Es fing damit an, dass ich Anthony dabei ertappte, wie er doch wieder mit diesen Leuten loszog. Es waren unsere Landsleute, dieselben, die Anthony gegen mich aufgehetzt hatten. Jedenfalls behauptete er das.
Anthony hatte es mir versprochen: Zu unserem Neuanfang sollte auch gehören, dass er mit diesen sogenannten Freunden brach. Eines Abends läutete es an unserer Haustür. Anthony zog sich eine Jacke über.
»Mit wem gehst du aus?«, fragte ich.
»Ach …, die kennst du nicht.«
»Willst du sie mir nicht vorstellen?«
»Ein anderes Mal, Harriet, jetzt bin ich in Eile.«
Und schon war er zur Tür hinaus.
Ich ging ihm nach. Vom Treppenabsatz aus konnte ich sie schon sehen. Es war die alte Clique. Ich folgte ihnen die Straße entlang, dann klatschte ich in die Hände. Anthony drehte sich um, ich sah ihn nur an. Dann ging ich zurück ins Haus. Ich war enttäuscht. Wir hatten beschlossen, unser neues Leben nicht mit Lügen zu beginnen.
Warum diese Leute so gegen mich eingenommen waren, habe ich nie herausfinden können. In der Gruppe waren auch einige Frauen gewesen, unter anderem das Mädchen, das mich während unseres gemeinsamen Putzjobs ausspioniert hatte. Vielleicht hatten sie geglaubt, dass sie bei Anthony eine Chance hätten, wenn er sich nur von mir trennte? Ich weiß es nicht. Ich habe diesen Leuten nie etwas getan.
Die Flitterwochen waren schnell verflogen. Dennoch war ich nicht darauf vorbereitet, was mich als Nächstes erwarten sollte. Hätte ich es geahnt, ich wäre sofort wieder weggelaufen. Doch genau das wollte Anthony mit allen Mitteln verhindern. Er wollte mich bei sich haben, für immer. Er musste sich sicher sein, dass ich ihm nie mehr entkommen konnte. Bis heute verstehe ich nicht, wie er hatte glauben können, dass ihm das je gelänge. Wer mich kennt, der weiß, dass mein Wille unbezähmbar ist. Man kann mich einschüchtern und einsperren, aber meinen Willen kann man nicht brechen. Genauso wenig wie man mir die selbstverständliche Freiheit nehmen kann, das zu tun, was ich möchte.
Die Katastrophe geschah schon am folgenden Morgen. Ich hatte Frühschicht und wollte mich gerade auf den Weg ins Krankenhaus machen. Da packte Anthony mich ohne Vorwarnung und warf mich gegen die Wand. Mit seiner rechten Hand umspannte er meine Kehle und drückte mich so immer fester gegen die Wand.
»Wo sind deine Papiere?«, wollte er wissen.
Ich konnte nur röcheln. Wehrte mich. Schrie so laut ich konnte, sobald ich ein bisschen Luft in die Lungen bekam. Wir wohnten in einer guten Gegend. Im Haus lebten noch andere Familien. Man musste mich doch einfach hören.
»Wo deine Papiere sind, will ich wissen!«
Offenbar hatte er nach ihnen gesucht, tagelang, und sie nicht gefunden. Konnte er auch nicht, sie waren ja bei Nadja im Frauenhaus.
Verzweifelt wehrte ich mich. Ich bin kräftig, doch gegen Anthony kam ich körperlich nie an. Auf einmal bemerkte ich, dass er in der ganzen Wohnung die Rollläden heruntergelassen hatte. Kein Wunder, dass mich niemand hörte.
Er würgte mich immer stärker. Mich befiel Todesangst. Er würde mich hier strangulieren, ohne dass es jemand mitbekäme. Auf einmal wuchsen in mir Riesenkräfte. Ein paar Sekunden war Anthony etwas unaufmerksam und schon hatte ich mich losgerissen. Mit zwei großen Schritten war ich beim nächsten Fenster, riss den Rollladen hoch und sprang mit beiden Füßen in die Scheibe.
Es gab einen lauten Knall. Die Scherben prasselten hinunter auf den Gehsteig, auf Passanten und parkende Autos. Doch da hatte Anthony mich schon wieder zurückgerissen. Wieder presste er mich mit der Hand an der Kehle gegen die Wand.
»Ich will deine Papiere, du Schlampe! Wo hast du sie versteckt?«
Ich wehrte mich verzweifelt. In meinen Beinen tobte ein dumpfer Schmerz.
Auf einmal wurde es im Zimmer dunkel. Das Licht war ausgegangen. Nur einen Moment lang, aber wir waren beide irritiert. Mir verschaffte diese Schrecksekunde ein paar Atemzüge Luft. Wieder schrie ich, so laut ich nur konnte.
Dann ging alles sehr schnell. Auf einmal standen Polizisten bei uns im Zimmer. Anthony ließ von mir ab. Ich sah an mir herunter. Alles war voller Blut. Vor Schreck und Schmerz schrie ich wieder.
Was dann geschah? In meiner Erinnerung sehe ich die Ereignisse wie einzelne Filmschnipsel in einem heillosen Durcheinander: ein Polizist, der Anthony am Arm zurückhält. Jemand, der nach einem Krankenwagen telefoniert. Anthony, der seine Papiere vorzeigt. Ich höre ihn sagen »… britisches Militär«. Unter mir sammelt sich eine Pfütze aus Blut. »Ich muss zur Arbeit«, stammle ich. Dann wird mir schlecht.
Im Krankenhaus wollten sie zuallererst wissen, ob ich überhaupt versichert sei. Bevor das nicht geklärt war, wurde ich nicht behandelt. Das Blut sickerte weiter aus der Wunde.
Dann sahen sie sich meine Beine an. Sie sagten, sie hätten nicht viel Hoffnung für mich. Ich habe zu viel Blut verloren und ein paar entscheidende Sehnen seien zerschnitten. Wie ich das denn angestellt habe, wollte ein Assistent wissen, aber ich merkte, dass es ihn nicht wirklich interessierte.
»Möglicherweise bleibt Ihr Bein gelähmt«, meinte ein Arzt.
Um mich drehte sich alles. Ich stand unter Schock, doch davon schien niemand Notiz zu nehmen.
»Da gibt es eine winzig kleine Sehne«, erklärte er und ahnte nicht, dass ich kurz davor war, den Verstand zu verlieren, »wenn die durchschnitten wurde, ist es mit dem Gehen vorbei.«
Schließlich kam ein anderer Arzt.
»Ich werde mal einen Test machen«, sagte er und kitzelte mich an der Fußsohle. »Spüren Sie das?«
»Ja. Es kitzelt.«
»Wirklich?!« Er starrte mich an, als wäre ich das siebte Weltwunder.
»Ja!«
Da verlor er sein Interesse. Ich wurde genäht und verbunden, dann schickten sie mich nachhause. Was?, dachte ich, eben hatten sie kaum noch Hoffnung für mich und jetzt darf ich gehen?
Aber wohin sollte ich gehen?
»Mein Mann hat mich geschlagen«, sagte ich mutlos einer Krankenschwester. Sie zuckte mit den Schultern, murmelte etwas und ging weiter. Ich war entlassen worden. Entlassen in ein Leben, das wieder einmal in Scherben lag.
Ich hatte nicht einmal einen Mantel dabei. An den Füßen trug ich Flipflops. Ich fror. Frieren schien seit meiner Ankunft in Deutschland mein Schicksal zu sein. In meiner Verzweiflung fuhr ich im Bus den Weg vom Krankenhaus in Richtung unserer Wohnung mehrere Male hin und her. Kam er an der Endstation an, blieb ich einfach sitzen, bis er wieder losfuhr. Als hätte ich einen Bannkreis um mich errichtet, blieb der Platz neben mir frei, so überfüllt der Bus auch war. Ein Blick auf meine blutgetränkte Hose und meine verweinten Augen, und die Menschen wandten sich ab. Es war ein Karussell der Hoffnungslosigkeit, auf dem ich an jenem Morgen zwischen dem Krankenhaus, aus dem man mich einfach hinausgeworfen hatte, und der Wohnung, in der ein gewalttätiger Ehemann auf mich wartete, im Kreis fuhr. Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte.
