre möglich oder – seien wir verwegen – sogar in Tiflis. Es kümmerte keinen. Auf jeden Fall verschwand der Name Jurij Alexandrowitsch Borokin aus der Politik, und es kann sein, daß man ihn wiedertrifft als Leiter eines Heimes pensionierter sowjetischer verdienter Offiziere.

Es kann sein …

Kritisch – in Bonn wußte man das zunächst nicht, denn niemand kannte ihn – wurde es, als statt Borokin ein neues Mitglied der sowjetischen Botschaft am Rhein eintraf: Ein gewisser Safon Kusmajewitsch Jassenskij. Ein schiefnasiger Mensch mit braunen Nikotinfingern, unhöflich und grob, und jeder wunderte sich, daß gerade so ein Individuum die Kulturabteilung übernahm.

Und nun geschah etwas in Bonn, das typisch ist: Der MAD war ratlos. Das Amt für Verfassungsschutz dagegen war von der Harmlosigkeit Jassenskijs überzeugt. Der Bundesnachrichtendienst atmete auf. Daß Borokin durch diesen ungebildeten Menschen ersetzt wurde, schien alles leichter zu machen. Nur im Amt Gehlen bekam man helle Augen – und schwieg.

»Es beginnt interessant zu werden«, sagte der Intimus des Generals, ein Oberst aus dem alten Amt Canaris. »Sieh an, der gute Jassenskij! Man kann jetzt Überraschungen erwarten.«

Schon am Abend nach den Eintreffen Jassenskijs in Rolandseck wurden die V-Männer informiert und begann die Organisation der Exilrussen in München und Frankfurt zu arbeiten.

Bis in die Botschaft reichten die geheimen Fäden … wie das unterirdische Wurzelwerk einer Pilzknolle war es.

Oberst Jassenskij tat keinen Schritt mehr, den nicht der General in München-Pullach wußte.

Aber er war auch der einzige, der informiert war.

*

Es gibt Menschen – und davon eine ganze Menge –, die behaupten, sie liebten die Sahara.

Sie haben auch allerhand Erklärungen für diese Liebe, ebenso wie jemand stundenlang reden und schwärmen kann, wenn man ihn fragt: Warum lieben Sie Sibirien? Dabei ist diese Liebe auf den ersten Blick genauso widersinnig wie die Liebe zur Wüste, denkt man an die unendlich glühenden Sanddünen und den bleiernen, gnadenlosen Himmel hier – oder die eisigen Schneestürme und die ewigen, unerforschten Wälder, in denen Bären, Wölfe und Tiger hausen, dort. Und doch, irgendwie kann man diese seltsamen Menschen auch verstehen, die da von der Lena oder dem Jenisseij schwärmen oder von den Salzseen im Hochland der Schotts oder dem geheimnisvollen Hoggar-Gebirge im Inneren der Sahara oder der Wüstenstadt Tamanrasset, wo die Männer schwarz verschleiert gehen und das Recht der Frauen im Stamme der Tuaregs mehr gilt als das der Männer. Für Afrika fast unvorstellbar.

Am herrlichsten aber ist der Nachthimmel über der Wüste. Ein mit Millionen glitzernder Brillanten bestickter Samt liegt über der ewig Schweigenden, und der Mensch, irgendwo in einem Zelt zwischen zwei Sanddünen, umgeben von seinen Kamelen und ganz in der Hand Gottes, begreift die Unendlichkeit und seine eigene Winzigkeit. Und er beginnt, sein Leben zu lieben, denn er erkennt die Gnade, atmen zu dürfen.

Das ist es, was die Menschen immer wieder ergreift, ob in der Sahara oder irgendwo im Urwald, in der Taiga Sibiriens: Der Himmel und das Grandiose der Natur und die Gegenwart Gottes, ohne die man ein Nichts wäre in dieser Fülle von Schweigen, von urweltlicher Einsamkeit.

Es zeigte sich, daß Achmed Arbadja richtig handelte, indem er nur nachts fuhr und am Tage sein Zelt um Jeep und Luftmatratzen aufbaute, das Zelt mit Sand bewarf und so zu einem unerkennbaren Hügel werden ließ, denn als am Morgen im Gästehaus die Demoiselle Wolter fehlte, fragte man nicht weiter, wo sie geblieben war, sondern alarmierte die Suchstaffel. Drei Hubschrauber stiegen auf und flogen die Route nach Fort Lallemand ab. Aber da sahen sie nichts. Und die Kamelkarawanen, die sie ausmachten, und vor denen sie landeten, führten zwar Frauen mit sich, aber es waren Ouled-Nails-Mädchen, junge Weiber aus dem Stamm, der in Nordafrika fast ausschließlich die Dirnen stellt und die – nach einer gründlichen Ausbildung in den Liebeskünsten – mit Karawanen zu den einzelnen Oasen transportiert werden, um den Wüstensöhnen die Einsamkeit zu versüßen. Denn das Weib ist geboren für den Mann, sagt Allah durch den Mund Mohammeds. Eine Lehre, die kein Mann verneinen wird.

»Da haben wir es!« schrie der Subdirektor in Algier, als man ihn anrief und mitteilte, Bettina Wolter sei verschwunden. »Sie wollte in die Wüste! Diese Irre! Aber da sitzen in Marseille so alte Lustknaben, die mit den Ohren wackeln, wenn sie gespannte Blusen sehen! Nun haben wir die Schweinerei! Und die algerische Regierung wird wieder mit uns herummeckern und uns vorwerfen, wir könnten unsere Leute nicht unter Kontrolle halten. Scheiße, meine Herren!«

Die Hubschrauber suchten weiter. Unterdessen schliefen Achmed und Bettina in ihrem getarnten Zelt. Und wenn auch um sie herum die Hitze eines Brutofens herrschte – sie schliefen vor Erschöpfung und vor allem durch ein leichtes Mittel, das Achmed aus einer grünen Knolle gewann und das eine wundervolle Müdigkeit erzeugte. Wie betäubt war Bettina nach ein paar Tropfen dieses Saftes. Sobald dann die Nacht kam, fühlten sie sich wieder munter und erfrischt. Es war, als sei ihr Leben völlig verändert, als sei sie dazu geboren, nur nachts zu leben.

Drei Nächte waren sie unterwegs, über eine Piste, die auf keiner Landkarte stand und die Achmed Arbadja von seiner Tätigkeit als Rebell her kannte; eine jener Wüstenpisten, über die die Berber in den Rücken der französischen Truppen gelangten und wie höllische Gespenster plötzlich über sie hereinbrachen.

Doch dann bekam Bettina Fieber. Ganz harmlos fing es an, mit einem Druck im Nacken, mit ständigem Gähnen und später mit leichten Schmerzen in den Gliedern. Bettina verschwieg diese Anzeichen. Es ist nichts, sagte sie sich vor. Es ist ein Muskelkater. Die Nerven reagieren jetzt auf das wahnwitzige Abenteuer. Morgen ist alles vorbei. Morgen hat sich der Körper an die anderen Verhältnisse gewöhnt.

Aber dieser Morgen war anders.

Bettina hatte einen glühenden Kopf, die Kehle brannte, ihre Arme und Beine konnte sie kaum bewegen, und der Himmel drehte sich um die Wüste, und die goldenen Sanddünen wurden zu Wolken, die hoch am Firmament dahinzogen wie riesige beladene Schiffe.

Achmed Arbadja hob sie aus dem Jeep und legte sie auf einen Teppich in den Sand. Dann baute er sein Zelt um alles auf, bewarf es wieder mit Sand, und kümmerte sich dann um Bettina, die in einer für sie angenehmen Schwäche schwamm, so leicht wie eine Feder auf einem Bach, und so fühlte sie sich auch, weggetragen im leichten Schaukeln.

Arbadja gab Bettina zu trinken. Aus der Autoapotheke hatte er Tabletten gegen Fieber geholt, widerlich bittere, sicherlich Chinin. Er zwang sie, diese Tabletten zu schlucken, und dann tat er etwas, was Bettina fast um den Verstand brachte. In dicke Wolldecken wickelte er sie ein, so daß sie sich nicht rühren konnte, und so lag sie unter der dünnen Zeltleinwand wie in einem Backofen, ihr Körper löste sich in Schweiß auf, keinen Atem bekam sie mehr, das Herz jagte, und Arbadja saß neben ihrem Kopf und überschüttete ihn mit Wasser, wenn sie glaubte, nun müsse er endgültig auseinanderspringen.

»Luft!« röchelte sie einmal. »Achmed, du bringst mich um! Nimm die Decken weg … die Decken … ich zerplatze!«

»Wir treiben das Fieber hinaus, Mademoiselle«, sagte Achmed ganz ruhig. »Haben Sie keine Angst. Sagten Sie nicht, Sie hätten keine Angst vor mir?«

»So ist es, Achmed.«

Bettina schloß die Augen. Ganz ruhig wurde sie auf einmal, der Druck fiel von ihr ab, die Hitze spürte sie nicht mehr, der Hals brannte nicht, und der Kopf zersprang nicht.

Sie wurde besinnungslos und glitt in das Vergessen mit dem Gedanken: Nun wird es besser … ich habe keine Angst vor Achmed Arbadja …

Zwei Tage und Nächte saß Arbadja neben Bettina, kühlte ihre Stirn, flößte Wasser zwischen die verkrampften Lippen, rieb ihre Brust mit Öl ein und wickelte sie wieder in die höllischen Decken. Zwei Tage und Nächte war Bettina ohne Besinnung und phantasierte. Sie glühte und war eiskalt, und der Wechsel wurde immer schneller und die Miene Achmeds immer ernster. Dann, in der dritten Nacht, lag sie ruhig und atmete nicht mehr stoßweise, sondern langgezogen und tief. Aus der Ohnmacht war richtiger Schlaf geworden … der Schlaf der zur Gesundheit führte.

Mit glänzenden Augen stand Achmed Arbadja auf und trat hinaus in die kalte Wüstennacht. Nach Osten wandte er sich, dort wo Mekka lag, und kniete sich in den pulverfeinen Sand. Dann beugte er den Kopf weit vor und legte ihn auf seine in den Sand gedrückten Hände.

»Allah sei Dank!« sagte er laut. »Ich war ein kleingläubiger Mensch. Du läßt sie weiterleben.«

Und dann schlief auch er, eng an Bettina gepreßt, wie ein Hund, der sich mit Anhänglichkeit bei den Menschen bedankt für ein Streicheln, ein liebes Wort oder eine Scheibe Wurst.

*

Drei Bohrtürme, sieben Baracken, eine Energiestation, ein Magazin und vier Garagenhallen – das ist die Bohrstelle VI südlich der winzigen Oase Ain Taiba.

Hier leben siebenundvierzig Männer, und sie kommen sich vor wie siebenundvierzig Verdammte.

