Kapitel 1

Meine Leibwächterin mähte gerade in ihrem rosa Bikini den Rasen, als der Mann vom Himmel fiel. Ich war damit beschäftigt, die Rückenlehne der aufklappbaren Sonnenliege einzustellen, die ich mit einiger Mühe auf der Terrasse aufgebaut hatte.

Ich hatte eine gewisse Vorwarnung erhalten, hatte ich das Summen des Flugzeugmotors doch schon ein paar Sekunden im Ohr gehabt, während ich mich abmühte, die verflixte Lehne irgendwo zwischen platt und streng aufrecht festzustellen. Aber Angel hatte sich einen von diesen winzigen Kassettenrekordern um den Bauch gehängt und trug Kopfhörer. Der Plastikgürtel sah in Kombination mit dem Bikini recht seltsam aus. Dazu brummte noch der Rasenmäher. Sie hatte vom ungewöhnlich dauerhaften Lärm in der Luft gar nichts mitbekommen können.

Leicht verärgert bemerkte ich, dass der Pilot ziemlich dicht über unserem Grundstück kreiste. Wahrscheinlich hatte er Angel entdeckt und wollte sein Glück jetzt auskosten. Derweil schmolz das Eis in meinem Kaffee, mein Buch lag ungelesen auf dem kleinen Gartentisch, und ich rang immer noch mit dem dämlichen Stuhl. Endlich war es mir gelungen, die Rückenlehne in einer einigermaßen lesefreundlichen Position einrasten zu lassen. Ich sah gerade noch rechtzeitig auf, um etwas Großes aus dem Flugzeug fallen zu sehen. Etwas, das ganz grässlich trudelte, Hals über Kopf.

Mein Bauchgefühl erkannte das drohende Unheil Sekunden vor dem zivilisierteren Teil meines Wesens, der lediglich ein verblüfftes ‚Hä? zustande brachte. Gott sei Dank gehorchte mein Körper dem Bauchgefühl. Schnell wie der Blitz schoss ich von der Terrasse und einmal quer durch den Garten, um Angel in ihrer vollen Größe von ein Meter achtzig vom Rasenmäher weg und in den Schutz einer Eiche zu schubsen. Wenige Sekunden später hörten wir einen widerlich dumpfen Aufprall.

In der darauffolgenden Stille summte das Flugzeug davon.

„Was zur Hölle war das denn?“ Angel waren die Kopfhörer vom Kopf gerutscht, den Aufprall hatte sie also hören können. Ich lag halb auf ihr, was ausgesehen haben muss, als versuche hier ein Chihuahua, mit einer dänischen Dogge zu spielen. Vorsichtig hob ich den Kopf, um mich umzuschauen, obwohl ich mich insgeheim vor dem Anblick fürchtete.

Glücklicherweise war der Mann mit dem Gesicht nach unten gelandet.

Trotzdem hätte ich mich um ein Haar auf den frisch gemähten Rasen übergeben. Bei Angel konnte von ‚fast leider keine Rede sein.

„Ich weiß wirklich nicht, warum du mich unbedingt umwerfen musstest“, sagte sie, als ihr Magen leer war. Ihre Stimme klang ganz anders als sonst, als sei ihr mit einem Schlag der wunderbar träge Südfloridaakzent vergangen. „Der Typ hätte mich doch um mindestens zwanzig Zentimeter verfehlt.“

Langsam und vorsichtig rappelten wir uns wieder auf.

„Ich wollte keinen neuen Rasenmäher kaufen müssen“, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Irgendwo in einem Hinterstübchen meines Hirns war jemand froh darüber, dass unser Rasenmäher zu denen gehörte, die stehenblieben, wenn man den Griff losließ.

Angel lag richtig mit ihrer Einschätzung. Wenn man nach Kleidung und Frisur des Gelandeten gehen durfte, handelte es sich hier um einen Mann. Um einen Mann, der es für richtig hielt, ein lila-weiß kariertes Hemd mit einer braunen Hose zu kombinieren. Inzwischen konnte ihm das allerdings egal sein, denn die Modepolizei würde ihn jetzt sicher nicht mehr zur Rede stellen. Auf den ersten Blick war auf dem Hemd nur wenig Blut zu entdecken. Der Mann war so gelandet, dass er alle Viere von sich streckte, ein Bein war auf sehr unlebendige Weise angewinkelt. Sein Hals wirkte ähnlich verdreht. Hastig wandte ich den Blick ab, um tief und ruhig durchzuatmen.

„Der liegt bestimmt fünf Zentimeter tief im Boden“, bemerkte Angel mit immer noch leicht zittriger Stimme.

Sie schien sich heute nur noch mit Messwerten befassen zu wollen.

Völlig gelähmt von der Plötzlichkeit und Größe des Desasters standen wir unter der Eiche und starrten den Toten an, der dort vor uns in der Sonne lag. Keine von uns mochte näher herangehen. Da war dieser Fleck, der sich durch das Gras hindurch in der Umgebung des Kopfes mehr und mehr ausbreitete.

„Natürlich sind die Jungs ausgerechnet heute nicht hier“, verkündete ich missbilligend, ohne dass mich jemand darum gebeten hätte. „Die sind doch nie da, wenn man sie braucht!“ Angel musterte mich mit leicht geöffnetem Mund, ehe sie in schallendes Gelächter ausbrach.

Mir war nicht klar, was ich so Lustiges von mir gegeben haben mochte. „Wirklich, Angel!“, tadelte ich meine Freundin in bester Bibliothekarinnenmanier. „Wir müssen aufhören, hier rumzustehen und zu quatschen. Wir müssen etwas unternehmen.“

„Womit du absolut recht hast!“ Angel nickte stürmisch. „Ich wäre für Tulpenzwiebeln und etwas Gartenerde als Grabschmuck. Die Blumen dürften nächstes Jahr prächtig gedeihen.“

„Für Tulpenzwiebeln ist es viel zu spät“, widersprach ich. Dann aber riss ich mich zusammen, mit dem deutlichen Gefühl, dass mir der Tag gründlich außer Kontrolle geraten war. „Wir müssen den Sheriff anrufen.“

„Ganz wie du meinst.“ Angel schob schmollend die Unterlippe vor wie eine Dreijährige, der man einen köstlichen Spaß verdorben hat. Auf dem ganzen Weg zurück zum Haus gackerte sie leise vor sich hin.