Endlich hatte ich eine Idee. Ich würde zur Polizei gehen und sie bitten, mich nachhause zu begleiten. Um mir wenigstens meinen warmen Mantel zu holen, dachte ich. Was danach kommen sollte, war mir noch unklar.
Die Beamten erinnerten sich noch an mich, da sich Anthonys brutaler Übergriff am selben Tag ereignet hatte. Sie hatten Mitleid mit mir und fuhren mich zu unserer Wohnung. Im Auto wollten sie wissen, was ich vorhabe.
»Zu deinem Ehemann kannst du ja nicht zurückgehen, oder?«, meinte ein junger Beamter. »Der hätte dich ja fast umgebracht.«
Ich fing an zu weinen. Erzählte, dass ich schon im Frauenhaus gewesen war und mich schließlich wieder auf diesen Lügner eingelassen hatte.
»Du warst schon im Frauenhaus?«, fragte der Polizist. »Na, dann gehst du doch am besten wieder dorthin zurück.«
Ja, dachte ich, das ist wohl das Beste. Eine andere Lösung fiel mir nicht ein.
Anthony saß im Wohnzimmer, gerade so, wie ich ihn verlassen hatte. Er war bleich im Gesicht vor Zorn. Seine Haare standen hoch, seine Augen waren wie aus Glas.
»Wenn ich dich noch ein einziges Mal sehe«, sagte er leise in unserer Sprache, in Ga, »dann bring ich dich um. Das schwöre ich.«
Ich war vor Angst wie erstarrt, holte meinen Mantel und füllte eine Tasche mit Kleidung. Die Polizisten hatten nicht verstanden, was Anthony gesagt hatte, aber sie beschützten mich. So schnell wie möglich verließ ich mit ihnen die Wohnung.
Die freundlichen Beamten brachten mich zum Mülheimer Bahnhof, von wo ich den Zug nach Düsseldorf-Benrath nahm. Im Frauenhaus aber wartete eine weitere böse Überraschung auf mich.
»Was«, schrie Hildegart außer sich, »er hat sich wieder an dir vergriffen? Da gehen wir hin. Es ist ja schließlich deine Wohnung. Den werfen wir raus! Wenn es sein muss mit Polizeigewalt.«
Da musste ich Farbe bekennen und gestehen, dass es nicht meine Wohnung war, sondern eine auf Anthonys Namen gemietete. Ich hatte ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Hildegart bekam schmale Lippen.
»Wenn das so ist«, sagte sie, »dann kannst du nicht mehr zu uns kommen. Du kennst unsere Regeln. Wer nicht ehrlich mit uns ist, der kann nicht mit unserer Unterstützung rechnen.« Und damit verließ sie mit einem lauten Türenknallen den Raum.
Ich brach in Tränen aus. Hildegart hatte recht. Aber ich wusste weder ein noch aus.
»Jetzt hör mit dem Heulen auf«, sagte Nadja. »Wir finden schon eine Lösung. Auf Kosten des Frauenhauses kannst du nicht mehr hier wohnen. Aber mal sehen, ob das Sozialamt nicht einspringen kann. Dein Fall ist ja schon ein besonders harter.«
Ihr Blick ruhte auf meiner blutdurchtränkten Hose. Ich sah Mitleid in ihren Augen. Auch sie hatte viel mitgemacht. Und sie wusste, welche Möglichkeiten es für mich noch gab.
Sie ging mit mir zum Sozialamt, weil ich noch immer kein Deutsch sprach und sie für mich übersetzen musste. Sie schilderte der Sachbearbeiterin meinen Fall. Und tatsächlich: Da ich im Krankenhaus arbeitete, übernahm das Sozialamt die Miet- und Verpflegungskosten. Ich atmete auf. So konnte ich also doch ins Frauenhaus zurückkehren.
Als Nächstes ging ich zu meiner Arbeitsstelle. Ich war am Morgen nicht zur Frühschicht erschienen. Ohne Zeit zu verlieren und mich umzuziehen, fuhr ich dorthin. Das war ein Fehler.
Die Oberschwester sah mich an und ich erkannte sofort, dass sie sauer war. Dann glitt ihr Blick an mir herunter und erfasste das angetrocknete Blut auf meiner Kleidung. Meine Entschuldigung, dass mein Mann mich zurückgehalten und verletzt hatte, legte sie zu meinen Ungunsten aus.
»Wir brauchen Leute mit einem geordneten Privatleben«, sagte sie. »Stabile Frauen, ohne solche Dramen. Krankenschwester ist ein verantwortungsvoller Beruf, da hast du es mit Medikamenten zu tun und solchen Sachen. Es ist mir zu riskant, dich weiter hierzubehalten. Tut mir leid. Ich wollte dir die Chance geben. Aber ich kann das nicht verantworten.«
Ich war gefeuert. Stand wieder am Anfang. Ich hatte gehofft, meine Ehe zu retten, und war nur noch tiefer in die Misere geraten. Nun musste ich schnell etwas anderes finden, und zwar bevor das Sozialamt beschloss, mir meine Unterstützung zu streichen. Doch welche Möglichkeiten hatte ich?
Damals hoffte ich, doch noch einen Ausbildungsplatz zu finden. Erst nach und nach musste ich einsehen, dass die Chance im Krankenhaus wirklich einmalig gewesen war. Ich war schrecklich unglücklich. Dann erreichte mich auch noch die Nachricht, dass meine geliebte Oma gestorben war. Meine Mutter behauptete am Telefon, sie sei aus Kummer gestorben, weil ich mich einfach so davongemacht hätte, ohne mich von ihr zu verabschieden.
Ich weinte mir fast die Augen aus. Ausgerechnet meine Oma, die immer für mich da und in Tagen der Krankheit und Not mein Beistand gewesen war. Ich konnte sie nicht mehr in die Arme schließen. Sie hatte keine Ahnung, welchen Leidensweg ich in Deutschland durchmachte. Das war auch besser so. Aber sie konnte natürlich nicht verstehen, warum ich mich so von ihr abgewandt hatte.
Ich lag im Frauenhaus in meinem Bett und bekam vor Verzweiflung kein Auge zu. Am anderen Ende des Schlafsaals war eine deutsche Frau, die ein Radio dabeihatte. Wenn sie das anschaltete und ich diese deutsche Musik hörte, dann hat mich das immer ein wenig getröstet, dann konnte ich endlich einschlafen.
Mein zweiter Aufenthalt im Frauenhaus war sehr harmonisch, es ist eigentlich nur ein einziges Mal zum Streit gekommen. Eine Marokkanerin hatte mir eine Goldkette gestohlen. Als ich sie zur Rede stellte, beschimpfte sie mich: »Du Afrikaner! Du Nigger!«
Da fragte ich sie, wo sie glaube, dass sie denn herkomme.
»Na aus Marokko!«
»Und Marokko liegt in Afrika!«
»Was?! Pah! Marokko liegt nicht in Afrika!«
»Und in der Schule hast du auch nicht aufgepasst«, gab ich zurück, »sonst wüsstest du, dass Marokko sehr wohl in Afrika liegt.«
Schließlich hatte sie mir meinen Schmuck wieder herausgeben müssen. Aber ihre Worte beschäftigten mich. Denn tatsächlich denken viele Nordafrikaner, ihre Heimat liege nicht auf unserem Kontinent. Sie fühlen sich zu Europa gehörig oder zu den arabischen Ländern. Uns Schwarzafrikaner behandeln sie oft mit der größten Verachtung.
Aber dies war wirklich die einzige Auseinandersetzung, die ich im Frauenhaus erlebt habe. Ansonsten hielten wir zusammen.