Jeden Tag landen Transportflugzeuge auf dem gewalzten Sandsteifen hinter den Bohrtürmen. Zweimal wöchentlich kommt eine Lastwagenkolonne von Ouargla herunter, der nächsten größeren Wüstenstadt, wo sich auch die Büros, die Magazine und vor allem die Mädchen befinden, die monatlich einmal für zwei Tage Pause von Staub und Hitze besucht werden dürfen. Hier gibt es Bars und Bistros, von denen die siebenundvierzig Männer in der glühenden Einsamkeit träumen, und jeder hat einen Kalender im Spind hängen, auf dem er die Tage abstreicht … noch vierzehn Tage bis zu Jeannes weichen Armen … noch zehn Tage, noch neun, noch fünf Tage, und dann hat man ein Bett und einen weißen Körper neben sich und pfeift auf die Wüste, den Ölgestank, das schal schmeckende Wasser und auch auf die guten, harten Francs, denn man wird gut bezahlt für die Kraft und den Mut, mitten in einem Sandmeer zu leben und sich mit Sandflöhen und Skorpionen zu unterhalten.

Dimitri hatte sich schnell in die Gemeinschaft der rauhen Burschen von Ain Taiba eingelebt. Man nannte ihn schlicht Iwan, dem Sammelbegriff für Russen, und Dimitri ließ es über sich ergehen. Ihm war alles Äußere gleichgültig, auch daß man ihn als ausgebildeten Ingenieur zunächst in den Maschinensaal – wie man die glutheiße Baracke mit den Elektromotoren nannte – steckte, wo er stundenlang nur eine Schalttafel bewachte, die Lager ölte, dauernd Kurzschlüsse zu beheben hatte, weil das Stromnetz überlastet war; eine sture Arbeit, vor der sich jeder andere drückte. Dimitri war es recht so. Hier hatte er Zeit, an Bettina zu denken und an sein schönes Leben, das in Tiflis geblieben war.

Drei Tage nach seiner Ankunft in Ain Taiba kam einer der leitenden Ingenieure zu ihm – mit einem Hubschrauber war er extra wegen Dimitri von Ouargla gekommen – und bestellte ihn in die Vorarbeiterbaracke.

»Es wird Schwierigkeiten geben, Sotowskij«, sagte er ohne lange Einleitung. »Ihre Braut ist in der Wüste verschwunden.«

»Wer?« fragte Dimitri. Er begriff nicht, was der Oberingenieur von ihm wollte. Er hatte keine Braut in Afrika.

»Sie wissen nicht, daß Ihre Braut in Algerien ist?« fragte der Mann aus Ouargla verblüfft.

»Ich habe keine Braut«, sagte Dimitri. »Sie verwechseln mich, Monsieur.«

»Unmöglich!« Der Oberingenieur sah Dimitri irritiert an. »Aus Bône kam die Meldung, daß Ihre Braut, Bettina …«

»Wanduscha!« schrie Dimitri auf. Er schnellte hoch und warf die Arme in die Luft. »Wanduscha ist hier?« Sein Gesicht glänzte, fast wäre er durch das Zimmer getanzt wie ein Tscherkesse. »Brüderchen Oberingenieur, sie ist mir nachgefahren? Sie hält zu mir! Wo ist sie? Wo? Sag schnell, wo ich meine Wanduscha finden kann!«

»Es scheint wirklich ein Irrtum zu sein«, sagte der Oberingenieur und wischte sich über die Augen. »Nicht Wanduscha – Bettina heißt das gesuchte Mädchen.«

»Sie ist es! Sie ist es!« jubelte Dimitri. Er riß den verblüfften Oberingenieur an sich, küßte ihn auf beide Wangen und drehte ihn um sich selbst, als sei er ein großer Kreisel. »Wo ist sie?« schrie Dimitri dabei. »Brüderchen, wo ist sie denn? Ich fahre ihr entgegen.«

»Einen Dreck werden Sie!« sagte der Oberingenieur grob. Er flüchtete aus dem Griffbereich Dimitris und wischte sich den perlenden Schweiß aus dem Gesicht. »Ihre Wanduscha, oder wie das Weibsstück heißt, beschäftigt schon die algerischen Behörden. Allein ist sie in die Wüste, anscheinend, um nach Ain Taiba zu kommen.«

»Ein mutiges Weibchen, ein tapferes Weibchen … sie war es immer«, sagte Dimitri glücklich.

»Ein idiotisches Weibchen!« schrie der Oberingenieur aus Ouargla. »Allein durch die Wüste! Das macht nicht einmal ein Irrer! Und wir haben die dicken Köpfe! Himmel und Hölle noch mal, wir haben hier einen knallharten Job, für den es ebenso harte Francs gibt, wir schlafen nicht auf Rosen, sondern auf Pritschen, und als Sie sich bei uns meldeten, wußten Sie, was Sie hier erwartet! Hier ist eine Bohrstelle nach Öl, aber kein Privatpuff!«

Dimitri sah den schreienden Oberingenieur stumm und wehmütig an. Meine Wanduscha, dache er. Kommt durch die Wüste zu mir, und er nennt sie eine Hure. Oh, was sind dies nur für Menschen? Haben sie kein Herz mehr? Verstehen sie nicht mehr, was die Liebe alles vermag? Daß es weder Grenzen noch Völker noch nackte Vernunft gibt, wenn man liebt? Ist er eine Maschine, die Geld produziert?

Und dann tat er etwas, was er in Rußland getan hätte, wenn ein Genosse seine Wanduscha eine Hure genannt hätte: Er trat einen Schritt vor und gab dem Oberingenieur eine schallende Ohrfeige.

An diesem Tage wurde Dimitri von neunzehn Arbeitern der Bohrstelle VI von Ain Taiba zusammengeschlagen. Er ahnte es vorher, als der Oberingenieur nach dieser Ohrfeige stumm die Baracke verließ und der Vorarbeiter nach einer halben Stunde ins Zimmer kam, mit dem Daumen zur Tür zeigte und sagte: »Komm mal raus, Iwan, aber schnell!«

Und Dimitri trat vor die Tür und sah vor sich eine Gasse von halbnackten, muskelstarken Männern, die ihn mit ausdrucklosen Gesichtern anstarrten und die Hände zu Fäusten ballten.

»Lauf, Iwan!« sagte der Vorarbeiter hinter ihm dumpf und gab ihm einen Stoß in die Nieren. »Bei uns benimmt man sich nicht wie in Sibirien.« Dimitri wollte etwas erklären. Sibirien, wollte er sagen. Was habt ihr bloß alle gegen dieses herrliche Land? Wie benimmt man sich denn da, he? Friedliche Menschen sind's. Menschen wie wir. Und Freunde hat man in der Taiga, Freunde bis an den Tod! Aber er schwieg. Sinnlos war's, jetzt noch zu reden. Er sah in die harten Augen der Männergasse, er fühlte einen neuen Stoß in seinem Rücken, und er sah den Oberingenieur an einem Auto stehen und das Strafgericht beobachten.

Da ging er … ja, er ging, ganz langsam, nicht wie man erwartet hatte, daß er renne wie um sein Leben … die Hände auf dem Rücken, den Kopf weit in den Nacken, schritt er durch die Gasse der halbnackten schwitzenden Männerleiber, und die harten Fäuste hatten plötzlich keine Kraft mehr, nicht die, die man gern hineinlegen wollte, denn so einen Menschen hatte man noch nicht gesehen, auch nicht in der Wüste, der durch eine schlagende Gasse ging und die Hiebe hinnahm wie ein Streicheln.

Am Ende des Weges fiel Dimitri in den Sand, mit dem Gesicht zuerst, ebenso stumm, wie er seinen Weg gegangen war. Man ließ ihn liegen, nur der Vorarbeiter schüttete einen Eimer Wasser über ihn, das aber verdunstete, bevor Dimitri aus seiner Ohnmacht erwachte.

Er kroch in seine Baracke und legte sich auf sein Bett, aber in der Nacht schlich er sich wieder hinaus, kletterte auf das Dach der Garage und hockte sich hier auf das Wellblech, sah hinaus in die jetzt kalte, unter den Sternen herrliche Wüste und wartete auf Bettina.

Am nächsten Tag kümmerte sich keiner um ihn. Seinen Arbeitsplatz hatte ein Türke eingenommen. Er bekam von der Küche kein Essen mehr. Er war wie Luft, man sah durch ihn hindurch und rannte ihn um, wenn er jemandem im Wege stand. Ain Taiba hatte ihn ausgestoßen. Er war vogelfrei.

Dimitri kümmerte es nicht. Er hatte noch etwas zu essen, ein paar Büchsen, die er kalt hinunterschlang, denn ein offenes Feuer war verboten. Man hätte ihn erschlagen, wenn er es getan hätte. In der Nacht aber saß er wieder auf dem Garagendach und starrte in die Wüste.

Und dann, in der dritten Nacht, sah er weit hinten über den Sanddünen eine kleine Staubwolke gegen den Nachthimmel steigen, aus einer Richtung, die genau entgegengesetzt der Route nach Fort Lallemand war. Eine Staubwolke, die größer und größer wurde, als schabe jemand durch den Sand und werfe ihn dann gegen den Himmel.

Wanduscha … dachte Dimitri und kroch an den Rand des großen Wellblechdaches. Ist sie es? Und dann richtete er sich auf, stand auf dem Dach und winkte mit beiden Armen, und der Mond schien auf ihn und hob ihn gegen den Nachthimmel ab, und die Staubwolke kam näher, und es sah aus, als hüpfe ein großer schwarzer Floh durch die Wüste.

Dimitri kletterte von dem Dach und rannte um den letzten Bohrturm herum. Eine Sanddüne versperrte ihm den Blick, aber er hörte schon das Brummen des Motors.

»Wanduscha!« schrie er. »Wanduscha!« Und dann lief er durch den knietiefen Sand, stolpernd und ächzend wie ein Verdurstender, mit ausgebreiteten Armen und wie im Fieber glänzenden Augen, und ganz sicher war er sich, daß dort aus dieser Staubwolke Bettina auftauchen und daß sein Leben wieder schön werden würde.

Aus den Sanddünen tanzte der kleine graue, mit gelbem Sand bestäubte Wagen. Die Staubwolke, die ihn einhüllte, verhinderte jede Sicht, aber Dimitri taumelte mit flatternden Armen weiter, und seine Schreie »Wanduscha! Wanduscha!« prallten nach kurzer Zeit gegen eine Sandwand, die ihn einhüllte, ihm den Atem nahm, seine Mundhöhle mit Tausenden kleinen, harten Körnern füllte und ihn umwarf. Er kniete im Sand, mit erhobenen Armen, als bete er die Sterne an, die im Staubnebel versunken waren.