In den zwei Jahren, die Angel Youngblood jetzt schon meine Leibwächterin war, hatte ich die Frau noch nie so ausgiebig lachen hören.

Trenner.jpg

Eine Stunde später saß Padgett Lanier bei einem Glas Eiskaffee auf meiner Veranda, und Angel benahm sich wieder dem Ernst der Lage entsprechend. Lanier war der vielleicht mächtigste Mann in unserem Bezirk, hatte er doch seit mehr als zwanzig Jahren immer wieder ein anderes wichtiges Amt innegehabt. Wenn irgendjemand ganz genau wusste, wo in Lawrenceton die Leichen verbuddelt waren, dann er. Eher untersetzt, mit schütterem, blondem Haar und praktisch unsichtbaren Wimpern, war Lanier durchaus kein attraktiver Mann, aber er hatte jede Menge Ausstrahlung.

Als attraktivster Mann in unserer Runde würde auf jeden Fall Martin Bartell gelten, der Mann, mit dem ich seit zwei Jahren verheiratet war. Martin war siebenundvierzig Jahre alt, fünfzehn Jahre älter als ich, Vietnamveteran und Vizepräsident von Pan-Am Agras Produktionsabteilung, dem wichtigsten Arbeitgeber in Lawrenceton. Da er nicht nur Gewichte stemmte, sondern sich für jede Sportart zu begeistern wusste, bei der Mann gegen Mann antrat, war er beneidenswert fit und gut gebaut. Dazu kam noch die umwerfende Kombination von weißem Haar, schwarzen Brauen und hellbraunen Augen.

Angels Ehemann Shelby, der an der Küchentür lehnte, war dunkelhäutig und fing gerade an, zu ergrauen. Er trug ein Fu-Manchu-Bärtchen und hatte Pockennarben auf den Wangen. Shelby war ein ruhiger, höflicher Mann und wie seine Frau Meister in allerlei Kampfsportarten. Martin und Shelby waren schon seit langer Zeit eng befreundet.

Angel und ich waren im Moment die einzigen Frauen in Sichtweite. Außer den bereits erwähnten Männern waren noch drei Hilfssheriffs und der Gerichtsmediziner anwesend. Weiterhin noch zwei Sanitäter, die darauf warteten, den Verstorbenen in ihrem Krankenwagen fortzuschaffen – wohin man solche Verblichenen denn zu schaffen pflegt, wenn man sie abholt.

Lanier musterte mich gerade ausführlichst von Kopf bis Fuß, wobei mir klar wurde, dass ich nur Shorts, ein schulterfreies Top und jede Menge Schweiß trug. Meine langen, zum zotteligen Eigenleben tendierenden Haare wurden nur ungenügend von einem dünnen Band zusammengehalten. „Sie haben wohl gerade die Sonne genossen, Miss Roe“, kommentierte der Sheriff großzügig. „Die meint es dieses Frühjahr aber auch wirklich sehr gut mit uns, nicht wahr?“

Roe? So nannten mich meine Freunde, aber bislang hatte ich Lanier nicht dazugezählt. Wahrscheinlich versuchte der Mann so, ein Problem zu umschiffen, mit dem sich seit meiner Heirat öfter einmal jemand konfrontiert sah. Ich hatte nämlich meinen Nachnamen beibehalten, als ich mich mit Martin zusammentat. Eine Entscheidung, die ich noch immer nicht richtig verstand, war doch mein Name stets der Fluch meines Lebens gewesen: Aurora Teagarden. Wer sich so vorstellte, erntete im günstigsten Fall leises Kichern, oft aber auch schallendes Gelächter.

Wie dem auch sei, Padgett wusste nicht, ob er mich Miss Teagarden, Mrs. Teagarden, Mrs. Bartell oder Mrs. Bartell-Teagarden nennen sollte. ‚Miss Roe war sein Kompromiss.

Mein Mann beobachtete die Aktivitäten rings um seinen Rasenmäher völlig entspannt. Man hätte meinen können, er käme jeden Tag nach Hause und fände einen toten Mann in seine Rasenfläche eingegraben vor. Natürlich versuchte Martin nur, den Entspannten zu geben. Seinem Blick entging keine einzige Bewegung all der versammelten Gesetzeshüter, und er war überaus eifrig mit Nachdenken beschäftigt. Das erkannte ich an seinem Mund, der eine vollkommen gerade Linie bildete, und an seinen Fingern, die auf den über der Brust verschränkten Armen herum trommelten. Eindeutig Martins Denkerpose. Gerade schlenderte Shelby, der ein wenig größer war als Martin, zu ihm hinüber. Seine Hände hatte er lässig in den Jeanstaschen, damit nur niemand übersah, wie gelassen er die ganze Sache nahm. Beide Männer wandten sich einander zu, so synchron, wie man es nur schafft, wenn man sich schon Ewigkeiten kennt. Mit einem einzigen Blick tauschten sie sich über den Toten aus, der aus dem Himmel gefallenen war.

Lanier wartete geduldig darauf, dass ich etwas sagte.

„Wir wechseln uns beim Rasenmähen ab“, sagte ich. „Das ist immer schweißtreibende Arbeit. Ich hatte vorne gemäht, also übernahm Angel den hinteren Teil des Gartens.“ Wenn ich die Hälfte des Rasens mähte, wertete ich das als meine sportliche Übung für den Tag. Dann brauchte ich mir nicht mehr dieses bescheuerte Video in den Rekorder zu schieben und vor meinem Fernseher rumzuhampeln. Wir lebten eine Meile vor der Stadt inmitten von Feldern, hatten einen sehr großen Vorgarten und einen ebenso großen Garten hinter dem Haus.

Martin hatte zugehört und schüttelte automatisch den Kopf, wie er es immer tat, wenn mein Missfallen an den meisten körperlichen Anstrengungen deutlich wurde. Aber sein Kopfschütteln wirkte leicht geistesabwesend, seine Aufmerksamkeit galt nach wie vor dem Mann, dessen Leiche sich in unseren Garten gebohrt hatte.