Ich war so traurig in diesen Wochen, ich kann gar nicht sagen, wie sehr. Mein Geburtstag kam, ich sagte es niemandem, wollte raus, etwas unternehmen, ganz für mich allein. Ich erinnerte mich daran, dass Anthony mich in unserer Anfangszeit in Deutschland einmal nach Wuppertal mitgenommen hatte. Dort waren wir mit der Schwebebahn gefahren. Das wollte ich nun an meinem Geburtstag machen.
Ich saß in der Schwebebahn und weinte. Da sprach mich eine Afrikanerin an und fragte: »Warum bist du so traurig?«
»Ich habe Geburtstag und bin ganz allein.«
Da meinte sie: »Du brauchst nicht zu weinen! Du kommst jetzt mit mir nachhause und dann feiern wir deinen Geburtstag!«
Und so machten wir es. Sie lud Freundinnen ein und kochte für uns alle etwas Schönes. Diese Frauen kamen aus Kamerun, ich habe ihre Sprache kaum verstanden.
Anthony hatte in meiner Abwesenheit einen riesigen Strauß Rosen geschickt. Solche Mengen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. »Nein. Damit will ich nichts mehr zu tun haben,« sagte ich, woraufhin die Frauen die Blumen im ganzen Haus verteilten.
In dieser Zeit suchte ich alle zwei Tage das Wohnungsamt auf, wo sie mich bald so gut wie ihr eigenes Inventar kannten. Nach sechs Wochen hatte ich endlich meine eigene Wohnung. Sie ist klein, aber fein. Ich wohne heute noch dort.
Auch dem Arbeitsamt stattete ich regelmäßige Besuche ab. Ich wollte lange nicht glauben, dass es für mich nichts anderes geben sollte als eine Stelle als Putzfrau. Schließlich musste ich mich damit abfinden.
Auf dem Arbeitsamt sagten sie mir, es gäbe eine Putzstelle bei der Messe Düsseldorf. Noch am selben Tag ging ich hin, um mich vorzustellen. Ich bekam den Job.
Ich hatte nur noch das Ziel, mir ein eigenes Leben aufzubauen. Ich wollte meine kleine Wohnung einrichten und so viel wie möglich sparen, um endlich wieder das zu tun, was ich schon als kleines Kind beschlossen und in meinen guten Jahren in Accra bereits in die Tat umgesetzt hatte: Ich wollte Kindern aus Bukom den Schulbesuch finanzieren. Doch bis es so weit war, geschah noch etwas Trauriges.
Ich hatte gerade zwei Wochen auf der Messe gearbeitet, als mein Vater starb.
Meine Mutter hatte sich irgendwann seiner Not erbarmt und ihn nach London geholt. Dort hatte er seither auf ihre Kosten gelebt und nach Ghana noch Geld an seine zweite Frau geschickt.
Wie damals, als meine Großmutter gestorben war, behauptete meine Mutter auch jetzt, ich sei schuld am Tod meines Vaters. Er erlitt einen Herzinfarkt, nachdem er erfahren hatte, unter welchen Umständen Anthony und ich auseinandergegangen waren.
Natürlich wollte ich zur Beerdigung nach London, aber ich hatte kein Geld für die Reise. Da rief Anthony an und schlug vor, mich mit dem Auto nach London zu fahren. Es schien die einzige Möglichkeit und ich sagte zu. Nein, ich hatte keine Angst vor ihm, da ich wusste, dass er vor meinen Eltern schon immer großen Respekt hatte. Ich freute mich sogar über sein Angebot. Endlich zeigt er wieder einmal Herz, dachte ich. Beerdigungen gehören für Afrikaner zu ihren heiligen Pflichten und ich fand es ganz natürlich, dass Anthony mir die Reise ermöglichte.
Zunächst lief alles wunderbar. Natürlich glotzten meine Verwandten, als ich mit Anthony gemeinsam auftauchte. Alle wussten, dass wir getrennt waren, und verstanden nicht, warum ich ihn mitgebracht hatte.
Ich aber war einfach nur glücklich, nach so langer Zeit meine Schwester, meine Mutter und viele andere Verwandte wiederzusehen. Emily ist mir gegenüber allerdings äußerst kühl geblieben, kein herzliches Wort kam über ihre Lippen.
Die Beerdigung war schon fast vorüber, als Anthony dann doch noch begonnen hat, Ärger zu machen.
Wie es in unserer Kultur Sitte ist, kamen alle Verwandten nach dem Begräbnis meines Vaters zusammen, um zu besprechen, was in der Familie als Nächstes geschehen würde. Mein Vater hatte in London eine riesige Verwandtschaft, weshalb es ein großes Treffen wurde.
Als Anthony kam, um mich abzuholen, sah er, dass sich die ganze Familie versammelt hatte. Da muss er rotgesehen haben. Vielleicht hatte er sich an unsere Hochzeit erinnert und dachte, jetzt sei etwas Ähnliches im Gang. Auf alle Fälle begann er, meine Familie zu beschimpfen. Er behauptete, sie wollten mich einem anderen Mann geben. Es gab ein großes Palaver und die Beerdigung meines Vaters drohte in einem Eklat zu enden.
Während all dies geschah, hatte ich mich im oberen Stockwerk des Hauses aufgehalten und mich nichtsahnend mit einer Cousine unterhalten. Da kam meine Mutter angerannt und sagte: »Schnell, Harriet, du musst verschwinden!«
»Ja, aber warum denn?«
»Anthony macht großen Ärger. Er beschimpft unsere Ältesten, alle sind sauer auf dich, dass du ihn mitgebracht hast. Sie suchen schon nach dir. Los, pack deine Sachen zusammen. Ich bring dich zum Flughafen.«
Meine Mutter bezahlte das Flugticket für mich, damit ich nur ja schnell verschwand. So hatte mir Anthony auch die Beerdigung meines Vaters verdorben. Und das war dann wirklich das Ende zwischen mir und diesem Mann. Jedenfalls aus meiner Sicht. Er dagegen war noch lange nicht mit mir fertig und sollte mir eine Menge Schwierigkeiten bereiten.
Mein Putzjob bei der Messe lief zunächst nur über Zeitverträge, die immer von Ausstellung zu Ausstellung geschlossen wurden. Jede Messe konnte für mich die letzte sein. Erst nach zwei Jahren, 1994, erhielt ich eine Festanstellung.
Ich habe damals monatlich zwischen 1200 und 1400 Mark verdient, je nachdem, wie viele Stunden ich arbeiten konnte. Das war nicht viel, doch ich hatte mich mittlerweile daran gewöhnt, mit wenig auszukommen. Ich wohne wie gesagt noch heute in einer Genossenschaftswohnung. Die Miete ist nicht hoch und ich lebe bescheiden.
Meine Vorarbeiterin mochte mich nicht. Ich war die einzige Schwarze in der Belegschaft und sie teilte mir grundsätzlich die unangenehmsten, schwierigsten Arbeiten zu. Ich erledigte alles pünktlich und zuverlässig. Oft war ich verzweifelt und fragte mich, warum sie es gerade mir so schwer machte. Die Personalchefin hingegen konnte mich gut leiden, und da sie die Wochenpläne ausarbeitete, wurde ich von ihr oft für einfache und verantwortungsvolle Aufgaben eingeteilt. Doch die Vorarbeiterin schrieb die Pläne regelmäßig um. Mit der Zeit lernte ich, mich dieser Schikane zu fügen und mein Bestes zu geben, wo auch immer sie mich hinschickte. Ich wusste, was es heißt, eine Stelle zu verlieren, und ich gab mir Mühe. Ohnehin ist es einfach meine Art, mich in allem, was ich mache, voll zu engagieren.
Die eigene positive Einstellung kann letztendlich Wunder bewirken. Womit wir auch konfrontiert werden, es ist immer das Wichtigste, unser Bestes zu geben und aus einer solchen Situation etwas für sich selbst herauszuziehen. Der Vorteil meiner damaligen Lage war, dass ich bald jeden Winkel der Messe kannte und mit jedem Einzelnen, der dort arbeitet, schon einmal zu tun hatte. So war das Ganze für mich am Ende erträglich. Dennoch wollte die Vorarbeiterin mich nach fünf Monaten wieder hinauswerfen.