»Himmel! Wer ist denn dieser Idiot?« schrie eine Stimme auf französisch. Der Jeep bremste einen Meter vor dem knienden, vom wirbelnden Sand blinden Dimitri, und die Wolke sank in sich zusammen und überfiel den ächzenden Menschen wie ein Wasserguß. »Den hätte ich bald überfahren!« schrie die Stimme wieder. »Was läuft so ein Vollidiot auch in der Nacht herum! He! Aufstehen! Wohl besoffen, was?«

Dimitri Sotowskij öffnete langsam die sandverklebten Augen. Seine Kehle war ausgedörrt, sein Körper schien wasserlos, wie eine verdorrte Tamariske war er, ein toter Baum in der Wüste.

»Wanduscha …«, stammelte er und starrte um sich, als erkenne er seine Umwelt nicht mehr.

»Was sagt das betrunkene Schwein?« rief die Stimme wieder. »Mann, steh auf!«

Aus dem Jeep kletterten vier Männer in Uniform. Ein Offizier war dabei, der nun zu Dimitri ging und ihn aus dem Sand hochriß. Wie einen nassen Hund schleifte er ihn zum Jeep und lehnte ihn dagegen.

Dimitri sah um sich. Vier Männer. Uniformen. Soldaten. Er begriff es zunächst nicht. »Wo ist Wanduscha?« fragte er. Während er sprach, spuckte er Sand aus. Seine Augen wurden rot; der Staub brannte wie Pfeffer. »Habt ihr sie nicht mitgebracht?«

»Aha! Das ist ja der Russe!« Der junge Leutnant betrachtete Dimitri mit Interesse. Er war aus Fort Lallemand abkommandiert worden, Patrouille bis zur Oase Ain Taiba zu fahren und alle Fahrzeuge auf der Route zu kontrollieren.

Aus Bône war die verrückte Meldung gekommen, daß ein Mädchen allein quer durch die Wüste fahren würde, um aus Ain Taiba ihren Bräutigam, einen russischen Ingenieur, wegzuholen. Zuerst hatte man in Fort Lallemand darüber gelacht und Witze darüber gerissen, aber als es hieß, daß der Wagen des Mädchens nirgendwo zu sehen sei und alle Hubschrauber ohne Ergebnis zurückkamen, wurde es ernst, und von allen Militärstationen wurden Patrouillen ausgeschickt, die Wüste rund um Ain Taiba zu überwachen.

»Ihretwegen haben wir vielleicht einen Zirkus hier!« sagte der junge Leutnant zu Dimitri. Ein Soldat hatte ihm zu trinken gegeben, und nun lehnte Dimitri am Wagen und verfiel sichtlich in Hoffnungslosigkeit.

»Wo ist Wanduscha?« fragte er und starrte auf die Sanddünen. Der Himmel war wieder klar, die Sterne glitzerten wie auf blauschwarzen Samt gestickt. Und es war wieder kalt.

»Wenn wir das wüßten, lägen wir jetzt im Bett.« Der junge Leutnant steckte sich eine Zigarette an und bot seine Packung Dimitri an. Dieser schüttelte den Kopf. »Seit ein paar Tagen ist sie verschwunden.«

»Verschwunden?« stammelte Dimitri mit hohlen Augen.

»Genau gesagt: Wir haben sie nie gesehen. Sie ist aus Bône weg. Womit, ob allein oder mit Führer, in welche Richtung, das alles wissen wir nicht. Sicher ist nur, daß sie nach Ain Taiba will.«

»Zu mir«, sagte Dimitri dumpf. »Freunde, zu mir!«

»Über die normalen Routen ist sie nicht gefahren, das ist auch sicher. Sie muß also einen der Karawanenwege der Nomaden gefahren oder geritten sein, und das ist absoluter Wahnsinn.«

»Wir müssen sie suchen!« schrie Dimitri. Erst jetzt kam ihm voll zum Bewußtsein, in welcher Gefahr sich Bettina befand. »Brüder, wir müssen sie suchen! Sie verdurstet! Der Sand weht sie zu! Die Sonne dörrt sie aus! Freunde, sucht sie!«

»Was meinst du, was wir seit Tagen tun?« Der junge Leutnant spuckte in den Sand, warf die Zigarette weg und zertrat sie mit den Stiefelspitzen. »Sag mal, Russki, was hast du dir da bloß für ein Weibsstück angelacht? Das muß ja eine Furie sein.«

»Ein Engel ist's, Freunde. Ein wahrer Engel«, sagte Dimitri leise. »Wenn ich wüßte, wo sie jetzt ist, ich liefe ihr zu Fuß entgegen.«

Der Leutnant wandte sich ab, stieg in den Jeep und winkte den anderen Soldaten. »Der ist genauso blöd. Muß in der Familie liegen. Los, Jungens, weiter! Zurück nach Hassi el Gassi! Von dort muß sie kommen. Wenn sie in den Erg geraten ist, sehen wir sie sowieso nie wieder. Aber das sag ich dir, Russki«, der Leutnant beugte sich zu Dimitri vor, der starr hinaus in die Wüste sah, »wenn wir deine Mamuschka oder wie du sie nennst, in die Finger bekommen, hauen wir ihr erst den süßen kleinen Hintern voll. Sie hat's verdient.«

Dimitri schwieg. Er sah dem ratternden, tanzenden kleinen Jeep nach, der wieder zur Straße wendete und neue Staubwolken über ihn schüttete. Wieder füllte sich sein Mund mit Sand, jeder Atemzug knirschte, und als die Wolke sich verzogen hatte, war er wieder allein zwischen den Sanddünen, unter dem kalten nächtlichen Wüstenhimmel, und er kam sich so einsam vor wie nie zuvor.

Wanduscha, dachte er. Wenn ich dir helfen könnte, wenn ich dir wirklich entgegenlaufen könnte … mein Fehler war's, einfach wegzugehen. Meine wilde grusinische Art hatte ich nicht in der Gewalt, und nun mußt du büßen für mich. O Wanduscha, ich bin ein Lump gewesen!

Und dann stand er im Sand zwischen den Dünen, ein langer, dürrer Schatten, und schluchzte. Und er hatte unsagbares Heimweh nach Tiflis und den Weinhängen rund um die Stadt. Heimweh nach den blühenden Aprikosenbäumen und den wilden Kirschen. Heimweh nach Rußland … es ist stets das größte Gefühl eines Russen in der Fremde.

*

Bis heute weiß keiner, welchen Weg Achmed Arbadja gefahren war. Er selbst schwieg darüber, Bettina konnte es nicht erklären. Für sie sah die Wüste in allen Himmelsrichtungen gleich aus … Sand, Himmel, flimmernde Hitze, Staubwolken, das Gefühl unendlicher Verlassenheit. Nur ein Mensch wie Arbadja hatte Namen für Sandhügel, die keinem anderen auffallen. Nur für ihn war ein gebleichtes Kamelgerippe, ein ausgetrocknetes Wadi, ein unbekannter Salzsee, von Wanderdünen zugewehte Bäume und Büsche ein Zeichen am Wege. Wie das Innere seiner Tasche kannte er die Sahara.

Dimitri lag auf seinem Bett und schlief, als Arbadja und Bettina in Ain Taiba eintrafen. Nicht von Fort Lallemand, wie alle vermuteten, sondern von Süden her, aus dem Erg heraus, von der geheimnisvollen Karawanenstraße, die von Ghadames bis nach In Salah führt und die noch kein Europäer entdeckt, geschweige denn entlanggezogen war.

Plötzlich waren sie da, spukhaft aus den Dünen auftauchend, fast lautlos umfuhren sie die drei Bohrtürme, die wie Skelettfinger in den Nachthimmel ragten, und hielten vor der großen Verwaltungsbaracke. Die Nachtwache, in einem Wachhäuschen neben dem Maschinenhaus, schlief. Es war gegen drei Uhr morgens. Was sollte hier schon passieren? Die Zeit der Rebellenüberfälle war vorbei. Niemand zerstörte mehr die Pipeline oder steckte die Bohrtürme in Brand, denn auch Algerien verdiente gut an den Erdöl- und Erdgasvorkommen, die französische Geologen entdeckt und erschlossen hatten. Wozu also noch die dumme Wache?

Der leitende Ingenieur von Ain Taiba staunte nicht schlecht, als man an seine Tür klopfte. Er sah auf die Uhr, fluchte und sprang aus dem Bett. Als er die Tür aufriß und auf dem Flur ein staubbedecktes Mädchen mit einem grinsenden Araber stehen sah, fragte er nicht lange, wer das sein könnte. Er seufzte tief auf, schüttelte den Kopf, trat zur Seite und zeigte ins Zimmer. »Treten Sie ein, Mademoiselle«, sagte er nicht gerade ausgesprochen freundlich. »Seit Tagen erwarten wir Sie. Entschuldigen Sie meine Aufmachung, aber ich bin auf nächtliche Besuche nicht eingerichtet.« Er war einen Bademantel über seinen Schlafanzug, machte Licht und betrachtete Bettina, die zögernd ins Zimmer kam. Eingefallen und elend sah sie aus, mit tiefliegenden Augen und unendlich müde. Arbadja, der ihr folgte, zeigte keinerlei Ermüdungserscheinungen. Nur machte er den Eindruck, als sei er in einen Mehltrog gefallen, so mit Staub überzogen war er.

»Sind Sie krank?« fragte der Ingenieur und holte aus einem Eisschrank Wein und Mineralwasser.

»Ich habe gerade mit knapper Not ein Fieber überstanden.« Bettina setzte sich an den Tisch, der vor dem Fenster stand. Nun, da sie am Ziel war, verließen sie alle Kräfte. Sie kam sich vor wie hundert Jahre alt, gebrechlich und von einer unstillbaren Sehnsucht nach ewiger Ruhe.

»Trinken Sie.« Der Ingenieur hielt ihr ein großes Glas mit kaltem Wasser vermischten Weins vor den Mund. Dann sah er sich um zu Achmed Arbadja und musterte ihn mit einer gewissen Hochachtung. »Ihr seid durch den Erg gekommen?«

»Ja!« antwortete Arbadja kurz.

»Das war doch Selbstmord!«

»Für einen Europäer«, sagte Arbadja stolz.

Es dauerte eine halbe Stunde, bis Bettina sich soweit erholt hatte, daß sie klarer denken und handeln konnte. »Ich werde Sotowskij holen«, sagte der Ingenieur. »Nein, bleiben Sie sitzen, Mademoiselle, ich hole ihn allein.«

Das hatte seinen guten Grund. Die Gemeinschaft von Ain Taiba hatte Dimitri nach der Prügelszene formell ausgestoßen. Man warf sein Bettgestell aus der Baracke, und er schleppte es in den alten, baufälligen, nicht mehr gebrauchten Materialschuppen, der noch aus den Anfängen der Bohrtätigkeit übriggeblieben war, und zwischen alten Maschinenteilen, verrosteten Eisenträgern und abgeschabten Bohrköpfen, zwischen Kisten und Säcken, in denen sich Skorpione und Sandvipern eingenistet hatten, schlief Dimitri, hauste wie ein Einsiedler, mußte von seinem ersparten Geld sich das Essen kaufen – aber erst dann, wenn die anderen des Trupps schon gegessen hatten, und meist war es nur ein halber Teller, der übrigblieb, und niemand kümmerte sich um den verrückten Iwan, der sibirische Manieren einführen wollte, wie der Vorarbeiter gebrüllt hatte.