„Glauben Sie, man erkennt ihn, wenn man ihn umdreht?“, erkundigte er sich etwas abrupt beim Sheriff.

„Die Frage kann ich Ihnen jetzt noch nicht beantworten“, meinte Lanier. „Das ist unser erster Flugzeugabwurf. Ich frage mich gerade etwas ganz anderes. Halten Sie es für möglich, dass die Leiche absichtlich hier abgeladen wurde?“

Mit dieser Frage hatte er unsere volle Aufmerksamkeit, was er auch wusste. Ich spürte einen Anflug von Übelkeit.

„Darf ich Ihnen noch ein bisschen Eiskaffee nachschenken?“, erkundigte ich mich hastig.

Lanier warf einen Blick in sein Glas. „Nein, danke, Madam. Kreiste das Flugzeug schon über Ihrem Grundstück, ehe der Mann herausfiel?“

Ich nickte. Laniers Blick glitt weiter zu Angel, wo er hängenblieb. Kein Wunder, schließlich bot sie einen höchst erfreulichen Anblick.

„Mrs. Youngblood? Sie sagten, Sie hätten das Flugzeug gar nicht gesehen?“

„Nein, Sheriff. Der Rasenmäher lief, und ich habe Musik gehört.“ Angel erntete jede Menge klammheimlicher Blicke von den Hilfssheriffs und Sanitätern, obwohl sie sich ein weißes T-Shirt über den Bikini gezogen hatte. Dabei war meine Leibwächterin streng genommen noch nicht einmal richtig hübsch, aber sie war groß, sehr muskulös und schlank, und ihre Haut so golden wie das Fell einer Gepardin. Ihre Beine waren mindestens die sprichwörtliche Meile lang.

„Miss Roe? Sie haben den Mann fallen sehen?“

„Ja. Aber als ich hochblickte, befand er sich bereits in der Luft. Wie er aus dem Flugzeug fiel, habe ich nicht mitbekommen.“

„Glauben Sie, dass der Mann bereits tot war, als er durch die Luft flog?“

Darüber hatte ich bisher noch nicht nachgedacht. „Ja“, sagte ich langsam. „Ja. Ich glaube, er war tot. Er war doch ...“ Ich musste tief Luft holen. „Er war ganz schlaff.“

Martin stellte sich hinter mich, um mir die Hände auf die Schultern zu legen.

Padgett Lanier ließ die Eiswürfel in seinem Glas klingeln. „Ob Sie wohl alle einen Blick auf den Verstorbenen werfen würden, wenn wir ihn umgedreht haben?“ Ehe wir antworten konnten, hob er beschwichtigend die Hand. „Ich weiß, ich weiß, das ist eine große Bitte, und ich spreche sie auch nur ungern aus. Aber wir müssen wirklich wissen, ob einer von Ihnen diesen Mann schon einmal gesehen hat.“

Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas so ungern tun wollen. Die Hände meines Mannes drückten beruhigend meine Schultern.

„Sheriff?“, rief der größere der beiden Hilfssheriffs, während er sich ein zusätzliches Paar Plastikhandschuhe überstreifte. „Wir wären dann soweit. Wenn Sie bitte mitkommen wollen?“ Lanier stemmte sich aus seinem Stuhl und ging zu den anderen.

Nein, diesen Anblick mochte ich mir nicht zumuten. Ich verbarg mein Gesicht in den Händen, konnte aber nicht verhindern, dass ich ein paar Geräusche hörte. Die wollte ich aber ganz sicher nicht auch noch mit den entsprechenden Bildern kombinieren.

„Meine Damen? Sie brauchen sich die Mühe nicht zu machen“, rief Lanier uns zu. Seine Stimme klang leicht belegt. Ob ich ihm wohl sagen sollte, wo unser Badezimmer war? „Sie brauchen sich die Mühe nicht zu machen“, wiederholte er noch einmal leise. Aber da außer ihm niemand im Garten etwas von sich gab, konnte man ihn auch auf der Terrasse noch gut verstehen. „Ich glaube, ich kenne den Mann selbst.“

Verwundert ließ ich die Hände sinken, hob sie aber nach einem kurzen Blick auf das, was da von unserem Rasen getragen wurde, rasch wieder.

„Wer ist es denn?“, rief Martin viel zu dicht an meinem Ohr.

„Detective Sergeant Jack Burns von der Polizeiverwaltung der Stadt Lawrenceton.“

Kein Zweifel: Padgett Lanier hatte ein Gespür für das Zeremonielle.

Noch ein paar grauenhafte Minuten, dann steckte die Hülle aus zerbrochenen Knochen und geplatzten Organen, die einmal Jack Burns gewesen war, in einem Sack und konnte in den Krankenwagen geschoben werden. Lanier, der trotz seiner offensichtlichen Erschütterung wieder sein offizielles Gesicht hatte aufsetzen können, kam zurück zu uns auf die Terrasse. Ich fühlte mich sehr zittrig, und Angels Gesicht hatte einen interessanten Grünton angenommen. Ich befürchtete schon, sie würde sich erneut übergeben müssen. Martin und Shelby wirkten womöglich noch finsterer als zuvor.

„Wann haben Sie Jack Burns zum letzten Mal gesehen?“, wollte Lanier von mir wissen. „Wenn ich mich recht entsinne, sind Sie und er nie gut miteinander ausgekommen. Oder liege ich da falsch?“

„Ich habe mit Jack Burns nie Streit gehabt“, erklärte ich fest. Das entsprach der Wahrheit. Jacks Burns Abneigung mir gegenüber hatte ihren Ursprung nicht in einem bestimmten Vorfall, sondern entsprang einem tiefen Misstrauen, das sich im Laufe der Zeit bei ihm aufgebaut hatte. „Ich habe ihn seit ... ich habe ihn bestimmt seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen.“ Was mir sehr recht gewesen war, hatten Jacks Eifer und seine Besessenheit von seiner ganz eigenen Interpretation von Gerechtigkeit mir doch stets Angst eingeflößt. Es ist schlecht, einen Polizisten zum Feind zu haben.