Der Grund hierfür war einfach und verständlich: Noch immer sprach ich so gut wie kein Wort Deutsch, weshalb es schwierig war, mit mir zu kommunizieren. Ein paarmal hatte meine Vorarbeiterin mir etwas aufgetragen, aber ich hatte sie nicht richtig verstanden, wodurch die Firma in Schwierigkeiten gekommen war.
»Es tut mir leid, Harriet«, sagte sie, »ohne Sprachkenntnisse hat es einfach keinen Zweck mit dir.«
Ich war verzweifelt. Natürlich wusste ich, dass sie recht hatte. Schon längst hätte ich die Sprache lernen müssen und war nun auch entschlossen, das nachzuholen.
»Bitte«, brachte ich unter Tränen hervor, »ich verspreche dir, dass ich Deutsch lernen werde.«
»Und wie willst du das tun?«, fragte sie skeptisch.
»Ich mache einen Deutschkurs. Morgen bringe ich dir die Anmeldung mit.«
Sie überlegte eine Weile. Dann sagte sie: »Na gut. Wenn du mir morgen wirklich diese Anmeldung zeigst …«
Ich hielt mein Versprechen. Bei einer privaten Sprachschule belegte ich einen Intensivkurs, der dreimal wöchentlich für vier Stunden stattfand. Er kostete mich eine Menge Geld, das ich mir von meinem bescheidenen Gehalt abzwacken musste. Zudem konnte ich nicht voll arbeiten, da ich schließlich die Kurse besuchen musste. Es war eine harte Zeit. Fast ein Jahr lang lernte ich Tag und Nacht und wiederholte die Lektionen bei der Arbeit laut, während mich meine Kolleginnen verbesserten. Wie ein Papagei plapperte ich ihnen alles nach, bis ich es konnte. Und von Woche zu Woche bemerkte die Vorarbeiterin meine Fortschritte und war zufrieden.
Im Nachhinein bin ich ihr dankbar dafür, dass sie mich zu diesem Schritt gezwungen hatte. Als Einwanderer kann man jahrelang in Deutschland leben, ohne die Sprache zu lernen. Doch man gehört auf diese Weise nie wirklich dazu, sondern ist auf die Kreise der Landsleute angewiesen und schaut über diesen Tellerrand nicht hinaus. Ich aber wollte mein Leben in Deutschland besser nutzen. Auch wenn Anthony alles daransetzte, um es mir zur Hölle zu machen.
Am liebsten hätte ich mich direkt nach der Beerdigung meines Vaters scheiden lassen. Doch meine Anwältin, die ich noch aus meiner Zeit im Frauenhaus kannte, hatte mir davon abgeraten. Zum einen wegen der Kosten und zum anderen wegen der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis.
»Warum wartest du nicht einfach ab, bis er die Scheidung einreicht?«, schlug sie vor. »Dann muss er die Kosten tragen.«
Inzwischen hatte ich beschlossen, in Deutschland Fuß zu fassen. Ich fürchtete mich davor, nach Ghana zurückzukehren; Anthony hatte mir schlimme Dinge angedroht, sollte ich das tun. Aber auch in Deutschland versuchte er, mir jede Menge Steine in den Weg zu legen.
Eines Tages kam meine Vorarbeiterin zu mir: »Harriet, bist du umgezogen?«
»Nein«, sagte ich, »wie kommst du denn darauf?«
»Na, hier steht es schwarz auf weiß. Du wohnst jetzt in Mönchengladbach. Das hier kam vom Ausländermeldeamt.«
Ich starrte auf den Brief. Tatsächlich. Da stand es. Aber wie um alles in der Welt war das geschehen? Ich dachte ja gar nicht daran, aus meiner kleinen Wohnung auszuziehen.
Als ich mich genauer erkundigte, erfuhr ich, dass ich auf die Adresse eines Bordells angemeldet worden war. Dahinter konnte doch nur Anthony stecken.
Ich ging direkt zum Ausländermeldeamt. Die Sachbearbeiterin wusste von nichts und wollte mich wieder wegschicken. Da bin ich fast ausgeflippt und habe darauf bestanden, ihren Vorgesetzten zu sprechen.
»Ich denke nicht im Traum daran«, erklärte ich dem, »in diesem Puff in Mönchengladbach zu wohnen. Ich habe mich nicht umgemeldet. Wie erklären Sie sich das?«
Daraufhin haben sie endlich reagiert, den entsprechenden Ordner herausgezogen und die Unterschriften verglichen. Es stellte sich heraus, dass Anthony meine gefälscht hatte.
Ich musste eine neue Bescheinigung meines Vermieters vorlegen, dass ich nach wie vor bei meiner alten Adresse wohnte, dann erst wurde die falsche Ummeldung rückgängig gemacht.
Ein anderes Mal hatte Anthony einen Brief ans Ausländermeldeamt geschrieben, in dem er mich aufs Übelste als berüchtigte Prostituierte und Mörderin verleumdete. Warum er das gemacht hat, weiß ich nicht genau. Vielleicht hatte er meine Abschiebung erwirken wollen.
Wieder ein paar Wochen später kam ich zur Arbeit, wo mich meine Chefin schon vor der Tür abfing, um mich nachhause zu schicken.
»Du darfst ja gar nicht bei uns arbeiten«, sagte sie ernst. »Du hast überhaupt keine Arbeitserlaubnis.«
»Was?« Ich war entrüstet. »Natürlich habe ich eine Arbeitserlaubnis.«
»Wir haben heute einen dicken Brief vom Arbeitsamt bekommen. Du hast keine Arbeitserlaubnis, da ist nichts zu machen.«
»Was soll ich denn jetzt tun?«, fragte ich meine Chefin geschockt.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich musst du zum Arbeitsamt gehen und eine neue Arbeitserlaubnis beantragen.«
»Ja, aber wie lange dauert so etwas denn?«
»Bis zu sechs Wochen«, meinte sie.
Oh Gott, dachte ich, und so lange soll ich nicht arbeiten? Nichts verdienen? Wer bezahlt mir in dieser Zeit die Miete? Ich ging auf der Stelle zu meiner Anwältin.
»Ganz ruhig bleiben«, beschwichtigte sie mich. »Geh am besten erst mal nachhause. Ich rufe beim Arbeitsamt an und geb dir dann Bescheid.«
Und das hat sie auch gemacht. Nachdem sie dem Sachbearbeiter meinen Fall genau geschildert hatte, meldete sie sich bei mir. Ich solle zum Arbeitsamt gehen und mich bei einer ganz bestimmten Frau melden. Von ihr bekam ich eine neue Arbeitserlaubnis ausgehändigt.
Ich bin überzeugt, dass hinter all diesen seltsamen Geschichten Anthony und dessen »Freunde« gesteckt haben. Doch sosehr sie sich auch bemühten, sie schafften es nicht, mich zur Ausreise zu zwingen. Ich hatte Angst vor dem, was passieren könnte, sollte ich einmal wieder nach Ghana zurückkehren. Anthony hatte einmal gesagt, ich würde sofort am Flughafen verhaftet werden. Zuzutrauen wäre es ihm gewesen, zumal er in allen wichtigen politischen Positionen Verwandte sitzen hatte. Ein anderes Mal hatte er mir am Telefon gedroht, er würde mich umbringen, sollte ich nochmals einen Fuß auf ghanaischen Boden setzen.
Gesehen habe ich Anthony nur noch anlässlich unserer Scheidung, die er eines Tages eingereicht hatte. 1995 war es dann so weit: Unsere Ehe wurde getrennt. Wie durch ein Wunder hatte ich kurz zuvor meine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Wenn Anthony also vorgehabt hatte, mir durch die Scheidung zu schaden, dann war auch diese Rechnung nicht aufgegangen.