Dimitri schrak hoch, als ihn jemand an den Schultern rüttelte. »Aufstehen!« schrie ihm eine Stimme ins Ohr. »Besuch aus Deutschland.«

»Wanduscha!« schrie Dimitri hell. Mit einem Satz war er aus dem Bett, stieß den Ingenieur zur Seite, rannte hinaus, sah den Jeep vor der Verwaltungsbaracke stehen, und dann wiederholte sich die nächtliche Szene von drei Tagen vorher, er warf die Arme hoch und brüllte in die Nachtstille hinein und stolperte durch den Sand, und Arbadja ließ ihn vorbeilaufen und ging ihm aus dem Weg, als er ihm im Flur begegnete. »Wanduscha!« stöhnte Dimitri, als er die Tür aufriß. »Ich habe gebetet … zum erstenmal im Leben habe ich gebetet … und du bist da! Du bist da! O mein Gott!«

Vor dem Haus hielt Arbadja den Ingenieur fest, der Dimitri folgen wollte. »Laß sie jetzt allein, Herr«, sagte er. »Das Glück der Liebenden ist ein Geschenk Allahs und gehört nur ihnen allein.«

»Ihr habt für alles einen Spruch«, meinte der Ingenieur und lächelte sauer. »Aber ich will nur in die Telefonzentrale. Erlaubt das mein Wüstenfuchs?«

Achmed Arbadja zog die Lippen hoch. Sein weißes Gebiß leuchtete aus dem staubigen Gesicht. Er gab keine Antwort, aber er ließ den Ingenieur los. Stolze Teufel sind sie alle, diese Weißen, dachte er. Aber was hilft's? Man muß mit ihnen leben.

In Bône fluchte der Direktor nicht minder kräftig wie sein Ingenieur in der Sahara, als ihn das Telefon aus dem schönsten Morgenschlaf schreckte. Neben ihm lag eine dunkelhaarige Schöne, die trotz des Klingelns weiterschlief.

»Was ist?« schrie der Direktor ungnädig. »Ain Taiba? Himmel noch mal, was soll das? Brennt ihr ab? Das wäre der einzige Grund, mich aus dem Schlaf zu holen.«

Aber es zeigte sich, daß es auch noch einen anderen Grund gab. Mit immer größerer Verblüffung hörte er sich den Bericht aus der Wüste an und schabte sich dabei mit den Fingernägeln über die Brust.

»Das hat es noch nicht gegeben!« sagte er ehrlich, als der Ingenieur in Ain Taiba schwieg. »Wie sieht das Weib denn aus?«

Direktor Paul Servante war einen Tag später aus dem Urlaub gekommen, nachdem Bettina aus Bône verschwunden war. Er hatte auf seinem Schreibtisch nur die Berichte vorgefunden und Bettina eine ›hysterische Ziege‹ genannt. Zu Hause in Lyon hatte er eine liebende Gattin und drei Kinder, womit erklärt ist, daß die schwarzhaarige Schönheit in seinem Bett lediglich zur Wüstenverpflegung gehörte.

»Hübsch ist sie auch noch?« rief Direktor Servante verblüfft. »Was man nicht alles erlebt! Natürlich, ich spreche heute morgen gleich mit Marseille. Wenn dieser Dimitri nach Hause will …«

»Er hat einen Dreijahresvertrag unterschrieben«, sagte der Ingenieur in Ain Taiba. »Aber, ehrlich, wir sind froh, wenn er wieder geht. Er mag ein hervorragender Fachmann sein, aber für die Wüste ist er nichts. Wenn es möglich ist, lassen Sie ihn ziehen. Annullieren Sie den Vertrag.«

Die Antwort aus Marseille kam schnell, und Direktor Servante in Bône freute sich darüber. Der Vertrag war ungültig, wenn Dimitri das Handgeld zurückzahlte, das er bekommen hatte.

»Ich zahle jede Summe, wenn Dimitri zurück kann nach Deutschland«, sagte Bettina in Ain Taiba, als der Ingenieur die Nachricht überbrachte.

»Wir sind ja keine Raubtiere«, antwortete der Ingenieur mit einem Anflug von Galanterie. »Und gerade wir Franzosen haben das größte Verständnis für die Liebe.«

Es war lustig anzusehen, wie Bettina darauf rot wurde und zu Boden sah wie ein kleines, verliebtes Mädchen, und Dimitri umarmte den Ingenieur, was dieser gar nicht gern hatte, auf jeden Fall nicht von Dimitri.

Von nun an ging es sehr schnell. Mit einem Lastwagen fuhren sie nach Fort Lallemand, und weder Bettina noch Dimitri blickten zurück, als sie Ain Taiba verlassen hatten und die einsamen Bohrtürme zwischen Wüste und glutendem Himmel wegschwammen. Sie wollten nicht zurücksehen. Einem Irrtum trauert man nicht nach. Was Ain Taiba aber für Dimitri bedeutet hatte, das sagte er keinem, weder Bettina noch seinem Ziehvater Kolka. Nie mehr sprach er über die kleine Oase. Nur zwei Narben an seinem Körper erinnerten ihn stumm an jenen Tag, an dem er durch die Gasse der Schlagenden gegangen war, hocherhobenen Hauptes wie ein Bär, der aufrecht stirbt, weil er der König Grusiniens ist.

Hinter dem Lastwagen hüpfte der Jeep mit Achmed Arbadja am Steuer. Auch er hatte einen Triumph im Herzen. Nicht das verdiente Geld machte ihn fröhlich, sondern der Sieg über die Weißen. Er hatte Ain Taiba erreicht trotz Patrouillen, Hubschrauber und Bewachung. Er hatte die Wüste bezwungen, und Allah war sichtbar bei ihm gewesen.

Welcher Mann kann da nicht stolz sein?

Zwei Tage später landeten Dimitri und Bettina in Düsseldorf und verließen Hand in Hand das Flugzeug.

Unten, an der Gangway, stand Karl Wolter, und er benahm sich wieder wie der alte Kolka Iwanowitsch Kabanow. Er winkte und rief und schrie auf russisch: »Willkommen, mein Söhnchen! Willkommen!« Aber er kam ihm nicht entgegen, sondern blieb stehen.

Dagegen trat ein großer, schlanker, blonder Mann in der Uniform eines Bundeswehr-Oberleutnants an Dimitri heran und streckte ihm beide Hände entgegen. Und er schämte sich auch nicht, als Bettina sich von Dimitri löste und ihm weinend um den Hals fiel.

»Ich freue mich, Dimitri«, sagte Wolfgang Wolter mit fester Stimme, »daß du zurückgekommen bist. Laß uns Freunde sein.«

»Das wollen wir«, sagte Dimitri. »Die Welt ist so leer, wenn man keine Freunde hat. Ich habe es gesehen.«

Und dann erst trat Karl Wolter heran, umarmte Dimitri und küßte ihn nach alter russischer Sitte dreimal auf jede Wange.

»Christus sei mit dir!« sagte er wie ein alter Bauer.

Und Dimitri antwortete ergriffen: »Er sei auch mit dir, Väterchen.«

Die Flucht war zu Ende, das spürte er jetzt. Endgültig war sie nun vorbei. Er war wieder zu Hause.

Denn die Heimat – Mütterchen Rußland – lebt in uns, Freunde. Es ist ganz unmöglich, von ihr wegzulaufen.

*

Ein Mensch wie Oberst Safon Kusmajewitsch Jassenskij kann einem den Glauben verleiden, der Mensch stammte aus der formenden Hand Gottes. Man kann höchstens annehmen, daß Gott, als er das Geschlecht der Jassenskijs schuf, denkbar schlechter Laune war.

In der sowjetischen Botschaft hatte man noch nie solche Ausdrücke gehört, wie sie Jassenskij durch die Räume schrie, als man ihm meldete, daß Dimitri wohlbehalten zurück sei und man im MAD ziemlich spöttisch über die sowjetische Spionage in Deutschland sprach, die im Falle Wolter mehr als einen Tritt in den Hintern bekommen hatte.

»Schluß damit!« schrie Jassenskij wie ein Paralytiker. »Schluß! Schluß! Es muß etwas geschehen! Ein Exempel muß statuiert werden! Jawohl, ein Exempel! Und ich will in lauwarmer Eulenscheiße ersticken, wenn es diesmal ein Mißerfolg wird!«

Das war gut gebrüllt, aber es war auch ein unerfüllbarer Wunsch – denn wo bekam man soviel Eulen her, um Jassenskijs letzten Willen zu erfüllen? Das stille Lächeln seiner Umgebung aber verflog, als Jassenskij wirklich aktiv wurde und auf die Methoden der alten, seligen GRU zurückgriff.

»Genossen!« sagte er zu seinem kleinen Stab, sah zum Fenster und blickte über den Rhein hinüber nach Bad Honnef. »Oberleutnant Wolter befindet sich auf einer Dienstfahrt entlang der Grenze der DDR. Er wird dabei auch einen Streifen berühren, der nicht vermint ist, was keiner im Westen weiß. Es ist der sogenannte Sickergraben, über den wir unsere Agenten einschleusen. Ich bin der Ansicht: Wenn jemand von Osten nach Westen kann, kann man auch von Westen nach Osten. Verstehen wir uns, Genossen?«

Die um Jassenskij Stehenden nickten. Wer verstand das nicht? Nur war es ein Rückschritt, einen Menschen zu entführen, und dann noch auf so plumpe Art, wie es Jassenskij plante.

Der Oberst schien die Gedanken zu erraten. Er lächelte böse, als er sich wieder der Karte der Grenzgebiete zwischen Hünfeld und Coburg zuwandte.

»Natürlich ist es altmodisch«, sagte er. »Aber wir essen unseren Kascha auch schon seit tausend Jahren, und er schmeckt noch immer.«

Man wundert sich immer wieder, wie leicht es ist, ein Verbrechen auszuführen, wenn man keinerlei Hemmungen hat und die Sicherheit der Menschen ausnutzt, in der sie sich wiegen. In dieser Hinsicht war Oberst Jassenskij eine Art Naturtalent, was er bei der Entwicklung eines Plans bewies, über den seine Untergebenen staunten, als habe man ihnen einen Blick in einen Mondkrater gewährt.