„Was ist mit Ihnen, Mrs. Youngblood?”, wandte sich der Sheriff an Angel.

„Wir sind vor ein paar Wochen mal aneinandergeraten“, erwiderte Angel ruhig, wobei ihre blasse Gesichtsfarbe allerdings ihre Anspannung verriet. Ich versuchte, mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen.

„Wobei ging es bei diesem Zusammenstoß?“, hakte Lanier nach.

„Um einen Strafzettel, den er mir verpasst hatte, als ich in der Stadt war. Es ging um irgendeine hirnrissige Verordnung, die er sich irgendwo aus dem Gesetzbuch rausgesucht hatte.“

„Warum hätte er das tun sollen?“

Angel stemmte die Hände in die Hüften, ihre Armmuskeln spannten sich an. „Was weiß denn ich? Ich kam aus der Bank, als er mir gerade ein Knöllchen unter den Scheibenwischer schob. Es kam zu einer kleinen Unterhaltung, und vielleicht habe ich dabei auch einen schärferen Ton angeschlagen.“

„War jemand dabei, als diese kleine Unterhaltung stattfand?“

„Klar doch.“ Angel nickte müde. „Es war an einem Freitagmorgen in der Innenstadt. Ich erinnere mich an Roes Kollegen aus der Bücherei, Perry Allison, und da war auch noch diese hübsche rundliche Frau, die bei Marcus Hatfield arbeitet, die mit den dunklen Haaren. Sie hat eine kleine Tochter.“

„Carey Osland“, beschied Lanier nach kurzem Nachdenken.

„Wenn Sie das sagen.“ Der Name der Frau schien Angel relativ gleichgültig zu sein.

Martin sah mich mit hochgezogenen Brauen an. Hatte ich von diesem Vorfall gewusst? Ich schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Was glauben Sie, Mrs. Youngblood? Warum hat Ihnen ein Detective Sergeant einen Strafzettel wegen eines Verstoßes gegen die Straßenverkehrsordnung ausgestellt?“

„Weil er dachte, mein Auto wäre das von Roe“, erklärte Angel unverblümt. „Wir fahren beide einen blauen Chevette. Meiner ist genauso alt wie der von Roe, ich habe ihn gebraucht gekauft. Die Farbe stimmt nicht haargenau überein, aber im Grunde fahren Roe und ich das gleiche Auto.“

„Daraufhin hatten Sie eine Unterhaltung mit Jack Burns?“

„Ich weiß nicht, ob man das als Unterhaltung bezeichnen kann“, meinte Angel trocken. „Es schien ihn ein wenig aus der Fassung zu bringen, dass es mein Auto war. Aber dann fand er wohl, es liefe auf dasselbe hinaus, und ein Knöllchen für mich wäre genauso gut wie ein Knöllchen für Roe, weil ich doch hier draußen über Roes Garage wohne. Er hatte wohl auch recht, ich stand bestimmt fünfzehn Zentimeter von der Bordsteinkante entfernt und nicht bloß zehn, wie es erlaubt ist. Ich war eben nicht besonders gut gelaunt.“

Für Angel, die nicht gerade der schwatzhafte Typ ist, war das eben ein halber Vortrag gewesen. Aber Padgett Lanier wollte noch mehr.

„Dann haben Sie sich also mit ihm gestritten?“

Angel seufzte. „Erst habe ich ihn ganz höflich gefragt, warum er mir denn einen Strafzettel ausstellt. Woraufhin er sagte, ich würde zu weit vom Bordstein entfernt parken. Dann hat er gefragt, wie es Roe geht und ob sie in letzter Zeit mal wieder irgendwelche Leichen gefunden hätte. Dann habe ich gesagt, das mit dem Knöllchen könne ja bloß Bockmist sein, und er hat gesagt, es gebe bestimmt auch noch eine Vorschrift über die Verwendung von so unschönen Wörtern in der Öffentlichkeit. Er hat gefragt, ob ich dächte, ich könnte meine Zellentür mit Karatetritten aufbekommen.“

Lanier starrte sie fasziniert an. „Was haben Sie darauf geantwortet?“

„Nichts.“

„Sie haben nicht geantwortet?“

„Wozu denn? Für ihn war das Knöllchen doch längst beschlossene Sache.“

Lanier schien verblüfft und beäugte Angel höchst interessiert noch ein paar Sekunden lang. Dann wandte er sich an Martin wandte und fragte auch ihn, ob er Jack Burns in letzter Zeit gesehen hätte.

„Ich sah Jack Burns zum letzten Mal vor ungefähr zwei Jahren“, erklärte Martin gelassen. „Zu der Zeit, als ich meine Frau kennenlernte.“ Seine Finger massierten sanft meinen Nacken, und ich lehnte den Kopf zurück.

„Was ist mit Ihnen, Mr. Youngblood?“

„Ich habe ihn nie kennengelernt.“

„Sie waren nicht wütend darüber, dass Ihre Frau diesen Strafzettel bekommen hat?“

„Wer fünfzehn Zentimeter vom Bordstein entfernt parkt, muss nun mal mit Konsequenzen rechnen.“

Padgett Lanier, für gewöhnlich blass, neigte zum Rotwerden. Mit einiger Bestürzung durften wir nun zusehen, wie sein Gesicht die Farbe einer reifen Tomate annahm. Danach entließ er uns ziemlich kurz angebunden und wandte seine Aufmerksamkeit der Suche zu, die seine Leute in unserem Garten veranstalteten. Ich hätte die Männer nur zu gern gebeten, mir doch meine armen, kleinen, gerade erst frisch umgegrabenen Beete nicht zu zertrampeln, schwieg aber, damit niemand mich für gefühllos hielt.

Trenner.jpg

Nachdem ein paar Stunden vergangen waren, hatte mein Magen sich soweit beruhigt, dass ihm die Aussicht auf ein Abendessen nicht völlig zuwider war. Ich rief bei den Youngbloods an, um zu fragen, ob sie mit uns essen wollten, aber Angel hatte sich hingelegt, und Shelby wollte sie nicht allein lassen.