Er machte trotzdem weiterhin eine Menge Ärger. Unter anderem bestritt Anthony, Bernards Vater zu sein. Das Gute daran war, dass ich mir keine Gedanken um das Sorgerecht machen musste. Ich ließ meine Anwältin alles regeln und war froh, als die Sache erledigt war.
Seit der Scheidung haben Anthony und ich uns nicht mehr getroffen. Inzwischen telefonieren wir gelegentlich miteinander. Ich bin froh, dass wir ab und zu Kontakt haben, der heute freundlich, respektvoll und distanziert zugleich ist. Manchmal können wir sogar miteinander lachen. Ich halte es für wichtig, Frieden zu schließen. Viel zu lange habe ich mit Menschen, die meinem Herzen nahestanden, im Unfrieden gelebt.
Als sich diese seltsamen »Behördenirrtümer« schließlich gelegt hatten, atmete ich auf. Ich hatte meine Arbeit und eine hübsche kleine Wohnung, die ich Stück für Stück hell und freundlich einrichtete. Das Geld, das ich verdiente, reichte für mich. Doch ich hatte da noch diesen Traum aus Kindheitstagen, den ich nicht vergaß: Ich wollte den Kindern in Bukom helfen.
Als Putzkraft sah ich auf den Messen, dass die Toilettenfrauen gute Möglichkeiten hatten, etwas dazuzuverdienen. Sie hatten ihr Festgehalt und durften die Trinkgelder behalten. Ich hatte die Abende frei, kannte kaum jemanden – ich war einsam. Anstatt zuhause herumzusitzen, könnte ich mir doch eine solche Stelle als Klofrau suchen, dachte ich.
Eine griechische Kollegin vermittelte mir einen Abendjob bei einer Firma, für die ich die Toiletten verschiedener Kneipen der Düsseldorfer Bolkerstraße putzte. Dort musste ich zwar das Trinkgeld abgeben, erhielt dafür jedoch ein Festgehalt. Aber die Arbeit hat mir nicht so gut gefallen, weshalb ich mich nach einer anderen Stelle umsah.
Ich ging durch Düsseldorfs Altstadt und sah nach, wo schon eine Klofrau arbeitete und wo nicht. Ich schaute mir die Kneipen genau an und verwarf die, in denen die Männer schon um neun Uhr abends betrunken auf die Toiletten torkelten und sich spätestens ab zehn Uhr übergaben.
Es war an einem Sonntag nach dem Gottesdienst, als ich mich wieder einmal in der Altstadt auf die Suche machte. Ich schlenderte die Heinrich-Heine-Allee entlang und bog in die Ratinger Straße ein. Ich wusste nicht genau, wohin ich wollte, und ging daher einfach so der Nase nach. Auf einmal hatte ich das Gefühl, dass mich ein starker Wind in meinem Rücken in eine bestimmte Richtung schob, und ohne nachzudenken setzte ich Fuß vor Fuß. Ich hatte die Augen fast geschlossen, ließ mich einfach so vom Wind treiben. Als ich die Augen wieder öffnete, stand ich vor dem Lokal »Zum Goldenen Einhorn«.
Na gut, dachte ich, schauen wir mal nach. Ich betrat das Lokal, das mir sofort gefiel. Am frühen Sonntagnachmittag waren nicht viele Leute da, aber ich erkannte sofort, dass es sich bei den wenigen Gästen um Akademiker handelte.
Ich setzte mich. Ein Mann kam hinter dem Tresen hervor und fragte mich nach meinen Wünschen. Ich bestellte eine Tasse Schokolade, irgendwie war mir nach dem Getränk meiner Kindheit zumute. Der Mann schaute mich neugierig an, sagte aber nichts, sondern brachte mir die Schokolade, die ich Schluck für Schluck genoss. Dann ging ich zu den Toiletten.
Nein, es gab keine Klofrau. Auf den ersten Blick war mir klar, dass ich hier dringend gebraucht wurde. Ich ging wieder hinauf und begann mit dem Mann ein Gespräch.
»Ich möchte gerne den Geschäftsführer sprechen«, sagte ich freundlich, aber bestimmt.
Der Mann schaute mich verdutzt an: »Einer von den beiden steht vor dir. Ich bin Volker. Was kann ich für dich tun?«
»Ich finde, ihr braucht eine Toilettenfrau. Ihr habt ein schönes Lokal, aber bei den Klos liegt einiges im Argen.«
»Eine Toilettenfrau?« Der Mann machte große Augen. »Moment bitte«, sagte er dann. »Ich ruf mal meinen Partner.«
Als die beiden vor mir saßen, unterbreitete ich ihnen meinen Vorschlag: Ich würde jeden Abend nach ihren Toiletten sehen und sie bräuchten mir nichts zu bezahlen. Es wäre schön, wenn sie mir ein Tischchen hinstellen könnten. Mehr benötigte ich nicht. Ich würde auf der Basis der Trinkgelder arbeiten.
»Ihr könnt dabei nur gewinnen. Euren Gästen wird das gefallen.«
Die beiden sahen sich an.
»Ja«, sagte Volker, »die Toiletten müssen dringend erneuert werden. Das haben wir schon seit einer ganzen Weile vor. Nicht wahr, Uli? Wie wäre es, wenn wir das noch abwarten?«
»Nein«, meinte ich strahlend. »Ich möchte heute Abend schon anfangen. Wenn ihr die Klos irgendwann umbaut, umso besser. Aber warum sollen sie nicht jetzt schon sauber und ansprechend sein?«
Wer weiß, wie lange die Sanierung dauern wird, dachte ich. Und tatsächlich: Im »Einhorn« sind die neuen Toiletten gerade erst vor Kurzem fertig geworden.
Die beiden lachten und sahen sich an.
»Was meinst du?«, fragte Volker.
»Ich finde das klasse! Sie soll anfangen. Von mir aus schon heute Abend.«
Wir reichten uns die Hände. Damit war es abgemacht. Es sollte, wie man so schön sagt, der Beginn einer langen Freundschaft sein, die bis heute andauert.
Als ich am Abend kam, fand ich vor dem Toilettenbereich ein Tischchen und einen Stuhl. Außerdem hatten sich meine neuen Chefs ein kleines Zusatzgeschäft für mich ausgedacht: Auf dem Tisch befand sich ein Tablett mit diversen Süßigkeiten.
»Als Startkapital«, sagte Uli.
Von da an wurde es Brauch, dass man bei mir auch etwas Süßes kaufen kann.
Ich freute mich und dankte Gott für den glücklichen Wind, den er in meinen Rücken hatte wehen lassen, um mich von allen Kneipen Düsseldorfs ausgerechnet ins »Einhorn« zu leiten.
Als Toilettenfrau verdiente ich im Schnitt umgerechnet 400 Euro pro Monat. 50 Cent für 50 Cent sammelte ich Geld für die Kinder in Bukom. Wo andere Menschen nur eine Münze sahen, sah ich Schulbücher, Schuluniformen, Schulgebühren. Zunächst erzählte ich niemandem von meinem Vorhaben, auch nicht den beiden »Einhorn«-Geschäftsführern.
Ein Jahr nachdem ich meinen Messejob begonnen hatte, konnte mein Onkel in Accra das erste Kind aufnehmen. Als sich meine Mutter für ein Leben in London entschieden hatte, war er in ihr Haus nach Abeka gezogen. Dort lebten auch meine kleine Schwester und mein Sohn; Mama Patience kümmerte sich um alle.
Mein Onkel erwies sich als wunderbarer Partner in Sachen Bukom-Kinder. Ich hatte eine Menge Cousins und Cousinen, die Kinder und Enkelkinder in die Welt setzten, jedoch nicht in der Lage waren, das Schulgeld für sie aufzubringen. Mein Onkel hatte nach und nach viele solcher Kinder in sein Haus aufgenommen und ich schickte ihm das nötige Geld, das ich allabendlich als Klofrau verdiente. Wenn das »Einhorn« geschlossen hatte, saß ich in einer anderen Kneipe und irgendwann sprach mich ein Stammkunde des »Einhorn« darauf an.