»Es ist so einfach, Genossen«, bemerkte Jassenskij völlig richtig. »Man muß nur am richtigen Tage an der richtigen Stelle das Richtige tun. Oberleutnant Wolter fährt also, wie gesagt, seit gestern entlang der Grenze. In Hünfeld hat er begonnen. Sehen Sie, hier ist die wunde Stelle.« Jassenskij legte seinen tabakgebeizten Zeigefinger auf einen Punkt der Karte. Es war ein dichtes Waldgebiet, das auf westdeutscher Seite so belassen worden war, während auf Seiten der Ostzone ein Kahlschlag von hundert Metern Breite als Schußfeld gerodet war. An den Stacheldrahtzäunen hingen in Abständen von fünfzig Metern Schilder: Achtung! Lebensgefahr! Minen! Aber diese Schilder waren nur eine Tarnung. Gerade in diesem Todesstreifen lag nicht eine einzige Mine. Auch waren die Pfähle des Stacheldrahtes nicht fest in den Boden gerammt, sondern steckten in unsichtbaren Buchsen, so daß man den Zaun einfach herausheben konnte und gefahrlos hinüberkam auf westdeutsches Gebiet. An dieser Stelle waren bisher neunundvierzig Agenten mit sowjetischem Propagandamaterial über die Grenze gekommen. Männer und Frauen, bepackt mit Flugblättern, Broschüren, Aufrufen, Falschgeld und insbesondere Magazinen für die jungen Bundeswehrsoldaten.

Jassenskij tippte mit dem braunen Finger immer wieder auf diese Stelle der Karte. »Wir wissen, daß Wolter die Grenze nachts inspiziert, um einen günstigen Ort für die Aufstellung eines der fahrbaren Propagandasender zu suchen. Er fährt mit zwei Feldwebeln als Begleitung in einem grünen Volkswagen. Am Freitag wird er hier eintreffen. Es ist eine Lappalie, ihn im Wald aus dem Wagen zu holen und hinüber in die DDR zu schaffen. Er wird einfach verschwunden sein, und man wird sich die Köpfe darüber zerbrechen, am Zaun stehen, hinüber auf das Minenfeld starren und nicht verstehen können, was hier passiert ist.« Jassenskij sah seine Mitarbeiter mit dem Ausdruck unterdrückten Stolzes an. »Sagte ich nicht, es ist so einfach wie Kascha essen? Noch Fragen, Genossen?«

Man hatte keine Fragen mehr. Es war wirklich alles so klar, wie weiß einfach weiß ist und nicht rot.

»Dann an die Arbeit!« sagte Jassenskij fröhlich. »Kleine Nadelstiche in den Bauch sind wirksamer als grobe Ohrfeigen. Und Wolter wird ein besonders gut sitzender Stich sein.«

Es lief alles wie ein Uhrwerk ab.

Mit einem unauffälligen Privatwagen fuhr Jassenskij über die Autobahn und betrat bei Herleshausen das Gebiet der Zone. Dort wurde er von zwei sowjetischen Majoren mit großer Ehrfurcht begrüßt, denn Jassenskij flog der Ruf voraus, ein Abkömmling vom Schwanzhaar des Satans zu sein. Ohne Aufenthalte, nur eine Tasse Tee trank er, fuhr er weiter nach Meiningen und kehrte von dort an die Grenze zurück, an den hundert Meter breiten Todesstreifen, der hier nur eine Attrappe war. In einem Bauernhaus, das man beschlagnahmt hatte und in dem der Abschnittskommandant der Grenztruppe wohnte, stieg Jassenskij ab und lächelte dünn, als die deutschen Grenzsoldaten ihn begeistert mit »Freundschaft! Freundschaft!« begrüßten und in die Hände klatschten.

Sklavenvolk, dachte Jassenskij angewidert. Ihre Väter haben noch »Heil! Heil!« gebrüllt. Und ihre Söhne schreien vielleicht »Amerika! Amerika!«, was der Himmel und der Kommunismus verhüten mögen. Er legte sich hin, schlief zehn Stunden und inspizierte dann die Grenze. Er war danach sehr zufrieden. Blinkzeichen aus dem dichten westdeutschen Wald sagten ihm, daß seine Mitarbeiter zur Stelle waren.

Oberleutnant Wolfgang Wolter konnte kommen.

*

In Göttingen waren der Rückkehr Dimitris aufregende Tage gefolgt. Nicht nur Agnes Wolter und viele gute Bekannte begrüßten Dimitri, auch die Presse war wieder da – keiner wußte, woher die Journalisten die Informationen hatten –, und Karl Wolter hatte alle Grobheiten aufzubieten, um auch diesmal sein Familienleben vor Tatsachenberichten und Bildreportagen zu retten. Dann kamen die Behörden. Als erste trafen drei Offiziere aus Bonn ein, um Dimitri in aller Freundlichkeit zu verhören und dann etwas verwirrt abzufahren.

»Ja«, sagte Dimitri nämlich, »ich bin Kommunist. Warum soll ich etwas anderes sein, ich kenne ja nichts anderes. Nein, ich weiß nichts, was den Westen interessieren könnte. Ich war Angestellter des Ölkombinats. Wissen bei Ihnen die Angestellten etwa die Geheimnisse der Betriebsleitung? Ja, ich will in Deutschland bleiben, weil ich Bettina liebe und heirate. Nein, ich stelle mich nicht irgendeiner politischen Organisation zur Verfügung. Politik ist ein Verbrechen; das ist das einzige, was ich jetzt erkannt habe. Man sollte es allen Menschen sagen: Lebt als Freunde und jagt die weg, die immer behaupten, die anderen hätten unrecht.«

Man sieht, es waren Ansichten, die so fremdartig waren wie etwa die Liebe der Tataren zu saurer Eselsmilch. »Man wird noch viel an ihm erziehen müssen, lieber Wolter«, sagte der die Untersuchung leitende Hauptmann aus Bonn zu Wolfgang Wolter. »Er ist noch weltfremd. Man sollte nicht meinen, daß in einer so großen Stadt wie Tiflis solch eine politische Kurzsichtigkeit vorherrscht.«

»Wir haben Zeit«, antwortete Wolter ausweichend. Plötzlich sah er eine Kluft zwischen sich und seinen Kameraden aus Bonn. Plötzlich verstand er Dimitri und wunderte sich, daß die anderen ihn nicht verstanden oder nicht verstehen wollten.

Frieden! Ruhe in der Welt! Laßt jeden leben, daß er satt und zufrieden ist. Seid Brüder. Alle!

Ist das verwerflich? Ist das kommunistisch?

Es ist nur undurchführbar … aber das ist eine Tragödie der Menschheit für sich.

*

Irene Brandes hatte man ins Allgäu in ein Sanatorium gebracht. Dort heilte man ihren tiefen seelischen Schock aus, den die letzte Begegnung mit Borokin hinterlassen hatte. Jeden zweiten Tag schrieb sie sehnsuchtsvolle Briefe an Wolfgang.

»Mir geht es immer besser. Wann holst Du mich zurück? Keine Nacht vergeht, ohne einen Traum von Dir. Ich liebe Dich. Ich vermisse Deine Zärtlichkeit. Nie habe ich geglaubt, daß ich einmal so lieben könnte …«

»Noch drei Wochen muß sie bleiben«, sagte Wolfgang nach dem letzten Brief Irenes. »Ich habe mich beim Chefarzt erkundigt.«

»Und wenn sie wiederkommt, heiraten wir alle!« rief Dimitri.

»Hast du's so eilig?« lachte Wolter.

»Er nicht, aber ich«, sagte Bettina und umarmte Dimitri. »Oder soll ich ihn wieder aus irgendeiner Wüste zurückholen?«

Dann fuhr Wolfgang fort zur Zonengrenze, und Dimitri bekam am nächsten Tag einen Anruf aus Frankfurt.

»Für dich«, sagte Agnes Wolter, die das Gespräch angenommen hatte. »Es klingt, als ob ein Russe deutsch spricht.«

Nachdenklich, mit harten Augen und zusammengepreßten Lippen nahm Dimitri den Hörer ans Ohr. Die Blicke Agnes', Karl Wolters und Bettinas verfolgten sein Mienenspiel.

»Dimitri Sergejewitsch«, sagte er laut. Und dann schwieg er, denn jemand sprach russisch zu ihm und erzählte ihm etwas, das fast nicht zu glauben war. »Wer ist da?« fragte Dimitri dazwischen, aber die Stimme antwortete nur:

»Seien Sie nicht neugierig, Brüderchen. Glauben Sie uns, daß wir unser Vaterland lieben wie Sie. Und handeln Sie. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

Langsam legte Dimitri den Hörer zurück. Karl Wolter trat einen Schritt auf ihn zu.

»Wer hat angerufen?«

»Ich weiß es nicht. Es müssen russische Emigranten sein, die Mittelsmänner in der Botschaft haben.« Dimitri wischte sich über das Gesicht, und damit löste sich seine Erstarrung. »Wir müssen Bonn anrufen!« rief er erregt. »Die Dienststelle Wolfgangs. Er ist in Gefahr. Man will ihn entführen. Ein Oberst Jassenskij hat einen ganz sicheren Plan ausgearbeitet. Er muß sofort gewarnt werden.« Er drehte sich zu Bettina, die ihn aus weiten Augen ansah. »Wie lange fahren wir bis Fladungen?«

»Fladungen? Wo liegt denn das?« rief Wolter und nahm den Hörer ab.

»Südöstlich von Fulda, an der Wasserkuppe«, sagte der Anrufer.

»Himmel! Das ist eine lange Fahrt!«

»Was will man mit Wolfgang machen?« stammelte Agnes und begann zu weinen. »Hört das denn nie auf? Was ist aus unserer Welt geworden …«

»Entführen will man ihn. Nach drüben!« Dimitri rang die Hände. »Und wenn wir ihn nicht warnen können, gelingt es auch. Oh, ihr kennt nicht die GRU. Dem Teufel sägen sie ein Horn ab, wenn es verlangt wird!«

Es wurde ein turbulenter Tag.

Das Ministerium in Bonn bedankte sich höflich für die Information und beendete das Gespräch mit einem kurzen, militärischen »Ende«. Aber dann summte der Draht zur Zonengrenze, wurden Befehle weitergegeben, zirpte es in den kleinen Kurzwellensendern bis zu den Posten an den Stacheldrahtzäunen. Von Fulda fuhr ein Mannschaftswagen zur Wasserkuppe und von dort in der Nacht bis Fladungen. In der Turnhalle der Schule wurden die Soldaten wieder zu Zivilisten verwandelt, und zwar in Waldarbeiter mit durchschwitzten, nach Moos und Harz riechenden Anzügen. Auf Bauernwagen fuhren sie in den Wald, und dort verschwanden sie spurlos, nach einem Aufmarschplan, der in aller Eile von Spezialisten des MAD ausgearbeitet worden war.

Und auch die Familie Wolter traf in Fladungen ein. Ohne Unterbrechung waren Karl Wolter und Bettina gefahren. Als sie ankamen und im ›Hessischen Hof‹, einem Landhotel, abstiegen, kam ihnen Wolfgang entgegen.