Bei uns gab es Schweinekoteletts, gebratene grüne Tomaten, die wir uns sonst nur selten gönnten, einen Waldorfsalat und frische Brötchen, die ich selbst gebacken hatte. Aber eigentlich stocherten wir nur in unserem Essen herum. Martin war die ganze Mahlzeit über außergewöhnlich schweigsam. Normalerweise unterhielten wir uns bei Tisch, um danach zu unseren abendlichen Aktivitäten aufzubrechen, denen wir meistens getrennt nachgingen. Gemeinsame Betätigungen kamen erst später, wenn wir bereits im Bett lagen.

Nach dem Überfall sowohl der städtischen als auch der Bezirkspolizei kam mir unser Heim sehr still vor. So viele Menschen hatten wir seit der letzten Weihnachtsparty nicht mehr im Haus gehabt.

„Roe, ich mache mir Sorgen“, beendete Martin schließlich sein Schweigen. Dabei ruhten seine hellen, braunen Augen konzentriert auf mir. Martin sieht den Menschen, mit denen er sich unterhält, immer in die Augen. Das kann sehr einschüchternd sein, aber auch erregend.

„Ich weiß. Ich natürlich auch.“

„Nicht nur, weil Jack Burns umgebracht wurde“, fuhr er fort. „Dass man ihn ausgerechnet hier abgeladen hat ...“

„Natürlich“, wiederholte ich, obwohl mir nicht klar war, worauf Martin hinauswollte.

„Wie Sheriff Lanier schon erwähnt hat: Die Leute wissen, dass du dich mit Jack Burns nicht besonders gut vertragen hast.“

„Aber ich war absolut und nachweislich auf dem Boden, als er landete. Ich kann es also nicht getan haben“, sagte ich. „Außerdem kann ich nicht fliegen.“

„Irgendetwas stimmt an der Sache nicht.“ Martin schien sich schwer damit zu tun, seine Gedanken in Worte zu fassen. Auch das sah ihm nicht ähnlich. Eigentlich ist er daran gewöhnt, sich auch vor Publikum schnell, präzise und bestimmt auszudrücken.

Da ich nicht schon wieder ‚natürlich sagen wollte, dachte ich es nur.

„Wann hast du das letzte Mal mit Burns gesprochen?“, wollte Martin wissen.

„Das hat mich der Sheriff doch heute Nachmittag schon gefragt. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich Jack das letzte Mal damals im Anderton-Haus gesehen und auch mit ihm gesprochen. Vor etwa zweieinhalb Jahren, genau wie du auch.“ An jenem Tag hatten Martin und ich uns kennengelernt. Er schenkte mir ein kurzes, aber warmes Lächeln, um mir zu zeigen, dass auch er sich sehr gut daran erinnerte.

„Findest du, dass Angel heute normal reagiert hat?“, erkundigte er sich plötzlich.

„Nein, ganz und gar nicht.“ Ich war froh, dass Martin das Thema anschnitt, so brauchte ich es nicht zu tun. „Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Angel gehört nicht zu den Menschen, die vor allem Unangenehmen zurückschrecken, und sie hat den solidesten Magen, den ich je bei jemandem erlebt habe. Aber diese Sache heute scheint sie aus irgendeinem Grund aus der Bahn geworfen zu haben.“ Dann erinnerte ich mich daran, wie Jack Burns durch die Luft getrudelt war, und bereute meine Wortwahl. Energisch schob ich meinen Teller beiseite und legte meine Serviette daneben.

„Irgendetwas ist mit ihr los“, sagte Martin. „Shelby war auch besorgt, das habe ich genau mitbekommen. Außerdem könnte ich schwören, dass er die Geschichte mit dem Strafzettel heute zum ersten Mal gehört hat.“

„Macht es dir etwas aus, wenn ich dich bitte, heute Abend abzuwaschen?“

„Nein.“ Martin schien froh, von seinen düsteren Überlegungen abgelenkt zu werden, worum die sich auch gedreht haben mochten. „Gehst du weg? Trifft sich heute der Freundeskreis der Bibliothek, oder geht es um irgendein Kirchentreffen?“

„Weder noch.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich muss Bess Burns einen Beileidsbesuch abstatten.“

„Glaubst du wirklich, das wäre klug?“

„Ihn konnte ich nicht leiden, aber Bess habe ich immer gemocht. Ich habe sie bei den Treffen der Bibliotheksfreunde näher kennengelernt.“

Seitdem ich wieder als Teilzeitkraft in der öffentlichen Bücherei unserer Stadt arbeitete, hatte ich sämtliche dort tätigen Ehrenamtlichen kennengelernt. Seit ihrer Pensionierung gehörte auch Bess Burns dazu, sie war eine unserer besten ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen.

Martin sah mich weiterhin besorgt und nachdenklich an, nickte dann aber. „Es macht mir nichts aus, abzuwaschen“, sagte er. „Hast du die Katze schon gefüttert?“

„Das mache ich noch, ehe ich gehe“, versprach ich. Die Beziehung zwischen meinem Mann und Madeleine, der fetten alten Katze, die ich von einer Freundin geerbt hatte, war gelinde gesagt heikel. Madeleine machte es sich am liebsten auf dem Kühler von Martins Mercedes bequem, und Martin liebte dieses Auto. Wir hatten inzwischen schon Türen an der Garage angebracht und achteten auch darauf, sie geschlossen zu halten. Trotzdem mussten wir jede Nacht erst einmal nach Madeleine fahnden, sonst hätte sie auf dem Mercedes übernachtet.

Ich eilte nach oben, um mich umzuziehen. Was trug man bei einem Besuch bei einer frischgebackenen Witwe? Kein Schwarz, ich gehörte schließlich nicht zur Familie. Dunkelblau. Mein neues dunkelblaues Kleid mit dem schmalen weißen Rand, das ich mir gerade in Atlanta bei Short N’Sweet, einem Laden für Kurzgrößen gekauft hatte – ich war nur einen Meter fünfundfünfzig groß. Stolz warf ich einen Blick auf das Etikett und freute mich wieder einmal darüber, dass ich meine Kleider in letzter Zeit eine Nummer kleiner kaufen konnte.