»Hey, Mädchen, du musst reich sein! Egal, wo ich hinkomme, du bist schon da. Tagsüber sehe ich dich auf der Messe. Komme ich abends ins ›Einhorn‹, sitzt du bei den Toiletten. Und neulich hab ich dich woanders gesehen … Sag mal, was machst du mit dem vielen Geld?«
Da erzählte ich von den Kindern in Ghana, die ich unterstützte. Dass ich mit dem Geld ihre Schulgebühren finanzierte, damit sie eine bessere Zukunft haben. Er konnte es kaum glauben.
»Wow«, sagte er, »das ist ja unglaublich. Du bist ein richtiger ›African Angel‹!«
Das gefiel mir.
Dieser Stammkunde, seine Name ist Jörg, erzählte meine Geschichte weiter. Die Reaktion der Leute war immer gleich: Zunächst wollten sie es nicht glauben, dann waren sie begeistert. Ich war darüber erstaunt, wie sehr sich die Menschen in Deutschland für ein Projekt, das Kindern im fernen Ghana hilft, interessieren. Mit vielen geriet ich in anregende Gespräche, ich konnte ihnen ja alles genau und anschaulich schildern, weil ich mit ihnen über meine Heimat sprach. Ja, in gewisser Weise betrachte ich Bukom als meine Heimat.
Die Toilettenfrau im »Einhorn«, die mit den 50-Cent-Münzen auf ihrem Teller ein Kinderprojekt in Afrika finanziert, faszinierte viele. Die Gäste gaben gerne ihren Obolus, sodass mein Onkel immer mehr Kinder aufnehmen konnte, bis schließlich 51 Kinder aus Bukom das Haus meiner Mutter bevölkerten. Für mich wurde dieses Projekt immer wichtiger. Mein Leben und meine Arbeit hatten einen neuen Sinn bekommen. Meine Arbeit half mir über Vieles hinweg.
Denn mein Leben war nicht einfacher als zuvor geworden. Immer wieder überfiel mich die Trauer über meine so tragisch gescheiterte Ehe wie eine dunkle Wolke. Darum war es gut für mich, rund um die Uhr zu arbeiten. Schlaf habe ich in diesen Jahren wenig bekommen. Tagsüber arbeitete ich auf der Messe und abends bis in die Nacht hinein im »Einhorn«. Für mich war das eine Art Beschäftigungstherapie, so wie das Kinderprojekt Balsam für meine Seele war.
Und doch, für einen geselligen und im Grunde lebensfrohen Menschen wie mich bedeutete die Einsamkeit eine schwere Prüfung. Ich war zwar ständig von Menschen umgeben, aber von niemandem, der mich wirklich kannte und bei dem ich so sein konnte, wie ich bin.
Ich hatte nur eine einzige echte Freundin – Mary-Ann. Doch auch von ihr sollte ich schrecklich enttäuscht werden.
Im Frauenhaus hatte ich mich mit Mary-Ann angefreundet, die jetzt wieder mit Moses zusammen war. Ich freute mich für meine Freundin, dass ihre Ehe offenbar wieder funktionierte. Ich hielt Moses für einen umgänglichen Menschen und konnte mir kaum vorstellen, dass er so gewalttätig gewesen war. Aber auch Anthony konnte man den Prügelknaben schließlich nicht ansehen.
Während meiner gesamten Zeit in Deutschland hatte mir der Anschluss an eine Kirchengemeinde gefehlt. Anthony hatte zu Beginn unseres Aufenthalts von seinen britischen Arbeitgebern ein Informationspaket bekommen, das alle wichtigen Adressen enthielt. Ich wusste, dass darunter auch die Anschrift einer anglikanischen Kirche gewesen war, konnte mich allerdings nicht daran erinnern, wo sich diese befand. Mary-Ann lud mich ein, sie zu einer afrikanischen Gospelgemeinde zu begleiten, in der sie aktives Mitglied war.
Ich kann gar nicht sagen, wie glücklich ich war, als ich endlich wieder an diesen leidenschaftlichen und bewegenden Gottesdiensten teilnehmen konnte. Bei uns Afrikanern ist ein Gottesdienst ein Fest: Alles wird mit Inbrunst und Leidenschaft durchlebt, die Gebete, die Predigten, die Hymnen. Vor allem die Musik spielt bei uns eine wichtige Rolle und jede Gemeinde verfügt über ausgezeichnete Gospel-Chöre. Da wird gesungen, geklatscht und getanzt und am Ende hat man tatsächlich das Gefühl, eine seelische Erneuerung erlebt zu haben.
Mary-Ann hatte mich in diese Gemeinde eingeführt, wofür ich ihr dankbar war. Unter der Woche arbeitete ich rund um die Uhr, aber der Sonntag gehörte meinem Gott und meinen Freunden. In afrikanischen Kirchen ist es nicht so, dass man da einfach nur hingeht und am Gottesdienst teilnimmt, sondern für jedes Geschlecht und Alter gibt es anschließend Gruppen: für die kleinen Kinder, die Jugendlichen, für Frauen und Männer. Es werden alle möglichen Dinge organisiert und ich stürzte mich mit Begeisterung in die neuen Aufgaben.
Für Afrikaner ist es das sprichwörtlich »Allerletzte«, wenn man die Scheiße anderer Menschen aufputzen muss, weshalb eine Klofrau auch einen denkbar schlechten Ruf genießt. Sie steht auf der sozialen Leiter ganz unten und wird von der afrikanischen Gesellschaft, die auf Prestige und Anerkennung ausgerichtet ist, nicht akzeptiert. Darum hatte ich meine abendliche Nebentätigkeit zugunsten meiner Bukom-Kinder geheim gehalten. Nur Mary-Ann wusste davon. Wir hatten im Frauenhaus Freud und vor allem Leid miteinander geteilt, ihr hatte ich kein Geheimnis verschwiegen. Ich wollte diesen Kindern die Ausbildung ermöglichen, wofür ich es auf mich genommen hatte, als Klofrau zu arbeiten. Meiner Meinung nach ist man kein Mensch zweiter Klasse, wenn man einer solchen Arbeit nachgeht. Ich empfand keine Scham dabei – im Gegenteil. Doch die auf ihr Ansehen bedachten vornehmen Afrikanerinnen in der Kirchengemeinde brauchten das nicht zu wissen.
Die Gottesdienstbesuche und das Zusammensein mit Menschen aus meiner Heimat gaben mir so viel. Allerdings war ich immer wieder ein wenig traurig, weil ich merkte, dass man mich nicht so richtig akzeptierte. Ich habe eine Begabung fürs Organisieren. Meine Arbeit für African Angel beweist das tagtäglich. Ich habe damals gute Vorschläge gemacht, die zwar freundlich angehört, aber nicht in die Tat umgesetzt worden sind. Es hat lange gedauert, bis ich verstand, warum das so gewesen ist.
Und so stürzte ich mich weiter in die Arbeit. Machte nebenher den Führerschein. Moses, der damals noch studierte, hatte ein eigenes Auto. Als ich wieder einmal bei meinen Freunden war und Mary-Ann geholfen hatte, die Kinder ins Bett zu bringen, da fragte ich ihn, ob er mit mir sonntags nach der Kirche zum Verkehrsübungsplatz fahren und dort ein bisschen mit mir üben würde, damit ich nicht so viele Stunden bräuchte.
»Wenn ich mit dem Studium fertig bin«, war seine Antwort.
Aber bis dahin hatte ich meinen Führerschein natürlich schon längst gemacht.
Und dann geschah eine ganz unglaubliche Sache, die unserer Freundschaft ein jähes Ende bereitete.
Nach bestandenem Führerschein hatte ich mir ein altes Auto gekauft. Ich hatte nicht viel Geld und suchte so lange, bis ich einen für mich erschwinglichen Wagen fand.
»Der hat aber nur noch fünf Monate TÜV«, sagte der Händler.