»Wenn das stimmt, Dimitri«, sagte er und legte den Arm um Sotowskijs Schulter, »wenn es nicht bloß ein blinder Alarm ist, um Unruhe zu stiften und zu sehen, wie wir reagieren, hast du uns einen Dienst erwiesen, den wir dir gar nicht genug danken können.«

»Das ist ein Irrtum«, sagte Dimitri und sah Wolfgang dabei ernst an. »Ich will keinen Dienst erweisen. Mich kümmert nicht die Politik. Ich will nur dich retten … weil du mein Bruder geworden bist. Es geht schlicht um dein Leben, um weiter nichts.«

Die Experten des MAD dachten allerdings anders, und sie taten gut daran. Unbemerkt von allen Einwohnern, begann an der Zonengrenze ein gefährliches, ein bitterernstes Theater. Darsteller waren Wolfgang Wolter und seine beiden Feldwebel mit ihrem kleinen grünen Wagen. Den Chor bildeten die als Waldarbeiter verkleideten Soldaten. Und die Gegenspieler saßen irgendwo entlang des Todesstreifens im Wald. Man hatte sie noch nicht entdeckt, denn alle Streifen wurden eingestellt, um die Leute Jassenskijs in völlige Sicherheit zu wiegen.

Als sei er wirklich ahnungslos, fuhr Wolter mit seinen Begleitern seine vorgeschriebene Strecke ab. Einige Kontaktmänner gaben kurze Funkberichte zu dem Bauernhaus auf der anderen Seite, wo Jassenskij ungeduldig der großen Stunde entgegenfieberte.

»Alles in Ordnung, Genosse Oberst«, sagte der Abschnittskommandeur der Grenztruppe, ein sächsischer Hauptmann.

»Wir können uns gratulieren.«

In der Nacht stand Jassenskij selbst im Todesstreifen und überwachte das Herausziehen der Stacheldrahtpfähle. Bis zum vordersten Wachturm war ein kleiner geschlossener Lastwagen gefahren. Mit ihm sollten Wolter und seine beiden Feldwebel sofort nach Meiningen gebracht werden.

»Es kann nicht mißlingen«, sagte Jassenskij immer wieder. »Sie wissen nichts von der minenlosen Strecke. Wir werden den Kapitalisten ein Wunder vormachen.«

»Eene scheene Sache, Genosse Oberst. Die wär'n gucken …«, sagte der sächsische Hauptmann. Er war stolz, mit dieser Aufgabe betraut worden zu sein.

Ab Mitternacht rollte das Schauspiel wie in einer vorzüglichen Inszenierung ab.

Oberleutnant Wolter kam in das Gebiet, von dem aus er entführt werden sollte. Und siehe da … zur größten Verblüffung der MAD-Männer, die im Wald in Deckung lagen, saßen plötzlich vier scheinbar harmlose Zivilisten neben der Straße, die durch den Wald entlang der Zonengrenze führte. Woher sie plötzlich kamen, hatte keiner gesehen. Wie müde, verirrte Wanderer saßen sie auf einem Baumstamm, aßen hartgekochte Eier und tranken Tee aus einer Thermosflasche.

»Von den Waffen wird nur im Notwehrfalle Gebrauch gemacht!« hatte der wichtigste Befehl geheißen, aber Wolfgang Wolter umkrampfte doch den Griff seiner Pistole in der Tasche, als sich der Wagen den letzten Metern näherte.

Es war eine normale Nacht von durchschnittlicher Helligkeit, schon etwas kühl und herbstlich. Die Wachtürme auf der Zonenseite ragten dunkel in den Himmel, als seien sie unbewohnt. Auch der Turm, unter dem Oberst Jassenskij wartete, lag in völligem Schweigen.

»Da gommt er«, flüsterte der Hauptmann der Volksarmee und zeigte zum Wald. Ein Lichtstreifen kroch über die Straße, schwach vernahm man das Brummen des Motors. Oberst Jassenskij nickte. Er schwitzte trotz der Nachtkühle, und immer wieder mußte er die Okulare seines Nachtglases wischen, weil sie beschlugen.

»Gleich gommt der Gnall!« flüsterte der Hauptmann erregt. Für einen Mann aus Pirna an der Elbe ist so eine Nacht ein unvergeßliches Erlebnis.

Oberst Jassenskij verfluchte den Mann an seiner Seite. Jetzt hätte er allein sein müssen, um diese Minuten zu genießen.

Die vier Männer auf dem Baumstamm legten ihre Thermosflaschen ins Gras, als sie den Wagen von weitem kommen sahen. Dann gingen zwei auf die andere Straßenseite, zwei blieben am Baumstamm stehen, und zwischen ihren Händen hielten sie nun ein dünnes Nylonseil, strafften es und spannten es in Brusthöhe über die Straße.

»Eine Sauerei!« sagte der Hauptmann, der mit drei ›Waldarbeitern‹ zehn Meter seitlich der vier Männer lag. »Die im Wagen sehen das dünne Seil nicht. Die Schrecksekunde, wenn sie dagegenfedern, nutzen die Burschen aus und überwältigen sie. Ein verrückt einfacher Anhalterplan.« Was dann geschah, war keineswegs romantisch oder aufregend. Es hatte nichts von der Dramatik überspitzter Agentenfilme oder der sprudelnden Phantasie von Romanschreibern. Die Wirklichkeit ist trocken und einfach logisch.

Oberleutnant Wolter prallte gegen das straffe Nylonseil. »Scheiße!« brüllte der Feldwebel am Steuer, würgte den Motor ab und riß die Tür auf.

Vier Männer stürzten auf den Wagen, so schnell, wie sich Jagdfalken auf ein Kaninchen fallen lassen. Geübte Boxer waren es, denn die beiden Feldwebel erhielten einen gut gezielten Hieb gegen das Kinn, so wunderbar geschlagen, daß sie lautlos umsanken und die Besinnung verloren.

Das war die einzige Tat, die gelang. Bevor sie Oberleutnant Wolter überwältigen konnten, der den völlig Erstarrten spielte, aber den Finger an den Abzugsbügel seiner Pistole gelegt hatte, wurde es um den Wagen herum lebendig, man hörte Keuchen und Stöhnen, Schläge klatschten dumpf durch die Finsternis, ein Körper fiel gegen den Wagen, über die Straße wälzten sich zwei Leiberknäuel, jemand fluchte russisch und wimmerte dann auf, und plötzlich war die Straße hell erleuchtet, ein Militärlastwagen raste heran und stoppte mit kreischenden Bremsen vor den noch immer miteinander ringenden Menschen.

Drüben am Wachturm ließ Jassenskij sein Nachtglas sinken. Als die Schweinwerfer aufflammten, wußte er, daß alles verloren war. Er senkte den Kopf und lehnte sich gegen die Stützen des Turmes. Der Volksarmee-Hauptmann nagte an der Unterlippe.

»Das ist verraden wor'n«, sagte er heiser. »Nu gucke mal da, wie die loofen.«

Jassenskij ging zurück zu dem dunklen Bauernhaus. Er war jetzt der einsamste Mensch auf der Welt. Ihn interessierte nicht mehr, was jetzt an der Grenze geschah. Seine Niederlage war so vollkommen, daß ihm jeder Atemzug in der Brust schmerzte.

Nicht nur Wolter war für immer verloren, auch der minenfreie Streifen war nun bekannt. Selten war ein Mann glückloser zurückgekehrt.

Und plötzlich blieb er stehen, wie von einer Faust zurückgestoßen. Von drüben dröhnte eine Stimme durch ein Elektromegaphon.

»Leben Sie wohl, Oberst Safon Kusmajewitsch Jassenskij! Dimitri Sotowskij bittet Sie, für ihn das schöne Tbilisi zu grüßen.«

Jassenskij heulte innerlich wie ein angeschossener Wolf.

Diese Schmach, dachte er. Dieser Spott! Ist jemals ein Mensch so tief gedemütigt worden?

Er ging weiter, mit hängenden Schultern, und es war bezeichnend, daß niemand ihm folgte, nicht einmal der sächsische Hauptmann, der »Freundschaft! Freundschaft!« geschrien hatte, als Jassenskij eintraf.

Ratten, alles Ratten, dachte er bitter. Und für sie soll man seinen Kopf hinhalten?

Er spuckte aus, und danach wurde es ihm viel wohler.

Auf der anderen Seite wurden vier Männer in Handschellen in den Militärlastwagen geschoben. Sie hatten verquollene, zerschlagene Gesichter, denn sie hatten sich gewehrt wie eingekreiste Bären.

»Ein guter Fang«, sagte zwei Tage später der General in Bonn und bot Wolfgang jovial eine Zigarette an. »Nur wieder ein Schlag ins Wasser. Haben alle vier den diplomatischen Status. Sind schon auf dem Rückweg nach Moskau. Und die Botschaft reagiert so kalt, als stehe sie auf dem Nordpol.«

Auch Jassenskij flog von Meiningen über Berlin nach Moskau zurück. Genau wie bei Borokin war es: Nie wieder hörte man etwas von ihm. Rußland ist ein weites Land, es hat genug Platz für einen kleinen, glücklosen Menschen.

*

Heiraten ist, entgegen der Ansicht alter Ehemänner, nicht nur ein schöner Brauch, sondern in erster Linie ein Herzensbedürfnis und eine öffentliche Bestätigung, daß man für ein ganzes Leben zusammenbleiben will. Zumindest hat man am Tage der Hochzeit diese Absicht und tut sie mit seinem Ja in bester Überzeugung kund.

Bevor man aber zu dieser öffentlichen Meinungsäußerung kommt, organisieren die Behörden ein kleines Hürdenlaufen – nicht, um den Heiratswilligen menschenfreundlich Zeit zum Nachdenken zu geben, sondern um zu beweisen, daß es keinen Schritt im Leben gibt, der nicht aktenkundig und mit Schwierigkeiten verbunden ist. Zur Zeit Moses schickte Gott als Plage die Heuschrecken, wir Modernen haben statt dessen die Verwaltung. Heuschrecken fliegen weiter, Verwaltungen bleiben und vermehren sich sogar. Wie herrlich waren die Plagen des Altertums!

Mit Wolfgang Wolter und Irene Brandes gab es keinerlei Schwierigkeiten; sie hatten alles, was ein richtiger Mensch braucht, um überhaupt Mensch zu sein: Geburtsurkunde, Taufschein, Impfschein, Heiratszeugnis der Eltern. Ein rundes, glattes, beamtenwohlgefälliges Leben. Aber Dimitri und Bettina … das war ein Kreuzweg, den Karl Wolter mit dem Dickschädel eines Kolka Iwanowitsch zu gehen begann.