Das Zusammenleben mit dem gesundheitsbewussten, bewegungsfreudigen Martin und meine Freundschaft mit der athletischen Angel hatten sich höchst erfreulich auf meine Figur ausgewirkt. Kürzlich war ich sogar in den Schönheitssalon Clip Casa gegangen, in dem meine Mutter Stammkundin war, und hatte mir von Benita Strähnchen ins Haar färben lassen. Bei meinen dicken, dichten Locken, die bis auf meinen Rücken hinab reichten, hatte die Prozedur Stunden gedauert, aber es hatte sich gelohnt. Das Resultat konnte sich sehen lassen. Alles in allem sah ich, seit ich glücklich mit Martin verheiratet und finanziell abgesichert war, besser aus und fühlte mich auch besser als je in meinem ganzen Leben.

Ich zwängte mich noch rasch in eine Strumpfhose – dabei ließ ich Martin nie zusehen! – schlüpfte in ein Paar Pumps und band mein frivol gesträhntes Haar mit einer Spange zurück. Unten in der Küche setzte ich Madeleine ihr Futter vor und holte die Plastikdose mit dem Essen aus dem Kühlschrank, die ich zum Beileidsbesuch mitnehmen wollte. Schließlich fuhr ich meinen alten Chevette rückwärts aus der Garage, einen Wagen, der Martin fast ebenso zuwider war wie Madeleines Pfotenspuren auf seinem Mercedes.

Obwohl wir eine Meile außerhalb der Stadt wohnten, konnte ich von meinem Garten aus fast die Rückfront des Hauses meiner Mutter sehen. Das Haus der Burns lag nur eine Straße weiter südlich, aber diese eine Straße sorgte für einen himmelweiten Unterschied. Mutters Heim an der Plantation Road war ein geräumiges, zweistöckiges Haus mit einem großen Grundstück, während Bess und Jack ein relativ bescheidenes einstöckiges Ranchhaus bewohnten.

Vor dem Haus der Burns standen zwei Autos, eins davon war der vertraute blaue Lincoln Continental meiner Mutter. Mutter hätte es zu Fuß in fünf Minuten hierher geschafft, würde aber nie irgendwo erhitzt ankommen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Als ich mit meiner mitgebrachten Schüssel in der Hand aus dem Auto stieg, kam Mutter auf mich zu. Auch sie hatte eine Schüssel dabei.

„Was bringst du?“, wollte ich wissen.

„Kalten Nudelsalat. Das Einzige, wozu ich alle Zutaten im Haus hatte.“

Meine Mutter, Aida Brattle Teagarden Queensland, war eine schlanke Frau mit rauchiger Stimme, ganz im Stil von Lauren Bacall. Außerdem war sie eine sehr erfolgreiche Maklerin und hatte vor ein paar Jahren John Queensland geheiratet, einen pensionierten Geschäftsmann. Seitdem war sie mehrfache Stiefgroßmutter geworden. Nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hatte, schien sie das sehr zu genießen.

Neugierig warf ich durch die Frischhaltefolie hindurch einen Blick in ihre Schüssel. „Sieht gut aus.“

„Danke. Wie ich sehe, hast du deinen Waldorfsalat dabei, sehr schön. Willst du nicht klingeln?“

Brav klingelte ich, und nach einigen Augenblicken öffnete sich die Tür. Marva Clerrick, die Nachbarin aus dem Haus rechts von dem der Burns, machte die Türsteherin und hatte sich mit einem entsprechend formellen Lächeln gewappnet. Das wurde etwas weniger angestrengt und etwas ehrlicher, als sie Mutter und mich erkannte.

„Bin ich froh, euch zu sehen!“, verkündete sie in dramatischem Flüsterton. „Ganz merkwürdige Leute sind hier! Sie unterhalten sich gerade mit Bess. Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was da los ist.“

Marva, eine sehr sportliche, extrovertierte Frau und Gattin meines Teilzeitchefs Sam Clerrick, gehörte zu den beliebtesten Lehrerinnen an der Lawrenceton Highschool. Sie war eine enge Freundin von Bess Burns, die früher auch an der Highschool unterrichtet hatte. Ihre Eltern hatten einen sehr passenden Namen für sie ausgewählt, als hätten sie damals schon geahnt, dass ihre Marva später einmal eine hervorragende Köchin und Hausfrau werden würde. Noch dazu unterrichtete sie wochentags an der öffentlichen Schule Englisch und sonntags an der Western Hill Baptist Church Bibelkunde, zog zwei sehr nette Mädchen groß und wurde spielend mit dem manchmal durchaus launischen Sam fertig. Im Sommer, während der Schulferien, brachte sie im öffentlichen Schwimmbad Kindern das Schwimmen bei und leitete in der Peachtree Ferienwohnungsanlage Kurse im Teppichknüpfen.

Eine Situation, die Marva aus der Ruhe brachte, musste schon wirklich seltsam sein. Voller Spannung warteten Mutter und ich auf weitere Erklärungen.

„Was genau ist denn los?“, flüsterte ich deutlich hörbar.

„Hier sind zwei Männer, die ich noch nie in der Stadt gesehen habe!“, zischte Marva. „Aus dem Flugzeug fallen! Wie passiert denn so was, bitteschön? Per Zufall wohl kaum. Was hat Jack in dem Flugzeug gewollt?“

„Ich bringe das nur ungern zur Sprache, aber ich glaube, Jack war schon tot, als er aus dem Flugzeug fiel“, sagte ich ein wenig zögernd. Niemand hatte mich um Stillschweigen gebeten, und wenn Mutter die Information aus anderer Quelle zugetragen würde, würde sie mir das nie verzeihen.

„Bereits tot?“ Mutter und Marva starrten mich mit einer Mischung aus Abscheu, Faszination und Horror an, ihre Mienen absolut identisch.

„Auf jeden Fall sah es so aus.“ Ohne es zu wollen, sah ich noch einmal diesen Körper vor mir und wie er sich in der Luft gedreht hatte. „Das Flugzeug wurde natürlich von jemand anderem geflogen.“

„Mädel! Willst du damit sagen, du hättest es gesehen?“ Marva war fassungslos.