Doch das war mir egal. Ehrlich gesagt wusste ich überhaupt nicht, was das bedeutet, denn so etwas wie einen TÜV gibt es in Ghana nicht.
»Aber er fährt doch, oder?«, fragte ich naiv.
Der Händler lachte und nickte. Bei der Probefahrt überzeugte ich mich davon, dass der Wagen ausgezeichnet funktionierte. Also kaufte ich ihn.
Es war eine Arbeitskollegin, die mir nach fünf Monaten erklärte, was TÜV eigentlich bedeutet und dass ich mit abgelaufener Plakette nicht mehr fahren durfte, wollte ich nicht einen Strafzettel riskieren. Das wollte ich natürlich nicht. Also wandte ich mich an meine Freunde und fragte Moses, ob er mir helfen könnte, den TÜV zu erneuern.
»Klar, das mach ich gern. Kostet 200 Mark.«
Ich gab ihm das Geld und überließ ihm den Wagen. Am Abend desselben Tages brachte er ihn mir mit einer neuen Plakette zurück. Ich bedankte mich herzlich bei Moses. Was würde ich nur ohne meine Freunde tun, dachte ich.
Eine Woche später klingelte es bei mir an der Tür. Zwei Polizisten wollten mich sprechen.
»Wissen Sie eigentlich«, fragte mich der eine, »dass sie eine gestohlene TÜV-Plakette an Ihrem Nummernschild haben?«
Ich fiel fast um vor Schreck.
»Nein! Gestohlen? Das ist unmöglich.«
Die beiden wechselten einen Blick.
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie diese Plakette rechtmäßig erworben haben? Können wir mal bitte die Bescheinigung vom TÜV sehen?«
»Ich habe 200 Mark dafür bezahlt«, stammelte ich. »Ein Freund hat das für mich erledigt. Er hat gesagt, das kostete so viel. Ich bin sicher, dass es ein Irrtum ist. Das Auto hab ich erst seit Kurzem. Ich kenne mich nicht aus in diesen Sachen.«
Ich hatte Glück. Die Polizisten glaubten mir, dass ich mit der gestohlenen Plakette nichts zu tun hatte. Sie gaben mir drei Tage, danach sollte ich auf die Wache kommen und die Angelegenheit erklären.
Ich rief Moses an und erzählte ihm das Ganze. Noch war ich davon überzeugt, dass sich die Polizisten geirrt hatten. Moses versprach, mir die Bescheinigung zu bringen. Doch nach drei Tagen hatte ich immer noch nichts von ihm gehört.
Da bin ich zur Polizeiwache gegangen, habe dort den Hergang erneut geschildert und Moses’ Adresse angegeben. Langsam kam mir die ganze Sache doch komisch vor.
Was darauf folgte, war ein Durcheinander: Die Polizei führte bei meinen Freunden eine Durchsuchung durch, konnte aber keine Anhaltspunkte hinsichtlich der Plakette finden. Sie müssen allerdings Verdacht geschöpft haben, denn die Polizei begann, gegen Moses zu ermitteln. Kurz darauf erhielt ich einen Brief von einem Anwalt, der mich in Moses’ und Mary-Anns Namen verklagte. In dem Brief standen unglaubliche Dinge: Die beiden würden mich gar nicht kennen. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, ich hätte ihnen 200 Mark gegeben. Niemals hätten sie mein Auto zum TÜV gebracht. Nun, Letzteres stimmte wohl. Vom TÜV hatte Moses meine Plakette sicherlich nicht her.
Die ganze Angelegenheit kam tatsächlich vors Gericht. Viele rieten mir dazu, dass auch ich mir einen Anwalt nehmen sollte, denn Moses und Mary-Ann hatten ebenfalls einen eingeschaltet. Ich sagte: »Nein. Ich nehme keinen Anwalt. Ich gehe mit Gott dorthin, er und ich, das muss reichen. Schließlich habe ich nichts getan.«
Die Gerichtsverhandlung lief sehr seltsam ab. Der Anwalt der beiden stellte mir ganz komische Fragen: ob ich mit diesem oder jenem Mann zusammen gewesen war, ob ich Mitglied unserer Kirchengemeinde sei. Schließlich fragte ich den Richter:
»Sind wir etwa wegen einer Kirche hier? Geht es darum, mit wem ich geschlafen habe? Oder nicht vielleicht doch um eine gestohlene TÜV-Plakette?«
Da musste er mir zustimmen. Meine Freunde zogen ab, samt Anwalt. Ich bekam mein Recht.
Mir war Recht zugesprochen worden, aber nun stand ich wieder ganz allein da. Um sich zu rächen, hatte Mary-Ann herumerzählt, dass ich als Klofrau arbeitete. Ich erkannte, dass ich in dieser Kirchengemeinde, in der Mary-Ann und Moses weiterhin eine ganz große Nummer waren, nichts mehr verloren hatte.
Wieder fühlte ich mich wie ein entwurzelter Baum, ohne Rückhalt, ohne einen Ort, wo ich hingehörte. So ganz allein in einem fremden Land zu leben, ohne Familie, ohne Freunde, das ist entsetzlich deprimierend. In dieser Zeit begann ich nach all den Jahren, wieder über Selbstmord nachzudenken. Was hatte das alles für einen Sinn, fragte ich mich. Mein Leben war verkorkst. Jede Beziehung war in die Brüche gegangen. Ich war einsam. Sogar meine Freunde hatten mich verraten. Mir fehlten die Gottesdienste, die mir Woche für Woche neue Kraft gegeben hatten.
Ich erinnere mich noch gut an einen Tag im Herbst, an dem alles in Nebel gehüllt war. Tage wie diese sind für mich, die ich aus einem Land komme, wo die Sonne immer und oft bis zum Überdruss scheint, besonders schwer zu ertragen. Während meiner Arbeit auf der Messe hatte ich überlegt, wie ich meinem Leben am besten ein Ende setzen könnte. Einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen, das schien mir die beste Lösung. Niemand würde mich vermissen. Ich würde kein Mäusegift mehr schlucken, nein, inzwischen hatte ich ganz andere Möglichkeiten. Eine Überdosis Schlaftabletten würde genügen.
Als ich an diesem Abend nachhause kam, fand ich in meinem Briefkasten ein Schreiben aus meiner Heimat. Es stammte von einem der Bukom-Kinder, die im Haus meiner Mutter unter der Obhut meines Onkels lebten.
»Liebe Harriet«, schrieb mir das Mädchen, »wie geht es dir? Mir geht es gut. Lezte Woche hatte ich Husten, aber der ist schon wieder weg. Gestern haben wir unsere Zeugnise bekommen und ich habe nur in Englich eine Drei, sonst lauter Zweien und in Matematik sogar eine Eins. Ich bin so glücklich, dass ich zur Schule gehen kann. Vor einem Jahr konnte ich noch nicht einmal schreiben. Und jezt schreibe ich dir diesen Brief.
Ich bete morgens, mittags und abends dafür, dass Gott dir gute Tage schenkt. Möghe er dich segnen und überall hin begleiten. Auch meine Mutter lässt dich hertzlich grüssen. Du wohnst immer in unseren Hertzen!
In Liebe deine Rebecca«
Ich weinte – und lachte unter Tränen über Rebeccas Rechtschreibfehler. Wie dumm ich doch war! Ich wurde geliebt und gebraucht. Gott hatte mir eine Aufgabe gestellt, schon als Kind hatte ich meine Bestimmung erkannt.
Ja, ich war einsam in Deutschland, aber zuhause würden mich 51 Kinder vermissen, wenn es mich nicht mehr gäbe. Wie ihre Väter würden sie Fischer werden, die ihr Leben lang nicht aus der Schuldenfalle der Kanu-Besitzer herauskämen. Die Mädchen würden im Alter von 13 Jahren Babys bekommen und von da an in Bukom von kleinen Hilfsarbeiten ein armseliges Leben fristen. Viele würden gar nicht erst erwachsen werden, weil sie vorher an Malaria oder Typhus sterben würden, da das Geld für Medikamente fehlte.