»Es geht nicht!« sagte man ihm, als er Dimitri in das Amtszimmer schob und schrie, man solle ihn ansehen und auch anfassen, er sei wirklich ein Mensch, er sei geboren, erwachsen und geschlechtsreif. »Wir können keinem trauen, der keinerlei Papiere hat.«

»Die sind in Rußland!« schrie Wolter. »Er ist geflüchtet!«

»Dann hätte er mit Papieren flüchten sollen.«

»Man hat sie ihm abgenommen!«

Das sind Grenzfälle, die kein subalterner Beamter entscheiden kann. In den Ehegesetzen steht, daß nur heiraten darf, wer großjährig oder für großjährig erklärt ist, wer seine Identität nachweisen kann, kurzum: Wer beweisen kann, daß er wirklich er ist.

Wolter rannte herum, fluchte wie ein Muschik, dessen Kuh eine Euterentzündung hat, rief Bonn an und bat durch Wolfgang um Unterstützung der vorgesetzten Behörden. Aber auch das war keine Lösung des Problems; selbst das Wohlwollen von Generälen und Ministerialräten kann nicht überdecken, daß hier ein Mensch heiraten will, der keine Papiere besitzt.

»Er nennt sich Sotowskij«, sagte ein Beamter bedauernd. »Ebensogut kann er Malinowskij heißen und bereits in Rußland verheiratet sein. Wissen wir es?«

»Er ist Sotowskij! Ich kenne doch meinen Stiefsohn! So wahr ich Kolka Iwanowitsch Kabanow bin.«

»Da haben wir es ja«, sagte der Beamte fast traurig. »Sie sind doch Karl Wolter. Bringen Sie bitte keine Verwirrung in die Dinge. Besorgen Sie die Papiere, und alles ist gut.«

Wolter seufzte tief, bedauerte, nicht in Tiflis zu sein, wo man in solchen Fällen fluchen durfte, und ging. Und dann tat er etwas, von dem ihm jeder abgeraten hätte, wenn er darüber mit anderen gesprochen hätte. Er fuhr nach Bonn und ließ bei der sowjetischen Botschaft in Rolandseck anfragen, ob man ihn empfangen könne.

»Um Himmels willen!« schrie Wolfgang Wolter, als er durch das Telefon von seiner Mutter erfuhr, was Wolter plante. »Sie halten ihn dort fest! Für die Russen ist er doch ein flüchtiger Genosse! Und keine Macht der Welt kann verhindern, daß sie ihn zurück nach Rußland bringen und dort aburteilen!«

Aber es war bereits zu spät, um etwas zu unternehmen.

Karl Wolter war schon im Gebäude der sowjetischen Botschaft, bevor Wolfgang in ohnmächtiger Verzweiflung unten am Rhein stand und hinaufstarrte zu der weißen, pompösen Villa aus der Gründerzeit.

Der Besucher brauchte nicht lange zu warten. Man war begierig, den Mann zu sehen, dem es gelungen war, mit einem Fischerkahn über das Kaspische Meer Rußland zu verlassen. Man behandelte ihn höflich, ja wie einen Freund, bot ihm eine Papirossa an und servierte ihm einen grusinischen Kognak.

Und dann saß er einem Mann gegenüber, der ihn mit schiefgestelltem Kopf betrachtete und auf russisch sagte:

»Sie haben uns schwere Köpfe gemacht, Kolka Iwanowitsch. Und daß Sie jetzt so keck hier in der Botschaft sitzen, hat doch einen Grund, nicht wahr? Bedenken Sie, daß wir uns nur bis zu einer gewissen Grenze provozieren lassen.«

Karl Wolter – oder sollen wir ihn jetzt wieder in dieser Umgebung Kolka Iwanowitsch nennen? – beugte sich etwas vor. Merkwürdig war es ihm ums Herz, als er wieder russisch sprechen konnte und irgendwie, er spürte es fast auf der Zunge, lag um sein Herz der Duft der Gärten von Tiflis.

»Ich will nicht provozieren«, sagte er langsam und mit Bedacht. »Ich bin gekommen, um zu bitten.«

»Und der Oberleutnant, der unten am Rhein vor unserer Auffahrt hin und her geht? Ihr Sohn, Kolka Iwanowitsch?«

Kolka hob die Schultern und lächelte mild. »Ich weiß nicht, daß er unten auf mich wartet. Aber wenn er es tut … er ist ein guter Sohn, Genosse. Ich bin ein glücklicher Mensch, wer hätte das gedacht?«

»Ein Verräter sind Sie!« schrie der Mann hinter dem Schreibtisch, der – wie sich später herausstellte – Pjotr Nikiforowitsch Lepka hieß. »Und ich betrachte es als Frechheit, daß Sie hier vor mir sitzen und lächeln wie eine Kaulquappe! Was wollen Sie?«

»Menschlichkeit«, sagte Kolka still.

»Was bitte?« stotterte Lepka verblüfft.

»Ich habe fast zwanzig Jahre, fast die Hälfte meines bisherigen Lebens, in Rußland gelebt. Ich habe gelernt, nach Doktrinen zu leben, ich bin hinter der roten Fahne hermarschiert und habe zu Lenins Geburtstag und zur Feier der Oktoberrevolution im Sprechchor mitgebrüllt. Frieden! Freiheit! Brüderlichkeit!« Kolka wischte sich über die Augen. Der Alte aus Tiflis war er wieder, und er sehnte sich jetzt nach einem kleinen, hohen Gläschen Wodka, damit seine Stimme klarer klang. »Frieden … das ist ein Wort, über dessen Sinn man sich noch einigen muß. Freiheit … sie habe ich mir genommen. Aber um die Brüderlichkeit, Genosse, da steht's schlecht! Darum sitze ich hier.«

»Was soll's?« sagte Lepka rauh. »Stammeln Sie nicht herum, Kolka Iwanowitsch!«

»Ich bitte um die Papiere für meinen Ziehsohn Dimitri Sergejewitsch Sotowskij.«

»Ach!« Lepka lächelte böse.

»Heiraten will er, mein Söhnchen.«

»Die deutsche Stewardeß Bettina Wolter.«

»Mein leibliches Töchterchen. Empfinden Sie die Freude und das Glück eines Vaters nach, Genosse.«

»Man sollte weinen«, sagte Lepka böse. »Oder man sollte Ihnen den Schädel einschlagen. Hat man je schon solche Frechheit gesehen? Flüchtet dieser Kerl Dimitri aus der Sowjetunion, nutzt den ehrenvollen Auftrag in Beirut aus, um sein Vaterland zu verraten …«

»Er hat nichts verraten!« schrie Kolka und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Nichts hat er verraten! Verhört haben sie ihn, und er hat gesagt: Ich liebe mein Rußland! Ich bin Kommunist! Aber ich bin nach Deutschland gekommen, weil ich ein Mädchen liebe.«

»Ist das Charakter?« schrie Lepka zurück. »Die Liebe zum Vaterland hat stärker zu sein als die Liebe zu einem Weiberrock! Ein schwacher, haltloser Mensch ist dein Dimitri! Und da kommt er noch hierher und will um Papiere betteln! Sage ich es nicht: Eine Provokation ist's!«

»Brüderlichkeit!« brüllte Kolka. »Ohne Papiere kann er nicht heiraten!«

»Was braucht er heiraten? Wozu Papiere? Um sich ins Bett zu legen und Kinder zu machen, braucht man keine Fragebogen!«

»O Himmel, welch ein Mensch sind Sie!« stöhnte Kolka. »Welche Gemeinheit! Kein Herz hat er!«

Lepka stand auf. So plötzlich sprang er auf, daß der Stuhl umkippte. Im Nebenzimmer erhob sich der Sekretär. Man konnte nie wissen, was gleich passierte.

»Um es klar zu sagen, Kolka Iwanowitsch: Dimitri Sergejewitsch bekommt weder einen Paß noch ein einziges Fetzchen Papier von uns. Wenn er heiraten will … bitte, er soll zurück nach Tbilisi kommen. Dort wird man ihm die Genehmigung erteilen, ausnahmsweise eine Deutsche zu heiraten. Das ist alles, was ich zu sagen habe.« Lepka grinste breit. »Einer Einreise steht nichts im Wege.«

»Aber nach der Einreise zehn Jahre Zwangsarbeit in Karaganda«, sagte Kolka dumpf.

»Man wird das Verhalten des Genossen Sotowskij natürlich untersuchen müssen. Schließlich sind wir ein Rechtsstaat.«

Kolka Iwanowitsch erhob sich gleichfalls. Er sah ein, hier war mit Bitten nichts zu erreichen. Gedacht hatte er es sich von Anfang an, und er hatte sich selbst gesagt, daß es Dummheit sei, in die Botschaft zu gehen – aber was unternimmt ein Vater nicht alles, wenn es um das Glück seines Kindes geht?

»Es ist ein trauriger Tag«, sagte er langsam und sah an Lepka vorbei aus dem Fenster und auf den spiegelnden Rhein. »Dimitri wird aufhören müssen, ein Russe zu sein.«

»Das hat er bereits.« Lepka tat es wohl, solches zu sagen. Man sah es ihm an. Nichts ist befriedigender als die billige Rache eines kleinen Mannes. »Wir haben daran gedacht, daß Sotowskij Schwierigkeiten machen könnte. Das Innenministerium hat ihn ausgebürgert. Wir verzichten auf Menschen, die keine Ehre haben.«

Kolka atmete tief auf. »Dimitri ist nun Staatenloser?« fragte er heiser.

»Ja! Er ist vogelfrei! Von uns aus kann er sich wie eine Schwalbe auf einen Telefondraht setzen und sich dort paaren. Sotowskij interessiert uns nicht mehr!«

»Aber er will doch Russe bleiben!« schrie Kolka. »Er liebt seine Heimat! Sie können einem Russen alles nehmen, das wissen Sie doch … nur nicht das Bewußtsein, noch Russe zu sein!«

»Wenn er zurückkommt, wird man mit ihm darüber sprechen.«

Kolka Iwanowitsch hob die Schultern. Das Gespräch war beendet, er wußte es. Er kannte so etwas aus Tiflis, er hatte es selbst so gemacht, tausendmal. Man senkte die Stimme beim letzten Wort, und das hieß Punkt. Schluß. Keine Diskussionen mehr, Brüder. Macht den Mund zu, Genossen, und geht.

Und Kolka ging. Ungehindert ließ man ihn aus der Botschaft gehen, ohne Belästigung stieg er den Weg hinunter zur Rheinstraße. Der Posten in seinem Wachhäuschen am Wege ließ ihn passieren, als sei er eine unsichtbare Wanze. Und während er so hinunterging zum Rhein, wo noch immer Wolfgang hin und her lief und sich sagte, daß er noch eine Stunde warten würde, ehe er Alarm schlug, kam er sich vor wie ein schmählich Verjagter; wie ein Schuft, den man mit Fußtritten weggetrieben hatte, und nicht wie ein Mensch, der mit seinem Leben um seine Freiheit gekämpft und sie endlich erreicht hatte.