Ich nickte. Konnte es möglich sein, dass die örtliche Buschtrommel derart versagt hatte?

„Mir wurde gesagt, die junge Frau hätte es gesehen, die mit den ganzen Muskeln, die in der Wohnung über deiner Garage wohnt!“, warf Mutter entrüstet ein.

„Wir waren beide hinten im Garten.“

„Du hast das Flugzeug also auch gesehen?“, bohrte Mutter weiter.

Ich zuckte die Achseln. „Ein ganz normales kleines Flugzeug, rot und weiß. Wenn Zahlen draufstanden, habe ich die nicht bemerkt.“ Es kannte sich wohl kaum jemand in der Stadt mit Flugzeugen noch schlechter aus als ich.

„Ich kann es nicht fassen! In unserer kleinen Stadt!“ Marva vergaß vor Aufregung sogar das Flüstern. „Ob das jemand war, den Jack ins Gefängnis gebracht hat?“

Mutter und ich zuckten gleichzeitig mit den Achseln und unterstrichen die Geste dann noch mit einem perfekt synchronen Kopfschütteln.

„Na schön. Kommt rein, schaut euch die Lage hier an und sagt mir, was ihr davon haltet“, sagte Marva. „Ich schiebe jetzt seit einer Stunde Türdienst, muss aber bald gehen. Habe ein Brot im Ofen, das demnächst raus muss. Ich weiß nicht, ob Sissy daran denkt, es aus der Form zu holen, wenn es sich zehn Minuten gesetzt hat.“

„Wo können wir Bess denn finden?“ Mutter schien das ganze Geflüster an der Haustür langsam auf die Nerven zu gehen.

„Gleich da hinten.“ Marva deutete mit dem Kinn auf die Tür am Ende des Hausflurs. „Die Kinder sind noch nicht hier, aber sie hat mit ihnen telefoniert. Sie haben beide eine lange Fahrt vor sich.“ Richtig, fiel mir ein: Die Kinder der Burns, Romney und Jack Junior, besuchten zwei verschiedene Colleges in zwei verschiedenen Bundesstaaten.

„Wir stellen nur rasch noch unser Essen in den Kühlschrank, dann gehen wir zu Bess“, verkündete Mutter.

Die Küche der lieben Bess sah aus wie meine normalerweise auch: im Großen und Ganzen sauber, aber an den Rändern doch ein bisschen unordentlich, mit Rechnungen, die aus einem Kästchen an der Wand ragten, und einer offenen Schachtel Teebeutel neben einem Wasserkrug. Eine andere Nachbarin lebte gerade ihr Bedürfnis nach liebevoller Hilfeleistung aus, indem sie die Arbeitsflächen abwischte. Wir lächelten und nickten einander verhalten zu.

Der Kühlschrank stand bereits halb voll mit abgedeckten Schüsseln, als ich meinen Salat dort abstellen wollte. Alles Essen, das Nachbarn und Freunde Bess gebracht hatten, um sie in ihrer Zeit der Trauer zu unterstützen, und damit sie etwas zu essen im Haus hätte, wenn ihre Familie eintraf. Spätestens morgen Mittag würde es hier keinen freien Platz mehr geben.

Zumindest mit dem Kühlschrank schien alles seine Richtigkeit zu haben. Leicht beruhigt machten Mutter und ich uns auf den Weg zum Wohnzimmer am anderen Ende des Hauses.

Dort hockte Bess auf dem Sofa, eingeklemmt zwischen zwei großen Männern. Ich hatte keinen der beiden je zuvor gesehen. Sie trugen Anzüge und Krawatten und finstere Mienen, und als die zierliche rothaarige Witwe zwischen ihnen sich mit einem weißen Taschentuch das Gesicht abtupfte, spendete ihr keiner der beiden Trost.

„Es tut uns so leid.“ Mutter traf wie immer den richtigen Ton. In diesem Fall Mitgefühl, aber keins, das eine neue Tränenflut ausgelöst hätte.

„Danke.“ Bess Stimme klang fast ausdruckslos vor Erschöpfung und Schock. Die Falten auf ihrer Stirn und die, die sich von der Nase zum Mund zogen, schienen tiefer eingegraben, der rote Lippenstift hob sich grell vom blassen Gesicht ab. „Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie gekommen sind. Auch Sie, Aurora.“

Leicht unbeholfen beugte ich mich über den Sofatisch, um sie zu umarmen. Bess, die gerade erst Ende des letzten Schuljahrs in Rente gegangen war, kleidete sich immer noch so, wie sie es als Lehrerin getan hatte. Heute waren das eine bequeme Baumwollstrickhose und ein locker sitzendes Shirt. Das Shirt war blau und vorn mit einem großen roten Apfel verziert, eine fröhliche Kombination, die nur unter den gegebenen Umständen eher traurig stimmte.

„Wissen Sie schon, warum ...“, fragte meine Mutter, als hätte sie jegliches Recht dazu.

Bess wollte antworten, wurde aber von dem blonden Mann rechts neben ihr mit einer Handbewegung zum Schweigen gebracht. Er starrte uns durch seine große Schildpattbrille vorwurfsvoll an.

„Das wird noch untersucht“, verkündete er bedeutungsvoll.

Mutter und ich wechselten einen Blick.

Meine Mutter hatte ganz sicher nicht vor, sich auf ihrem eigenen Territorium von einem Unbekannten ausstechen zu lassen. „Ich bin Aida Queensland, eine Nachbarin“, sagte sie. „Sind wir uns schon einmal begegnet?“

„John Dryden, aus Atlanta“, stellte sich der Mann mit der Schildpattbrille vor, was uns nicht gerade weiterbrachte.

Ich mochte es nicht, wenn Leute unhöflich zu meiner Mutter waren.

„Dann müssen Sie Mr. Pope sein“, sagte ich zu dem anderen Mann, der dunkler und jünger war als sein Schildpattkollege.