Ich wusch mir das Gesicht und betrachtete mein Spiegelbild. Ich hatte eine Aufgabe. Endlich wusste ich wieder, wofür ich auf der Welt war.
»Du bist wie eine Katze«, sagte einmal jemand zu mir. »Egal, aus welcher Höhe man dich hinunterwirft, du landest immer auf den Beinen.«
Tatsächlich bin ich wieder und wieder in die Tiefe gestürzt und immer aufgestanden. Ich hoffe und bete, dass ich das tiefe Tal der Tränen heute endgültig hinter mir gelassen habe, denn dieses hatte ich tatsächlich durchqueren müssen, ehe ich die Kreise gefunden habe, in die ich gehöre.
Nachdem ich die afrikanische Kirchengemeinde verlassen hatte, litt ich darunter, in Glaubenssachen wieder heimatlos zu sein. So heuchlerisch manche Mitglieder auch gewesen sein mögen, die Gemeinde war für mich so etwas wie ein Stück Heimat in Deutschland geworden. Nun musste ich mich neu orientieren.
Immer wieder dachte ich an die anglikanische Kirche, von der ich in Anthonys Unterlagen nach unserer Ankunft in Deutschland gelesen hatte. Ich hatte mich nie aufraffen können, aktiv nach ihr zu suchen. Und dann erlebte ich einmal mehr, wie zielgenau mich Gott auf den Weg schickt, wenn er will.
Nach Dienstschluss hatte ich mich in meinem Auto auf den Heimweg gemacht. Keine 200 Meter von der Messe entfernt machte der Motor komische Geräusche und blieb plötzlich stehen. Was ist denn jetzt los, dachte ich, bis eben hat der Wagen doch einwandfrei funktioniert. Na gut, dann gehe ich eben zu Fuß zurück zur Messe und bitte meine Kollegen um Hilfe.
Gesagt, getan. Ich überquerte die Straße und ging auf der gegenüberliegenden Seite zurück. Und auf einmal sah ich da eine Kirche, verborgen hinter hohen Bäumen. Obwohl ich diesen Weg schon so viele Jahre entlanggefahren war, hatte ich sie zuvor noch nicht entdeckt. Ich betrachtete das Gebäude aus der Nähe und sah neben dem Eingang ein Schild mit den Gottesdienstzeiten.
Am folgenden Sonntag betrat ich um elf Uhr morgens ganz schüchtern und vorsichtig den Kirchenraum – immer darauf gefasst, einer Sekte in die Hände zu fallen. Aber es handelte sich nicht um eine Sekte. Erst als der Gottesdienst nahezu vorbei war, kapierte ich endlich, dass ich die anglikanische Kirche gefunden hatte.
Bei den Anglikanern gefiel es mir gut. Der Gottesdienst ist zwar bei Weitem nicht so temperamentvoll und emotional wie bei uns Afrikanern, aber ich mochte die souveräne und freundliche Art des Pastors. Gleich nach dem ersten Besuch war mir klar: Solch emotionale Dramen wie in der afrikanischen Gemeinde würde ich hier nicht erleben. Aber mein Bedarf an Szenen wie diesen war auch vollständig gedeckt. Alles, was ich suchte, war eine geistige Heimat, die zu mir passte. Hier hatte ich sie gefunden.
Meine Kollegen hatten mir übrigens geholfen, den Wagen neu zu starten, und von da an lief er wieder einwandfrei. Ich bin überzeugt, dass es Gott höchstpersönlich gewesen ist, der mein Auto genau an dieser Stelle zum Stehen gebracht hatte, damit ich endlich dieses Gotteshaus fand.
Dass ich hier wirklich eine echte geistige Heimat gefunden hatte, zeigte sich am folgenden Weihnachtsfest. Der Weihnachtsabend ist für mich, seit ich in Deutschland lebe, immer eine heikle Sache. Zu oft habe ich ihn ganz allein verbringen müssen. In Ghana feiert man ihn in geselliger Runde und ist ausgelassener Stimmung. Die Türen stehen dann überall offen – jeder ist herzlich willkommen, niemand ist ausgeschlossen. Ganz anders in Deutschland, wo die Menschen am Vormittag noch hektisch einkaufen und sich ab dem Nachmittag hinter ihren Haustüren zu verbarrikadieren scheinen. Meistens habe ich an Weihnachten so lang es ging gearbeitet, doch auch die Kneipen machen irgendwann zu. Für mich sind es traurige Abende gewesen, an die ich mich gar nicht mehr erinnern mag.
Nachdem ich in die anglikanische Kirchengemeinde eingetreten war, habe ich mich wieder einmal auf so ein einsames Weihnachtsfest vorbereitet, an dem ich möglichst lange arbeiten und dann die gesammelten Briefe »meiner« Kinder hervorholen und immer wieder lesen würde. Doch dann geschah ein Wunder. Am letzten Sonntag vor dem Weihnachtsfest fragte mich der Pastor nach dem Gottesdienst:
»Harriet, was machst du eigentlich an Weihnachten?«
»Ach«, sagte ich, »nichts Besonderes. Ich hab ja niemanden.«
»Möchtest du zu uns kommen?«
Ich starrte ihn an. Stammelte ein Dankeschön. Ja, ich würde gerne kommen. Und auf einmal freute ich mich auf Weihnachten. Es sollte ein wunderschöner Abend werden. Ich war der einzige Gast, der nicht zur Familie gehörte, aber das ließ mich niemand spüren.
Im Jahr darauf habe ich aus der Kirchengemeinde zwei weitere Einladungen erhalten. Aber ich sagte mir, dass ich Weihnachten lieber im Haus des Pastors verbringen möchte, sofern er mir dies erneut anbieten würde. Seither habe ich mit seiner Familie den Heiligen Abend verbringen dürfen.
Niemand, der nicht wie ich ganz allein in der Fremde lebt, kann nachempfinden, was diese Geste bedeutet. Viele sagen, Heiligabend sei ein ganz gewöhnlicher Abend, doch das ist nicht wahr. An keinem anderen Abend spürt man so sehr, ob man einsam ist oder nicht, wie am Weihnachtsfest. Dank der Familie des Pastors der anglikanischen Kirche hatte ich schließlich auch für dieses Fest in Deutschland eine Heimat gefunden.
Im Jahr 2001 erlag meine jüngere Schwester Ama Tanowaa ihrer seltsamen Krankheit. Ich war sehr traurig. Warum hatte ich gesund werden dürfen und meine arme Schwester nicht? Das habe ich mich oft gefragt. Meine Mutter war all die Jahre in London gewesen und hatte die Betreuung der kranken Schwester unseren Verwandten überlassen. Während ich durch den Trank der alten Heilerin gesund geworden war, hatte es für Tanowaa keine Hilfe gegeben.
Meine Mutter nahm den Tod ihrer jüngsten Tochter zum Anlass, nach Ghana zurückzukehren. Mein Onkel zog daraufhin wieder in sein eigenes Haus und meine Mutter nahm seinen Platz ein. In ihrem Haus lebten mittlerweile schließlich die 51 Kinder aus Bukom. Das Programm hatte sich als erfolgreich erwiesen, die Kinder bewährten sich ausgezeichnet in der Schule. Mama Patience hatte sich all die Zeit um den Haushalt gekümmert und die Betreuung übernommen.
Da meine Mutter wieder zuhause lebte, schien es mir nicht richtig, das Geld für die Kinder weiterhin Mama Patience zu schicken. Aus Respekt bat ich daher meine Mutter, die Verwaltung des Geldes, das ich regelmäßig überwies, zu übernehmen. Sie erklärte sich einverstanden. Für ärmere Kinder zu sorgen ist in unserer Kultur nämlich eine Ehrensache.
Jahrelang hatte ich es geschafft, aus eigener Kraft finanziell für diese Kinder aufzukommen. Ich war davon überzeugt, dass mir dies auch weiterhin gelingen und mich gerade meine eigene Mutter darin unterstützen würde.