»Komm, Vater«, sagte Wolfgang Wolter und legte den Arm um die Schulter des Alten, als Kolka auf die Rheinstraße trat und sich umschaute, als blicke er geblendet in die grelle Sonne. »Komm. Wir warten alle auf dich. Mein Gott, haben wir Angst gehabt.«

»Angst? Um mich? Warum?«

»Du weißt nicht, in welcher Gefahr du warst.«

»Dort oben?« Kolka sah zurück auf den Weg und die hohen Büsche und Bäume, hinter denen sich das weiße Haus undeutlich abhob. »Ihr verkennt sie alle. Sie sind nicht gefährlich. Sie sind nur Fachleute im Zerreißen von Seelen.«

In sich versunken, mit hängendem Kopf, saß Karl Wolter hinten im Wagen, als Wolfgang zurück nach Bonn fuhr. Alle waren in der kleinen Wohnung versammelt, als sie eintraten, und Agnes lief mit einem Aufschrei der Erleichterung auf ihren Mann zu und umarmte ihn.

Über ihren Kopf hinweg sah Wolter mit großen Augen Dimitri an. Er erwiderte seinen Blick, und Dimitri wußte, was geschehen war.

»Nun bist du ganz hier, Söhnchen«, sagte Wolter auf russisch. »Die Welt hört wenige Werst östlich von hier für uns auf.«

Dimitri nickte. Um seine schönen dunklen Augen legte sich ein Schleier. »Ich kann nie mehr zurück?« fragte er leise.

»Nie mehr, Dimitri.«

»Sie haben mich verstoßen?«

»Ein Staatenloser bist du. Man wird dir eine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland geben, du darfst hier arbeiten, du darfst hier Steuern zahlen, sogar heiraten darfst du und Kinder bekommen – aber du wirst nie mehr ein Vaterland haben.«

»Ich habe es im Herzen, Väterchen«, sagte Dimitri heiser. »Im Herzen stirbt Rußland nie.«

Karl Wolter nickte. Er empfand es auch so. Ein merkwürdiges Gefühl war es, nicht zu erklären und nicht zu verstehen für den, der nicht sein Leben geführt hatte: Er stand auf dem Boden seiner Heimat, und er träumte von den Weinhängen in Tiflis. Er war ein doppelter Mensch, und er konnte sich mit sich selbst unterhalten: Hör mal, Karl Wolter, sagte dann Kolka Iwanowitsch. Und Karl Wolter antwortete: Ich höre, Kolka Iwanowitsch.

Wer von uns kann so etwas?

Und Wolter begriff plötzlich, daß dies ein Leben war, das man wunderbar nennen konnte.

*

Kurz vor Weihnachten war die große Hochzeit im Hause Wolter. Dimitri und Bettina und Wolfgang und Irene unterschrieben vor dem Standesbeamten die Heiratsurkunde und knieten nebeneinander in der Kirche. Für Dimitri war es ein besonders anstrengender Tag, denn er heiratete gleich dreimal: Nachdem sie die Kirche verlassen und in einer Hochzeitskutsche mit Schimmeln davor nach Hause gefahren waren, wartete im Hause Wolter ein emigrierter Pope, den die Vereinigung russischer Emigranten in Frankfurt zu dieser Feierlichkeit nach Göttingen geschickt hatte.

Und wieder knieten sie auf zwei Kissen nieder, und der Küchentisch war zum Altar geworden, der Pope sang mit seiner tiefen Baßstimme und Wolfgang und Irene hielten nach dem alten orthodoxen Ritus zwei kleine goldene Kronen über die gesenkten Köpfe von Dimitri und Bettina, während der Pope ihre Hände ineinander legte.

Dimitri schloß die Augen, und auch Wolter, der gute alte Kolka, träumte.

Die alte Klosterkirche bei Tiflis. Die Ikonostase mit den uralten Ikonen und Heiligenfiguren, fast farblos an den Füßen von den Millionen Küssen der Gläubigen in fünf Jahrhunderten. Im Hintergrund singt der Chor, eine Riesenorgel aus menschlichen Stimmen. Die Kerzen flackern, nach Wachs riecht es und nach Erde und Moos; ein Geruch, der aus den Kleidern der Bauern und Bäuerinnen strömt, ein Geruch von der Ewigkeit russischer Erde.

Und der Pope segnet das Brot, und jeder weiß, daß Gott die Sonne und den Regen, den Wind und die Wolken schickt, und es blühen, reifen und Frucht tragen läßt, unabhängig von Fünfjahresplänen und Sollbestimmungen. Der Mensch vergeht, aber die Erde Rußlands wird bleiben, ein fruchtbarer Schoß bis zur Unendlichkeit.

Gott segne es, das Mütterchen Rußland.

Es war eine feierliche Trauung auf den beiden Sofakissen, vor dem mit einer Brokatdecke und mit drei Ikonen geschmückten Küchentisch.

Viel hatte sich in diesen Wochen geändert. Dimitri hatte eine Stelle bei einer deutschen Erdölgesellschaft in Niedersachsen bekommen. Bettina hatte bei der DBOA gekündigt, und es ist ihr nicht schwergefallen, was sie sehr verwunderte, denn nie hatte sie geglaubt, daß sie im Leben etwas anderes sein könnte als Stewardeß und in der ganzen Welt zu Hause. Nun hatte sie Dimitri, und ihre Welt war zusammengeschrumpft zu einer kleinen Dreizimmerwohnung, aber sie war so glücklich, als habe sie das Paradies gefunden.

»Nun ist Ruhe!« sagte Karl Wolter, als die beiden Paare am nächsten Tag das Haus verlassen hatten und auf die Hochzeitsreise gegangen waren. Wolfgang und Irene nach Rom, Dimitri und Bettina in die Dolomiten, wo sie in einem ganz kleinen Bergdorf wohnten, nahe den Zinnen, die aussehen wie ein riesiger Kamm, der den Himmel kämmt und die Wolken frisiert. »Nun ist endlich Ruhe, Agnes …«

»Wir haben sie verdient, Karl.« Agnes Wolter sah über den Rand der Brille auf ihren Mann. Sie stopfte an einer Küchenschürze, und er saß unter der Stehlampe und las die Zeitung. Das sind wir nun, dachte sie. Zwei alte Menschen, die ihre beste Zeit mit Warten vertan haben. Niemand gibt uns die Jahre wieder … nun stopfe ich, und er liest die Zeitung, und in der Ecke brummelt der Ölofen. Gleich wird er aufstehen, in die Küche gehen und sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank holen. Dann kommen die Nachrichten im Fernsehen und dann ein Bericht über die alpinen Skimeisterschaften, die er sich ansehen wird, obgleich er gar keine Ahnung vom Skilaufen hat. Und so werden die Tage und die Abende hingehen, und man wird weiter immer älter und ist doch glücklich, daß man beisammensitzen kann, an einem Tisch, beim Bier, beim Stopfen, beim Fernsehen. Ein gemeinsames Leben, das so lange Zeit brauchte, bis es gemeinsam wurde.

»Bist du nun glücklich?« fragte sie leise. Wolter hob den Kopf und lächelte.

»Sehr, Agnes. Du nicht auch?«

»Ja, Karl. Soll ich dir Bier holen?«

»Das wäre schön, Agnes.«

»Ich stell auch den Apparat an. Ist gleich acht Uhr.«

Karl Wolter nickte und streckte die Beine aus. Kolka und Karl verschmolzen miteinander … so hatte er auch immer in Tiflis gesessen, nach dem Essen, beim Klang seiner alten Schallplatten, und Dimitri hatte ihm zweihundert Gramm Wodka geholt, und das Pfeifchen mit Machorka dampfte. Ein schöner Abend. Wie rund und glatt kann doch die Welt sein!

»Wann kommen die Kinder wieder?« fragte Agnes, als sie die Flasche Bier entkorkte.

»In genau fünf Tagen.«

»Ich freue mich auf sie, Karl.«

»Ich auch, Agnes.« Er legte den Arm um ihre Hüfte, und tatsächlich, sie wurde sogar noch rot. »Es ist schön, alt zu sein«, sagte er tief aufatmend. »Ich hätte es nie gedacht.«

»Die Welt sieht ganz anders aus«, sagte Agnes leise.

»Wie ein reifer Aprikosenbaum.«

»Oder wie ein reich gedeckter Tisch.«

»Das ist es, Agnes. Das ist es! Ein Tisch voller Köstlichkeiten. Man sieht, wofür man gelebt hat.«

*

Es war ein sanfter Winterabend. Draußen schneite es.

Am Fenster des Bauernhauses gegenüber den Zinnen der Dolomiten saß Dimitri und starrte in die weißschimmernde Dunkelheit. Bettina schlief fest in dem breiten, geschnitzten Bett, und er hatte sich leise weggeschlichen und an das Fenster gesetzt. Fast jede Nacht saß er dort, wenn Bettina schlief, und sah auf die Berge, auf den Schnee, in den Himmel, auf die vorbeitreibenden Wolken, auf die Bergwälder und die Lichtschimmer der anderen Häuser.

Ein paarmal schrak er zusammen. Bettina wälzte sich im Bett und murmelte im Schlaf … da lief er zurück und beugte sich über sie.

Sie lächelte im Schlaf, und auf ihren Lippen lag es wie Tau auf einem Rosenblatt.

Bettina Sotowskija träumt von einem Kind, dachte er dann glücklich.

O Gott, wie glücklich ich bin.

Und dann ging er doch wieder zurück zum Fenster, setzte sich, und in der hohlen Hand hielt er eine kleine Taschenlampe und beschien mit ihr eine billige grellbunte Postkarte, die ihm der Pope beim Abschied in die Hand gedrückt hatte wie ein Heiligenbildchen.

Tiflis. Die weiße Stadt zwischen den Berghängen. Rosen leuchteten, und der Wein kletterte die Felsen hinauf, und es war, als röche man die Blüten und Früchte, wie es immer war, wenn der Wind von den Bergen herabwehte.

Grusinien und seine süßen Trauben. Im Morgennebel tappt der Bär durch die Felsen des Kaukasus. Dann bricht die Sonne über die Gipfel der Berge, und es ist, als schütte Gott flüssiges Gold über dieses Land, von dem die Dichter sagen, daß sich Gott hier in seine eigene Schöpfung verliebt habe. Dann leuchtet die Stadt auf wie ein riesiger geschliffener Diamant, und die Wärme des Himmels taucht ein in das Herz der Trauben.

Wer kann das vergessen?

Und so saß Dimitri am Fenster, es schneite draußen, und der dünne Strahl der Taschenlampe beschien das blühende Tiflis, und das Heimweh ergriff ihn und schüttelte ihn und ließ seine Zähne klappern wie im Frost.

Doch als der Morgen kam, lag er glücklich neben Bettina und zog sie an sich.

»Wanduscha«, sagte er dann. »Ich könnte nie mehr anders leben!«

Seht, so schön, weit und herrlich kann eine liebende Seele sein. Mann sollte Dimitri um sie beneiden.