„Pope?“ Er musterte mich interessiert. „Ich bin Don O’Riley. Ebenfalls aus Atlanta.“

Mutter warf mir einen tadelnden Blick zu, ich konnte aber sehen, dass sie sich eigentlich kaum das Lächeln verkneifen konnte.

„Bess?“, fragte ich. „Kommen Sie doch kurz mit uns in die Küche, damit Sie uns sagen können, was wir für Sie und Ihre Freunde zum Essen zusammenstellen können.“ Die beiden waren eindeutig keine Freunde von Bess, und ihre Anwesenheit schien die Witwe eher aufzuregen als zu trösten. „Es ist schon spät, und ich bin mir sicher, Sie haben noch keinen Bissen gegessen.“

„Nein, ich habe noch nichts gegessen.“ Bess schien sich über meinen Vorschlag zu freuen. Ehe ihre beiden ‚Freunde sie aufhalten konnten, war sie aufgestanden und ging mit uns in die Küche.

Dort war die Nachbarin verschwunden, die vorhin ein bisschen sauber gemacht hatte. Sie hatte makellose Arbeitsflächen sowie ein Gefühl der wohlmeinenden Wärme hinterlassen. Bess stand da, als würde sie ihre eigene Küche nicht wiedererkennen.

„Haben die beiden Sie belästigt?“, wollte Mutter wissen

„Das müssen sie tun, es ist ihr Job.“ Bess hob müde die Schultern. Sie war die Frau eines Polizisten gewesen, sie kannte sich aus. „Ich sollte nicht darüber reden, aber Jack war die Identität einer Person hier in der Stadt bekannt, die sich versteckt, weil – nein, mehr sollte ich wirklich nicht sagen. Sie fragen sich aber, ob das etwas mit dem Mord an ihm zu tun haben könnte.“

„Ah!“, murmelte Mutter bedeutungsvoll, was mehr war, als mir spontan in den Sinn kam. Mutter hantierte an einer Schüssel Spaghetti herum, die sie aus dem Kühlschrank genommen hatte. Sie hielt die Augen geschlossen, als frage sie sich gerade, wie um alles in der Welt sie in dieser Küche gelandet war, um sich diese faszinierenden, aber bizarren Enthüllungen anzuhören.

„Sie haben ihn doch fallen sehen, Roe“, wandte sich Bess an mich, mit einem Mal gar nicht mehr müde, sondern schrecklich erpicht auf eine Antwort. „War er schon tot, als er stürzte, oder starb er beim Aufprall?“

„Ich glaube, er war schon tot, als er aus dem Flugzeug fiel.“ Ich musste mich zusammenreißen, wollte ich doch auf keinen Fall weinen, wo Bess ihre Trauer so tapfer im Griff hatte. „Ich glaube nicht, dass er etwas gespürt hat oder auch nur wusste, dass er fiel.“

„Danke“, flüsterte Bess.

„Hier stecken Sie also, Mrs. Burns!“, meldete sich von der Tür her mit scharfer Stimme der blonde Mr. Dryden. Als hätte er nicht genau gewusst, wo Bess war! Er schob sich seine Brille in die Jackentasche. Ohne sie wirkte sein Gesicht womöglich noch wachsamer. „Im Wohnzimmer wartet ein Anruf auf Sie. Meine Damen? Vielen Dank, dass Sie Mrs. Burns in der Stunde Ihrer Not durch Ihren Besuch beigestanden haben.“

Keine von uns hatte das Telefon klingeln hören.

„Wir stellen Ihnen ein wenig Essen zusammen, und dann sind wir auch schon weg.“ Mutters Stimme klang gelassen, aber bestimmt. „Bess? Sie wissen, wo wir sind, wenn Sie etwas brauchen.“

„Herzlichen Dank“, kommentierte John Dryden trocken. Ich will verdammt sein, wenn der Mann nicht in der Küche blieb und zusah, wie wir Pappteller heraussuchten (Dryden und O’Riley würden Bess ja wohl kaum beim Abwaschen helfen!)und die Spaghetti in der Mikrowelle erhitzten. Wir füllten drei Teller mit Spaghetti, Waldorfsalat und grünen Bohnen auf und deckten den Tisch, so gut wir konnten. Es dauerte etwas, da wir nach Besteck, Servietten und Gläsern erst suchen mussten.

„Mr. Dryden?“, erkundigte sich meine Mutter, während der Blonde uns zur Haustür geleitete, ohne dass wir noch einen einzigen Blick auf Bess hatten werfen können. „Können Sie uns sagen, wann die Beerdigung sein wird und welches Bestattungsunternehmen beauftragt wurde? Ich möchte einige Blumen dorthin schicken.“

„Soweit ich weiß, ist das noch nicht entschieden“, antwortete Dryden vorsichtig. „Es wird eine Autopsie geben.“

Damit war die Sache klar: Dieser Dryden war für Bess ein Fremder, selbst wenn Jack ihn vielleicht gekannt haben mochte. Denn in Lawrenceton wusste jeder, dass man im Hause Burns nur das Jasper Funeral Home mit einer Beerdigung betrauen würde. Jerry Saylor vom Saylor Funeral Home war früher einmal mit Bess Schwester verheiratet gewesen, hatte sich aber scheiden lassen. Mutter und ich warfen uns einen Blick zu, der Dryden nicht entging. Er wusste, dass er etwas Entscheidendes gesagt hatte, ahnte aber beim besten Willen nicht, was. Ich sah, wie er kurz grübelte, es dann aber wieder aufgab.

„Der Termin für die Beerdigung wird doch sicher morgen in der Zeitung im Nachruf bekannt gegeben?“ Mutter ließ nicht locker.

Jetzt verstand der Mann deutlich nur noch Bahnhof.

„Ich bin sicher, das wird der Fall sein“, meinte er tapfer.

Wir glaubten ihm kein Wort.

„Jack Junior und Romney sollten sich mit dem Nachhausekommen beeilen“, verkündete meine Mutter düster und stieg mit ihren langen, eleganten Beinen voran in ihr Auto.

Ich fuhr ganz langsam nach Hause. In meinem Kopf waren mehr Fragen, als ich bei der Hinfahrt gehabt hatte.